Splitter
Psychothriller | Spiegel Bestseller | "Was wäre Spannungsliteratur ohne einen Hauch Irrsinn?" Stern
Und was, wenn etwas dabei schiefginge?
Um sich von seinen quälenden Erinnerungen zu befreien, stellt sich Marc einem psychiatrischen Experiment zur Verfügung. Doch nach dem ersten Test beginnt ein Alptraum.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Splitter “
Und was, wenn etwas dabei schiefginge?
Um sich von seinen quälenden Erinnerungen zu befreien, stellt sich Marc einem psychiatrischen Experiment zur Verfügung. Doch nach dem ersten Test beginnt ein Alptraum.
"Der Berliner Autor Sebastian Fitzek ist ein Meister des Wahns."
Brigitte
Klappentext zu „Splitter “
Tödliche Unfälle, Gedächtnisverlust, Experimente - Spannung pur in diesem Psychothriller der Extraklasse von Sebastian Fitzek
Was wäre, wenn wir die schlimmsten Erlebnisse unseres Lebens für immer aus unserem Gedächtnis löschen könnten? Und was, wenn etwas dabei schief geht?
Viel stärker als der Splitter, der sich in seinen Kopf gebohrt hat, schmerzt Marc Lucas die seelische Wunde seines selbst verschuldeten Autounfalls - denn seine Frau hat nicht überlebt. Als Marc von einem psychiatrischen Experiment hört, das ihn von dieser quälenden Erinnerung befreien könnte, schöpft er Hoffnung. Doch nach den ersten Tests beginnt das Grauen: Marcs Wohnungsschlüssel passt nicht mehr. Ein fremder Name steht am Klingelschild. Dann öffnet sich die Tür - und Marc schaut einem Alptraum ins Gesicht ...
Dieser Psychothriller von Sebastian Fitzek verspricht Spannung bis zur letzten Zeile
Lese-Probe zu „Splitter “
Splitter von Sebastian FitzekEinleitung
... mehr
»Was denkst du?«
»Na ja, ich finde sie etwas, sagen wir ... gewöhnungsbedürftig?«
»Grottenhässlich trifft es wohl eher.«
»Hast du sie geschenkt bekommen?«
»Nein, gekauft.«
»Moment mal. Du hast Geld dafür bezahlt?«
»Ja.«
»Für eine babyblaue, batteriebetriebene Delphinnachttischlampe,
die du selbst hässlich findest?«
»Grottenhässlich.«
»Okay, dann klär mich auf. Wenn das Frauenlogik ist,
dann kapier ich sie nämlich nicht.«
»Komm her.«
»Ich lieg doch schon fast auf dir drauf.«
»Trotzdem, noch näher.«
»Sag mir nicht, du willst die Lampe in unser Liebesspiel integrieren.«
»Spinner.«
»Hey, was ist los? Wieso schaust du mich auf einmal so an?«
»Versprichst du mir ...«
»Was?«
»Versprichst du mir, immer ein Licht anzulassen?«
»Ich ... ich verstehe nicht ganz. Hast du plötzlich Angst vor
der Dunkelheit?«
»Nein, aber ...«
»Aber?«
»Na ja. Ich hab darüber nachgedacht, wie unerträglich es
wäre, wenn dir etwas zustößt. Halt, warte, bleib da. Ich
will dich ganz fest halten.«
»Was ist denn ... weinst du etwa?«
»Hör zu, ich weiß, es hört sich jetzt etwas verrückt an, aber
ich will, dass wir eine Abmachung treffen.«
»Okay?«
»Sollte einer von uns beiden sterben - halt, lass mich bitte
ausreden. Dann soll der, der gegangen ist, dem anderen ein
Zeichen geben.«
»Er soll die Lampe anmachen?«
»Damit wir wissen, dass wir trotzdem nicht alleine sind.
Dass wir an uns denken, auch wenn wir uns nicht sehen
können.«
»Schatz, ich weiß nicht, ob ...«
»Schhhhhh. Versprichst du mir das?«
»Okay.«
»Danke.«
»Ist sie deshalb so hässlich?«
»Grottenhässlich.«
»Stimmt, so gesehen eine gute Wahl. Das Monstrum werden
wir niemals aus Versehen anschalten.«
»Also versprichst du es mir?«
»Na klar, Süße.«
»Danke.«
»Aber was soll uns denn schon zustoßen?«
SPLITTER
It's either real or it's a dream
There's nothing that is in between
»Twilight«, Electric Light Orchestra
Der Zweck heiligt die Mittel
Lebensweisheit
1.
Heute
Marc Lucas zögerte. Ließ den einzigen noch unversehrten
Finger seiner gebrochenen Hand lange auf dem
Messingknopf der alten Klingel ruhen, bevor er sich einen
Ruck gab und drückte.
Er wusste nicht, wie spät es war. Die Schrecken der letzten
Stunden hatten ihm auch das Zeitgefühl geraubt. Doch
hier draußen, mitten im Wald, schien Zeit ohnehin keine
Bedeutung zu haben.
Der eisige Novemberwind und der Schneeregen der letzten
Stunden hatten etwas nachgelassen, sogar der Mond
schimmerte kurz durch die aufgerissene Wolkendecke. Er
war die einzige Lichtquelle in einer Nacht, die ebenso
kalt wie dunkel schien. Nichts deutete darauf hin, dass
das efeuberankte, doppelstöckige Holzhaus bewohnt war.
Selbst der viel zu groß dimensionierte Schornstein auf der
Spitze des Giebeldachs schien nicht in Betrieb. Marc roch
auch nicht den typischen Duft verbrannten Kaminholzes,
der ihn heute Vormittag im Haus des Arztes geweckt hatte
- um kurz nach elf, als sie ihn zum ersten Mal hierher in
den Wald zum Professor gebracht hatten. Schon da hatte
er sich krank gefühlt. Sterbenskrank. Und doch hatte sich
sein Zustand seither dramatisch verschlechtert.
Vor wenigen Stunden noch waren seine äußerlichen Verfallserscheinungen
kaum sichtbar gewesen. Jetzt tropfte
Blut aus Mund und Nase auf seine verdreckten Sportschuhe,
die zersplitterten Rippen rieben beim Atmen aneinander,
und sein rechter Arm hing wie ein schlecht verschraubtes
Ersatzteil am Körper herab.
Marc Lucas drückte erneut den Messingknopf, wieder
ohne ein Klingeln, Summen oder Schellen zu hören. Er trat
einen Schritt zurück und sah zum Balkon hoch, hinter dem
das Schlafzimmer lag, von dem man tagsüber einen atemberaubenden
Blick auf den kleinen Waldsee hinter dem
Haus hatte, dessen Oberfläche in windstillen Momenten
an Fensterglas erinnerte - eine glatte, dunkle Scheibe, die
in tausend Teilchen zersplittern würde, sobald man einen
Stein hineinwarf.
Das Schlafzimmer blieb dunkel. Selbst der Hund, dessen
Namen er vergessen hatte, schlug nicht an, auch alle anderen
Geräusche blieben aus, die normalerweise aus einem
Haus dringen, dessen Bewohner mitten in der Nacht aus
dem Schlaf gerissen werden. Keine nackten Füße, die die
Treppe heruntertrampeln; keine Hausschuhe, die über den
Dielenboden schlurfen, während ihr Besitzer sich nervös
räuspert und versucht, seine zerzausten Haare mit beiden
Händen und etwas Spucke zu glätten.
Und dennoch wunderte Marc sich nicht eine Sekunde,
als plötzlich wie von Geisterhand die Tür geöffnet wurde.
Viel zu viel Unerklärliches war ihm in den letzten
Tagen widerfahren, als dass er auch nur einen Gedanken
daran verschwendet hätte, weshalb der Psychiater vollständig
bekleidet vor ihm stand, im Anzug und mit korrekt
gebundener Krawatte, als halte er seine Sprechstunden
grundsätzlich mitten in der Nacht ab. Vielleicht hatte er ja
im hinteren Teil seines verwinkelten Häuschens gearbeitet,
alte Patientenakten gelesen oder einen der dicken Wälzer
über Neuropsychologie, Schizophrenie, Gehirnwäsche
oder multiple Persönlichkeiten studiert, die überall umherlagen,
obwohl er schon seit Jahren nur noch als Gutachter
praktizierte.
Marc fragte sich auch nicht, weshalb das Licht aus dem
Kaminzimmer erst jetzt zu ihm nach draußen drang. Ein
Spiegel über der Kommode reflektierte die Strahlen, so
dass es für einen Moment so wirkte, als trage der Professor
einen Heiligenschein. Dann trat der alte Mann einen
Schritt zurück, und der Effekt war verschwunden.
Marc seufzte, lehnte sich erschöpft mit der gesunden Schulter
an den Türrahmen und hob die zertrümmerte Hand.
»Bitte ...«, flehte er. »Sie müssen es mir sagen.«
Seine Zunge schlug beim Reden an lose Schneidezähne.
Er hustete, und ein dünner Blutstropfen löste sich aus der
Nase.
»Ich weiß nicht, was mit mir geschieht.«
Der Arzt nickte bedächtig, als fiele es ihm schwer, den
Kopf zu bewegen. Jeder andere wäre bei seinem Anblick
schockiert zusammengezuckt, hätte vor Angst die Tür zugeschlagen
oder zumindest sofort medizinische Hilfe gerufen.
Doch Professor Niclas Haberland tat nichts dergleichen.
Er trat lediglich zur Seite und sagte mit leiser,
melancholischer Stimme: »Es tut mir leid, aber Sie kommen
zu spät. Ich kann Ihnen nicht mehr helfen.«
Marc nickte. Mit dieser Antwort hatte er gerechnet. Und er
hatte sich darauf vorbereitet.
»Ich fürchte, Sie haben keine andere Wahl!«, sagte er und
zog die Pistole aus seiner zerrissenen Lederjacke.
2.
Der Professor ging voran, den Flur entlang zum Wohnzimmer.
Marc blieb dicht hinter ihm, die Waffe unablässig
auf Haberlands Oberkörper gerichtet. Dabei war
er froh, dass der alte Mann sich nicht umdrehte und daher
seinen drohenden Schwächeanfall nicht wahrnahm. Kaum
hatte Marc das Haus betreten, war ihm schwindelig geworden.
Der Kopfschmerz, die Übelkeit, die Schweißausbrüche
... all die Symptome, die die psychischen Qualen der
letzten Stunden noch verstärkt hatten, waren mit einem
Mal zurückgekommen. Jetzt wollte er sich am liebsten an
Haberlands Schultern festhalten und sich von ihm ziehen
lassen. Er war müde, so unerträglich müde, und der Flur
schien unendlich viel länger als bei seinem ersten Besuch.
»Hören Sie, es tut mir leid«, wiederholte Haberland, als
sie das Wohnzimmer betraten, dessen hervorstechendes
Merkmal ein offener Kamin war, in dem ein schwächelndes
Feuer langsam ausbrannte. Seine Stimme klang ruhig,
fast mitleidig. »Ich wünschte wirklich, Sie wären früher gekommen.
Jetzt wird die Zeit knapp.«
Haberlands Augen waren völlig ausdruckslos. Wenn er
Angst hatte, konnte er sie ebenso gut verbergen wie der
greise Hund, der in einem kleinen Rattankörbchen vor
dem Fenster schlief. Das sandfarbene Fellknäuel hatte noch
nicht einmal den Kopf gehoben, als sie eingetreten waren.
Marc ging in die Mitte des Raumes und sah sich unschlüssig
um. »Die Zeit wird knapp? Wie meinen Sie das?«
»Sehen Sie sich doch an. Sie sind in einem schlimmeren Zustand
als meine Wohnung.«
Marc erwiderte Haberlands Lächeln, und selbst das tat
ihm weh. Die Inneneinrichtung des Hauses war in der Tat
ebenso ungewöhnlich wie die Lage mitten im Wald. Kein
Möbelstück passte zum anderen. Ein überfülltes Ikearegal
stand neben einer eleganten Biedermeierkommode. Fast
der gesamte Boden war mit Teppichen ausgelegt, von denen
einer unschwer als Badezimmerläufer zu erkennen war, der
auch farblich nicht mit dem handgeknüpften, chinesischen
Seidenteppich harmonierte. Man musste unweigerlich an
eine Rumpelkammer denken, und dennoch schien nichts
an diesem Arrangement zufällig. Jeder einzelne Gegenstand,
vom Grammophon auf dem Teewagen bis zur Ledercouch,
vom Ohrensessel bis zu den Leinenvorhängen,
wirkte wie ein Souvenir aus vergangenen Zeiten. So als hätte
der Professor Angst, die Erinnerung an eine entscheidende
Phase seines Lebens zu verlieren, würde er ein Möbelstück
weggeben. Die medizinischen Fachbücher und
Zeitschriften, die sich nicht nur in den Regalen und auf
dem Schreibtisch, sondern auch auf den Fensterbrettern,
dem Fußboden und sogar im Holzkorb neben dem Kamin
fanden, wirkten wie ein Bindeglied zwischen all dem
Krempel.
»Setzen Sie sich doch«, bat Haberland, als wäre Marc immer
noch ein willkommener Gast. So wie heute Vormittag,
als sie ihn bewusstlos auf die bequeme Polstercouch gelegt
hatten, in deren Kissen man zu ertrinken drohte. Doch
jetzt hätte er sich am liebsten direkt vor das Feuer gesetzt.
Ihm war kalt; so kalt wie noch nie zuvor in seinem Leben.
»Soll ich noch etwas nachlegen?«, fragte Haberland, als
habe er seine Gedanken gelesen.
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er zum Holzkorb,
zog ein Scheit hervor und warf es in den Kamin. Die Flammen
schlugen hoch, und Marc spürte ein nahezu unerträg-
liches Verlangen, die Hände mitten ins Feuer zu strecken,
um endlich die Kälte aus seinem Körper zu vertreiben.
»Was ist mit Ihnen passiert?«
»Wie bitte?« Er benötigte eine Weile, um seinen Blick von
dem Kamin abzuwenden und sich wieder auf Haberland
zu konzentrieren. Der Professor musterte ihn von oben bis
unten.
»Ihre Verletzungen? Wie ist das geschehen?«
»Das war ich selbst.«
Zu Marcs Erstaunen nickte der alte Psychiater nur. »Das
habe ich mir bereits gedacht.«
»Weshalb?«
»Weil Sie sich fragen, ob Sie überhaupt existieren.«
Die Wahrheit schien Marc regelrecht auf das Sofa zu drücken.
Haberland hatte recht. Genau das war sein Problem.
Heute Vormittag noch hatte der Professor sich in Andeutungen
verloren, doch jetzt wollte Marc es ganz genau
wissen. Deshalb saß er schon wieder auf dieser weichen
Couch.
»Sie wollen wissen, ob Sie real sind. Auch aus diesem
Grund haben Sie sich selbst Verletzungen zugefügt. Sie
wollten sicherstellen, dass Sie noch etwas spüren.«
»Woher wissen Sie das?«
Haberland winkte ab. »Erfahrung. Ich war selbst einmal in
einer vergleichbaren Lage wie Sie.«
Der Professor sah auf seine Uhr am Handgelenk. Marc war
sich nicht sicher, aber er glaubte, mehrere Narben rund um
das Armband entdeckt zu haben, die weniger von einem
Messer als von einer Brandwunde herzurühren schienen.
»Ich praktiziere offiziell nicht mehr, aber mein analytisches
Gespür hat mich deshalb noch lange nicht verlassen. Darf
ich fragen, was Sie im Augenblick empfinden?«
»Kälte.«
»Keine Schmerzen?«
»Die sind auszuhalten. Ich glaube, der Schock sitzt noch
zu tief.«
»Aber denken Sie nicht, es wäre besser, wenn Sie nicht hier,
sondern in einer Notaufnahme wären? Ich habe noch nicht
einmal Aspirin im Haus.«
Marc schüttelte den Kopf. »Ich will keine Tabletten. Ich
will nur Gewissheit.«
Er legte die Pistole auf den Couchtisch, die Mündung auf
Haberland gerichtet, der immer noch vor ihm stand.
»Beweisen Sie mir, dass es mich wirklich gibt.«
Der Professor griff sich an den Hinterkopf und kratzte
sich an der etwa bierdeckelgroßen, lichten Stelle in seinem
grauen Haupthaar. »Wissen Sie, was man gemeinhin
über den Unterschied zwischen Mensch und Tier sagt?« Er
deutete auf seinen Hund in dem Körbchen, der im Schlaf
unruhig stöhnte. »Es sei das Bewusstsein. Während wir darüber
reflektieren, warum es uns gibt, wann wir sterben
werden und was nach dem Tode geschieht, verschwendet
ein Tier nicht einen Gedanken daran, ob es überhaupt auf
der Welt ist.«
Während er geredet hatte, war Haberland zu seinem Hund
gegangen. Er kniete sich hin und nahm liebevoll den wuscheligen
Kopf in beide Hände.
»Tarzan hier kann sich noch nicht einmal im Spiegel erkennen.
«
Marc rieb sich etwas Blut von einer Augenbraue, dann glitt
sein Blick zum Fenster. Für einen kurzen Moment hatte er
geglaubt, dort draußen ein Licht in der Dunkelheit ge sehen
zu haben, doch dann war ihm klargeworden, dass das Glas
nur das Flackern des Kamins widerspiegelte. Der Regen
musste zurückgekommen sein, denn die Scheibe war außen
mit winzigen Tropfen überzogen. Nach einer Weile entdeckte
er sein eigenes Spiegelbild weit draußen in der Dunkelheit
über dem See.
»Nun, ich sehe mich noch, aber wie kann ich wissen, dass
der Spiegel nicht lügt?«
»Was hat Sie denn zu der Annahme verleitet, Sie würden
an Wahnvorstellungen leiden?«, stellte Haberland die Gegenfrage.
Marc konzentrierte sich wieder auf die Tröpfchen an der
Scheibe. Sein Spiegelbild schien zu zerlaufen.
Nun, wie wäre es zum Beispiel mit Hochhäusern, die sich
in Luft auflösen, kurz nachdem ich sie verlassen habe? Mit
Menschen, die in meinem Keller gefangen gehalten werden
und mir Bücher übergeben, in denen ich nachlesen kann,
was mir in wenigen Sekunden zustoßen wird? Ach ja, und
dann wären da noch die Toten, die plötzlich wiederauferstehen.
»Weil es für all das, was mir heute widerfahren ist, keine
logische Erklärung gibt«, sagte er leise.
»O doch, die gibt es.«
Marc schnellte herum. »Welche? Bitte sagen Sie es mir.«
»Ich fürchte, dafür fehlt uns die Zeit.« Haberland sah schon
wieder auf seine Uhr. »Uns bleibt nicht mehr viel, bevor
Sie endgültig von hier verschwinden müssen.«
»Wovon sprechen Sie?«, fragte Marc, griff sich seine Waffe
vom Couchtisch und stand auf. »Gehören Sie etwa auch zu
denen? Stecken Sie da mit drin?« Er richtete die Pistole auf
den Kopf des Psychiaters.
Haberland streckte ihm abwehrend beide Hände entgegen.
»Es ist nicht so, wie Sie denken.«
»Ach ja, und woher wissen Sie das?«
Der Professor schüttelte mitleidig den Kopf.
»Raus mit der Sprache!« Marc schrie so laut, dass die Adern
am Hals hervortraten. »Was wissen Sie über mich?«
Die Antwort nahm ihm die Luft zum Atmen.
»Alles.«
Das Feuer loderte auf. Marc musste wegsehen, auf einmal
ertrugen seine Augen die Helligkeit nicht mehr.
»Ich weiß alles, Marc. Und Sie wissen es auch. Sie wollen es
nur nicht wahrhaben.«
»Dann, dann ...« Marcs Augen begannen zu tränen. »...
dann sagen Sie es mir bitte. Was geschieht hier mit mir?«
»Nein, nein, nein.« Haberland faltete die Hände beschwörend
wie zum Gebet. »So funktioniert das nicht. Glauben
Sie mir. Jede Erkenntnis ist wertlos, wenn sie nicht von
innen kommt.«
»Das ist doch scheiße!«, brüllte Marc und schloss kurz die
Augen, um sich besser auf den Schmerz in der Schulter
konzentrieren zu können. Bevor er weiterredete, schluckte
er das Blut herunter, das sich in seinem Mund angesammelt
hatte. »Sagen Sie mir sofort, was hier gespielt wird, oder,
ich schwöre bei Gott, ich bringe Sie um.«
Jetzt zielte er nicht mehr auf den Kopf, sondern genau auf
die Leber des Professors. Auch wenn er nicht richtig traf,
würde die Kugel lebenswichtige Organe zerstören, und
hier draußen käme jede Hilfe zu spät.
Haberland verzog keine Miene.
»Also schön«, sagte er nach einer Weile, in der sie sich
wortlos angestarrt hatten. »Sie wollen die Wahrheit wissen?«
»Ja.«
Der Professor setzte sich langsam in den Ohrensessel und
neigte den Kopf zum Kamin, in dem das Feuer immer
stärker loderte. Seine Stimme wurde zu einem kaum wahrnehmbaren
Flüstern. »Haben Sie jemals eine Geschichte
gehört und sich danach gewünscht, Sie hätten das Ende
niemals erfahren?«
Er drehte sich zu Marc und sah ihn mitleidig an.
»Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.«
Besuchen Sie uns im Internet:
www.knaur.de
Vollständige Taschenbuchausgabe September 2010
Knaur Taschenbuch
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Copyright © 2009 by Droemer Verlag
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Ein Projekt der AVA International GmbH
Autoren- und Verlagsagentur
www.ava-international.de
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit
Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Redaktion: Regine Weisbrod
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Satz: Adobe InDesign im Verlag
Druck und Bindung: CPI - Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-426-50372-0
»Was denkst du?«
»Na ja, ich finde sie etwas, sagen wir ... gewöhnungsbedürftig?«
»Grottenhässlich trifft es wohl eher.«
»Hast du sie geschenkt bekommen?«
»Nein, gekauft.«
»Moment mal. Du hast Geld dafür bezahlt?«
»Ja.«
»Für eine babyblaue, batteriebetriebene Delphinnachttischlampe,
die du selbst hässlich findest?«
»Grottenhässlich.«
»Okay, dann klär mich auf. Wenn das Frauenlogik ist,
dann kapier ich sie nämlich nicht.«
»Komm her.«
»Ich lieg doch schon fast auf dir drauf.«
»Trotzdem, noch näher.«
»Sag mir nicht, du willst die Lampe in unser Liebesspiel integrieren.«
»Spinner.«
»Hey, was ist los? Wieso schaust du mich auf einmal so an?«
»Versprichst du mir ...«
»Was?«
»Versprichst du mir, immer ein Licht anzulassen?«
»Ich ... ich verstehe nicht ganz. Hast du plötzlich Angst vor
der Dunkelheit?«
»Nein, aber ...«
»Aber?«
»Na ja. Ich hab darüber nachgedacht, wie unerträglich es
wäre, wenn dir etwas zustößt. Halt, warte, bleib da. Ich
will dich ganz fest halten.«
»Was ist denn ... weinst du etwa?«
»Hör zu, ich weiß, es hört sich jetzt etwas verrückt an, aber
ich will, dass wir eine Abmachung treffen.«
»Okay?«
»Sollte einer von uns beiden sterben - halt, lass mich bitte
ausreden. Dann soll der, der gegangen ist, dem anderen ein
Zeichen geben.«
»Er soll die Lampe anmachen?«
»Damit wir wissen, dass wir trotzdem nicht alleine sind.
Dass wir an uns denken, auch wenn wir uns nicht sehen
können.«
»Schatz, ich weiß nicht, ob ...«
»Schhhhhh. Versprichst du mir das?«
»Okay.«
»Danke.«
»Ist sie deshalb so hässlich?«
»Grottenhässlich.«
»Stimmt, so gesehen eine gute Wahl. Das Monstrum werden
wir niemals aus Versehen anschalten.«
»Also versprichst du es mir?«
»Na klar, Süße.«
»Danke.«
»Aber was soll uns denn schon zustoßen?«
SPLITTER
It's either real or it's a dream
There's nothing that is in between
»Twilight«, Electric Light Orchestra
Der Zweck heiligt die Mittel
Lebensweisheit
1.
Heute
Marc Lucas zögerte. Ließ den einzigen noch unversehrten
Finger seiner gebrochenen Hand lange auf dem
Messingknopf der alten Klingel ruhen, bevor er sich einen
Ruck gab und drückte.
Er wusste nicht, wie spät es war. Die Schrecken der letzten
Stunden hatten ihm auch das Zeitgefühl geraubt. Doch
hier draußen, mitten im Wald, schien Zeit ohnehin keine
Bedeutung zu haben.
Der eisige Novemberwind und der Schneeregen der letzten
Stunden hatten etwas nachgelassen, sogar der Mond
schimmerte kurz durch die aufgerissene Wolkendecke. Er
war die einzige Lichtquelle in einer Nacht, die ebenso
kalt wie dunkel schien. Nichts deutete darauf hin, dass
das efeuberankte, doppelstöckige Holzhaus bewohnt war.
Selbst der viel zu groß dimensionierte Schornstein auf der
Spitze des Giebeldachs schien nicht in Betrieb. Marc roch
auch nicht den typischen Duft verbrannten Kaminholzes,
der ihn heute Vormittag im Haus des Arztes geweckt hatte
- um kurz nach elf, als sie ihn zum ersten Mal hierher in
den Wald zum Professor gebracht hatten. Schon da hatte
er sich krank gefühlt. Sterbenskrank. Und doch hatte sich
sein Zustand seither dramatisch verschlechtert.
Vor wenigen Stunden noch waren seine äußerlichen Verfallserscheinungen
kaum sichtbar gewesen. Jetzt tropfte
Blut aus Mund und Nase auf seine verdreckten Sportschuhe,
die zersplitterten Rippen rieben beim Atmen aneinander,
und sein rechter Arm hing wie ein schlecht verschraubtes
Ersatzteil am Körper herab.
Marc Lucas drückte erneut den Messingknopf, wieder
ohne ein Klingeln, Summen oder Schellen zu hören. Er trat
einen Schritt zurück und sah zum Balkon hoch, hinter dem
das Schlafzimmer lag, von dem man tagsüber einen atemberaubenden
Blick auf den kleinen Waldsee hinter dem
Haus hatte, dessen Oberfläche in windstillen Momenten
an Fensterglas erinnerte - eine glatte, dunkle Scheibe, die
in tausend Teilchen zersplittern würde, sobald man einen
Stein hineinwarf.
Das Schlafzimmer blieb dunkel. Selbst der Hund, dessen
Namen er vergessen hatte, schlug nicht an, auch alle anderen
Geräusche blieben aus, die normalerweise aus einem
Haus dringen, dessen Bewohner mitten in der Nacht aus
dem Schlaf gerissen werden. Keine nackten Füße, die die
Treppe heruntertrampeln; keine Hausschuhe, die über den
Dielenboden schlurfen, während ihr Besitzer sich nervös
räuspert und versucht, seine zerzausten Haare mit beiden
Händen und etwas Spucke zu glätten.
Und dennoch wunderte Marc sich nicht eine Sekunde,
als plötzlich wie von Geisterhand die Tür geöffnet wurde.
Viel zu viel Unerklärliches war ihm in den letzten
Tagen widerfahren, als dass er auch nur einen Gedanken
daran verschwendet hätte, weshalb der Psychiater vollständig
bekleidet vor ihm stand, im Anzug und mit korrekt
gebundener Krawatte, als halte er seine Sprechstunden
grundsätzlich mitten in der Nacht ab. Vielleicht hatte er ja
im hinteren Teil seines verwinkelten Häuschens gearbeitet,
alte Patientenakten gelesen oder einen der dicken Wälzer
über Neuropsychologie, Schizophrenie, Gehirnwäsche
oder multiple Persönlichkeiten studiert, die überall umherlagen,
obwohl er schon seit Jahren nur noch als Gutachter
praktizierte.
Marc fragte sich auch nicht, weshalb das Licht aus dem
Kaminzimmer erst jetzt zu ihm nach draußen drang. Ein
Spiegel über der Kommode reflektierte die Strahlen, so
dass es für einen Moment so wirkte, als trage der Professor
einen Heiligenschein. Dann trat der alte Mann einen
Schritt zurück, und der Effekt war verschwunden.
Marc seufzte, lehnte sich erschöpft mit der gesunden Schulter
an den Türrahmen und hob die zertrümmerte Hand.
»Bitte ...«, flehte er. »Sie müssen es mir sagen.«
Seine Zunge schlug beim Reden an lose Schneidezähne.
Er hustete, und ein dünner Blutstropfen löste sich aus der
Nase.
»Ich weiß nicht, was mit mir geschieht.«
Der Arzt nickte bedächtig, als fiele es ihm schwer, den
Kopf zu bewegen. Jeder andere wäre bei seinem Anblick
schockiert zusammengezuckt, hätte vor Angst die Tür zugeschlagen
oder zumindest sofort medizinische Hilfe gerufen.
Doch Professor Niclas Haberland tat nichts dergleichen.
Er trat lediglich zur Seite und sagte mit leiser,
melancholischer Stimme: »Es tut mir leid, aber Sie kommen
zu spät. Ich kann Ihnen nicht mehr helfen.«
Marc nickte. Mit dieser Antwort hatte er gerechnet. Und er
hatte sich darauf vorbereitet.
»Ich fürchte, Sie haben keine andere Wahl!«, sagte er und
zog die Pistole aus seiner zerrissenen Lederjacke.
2.
Der Professor ging voran, den Flur entlang zum Wohnzimmer.
Marc blieb dicht hinter ihm, die Waffe unablässig
auf Haberlands Oberkörper gerichtet. Dabei war
er froh, dass der alte Mann sich nicht umdrehte und daher
seinen drohenden Schwächeanfall nicht wahrnahm. Kaum
hatte Marc das Haus betreten, war ihm schwindelig geworden.
Der Kopfschmerz, die Übelkeit, die Schweißausbrüche
... all die Symptome, die die psychischen Qualen der
letzten Stunden noch verstärkt hatten, waren mit einem
Mal zurückgekommen. Jetzt wollte er sich am liebsten an
Haberlands Schultern festhalten und sich von ihm ziehen
lassen. Er war müde, so unerträglich müde, und der Flur
schien unendlich viel länger als bei seinem ersten Besuch.
»Hören Sie, es tut mir leid«, wiederholte Haberland, als
sie das Wohnzimmer betraten, dessen hervorstechendes
Merkmal ein offener Kamin war, in dem ein schwächelndes
Feuer langsam ausbrannte. Seine Stimme klang ruhig,
fast mitleidig. »Ich wünschte wirklich, Sie wären früher gekommen.
Jetzt wird die Zeit knapp.«
Haberlands Augen waren völlig ausdruckslos. Wenn er
Angst hatte, konnte er sie ebenso gut verbergen wie der
greise Hund, der in einem kleinen Rattankörbchen vor
dem Fenster schlief. Das sandfarbene Fellknäuel hatte noch
nicht einmal den Kopf gehoben, als sie eingetreten waren.
Marc ging in die Mitte des Raumes und sah sich unschlüssig
um. »Die Zeit wird knapp? Wie meinen Sie das?«
»Sehen Sie sich doch an. Sie sind in einem schlimmeren Zustand
als meine Wohnung.«
Marc erwiderte Haberlands Lächeln, und selbst das tat
ihm weh. Die Inneneinrichtung des Hauses war in der Tat
ebenso ungewöhnlich wie die Lage mitten im Wald. Kein
Möbelstück passte zum anderen. Ein überfülltes Ikearegal
stand neben einer eleganten Biedermeierkommode. Fast
der gesamte Boden war mit Teppichen ausgelegt, von denen
einer unschwer als Badezimmerläufer zu erkennen war, der
auch farblich nicht mit dem handgeknüpften, chinesischen
Seidenteppich harmonierte. Man musste unweigerlich an
eine Rumpelkammer denken, und dennoch schien nichts
an diesem Arrangement zufällig. Jeder einzelne Gegenstand,
vom Grammophon auf dem Teewagen bis zur Ledercouch,
vom Ohrensessel bis zu den Leinenvorhängen,
wirkte wie ein Souvenir aus vergangenen Zeiten. So als hätte
der Professor Angst, die Erinnerung an eine entscheidende
Phase seines Lebens zu verlieren, würde er ein Möbelstück
weggeben. Die medizinischen Fachbücher und
Zeitschriften, die sich nicht nur in den Regalen und auf
dem Schreibtisch, sondern auch auf den Fensterbrettern,
dem Fußboden und sogar im Holzkorb neben dem Kamin
fanden, wirkten wie ein Bindeglied zwischen all dem
Krempel.
»Setzen Sie sich doch«, bat Haberland, als wäre Marc immer
noch ein willkommener Gast. So wie heute Vormittag,
als sie ihn bewusstlos auf die bequeme Polstercouch gelegt
hatten, in deren Kissen man zu ertrinken drohte. Doch
jetzt hätte er sich am liebsten direkt vor das Feuer gesetzt.
Ihm war kalt; so kalt wie noch nie zuvor in seinem Leben.
»Soll ich noch etwas nachlegen?«, fragte Haberland, als
habe er seine Gedanken gelesen.
Ohne eine Antwort abzuwarten, ging er zum Holzkorb,
zog ein Scheit hervor und warf es in den Kamin. Die Flammen
schlugen hoch, und Marc spürte ein nahezu unerträg-
liches Verlangen, die Hände mitten ins Feuer zu strecken,
um endlich die Kälte aus seinem Körper zu vertreiben.
»Was ist mit Ihnen passiert?«
»Wie bitte?« Er benötigte eine Weile, um seinen Blick von
dem Kamin abzuwenden und sich wieder auf Haberland
zu konzentrieren. Der Professor musterte ihn von oben bis
unten.
»Ihre Verletzungen? Wie ist das geschehen?«
»Das war ich selbst.«
Zu Marcs Erstaunen nickte der alte Psychiater nur. »Das
habe ich mir bereits gedacht.«
»Weshalb?«
»Weil Sie sich fragen, ob Sie überhaupt existieren.«
Die Wahrheit schien Marc regelrecht auf das Sofa zu drücken.
Haberland hatte recht. Genau das war sein Problem.
Heute Vormittag noch hatte der Professor sich in Andeutungen
verloren, doch jetzt wollte Marc es ganz genau
wissen. Deshalb saß er schon wieder auf dieser weichen
Couch.
»Sie wollen wissen, ob Sie real sind. Auch aus diesem
Grund haben Sie sich selbst Verletzungen zugefügt. Sie
wollten sicherstellen, dass Sie noch etwas spüren.«
»Woher wissen Sie das?«
Haberland winkte ab. »Erfahrung. Ich war selbst einmal in
einer vergleichbaren Lage wie Sie.«
Der Professor sah auf seine Uhr am Handgelenk. Marc war
sich nicht sicher, aber er glaubte, mehrere Narben rund um
das Armband entdeckt zu haben, die weniger von einem
Messer als von einer Brandwunde herzurühren schienen.
»Ich praktiziere offiziell nicht mehr, aber mein analytisches
Gespür hat mich deshalb noch lange nicht verlassen. Darf
ich fragen, was Sie im Augenblick empfinden?«
»Kälte.«
»Keine Schmerzen?«
»Die sind auszuhalten. Ich glaube, der Schock sitzt noch
zu tief.«
»Aber denken Sie nicht, es wäre besser, wenn Sie nicht hier,
sondern in einer Notaufnahme wären? Ich habe noch nicht
einmal Aspirin im Haus.«
Marc schüttelte den Kopf. »Ich will keine Tabletten. Ich
will nur Gewissheit.«
Er legte die Pistole auf den Couchtisch, die Mündung auf
Haberland gerichtet, der immer noch vor ihm stand.
»Beweisen Sie mir, dass es mich wirklich gibt.«
Der Professor griff sich an den Hinterkopf und kratzte
sich an der etwa bierdeckelgroßen, lichten Stelle in seinem
grauen Haupthaar. »Wissen Sie, was man gemeinhin
über den Unterschied zwischen Mensch und Tier sagt?« Er
deutete auf seinen Hund in dem Körbchen, der im Schlaf
unruhig stöhnte. »Es sei das Bewusstsein. Während wir darüber
reflektieren, warum es uns gibt, wann wir sterben
werden und was nach dem Tode geschieht, verschwendet
ein Tier nicht einen Gedanken daran, ob es überhaupt auf
der Welt ist.«
Während er geredet hatte, war Haberland zu seinem Hund
gegangen. Er kniete sich hin und nahm liebevoll den wuscheligen
Kopf in beide Hände.
»Tarzan hier kann sich noch nicht einmal im Spiegel erkennen.
«
Marc rieb sich etwas Blut von einer Augenbraue, dann glitt
sein Blick zum Fenster. Für einen kurzen Moment hatte er
geglaubt, dort draußen ein Licht in der Dunkelheit ge sehen
zu haben, doch dann war ihm klargeworden, dass das Glas
nur das Flackern des Kamins widerspiegelte. Der Regen
musste zurückgekommen sein, denn die Scheibe war außen
mit winzigen Tropfen überzogen. Nach einer Weile entdeckte
er sein eigenes Spiegelbild weit draußen in der Dunkelheit
über dem See.
»Nun, ich sehe mich noch, aber wie kann ich wissen, dass
der Spiegel nicht lügt?«
»Was hat Sie denn zu der Annahme verleitet, Sie würden
an Wahnvorstellungen leiden?«, stellte Haberland die Gegenfrage.
Marc konzentrierte sich wieder auf die Tröpfchen an der
Scheibe. Sein Spiegelbild schien zu zerlaufen.
Nun, wie wäre es zum Beispiel mit Hochhäusern, die sich
in Luft auflösen, kurz nachdem ich sie verlassen habe? Mit
Menschen, die in meinem Keller gefangen gehalten werden
und mir Bücher übergeben, in denen ich nachlesen kann,
was mir in wenigen Sekunden zustoßen wird? Ach ja, und
dann wären da noch die Toten, die plötzlich wiederauferstehen.
»Weil es für all das, was mir heute widerfahren ist, keine
logische Erklärung gibt«, sagte er leise.
»O doch, die gibt es.«
Marc schnellte herum. »Welche? Bitte sagen Sie es mir.«
»Ich fürchte, dafür fehlt uns die Zeit.« Haberland sah schon
wieder auf seine Uhr. »Uns bleibt nicht mehr viel, bevor
Sie endgültig von hier verschwinden müssen.«
»Wovon sprechen Sie?«, fragte Marc, griff sich seine Waffe
vom Couchtisch und stand auf. »Gehören Sie etwa auch zu
denen? Stecken Sie da mit drin?« Er richtete die Pistole auf
den Kopf des Psychiaters.
Haberland streckte ihm abwehrend beide Hände entgegen.
»Es ist nicht so, wie Sie denken.«
»Ach ja, und woher wissen Sie das?«
Der Professor schüttelte mitleidig den Kopf.
»Raus mit der Sprache!« Marc schrie so laut, dass die Adern
am Hals hervortraten. »Was wissen Sie über mich?«
Die Antwort nahm ihm die Luft zum Atmen.
»Alles.«
Das Feuer loderte auf. Marc musste wegsehen, auf einmal
ertrugen seine Augen die Helligkeit nicht mehr.
»Ich weiß alles, Marc. Und Sie wissen es auch. Sie wollen es
nur nicht wahrhaben.«
»Dann, dann ...« Marcs Augen begannen zu tränen. »...
dann sagen Sie es mir bitte. Was geschieht hier mit mir?«
»Nein, nein, nein.« Haberland faltete die Hände beschwörend
wie zum Gebet. »So funktioniert das nicht. Glauben
Sie mir. Jede Erkenntnis ist wertlos, wenn sie nicht von
innen kommt.«
»Das ist doch scheiße!«, brüllte Marc und schloss kurz die
Augen, um sich besser auf den Schmerz in der Schulter
konzentrieren zu können. Bevor er weiterredete, schluckte
er das Blut herunter, das sich in seinem Mund angesammelt
hatte. »Sagen Sie mir sofort, was hier gespielt wird, oder,
ich schwöre bei Gott, ich bringe Sie um.«
Jetzt zielte er nicht mehr auf den Kopf, sondern genau auf
die Leber des Professors. Auch wenn er nicht richtig traf,
würde die Kugel lebenswichtige Organe zerstören, und
hier draußen käme jede Hilfe zu spät.
Haberland verzog keine Miene.
»Also schön«, sagte er nach einer Weile, in der sie sich
wortlos angestarrt hatten. »Sie wollen die Wahrheit wissen?«
»Ja.«
Der Professor setzte sich langsam in den Ohrensessel und
neigte den Kopf zum Kamin, in dem das Feuer immer
stärker loderte. Seine Stimme wurde zu einem kaum wahrnehmbaren
Flüstern. »Haben Sie jemals eine Geschichte
gehört und sich danach gewünscht, Sie hätten das Ende
niemals erfahren?«
Er drehte sich zu Marc und sah ihn mitleidig an.
»Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.«
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Vollständige Taschenbuchausgabe September 2010
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Printed in Germany
ISBN 978-3-426-50372-0
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Autoren-Porträt von Sebastian Fitzek
Sebastian Fitzek wurde 1971 in Berlin geboren, wo er heute als Journalist und Autor für zahlreiche Hörfunkstationen und TV-Sender tätig ist. Gleich sein erster Psychothriller "Die Therapie" eroberte die Taschenbuch-Bestsellerliste und begeisterte Kritiker wie Leser gleichermaßen. Mit den darauf folgenden Bestsellern "Amokspiel" und "Das Kind" festigte er seinen Ruf als neuer deutscher Star des Psychothrillers.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sebastian Fitzek
- 2010, 21. Aufl., 375 Seiten, Masse: 11,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426503727
- ISBN-13: 9783426503720
- Erscheinungsdatum: 01.09.2010
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