Schuld währt ewig / Kommissar Dühnfort Bd.4
Kriminalroman
'Eine einzige Sekunde hat Susannes Leben für immer verändert. Ein Kind ist tot. Für die junge Frau ein Alptraum, der nie endet, eine Suche nach Sühne, die vergebens ist. Dann sterben zwei Menschen. Sie wurden ermordet. Auch in ihrer Vergangenheit gibt es...
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Produktinformationen zu „Schuld währt ewig / Kommissar Dühnfort Bd.4 “
'Eine einzige Sekunde hat Susannes Leben für immer verändert. Ein Kind ist tot. Für die junge Frau ein Alptraum, der nie endet, eine Suche nach Sühne, die vergebens ist. Dann sterben zwei Menschen. Sie wurden ermordet. Auch in ihrer Vergangenheit gibt es ein düsteres Geheimnis, eine Schuld, die für immer bleibt. Kommissar Dühnfort verfolgt einen Täter, der auf grausame Weise für seine Vorstellung von Gerechtigkeit sorgt. Ein Rächer, der Gleiches mit Gleichem vergilt und keine Gnade kennt.
Klappentext zu „Schuld währt ewig / Kommissar Dühnfort Bd.4 “
Eine einzige Sekunde hat Susannes Leben für immer verändert. Ein Kind ist tot. Für die junge Frau ein Alptraum, der nie endet, eine Suche nach Sühne, die vergebens ist. Dann sterben zwei Menschen. Sie wurden ermordet. Auch in ihrer Vergangenheit gibt es ein düsteres Geheimnis, eine Schuld, die für immer bleibt. Kommissar Dühnfort verfolgt einen Täter, der auf grausame Weise für seine Vorstellung von Gerechtigkeit sorgt. Ein Rächer, der Gleiches mit Gleichem vergilt und keine Gnade kennt.Lese-Probe zu „Schuld währt ewig / Kommissar Dühnfort Bd.4 “
Schuld währt ewig von Inge Löhnig2
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Es war kurz nach fünf und bereits dämmrig. Eugen Voigt sah aus dem Fenster. Er mochte weder Herbst noch Winter. Zu kalt, zu matschig. Selbst frisch gefallenem Schnee konnte er nichts abgewinnen. Rasend schnell wurde er zu einer dreckig-grauen Pampe, die niemand wegräumte und Gehwege in tödliche Fallen verwandelte. Im Winter vor zwei Jahren war er schlimm gestürzt und hatte sich das Becken gebrochen. Seither litt er unter Schmerzen. Egal ob er saß, stand, ging oder lag, seine Knochen quälten ihn in jeder Lebenslage, vor allem bei nasskaltem Wetter. Er mochte die kalte Jahreszeit nicht. Genau genommen mochte er auch den Frühling nicht. Zu unbeständig. Und der Sommer ... Na ja, in Griechenland oder Spanien könnte man ihn sicher gut ertragen. Wärme würde den Schmerz vertreiben. Da war sich Eugen Voigt sicher. Doch für eine derartige Reise fehlte ihm das Geld. Als Folge des Sturzes war er seit einigen Wochen Frührentner und konnte derartige Träume vergessen. Er war verurteilt zum Urlaub in München bis ans Ende seiner Tage. Und wem hatte er das zu verdanken? Jemandem, der seiner Räumpflicht nicht nachgekommen war. Der Prozess mit der Versicherung lief und lief und würde wohl bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag währen. Der Anwalt hatte wenig Hoffnung, ein ordentliches Schmerzensgeld herauszuschlagen. Die Schuldfrage war noch immer ungeklärt.
Wenn wenigstens Margot noch bei ihm wäre. Doch sie hatte ihn verlassen. Schon vor vier Jahren, nach über zwanzig Jahren wilder Ehe. Warum? Das hatte er bis heute nicht verstanden.
Was blieb ihm also noch vom Leben?
Seine Schefflera, ein bis an die Decke reichender Ficus Benjamini, eine üppige Dieffenbachia und sein ganzer Stolz, ein mannshoher Kaffeestrauch. Diese Pflanzen umsorgte und pflegte er wie Kinder. Kinder, die ihm nie widersprachen und ihn für seine Fürsorge belohnten, indem sie gut gediehen. Der Mensch brauchte eben eine Aufgabe. Oder zwei. Mit Wässern, Düngen, Beschneiden und Umtopfen war Eugen nicht ausgelastet.
Ächzend verlagerte er das Gewicht aufs andere Bein und stützte sich dabei mit den Armen auf dem Fensterbrett ab. Ein Kissen sorgte dort für ein wenig Komfort.
Seit er Frührentner war, hatte er mehr Zeit für ein Hobby, mit dem er schon vor Margots Auszug begonnen hatte. Block, Stift und die Kamera lagen bereit. Zwölf Megapixel, Spiegelreflex mit einem Teleobjektiv von 3 00 mm Brennweite. Das hatte er schon vor Jahren gekauft. In den guten Zeiten. Heute, mit seiner gekürzten Rente, wäre ein solcher Luxus nicht drin.
Eugen blickte aus dem Schlafzimmerfenster seiner Wohnung, die sich im Erdgeschoss eines Nachkriegsbaus befand, auf die Straße.
Einer noch, und er hatte die Tausend voll. Zur Feier des Tages hatte er bereits eine Flasche Wein aus dem Supermarkt kalt gestellt. Dazu gab es Kassler und Sauerkraut.
Zehn Minuten, vielleicht auch eine Viertelstunde würde es noch hell genug sein, um eine gute Aufnahme zu machen. Irgendein Depp würde sich doch heute noch finden, der glaubte, dass Regeln nur für andere galten. So wie Nummer 999, ein dunkelblauer SUV, der schon seit fünfzehn Minuten in der Feuerwehranfahrtszone ein Stück weiter unten in der Straße parkte. Mit dem Teleobjektiv hatte Eugen ihn erwischt. Kennzeichen, Datum und Uhrzeit waren in den dafür vorgesehenen Spalten auf dem Block notiert.
Im Haus gegenüber brannten bereits seit einer Stunde alle Lichter in den Erdgeschossräumen. Was für eine Energieverschwendung. Dieser Architekt, der dort sein Büro hatte, schien keine Geldsorgen zu haben. Schicke Anzüge, tolle Frau, dickes Auto. 22-mal hatte Eugen ihn schon angezeigt. Parken auf dem Gehweg, im absoluten Halteverbot, in der Feuerwehranfahrtszone und natürlich wegen Fahrens durch eine Einbahnstraße in verkehrter Richtung. Diese Abkürzung nahmen viele. Fünfzig Meter durch eine einspurige Gasse, die ein Stück weiter oben abzweigte, und man ersparte sich einen Umweg von mehreren hundert Metern. Seit Eugen aufpasste, trauten sich die Anwohner allerdings nur noch selten, diesen Weg zu nutzen. Nummer 1000 würde der Architekt Jens Flade daher vermutlich nicht werden.
Langsam wurde Eugen ungeduldig. Er hatte sich darauf eingestellt, heute zu feiern, und wollte es nicht auf morgen verschieben. Sicherheitshalber drehte er mit der ISO-Einstellung die Lichtempfindlichkeit der Kamera höher. So konnte er auch bei wenig Licht gute Aufnahmen machen.
Kaum war er damit fertig, rührte sich im Haus gegenüber etwas. Die Lichter im Architekturbüro verlöschten. Einen Augenblick später wurde weiter unten in der Straße der SUV gestartet. Wenn er Glück hatte, würde der Fahrer die Abkürzung nehmen. Wer rücksichtslos parkte, fuhr auch so.
Eugen öffnete das Fenster, griff nach der Kamera und machte sich bereit. Kälte drang ins Zimmer. Die Tür im Haus gegenüber wurde geöffnet. Flade trat heraus. Er hielt sein Handy ans Ohr gepresst und blieb einen Moment telefonierend auf dem Gehweg stehen.
Der SUV blinkte und parkte aus. Eugen konzentrierte sich auf das Fahrzeug, fokussierte es im Sucher und folgte ihm. Im Gegensatz zu Flade war der Halter ein Energiesparer. Die Scheinwerfer blieben aus. Dunkel war es ja noch nicht. Bei Zwielicht war Beleuchtung nicht zwingend vorge schrieben.
Der Wagen fuhr am Fenster vorbei. Inzwischen überquerte Flade die Straße. Mit der einen Hand noch immer das Handy am Ohr, mit der anderen zog er die Wagenschlüssel aus der Manteltasche. Das Auto fuhr auf den Mann zu. So langsam sollte der mal vom Gas gehen, dachte Eugen. Instinktiv drückte er den Auslöser, da hörte er schon den dumpfen Aufprall. Adrenalin schoss durch seinen Körper. Der Zeigefinger blieb auf dem kleinen Knopf. In rascher Folge klickte es. Flade wurde auf die Straße geschleudert und Sekundenbruchteile später überrollt. Bremslichter leuchteten auf. Der SUV hielt an. Niemand stieg aus. Eugen fotografierte noch immer. Das Fahrzeug fuhr an, als sei nichts geschehen, und verschwand durch die Einbahnstraße. Stimmen wurden laut. Aus der Bäckerei kam eine Frau gelaufen. Ein Radfahrer stoppte. Jemand schrie, man solle einen Notarzt rufen. Eugen schloss das Fenster und zog die Gardinen vor. Nummer 1000 hatte er im Kasten. Seine Hände zitterten.
Aus dem Kühlschrank holte er die Flasche Wein und schob das Kassler in die Mikrowelle.
Was genau war eigentlich passiert?
Während sein Essen aufgewärmt wurde, trank Eugen auf den Schreck einen Obstbrand und sah sich dann auf dem Display die Aufnahmen an.
Der Wagen war nicht schnell gefahren. Seiner Schätzung nach etwa vierzig, vielleicht etwas mehr. So brachte man niemanden absichtlich um. Da gab man richtig Gas, wollte sicher sein, dass es auch klappte, und vor allem verschwand man schnellstens und machte am besten vorher die Nummernschilder unkenntlich.
Flade hatte telefoniert, war also abgelenkt gewesen, und außerdem hatte er dunkle Kleidung getragen. Vermutlich hatte der Fahrer des SUV ihn in der Dämmerung übersehen und Flade hatte das Fahrzeug nicht bemerkt.
Tragisch. Schrecklich. Ein furchtbares Unglück. Eugen trank noch einen Obstler.
3
Gemeinsam mit Gina verließ Dühnfort das Polizeipräsidium. »Sollen wir erst zu Marcello gehen, oder willst du dich gleich ins Gewühl stürzen?«
»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.« Gina schmunzelte. »Ein Espresso ist doch ein gutes Ziel beim Marathon durch die Möbelhäuser.«
»Ich dachte eher an Doping vor dem Start.«
Gina erklärte sich kurzentschlossen zur Anti-Doping-Beauftragten, versprach aber, bei akuten Entzugserscheinungen seinerseits Milde walten zu lassen. »Neuerdings gibt es ja an jeder Straßenecke drei Coffeeshops.«
Als sie die Fußgängerzone erreichten und aus dem Blickfeld ihres Arbeitsplatzes verschwanden, glitt seine Hand für einen Moment in ihre.
Gina, die eigentlich Regina hieß, wie sie ihm neulich nach Abnehmen eines Schweigegelöbnisses anvertraut hatte, war nicht nur seine Kollegin, gute Freundin und vor allem seine Lebensretterin, die ihn aus dem eiskalten Starnberger See gezogen hatte. Seit beinahe vier Monaten waren sie auch ein Paar. Ein heimliches, dessen Beziehung außerdem keinen leichten Start gehabt hatte.
Während einer Ermittlung im Sommer hatte Dühnfort bemerkt, dass er sich nach mehr sehnte als nur Ginas Freundschaft. Doch er hatte seinen Gefühlen nicht getraut und sich zurückgezogen, obwohl er wusste, was sie für ihn empfand. Ich wäre lieber mit dir gestorben, als ohne dich zu leben. So, nun weißt du das! Zornig hatte sie ihm diese Worte an den Kopf geworfen. Bei dieser Erinnerung musste er lächeln. Sicher die ungewöhnlichste Liebeserklärung, die er je erhalten hatte. Nun ja, viele waren es ohnehin nicht gewesen. Und das war gut so. Er war keiner, der Kerben in seine Bettpfosten schnitzte, wie Gina das mal in Bezug auf ihren Kollegen Alois Fünfanger genannt hatte.
Obwohl er seinen Gefühlen nicht traute, waren Gina und er dennoch eines Nachts im Bett gelandet. Danach hatte sie so getan, als wäre nichts gewesen. Selbstschutz, wie er vermutete. Denn sie glaubte, dass er sich noch immer zu Agnes hingezogen fühlte, zu der Frau, die sich ein Jahr zuvor von ihm getrennt hatte. Kurz und gut: Es war kompliziert gewesen. Bei einer Flasche Merlot mit seinem Freund Schorsch war ihm jedoch klar geworden, dass eigentlich alles ganz einfach war. Er hatte sich in Gina verliebt.
»Wo ist das Problem, Tino?«, hatte der Schorsch gesagt. »Lad sie ein. Koch was Leckeres, und der Rest ergibt sich von ganz allein.«
Gina hakte sich bei ihm ein. »Wollen wir mit dem Möbelladen im Tal anfangen?«
»Warum nicht? Er liegt am nächsten.«
Sie hatten sich den Nachmittag freigenommen und bauten so einige ihrer unzähligen Überstunden ab, um endlich ein neues Bett für ihn zu kaufen. Denn seines war mit einem Meter zwanzig auf Dauer zu schmal für zwei. Einer lag meist absturzbedroht an der Kante, und das war nicht nur unbequem, sondern sorgte mittelfristig für ein Schlafdefizit, das in seinem Alter zu Gereiztheit führte. Es war also höchste Zeit, diesen Zustand zu ändern.
Die Suche entwickelte sich allerdings schwieriger als gedacht. Es gab kaum Betten, die ihm gefielen. Und die, die ihm zusagten, passten entweder nicht zu seiner Schlafzimmereinrichtung oder waren zu teure Designerstücke. Nach über drei Stunden hatten sie alle Möbelgeschäfte der Innenstadt durch und landeten, einem Tipp von Ginas Mutter folgend, nun bei Radspieler.
Als der Verkäufer sie durch die Ausstellungsräume führte, sah Dühnfort es sofort. Das Bett, nachdem er unbewusst gesucht hatte. Eines von Lloyd Loom aus einem Geflecht, das wie Rattan aussah, aber aus gedrehten Papierketten bestand, die einen Metalldraht als Kern enthielten. Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts hatte man Salons und Decks von Ozeandampfern mit Stühlen und Sesseln aus diesem Material ausgestattet. Hohe Qualität und zeitloses Design, das zu seinen Möbeln passte. »Warum sind wir nicht gleich hierhergegangen?«
Gina hob die Hände. »Wir könnten schon längst bei einem Cappuccino sitzen.« Mit einem schelmischen Funkeln in den Augen wandte sie sich an den Verkäufer. »Wir nehmen es. Packen Sie es ein. «
»Unsere Tüten sind leider nicht passend für dieses Format«, entgegnete der Mann. »Wir könnten es liefern.«
Dühnfort liebte Gina, und in diesem Augenblick spürte er es intensiver als je zuvor. Sie machte sein Leben leichter, fröhlicher, unbeschwerter, und vor allem hatte sie die Einsamkeit daraus vertrieben. Fasziniert folgte er dem Dialog, der noch ein Weilchen auf demselben Niveau weiterging, bis der Kauf abgeschlossen und ein Liefertermin vereinbart war.
Als sie auf die Straße traten, nahm er sie in den Arm, küsste sie und dachte nicht daran, dass man sie dabei beobachten und sie auffliegen könnten.
»He, hallo!« Ein wenig atemlos löste Gina sich von ihm. »Das Bett wird erst in ein paar Tagen geliefert, und irgendwie sind wir hier so öffentlich.« Rasch zog sie ihn in einen Hauseingang und erwiderte seinen Kuss.
Dühnfort fühlte sich, als wäre er siebzehn und müsste sich beim Knutschen vor seinem Vater verstecken. Aber es war nicht der Vater, sondern die Kollegen und Vorgesetzen, die nicht wissen durften, dass Gina und er ein Paar waren. Jedenfalls, wenn es nach ihr ging. Er hätte es gerne offiziell gemacht. Doch das würde eine Entscheidung nach sich ziehen, die Gina noch hinauszögern wollte. Es ging allerdings schon zu lange gut. Irgendwann würde jemand eine der vertraulichen Gesten bemerken, die zwischen ihnen so selbstverständlich geworden waren, dass sie immer häufiger vergaßen, auf das Umfeld zu achten. Über kurz oder lang würden sie sich beruflich trennen müssen, denn er war ihr Chef.
Als seine Partnerin hatte sie ein Aussageverweigerungsrecht, falls es wegen eines Einsatzes zu Ermittlungen gegen ihn kommen sollte, und umgekehrt. Außerdem musste Dühnfort als Vorgesetzter nicht nur Beurteilungen über seine Mitarbeiter schreiben, sondern auch über Urlaubsanträge entscheiden, ebenso über Einsätze und Weiterbildungskurse, und dabei konnte er seine Partnerin bevorzugen. Auch wenn er das nicht tat und objektiv blieb, konnte der Eindruck von Parteilichkeit entstehen und Unruhe ins Team tragen. Also musste einer von ihnen in eine andere Kommission oder Abteilung wechseln. Und wer das war, sah der Dienstherr ebenfalls vor. Nicht der Vorgesetzte.
Gina war mit Leib und Seele Mordermittlerin und seit Jahren unersetzliche Kollegin in Dühnforts Team. Sie grub sich regelrecht in die Fälle ein und zog regelmäßig mit erstaunlicher Hartnäckigkeit neue Fakten ans Tageslicht. Sie war einfach gut. Eigentlich wollte er sie in seinem Team nicht missen. Und sie wollte nicht gehen. Doch es ließ sich nicht verhindern, und deshalb drängte Dühnfort in letzter Zeit darauf, das Versteckspiel zu beenden.
»Du grübelst wieder.« Gina strich über eine Falte an seiner Nasenwurzel. »Helmbichler? Oder lässt dich das kalt?« Dühnfort schob das eine Problem beiseite und besann sich auf das andere. »Nein. Das nicht. Aber man sollte es auch nicht überbewerten. Es ist beinahe sieben Jahre her, dass er Rache geschworen hat, und in der letzten Zeit hat er es nicht wiederholt.«
»Vielleicht Taktik. Jetzt ist er raus. Jetzt hat er die Möglichkeit. Vorher, den Umständen entsprechend, nicht.« Ein halbherziges Lächeln erschien auf Ginas Gesicht.
Dühnfort nahm die Warnung nicht auf die leichte Schulter, die sein Chef, Kriminaloberrat Leonhard Heigl, ihm vor einigen Tagen hatte zukommen lassen, aber er sah auch keinen Grund, in Panik oder übertriebene Vorsicht zu verfallen. Helmbichler war letzte Woche entlassen worden und in Passau bei Verwandten untergekommen.
»Komm, lass uns zu Marcello gehen.« Er legte seinen Arm um ihre Schultern, in der Erwartung, dass sie ihn gleich wieder abschütteln würde. Er liebte Gina und wollte das auch zeigen. Andererseits ... Er verstand sie ja. Also ließ er den Arm wieder sinken. Schweigend gingen sie die Hackenstraße entlang. Ihr Atem kondensierte in der kalten Luft. Die Sonne verschwand hinter den Dächern der Stadt und ließ die kahlen Bäume, flanierenden Menschen und dichtstehenden Häuser lange Schatten werfen. Marcellos kleine Espressobar am Rindermarkt war überfüllt. Sie schlenderten weiter über den Viktualienmarkt zum Stadtcafé.
»Passau ist nicht aus der Welt. Ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache.« Gina schob die Hände fröstelnd in die Manteltaschen. »Ich habe mich mal umgehört. Helmbichlers Frau hat sich scheiden lassen, während er saß. Das Geschäft ist in Konkurs gegangen, und das Haus wurde versteigert. Er hat alles verloren. Und er fühlt sich von dir geleimt. Er wird dir die Schuld an seinem Untergang geben.«
Eine Messerstecherei vor sieben Jahren war Dühnforts erster Fall in München gewesen. Es gab Zeugen und es gab Sachbeweise. Unauffindbar blieb allerdings die Tatwaffe, laut Aussagen ein Butterflymesser. Helmbichler rückte schnell in den Fokus der Ermittlungen, die Beweislage war erdrückend. Was fehlte, um den Fall rundum abzuschließen, waren die Waffe und ein Geständnis. Und das hatte Dühnfort ihm in einer langen Nacht ebenso entlockt wie den Hinweis, wo das Messer zu finden war. Am nächsten Tag hatte Helmbichler das Geständnis widerrufen. Trotzdem wurde er aufgrund einer lückenlosen Indizienkette wegen Totschlags zu sieben Jahren Haft verurteilt und hatte damals geschworen, an Dühnfort Rache zu nehmen, dem Mistkerl, der ihn gelinkt hatte.
»Schuld hat alleine er.« Ein Stein lag auf dem Pflaster. Dühnfort kickte ihn beiseite. »Die Verantwortung für sein Handeln trägt jeder selbst. Helmbichler hat seine Strafe verbüßt und kann neu beginnen. Diese Chance sollte er nutzen.« So weit die Theorie, fügte er in Gedanken hinzu. Einfacher war es natürlich, die Schuld von sich zu weisen und anderen unterzujubeln. So wurde man zum bemitleidenswerten Opfer. »Mach dir keine Sorgen. Ich passe schon auf mich auf.« Er strich ihr eine der dunklen Haarsträhnen hinters Ohr, die ihr immer wieder ins Gesicht fielen.
»Jedenfalls solltest du deine Dienstwaffe in nächster Zeit immer bei dir tragen. Versprich mir das, ja? « In ihren dunklen Augen lag Sorge, die von einem Lächeln vertrieben wurde. »Auch wenn du im Ernstfall vermutlich danebenschießt. Es würde mich trotzdem beruhigen.«
Er stimmte in ihr Lachen ein. Beim letzten Schießtraining hatte er keinen guten Tag gehabt. Ganz im Gegensatz zu Alois. Der hatte wieder einmal die volle Punktzahl abgeräumt, was Gina zu der Vermutung veranlasst hatte, er verwende ferngesteuerte Projektile.
Sie erreichten das Stadtcafé. Gina rieb sich die Hände.
»Saukalt heute. Jetzt freue ich mich richtig auf einen heißen Cappuccino mit ganz viel Milchschaum.«
Das Handy in Dühnforts Manteltasche begann zu vibrieren. Er zog es hervor, während er Gina die Tür aufhielt. Staatsanwalt Christoph Leyenfels meldete sich. »Hallo, Tino, tut mir leid, dich zu stören. Wir haben hier einen etwas seltsamen Verkehrsunfall mit einem Toten. Ich würde mich wohler fühlen, wenn ihr das übernehmt.«
Es war kurz nach fünf und bereits dämmrig. Eugen Voigt sah aus dem Fenster. Er mochte weder Herbst noch Winter. Zu kalt, zu matschig. Selbst frisch gefallenem Schnee konnte er nichts abgewinnen. Rasend schnell wurde er zu einer dreckig-grauen Pampe, die niemand wegräumte und Gehwege in tödliche Fallen verwandelte. Im Winter vor zwei Jahren war er schlimm gestürzt und hatte sich das Becken gebrochen. Seither litt er unter Schmerzen. Egal ob er saß, stand, ging oder lag, seine Knochen quälten ihn in jeder Lebenslage, vor allem bei nasskaltem Wetter. Er mochte die kalte Jahreszeit nicht. Genau genommen mochte er auch den Frühling nicht. Zu unbeständig. Und der Sommer ... Na ja, in Griechenland oder Spanien könnte man ihn sicher gut ertragen. Wärme würde den Schmerz vertreiben. Da war sich Eugen Voigt sicher. Doch für eine derartige Reise fehlte ihm das Geld. Als Folge des Sturzes war er seit einigen Wochen Frührentner und konnte derartige Träume vergessen. Er war verurteilt zum Urlaub in München bis ans Ende seiner Tage. Und wem hatte er das zu verdanken? Jemandem, der seiner Räumpflicht nicht nachgekommen war. Der Prozess mit der Versicherung lief und lief und würde wohl bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag währen. Der Anwalt hatte wenig Hoffnung, ein ordentliches Schmerzensgeld herauszuschlagen. Die Schuldfrage war noch immer ungeklärt.
Wenn wenigstens Margot noch bei ihm wäre. Doch sie hatte ihn verlassen. Schon vor vier Jahren, nach über zwanzig Jahren wilder Ehe. Warum? Das hatte er bis heute nicht verstanden.
Was blieb ihm also noch vom Leben?
Seine Schefflera, ein bis an die Decke reichender Ficus Benjamini, eine üppige Dieffenbachia und sein ganzer Stolz, ein mannshoher Kaffeestrauch. Diese Pflanzen umsorgte und pflegte er wie Kinder. Kinder, die ihm nie widersprachen und ihn für seine Fürsorge belohnten, indem sie gut gediehen. Der Mensch brauchte eben eine Aufgabe. Oder zwei. Mit Wässern, Düngen, Beschneiden und Umtopfen war Eugen nicht ausgelastet.
Ächzend verlagerte er das Gewicht aufs andere Bein und stützte sich dabei mit den Armen auf dem Fensterbrett ab. Ein Kissen sorgte dort für ein wenig Komfort.
Seit er Frührentner war, hatte er mehr Zeit für ein Hobby, mit dem er schon vor Margots Auszug begonnen hatte. Block, Stift und die Kamera lagen bereit. Zwölf Megapixel, Spiegelreflex mit einem Teleobjektiv von 3 00 mm Brennweite. Das hatte er schon vor Jahren gekauft. In den guten Zeiten. Heute, mit seiner gekürzten Rente, wäre ein solcher Luxus nicht drin.
Eugen blickte aus dem Schlafzimmerfenster seiner Wohnung, die sich im Erdgeschoss eines Nachkriegsbaus befand, auf die Straße.
Einer noch, und er hatte die Tausend voll. Zur Feier des Tages hatte er bereits eine Flasche Wein aus dem Supermarkt kalt gestellt. Dazu gab es Kassler und Sauerkraut.
Zehn Minuten, vielleicht auch eine Viertelstunde würde es noch hell genug sein, um eine gute Aufnahme zu machen. Irgendein Depp würde sich doch heute noch finden, der glaubte, dass Regeln nur für andere galten. So wie Nummer 999, ein dunkelblauer SUV, der schon seit fünfzehn Minuten in der Feuerwehranfahrtszone ein Stück weiter unten in der Straße parkte. Mit dem Teleobjektiv hatte Eugen ihn erwischt. Kennzeichen, Datum und Uhrzeit waren in den dafür vorgesehenen Spalten auf dem Block notiert.
Im Haus gegenüber brannten bereits seit einer Stunde alle Lichter in den Erdgeschossräumen. Was für eine Energieverschwendung. Dieser Architekt, der dort sein Büro hatte, schien keine Geldsorgen zu haben. Schicke Anzüge, tolle Frau, dickes Auto. 22-mal hatte Eugen ihn schon angezeigt. Parken auf dem Gehweg, im absoluten Halteverbot, in der Feuerwehranfahrtszone und natürlich wegen Fahrens durch eine Einbahnstraße in verkehrter Richtung. Diese Abkürzung nahmen viele. Fünfzig Meter durch eine einspurige Gasse, die ein Stück weiter oben abzweigte, und man ersparte sich einen Umweg von mehreren hundert Metern. Seit Eugen aufpasste, trauten sich die Anwohner allerdings nur noch selten, diesen Weg zu nutzen. Nummer 1000 würde der Architekt Jens Flade daher vermutlich nicht werden.
Langsam wurde Eugen ungeduldig. Er hatte sich darauf eingestellt, heute zu feiern, und wollte es nicht auf morgen verschieben. Sicherheitshalber drehte er mit der ISO-Einstellung die Lichtempfindlichkeit der Kamera höher. So konnte er auch bei wenig Licht gute Aufnahmen machen.
Kaum war er damit fertig, rührte sich im Haus gegenüber etwas. Die Lichter im Architekturbüro verlöschten. Einen Augenblick später wurde weiter unten in der Straße der SUV gestartet. Wenn er Glück hatte, würde der Fahrer die Abkürzung nehmen. Wer rücksichtslos parkte, fuhr auch so.
Eugen öffnete das Fenster, griff nach der Kamera und machte sich bereit. Kälte drang ins Zimmer. Die Tür im Haus gegenüber wurde geöffnet. Flade trat heraus. Er hielt sein Handy ans Ohr gepresst und blieb einen Moment telefonierend auf dem Gehweg stehen.
Der SUV blinkte und parkte aus. Eugen konzentrierte sich auf das Fahrzeug, fokussierte es im Sucher und folgte ihm. Im Gegensatz zu Flade war der Halter ein Energiesparer. Die Scheinwerfer blieben aus. Dunkel war es ja noch nicht. Bei Zwielicht war Beleuchtung nicht zwingend vorge schrieben.
Der Wagen fuhr am Fenster vorbei. Inzwischen überquerte Flade die Straße. Mit der einen Hand noch immer das Handy am Ohr, mit der anderen zog er die Wagenschlüssel aus der Manteltasche. Das Auto fuhr auf den Mann zu. So langsam sollte der mal vom Gas gehen, dachte Eugen. Instinktiv drückte er den Auslöser, da hörte er schon den dumpfen Aufprall. Adrenalin schoss durch seinen Körper. Der Zeigefinger blieb auf dem kleinen Knopf. In rascher Folge klickte es. Flade wurde auf die Straße geschleudert und Sekundenbruchteile später überrollt. Bremslichter leuchteten auf. Der SUV hielt an. Niemand stieg aus. Eugen fotografierte noch immer. Das Fahrzeug fuhr an, als sei nichts geschehen, und verschwand durch die Einbahnstraße. Stimmen wurden laut. Aus der Bäckerei kam eine Frau gelaufen. Ein Radfahrer stoppte. Jemand schrie, man solle einen Notarzt rufen. Eugen schloss das Fenster und zog die Gardinen vor. Nummer 1000 hatte er im Kasten. Seine Hände zitterten.
Aus dem Kühlschrank holte er die Flasche Wein und schob das Kassler in die Mikrowelle.
Was genau war eigentlich passiert?
Während sein Essen aufgewärmt wurde, trank Eugen auf den Schreck einen Obstbrand und sah sich dann auf dem Display die Aufnahmen an.
Der Wagen war nicht schnell gefahren. Seiner Schätzung nach etwa vierzig, vielleicht etwas mehr. So brachte man niemanden absichtlich um. Da gab man richtig Gas, wollte sicher sein, dass es auch klappte, und vor allem verschwand man schnellstens und machte am besten vorher die Nummernschilder unkenntlich.
Flade hatte telefoniert, war also abgelenkt gewesen, und außerdem hatte er dunkle Kleidung getragen. Vermutlich hatte der Fahrer des SUV ihn in der Dämmerung übersehen und Flade hatte das Fahrzeug nicht bemerkt.
Tragisch. Schrecklich. Ein furchtbares Unglück. Eugen trank noch einen Obstler.
3
Gemeinsam mit Gina verließ Dühnfort das Polizeipräsidium. »Sollen wir erst zu Marcello gehen, oder willst du dich gleich ins Gewühl stürzen?«
»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.« Gina schmunzelte. »Ein Espresso ist doch ein gutes Ziel beim Marathon durch die Möbelhäuser.«
»Ich dachte eher an Doping vor dem Start.«
Gina erklärte sich kurzentschlossen zur Anti-Doping-Beauftragten, versprach aber, bei akuten Entzugserscheinungen seinerseits Milde walten zu lassen. »Neuerdings gibt es ja an jeder Straßenecke drei Coffeeshops.«
Als sie die Fußgängerzone erreichten und aus dem Blickfeld ihres Arbeitsplatzes verschwanden, glitt seine Hand für einen Moment in ihre.
Gina, die eigentlich Regina hieß, wie sie ihm neulich nach Abnehmen eines Schweigegelöbnisses anvertraut hatte, war nicht nur seine Kollegin, gute Freundin und vor allem seine Lebensretterin, die ihn aus dem eiskalten Starnberger See gezogen hatte. Seit beinahe vier Monaten waren sie auch ein Paar. Ein heimliches, dessen Beziehung außerdem keinen leichten Start gehabt hatte.
Während einer Ermittlung im Sommer hatte Dühnfort bemerkt, dass er sich nach mehr sehnte als nur Ginas Freundschaft. Doch er hatte seinen Gefühlen nicht getraut und sich zurückgezogen, obwohl er wusste, was sie für ihn empfand. Ich wäre lieber mit dir gestorben, als ohne dich zu leben. So, nun weißt du das! Zornig hatte sie ihm diese Worte an den Kopf geworfen. Bei dieser Erinnerung musste er lächeln. Sicher die ungewöhnlichste Liebeserklärung, die er je erhalten hatte. Nun ja, viele waren es ohnehin nicht gewesen. Und das war gut so. Er war keiner, der Kerben in seine Bettpfosten schnitzte, wie Gina das mal in Bezug auf ihren Kollegen Alois Fünfanger genannt hatte.
Obwohl er seinen Gefühlen nicht traute, waren Gina und er dennoch eines Nachts im Bett gelandet. Danach hatte sie so getan, als wäre nichts gewesen. Selbstschutz, wie er vermutete. Denn sie glaubte, dass er sich noch immer zu Agnes hingezogen fühlte, zu der Frau, die sich ein Jahr zuvor von ihm getrennt hatte. Kurz und gut: Es war kompliziert gewesen. Bei einer Flasche Merlot mit seinem Freund Schorsch war ihm jedoch klar geworden, dass eigentlich alles ganz einfach war. Er hatte sich in Gina verliebt.
»Wo ist das Problem, Tino?«, hatte der Schorsch gesagt. »Lad sie ein. Koch was Leckeres, und der Rest ergibt sich von ganz allein.«
Gina hakte sich bei ihm ein. »Wollen wir mit dem Möbelladen im Tal anfangen?«
»Warum nicht? Er liegt am nächsten.«
Sie hatten sich den Nachmittag freigenommen und bauten so einige ihrer unzähligen Überstunden ab, um endlich ein neues Bett für ihn zu kaufen. Denn seines war mit einem Meter zwanzig auf Dauer zu schmal für zwei. Einer lag meist absturzbedroht an der Kante, und das war nicht nur unbequem, sondern sorgte mittelfristig für ein Schlafdefizit, das in seinem Alter zu Gereiztheit führte. Es war also höchste Zeit, diesen Zustand zu ändern.
Die Suche entwickelte sich allerdings schwieriger als gedacht. Es gab kaum Betten, die ihm gefielen. Und die, die ihm zusagten, passten entweder nicht zu seiner Schlafzimmereinrichtung oder waren zu teure Designerstücke. Nach über drei Stunden hatten sie alle Möbelgeschäfte der Innenstadt durch und landeten, einem Tipp von Ginas Mutter folgend, nun bei Radspieler.
Als der Verkäufer sie durch die Ausstellungsräume führte, sah Dühnfort es sofort. Das Bett, nachdem er unbewusst gesucht hatte. Eines von Lloyd Loom aus einem Geflecht, das wie Rattan aussah, aber aus gedrehten Papierketten bestand, die einen Metalldraht als Kern enthielten. Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts hatte man Salons und Decks von Ozeandampfern mit Stühlen und Sesseln aus diesem Material ausgestattet. Hohe Qualität und zeitloses Design, das zu seinen Möbeln passte. »Warum sind wir nicht gleich hierhergegangen?«
Gina hob die Hände. »Wir könnten schon längst bei einem Cappuccino sitzen.« Mit einem schelmischen Funkeln in den Augen wandte sie sich an den Verkäufer. »Wir nehmen es. Packen Sie es ein. «
»Unsere Tüten sind leider nicht passend für dieses Format«, entgegnete der Mann. »Wir könnten es liefern.«
Dühnfort liebte Gina, und in diesem Augenblick spürte er es intensiver als je zuvor. Sie machte sein Leben leichter, fröhlicher, unbeschwerter, und vor allem hatte sie die Einsamkeit daraus vertrieben. Fasziniert folgte er dem Dialog, der noch ein Weilchen auf demselben Niveau weiterging, bis der Kauf abgeschlossen und ein Liefertermin vereinbart war.
Als sie auf die Straße traten, nahm er sie in den Arm, küsste sie und dachte nicht daran, dass man sie dabei beobachten und sie auffliegen könnten.
»He, hallo!« Ein wenig atemlos löste Gina sich von ihm. »Das Bett wird erst in ein paar Tagen geliefert, und irgendwie sind wir hier so öffentlich.« Rasch zog sie ihn in einen Hauseingang und erwiderte seinen Kuss.
Dühnfort fühlte sich, als wäre er siebzehn und müsste sich beim Knutschen vor seinem Vater verstecken. Aber es war nicht der Vater, sondern die Kollegen und Vorgesetzen, die nicht wissen durften, dass Gina und er ein Paar waren. Jedenfalls, wenn es nach ihr ging. Er hätte es gerne offiziell gemacht. Doch das würde eine Entscheidung nach sich ziehen, die Gina noch hinauszögern wollte. Es ging allerdings schon zu lange gut. Irgendwann würde jemand eine der vertraulichen Gesten bemerken, die zwischen ihnen so selbstverständlich geworden waren, dass sie immer häufiger vergaßen, auf das Umfeld zu achten. Über kurz oder lang würden sie sich beruflich trennen müssen, denn er war ihr Chef.
Als seine Partnerin hatte sie ein Aussageverweigerungsrecht, falls es wegen eines Einsatzes zu Ermittlungen gegen ihn kommen sollte, und umgekehrt. Außerdem musste Dühnfort als Vorgesetzter nicht nur Beurteilungen über seine Mitarbeiter schreiben, sondern auch über Urlaubsanträge entscheiden, ebenso über Einsätze und Weiterbildungskurse, und dabei konnte er seine Partnerin bevorzugen. Auch wenn er das nicht tat und objektiv blieb, konnte der Eindruck von Parteilichkeit entstehen und Unruhe ins Team tragen. Also musste einer von ihnen in eine andere Kommission oder Abteilung wechseln. Und wer das war, sah der Dienstherr ebenfalls vor. Nicht der Vorgesetzte.
Gina war mit Leib und Seele Mordermittlerin und seit Jahren unersetzliche Kollegin in Dühnforts Team. Sie grub sich regelrecht in die Fälle ein und zog regelmäßig mit erstaunlicher Hartnäckigkeit neue Fakten ans Tageslicht. Sie war einfach gut. Eigentlich wollte er sie in seinem Team nicht missen. Und sie wollte nicht gehen. Doch es ließ sich nicht verhindern, und deshalb drängte Dühnfort in letzter Zeit darauf, das Versteckspiel zu beenden.
»Du grübelst wieder.« Gina strich über eine Falte an seiner Nasenwurzel. »Helmbichler? Oder lässt dich das kalt?« Dühnfort schob das eine Problem beiseite und besann sich auf das andere. »Nein. Das nicht. Aber man sollte es auch nicht überbewerten. Es ist beinahe sieben Jahre her, dass er Rache geschworen hat, und in der letzten Zeit hat er es nicht wiederholt.«
»Vielleicht Taktik. Jetzt ist er raus. Jetzt hat er die Möglichkeit. Vorher, den Umständen entsprechend, nicht.« Ein halbherziges Lächeln erschien auf Ginas Gesicht.
Dühnfort nahm die Warnung nicht auf die leichte Schulter, die sein Chef, Kriminaloberrat Leonhard Heigl, ihm vor einigen Tagen hatte zukommen lassen, aber er sah auch keinen Grund, in Panik oder übertriebene Vorsicht zu verfallen. Helmbichler war letzte Woche entlassen worden und in Passau bei Verwandten untergekommen.
»Komm, lass uns zu Marcello gehen.« Er legte seinen Arm um ihre Schultern, in der Erwartung, dass sie ihn gleich wieder abschütteln würde. Er liebte Gina und wollte das auch zeigen. Andererseits ... Er verstand sie ja. Also ließ er den Arm wieder sinken. Schweigend gingen sie die Hackenstraße entlang. Ihr Atem kondensierte in der kalten Luft. Die Sonne verschwand hinter den Dächern der Stadt und ließ die kahlen Bäume, flanierenden Menschen und dichtstehenden Häuser lange Schatten werfen. Marcellos kleine Espressobar am Rindermarkt war überfüllt. Sie schlenderten weiter über den Viktualienmarkt zum Stadtcafé.
»Passau ist nicht aus der Welt. Ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache.« Gina schob die Hände fröstelnd in die Manteltaschen. »Ich habe mich mal umgehört. Helmbichlers Frau hat sich scheiden lassen, während er saß. Das Geschäft ist in Konkurs gegangen, und das Haus wurde versteigert. Er hat alles verloren. Und er fühlt sich von dir geleimt. Er wird dir die Schuld an seinem Untergang geben.«
Eine Messerstecherei vor sieben Jahren war Dühnforts erster Fall in München gewesen. Es gab Zeugen und es gab Sachbeweise. Unauffindbar blieb allerdings die Tatwaffe, laut Aussagen ein Butterflymesser. Helmbichler rückte schnell in den Fokus der Ermittlungen, die Beweislage war erdrückend. Was fehlte, um den Fall rundum abzuschließen, waren die Waffe und ein Geständnis. Und das hatte Dühnfort ihm in einer langen Nacht ebenso entlockt wie den Hinweis, wo das Messer zu finden war. Am nächsten Tag hatte Helmbichler das Geständnis widerrufen. Trotzdem wurde er aufgrund einer lückenlosen Indizienkette wegen Totschlags zu sieben Jahren Haft verurteilt und hatte damals geschworen, an Dühnfort Rache zu nehmen, dem Mistkerl, der ihn gelinkt hatte.
»Schuld hat alleine er.« Ein Stein lag auf dem Pflaster. Dühnfort kickte ihn beiseite. »Die Verantwortung für sein Handeln trägt jeder selbst. Helmbichler hat seine Strafe verbüßt und kann neu beginnen. Diese Chance sollte er nutzen.« So weit die Theorie, fügte er in Gedanken hinzu. Einfacher war es natürlich, die Schuld von sich zu weisen und anderen unterzujubeln. So wurde man zum bemitleidenswerten Opfer. »Mach dir keine Sorgen. Ich passe schon auf mich auf.« Er strich ihr eine der dunklen Haarsträhnen hinters Ohr, die ihr immer wieder ins Gesicht fielen.
»Jedenfalls solltest du deine Dienstwaffe in nächster Zeit immer bei dir tragen. Versprich mir das, ja? « In ihren dunklen Augen lag Sorge, die von einem Lächeln vertrieben wurde. »Auch wenn du im Ernstfall vermutlich danebenschießt. Es würde mich trotzdem beruhigen.«
Er stimmte in ihr Lachen ein. Beim letzten Schießtraining hatte er keinen guten Tag gehabt. Ganz im Gegensatz zu Alois. Der hatte wieder einmal die volle Punktzahl abgeräumt, was Gina zu der Vermutung veranlasst hatte, er verwende ferngesteuerte Projektile.
Sie erreichten das Stadtcafé. Gina rieb sich die Hände.
»Saukalt heute. Jetzt freue ich mich richtig auf einen heißen Cappuccino mit ganz viel Milchschaum.«
Das Handy in Dühnforts Manteltasche begann zu vibrieren. Er zog es hervor, während er Gina die Tür aufhielt. Staatsanwalt Christoph Leyenfels meldete sich. »Hallo, Tino, tut mir leid, dich zu stören. Wir haben hier einen etwas seltsamen Verkehrsunfall mit einem Toten. Ich würde mich wohler fühlen, wenn ihr das übernehmt.«
... weniger
Autoren-Porträt von Inge Löhnig
Löhnig, Inge Schon als Kind verfügte Inge Löhnig über so viel Fantasie, dass ihre Geschichten noch heute in der Familie legendär sind. Neben dem Beruf als Grafik-Designerin war Schreiben lange ein Hobby. Erst mit dem Erscheinen der Reihe um den Münchner Kommissar Konstantin Dühnfort wurde daraus die neue Profession. Die Kriminal-Romane von Inge Löhnig sind ebenso regelmässig auf der Bestsellerliste zu finden, wie die spannenden Familien-Romane, die sie unter dem Pseudonym Ellen Sandberg veröffentlicht. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.
Bibliographische Angaben
- Autor: Inge Löhnig
- 2011, 6. Aufl., 448 Seiten, Masse: 11,8 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548610692
- ISBN-13: 9783548610696
- Erscheinungsdatum: 08.11.2011
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