Zweite Welten
Und andere Lebenselixiere
»Warum lebt kaum jemand so, wie er es richtig findet?«
Nach dem grossen Erfolg von »Wofür es sich zu leben lohnt« treibt Robert Pfaller seine Kulturkritik in politischer Absicht weiter. Die erste Welt ist die unseres wirklichen Lebens mit allen Mühen,...
Nach dem grossen Erfolg von »Wofür es sich zu leben lohnt« treibt Robert Pfaller seine Kulturkritik in politischer Absicht weiter. Die erste Welt ist die unseres wirklichen Lebens mit allen Mühen,...
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Produktinformationen zu „Zweite Welten “
Klappentext zu „Zweite Welten “
»Warum lebt kaum jemand so, wie er es richtig findet?«Nach dem grossen Erfolg von »Wofür es sich zu leben lohnt« treibt Robert Pfaller seine Kulturkritik in politischer Absicht weiter. Die erste Welt ist die unseres wirklichen Lebens mit allen Mühen, Frustrationen und Kompromissen. Die zweite Welt ist die der Träume, Wünsche und Illusionen. Wie hängen beide zusammen? Braucht man die zweiten, um die erste zu ertragen? Er untersucht die komplizierte Dialektik von Realität und Wunsch und entfaltet sie an so unterschiedlichen Themen wie dem Staunen, der Illusion, der Komödie oder der Katharsis, der Serie »Sex and the City« oder dem Phänomen der »Interpassivität«. Seine Diagnose: Wenn wir keine Phantasie mehr haben, aus der wir erleichtert ins Leben flüchten können, gerät uns das Leben selbst zu einem auswegslosen Alptraum.
Lese-Probe zu „Zweite Welten “
Zweite Welten von Robert Pfaller2. Sexualität und die Wahrheit der Stadt
Die philosophischen Lektionen von »Sex and the City«
1.
... mehr
Die von HBO produzierte und zwischen 1998 und 2004 in den USA erstmals ausgestrahlte Serie »Sex and the City« (in der Folge abgekürzt als »S&C«)1 hat, was ihr Personal betrifft, die typische, klassische Form einer Komödie bzw. einer SitCom. Vier Heldinnen treten auf, von denen jede durch ein einziges, möglichst einfach gehaltenes Charaktermerkmal gekennzeichnet ist. Man könnte sie in etwa wie folgt benennen: die Fragenstellende, die zynische Erotomanin, die romantische Naive und die notorisch männerfeindliche Skeptikerin. Die Komödie besteht - das ist ihr eigenes, ebenfalls einfaches Gattungsmerkmal - grundsätzlich darauf, ihre handelnden Heldinnen und Helden so einfach zu halten: zum Beispiel der Geizige, der eingebildete Kranke, der eifersüchtige Ehemann, der Bauer, der Rothaarige, der Menschenfeind etc. Wenn Aristoteles bemerkt, die Komödie handle prinzipiell von schlechteren, die Tragödie hingegen von besseren Menschen, als sie im wirklichen Leben vorkommen, dann kann dieser Satz - sofern Bessersein oder (was für Aristoteles dasselbe ist) sozial Höhergestelltsein zugleich bedeutet, höhere psychische Komplexität zu besitzen - wie folgt abgewandelt werden: Die Tragödie handelt von komplexeren, gespalteneren, die Komödie dagegen von einfacheren, weniger vielschichtigen Menschen, als sie im wirklichen Leben vorkommen.2 Die Komödie betrachtet Menschen nicht als Schauplätze seelischen Reichtums an mannigfaltigen Bestrebungen und daraus folgender innerer, psychischer Konflikte, sondern vielmehr - darin besteht ihr philosophischer Materialismus - als Atome: als einfache Spielsteine komischer, äußerer Verwicklungen im Sozialen.3 In diesem Sinn ist S & C eine klassische Komödie. S & C hat dieselbe Personalstruktur wie andere klassische Komödien, und es ist bezeichnend, dass sich dabei die Zahl Vier erfahrungsgemäß als besonders günstig erwiesen hat. Auch die in einer ganz anderen Altersgruppe als S & C angesiedelte Komödie »Golden Girls« zum Beispiel handelt von genau vier speziellen Damen. Deren Charakterausprägungen sind nicht nur ebenso einfach wie die von Carrie, Samantha, Charlotte und Miranda in S & C; es sind sogar fast genau dieselben vier atomaren Charaktere, wenn auch in einem anderen Entwicklungsstadium, so dass man »Golden Girls« beinahe als die Ruhestands-Version von S & C betrachten könnte.
2.
Diese strenge Begrenzung der Zahl handelnder Hauptfiguren und die ebenso strenge Beschränkung der Charakterisierung dieser Figuren auf ein einziges Merkmal unterscheidet S & C von offeneren, sozusagen epischeren Serien wie zum Beispiel »The Sopranos«. Letztere zeichnet sich durch eine faszinierende Fähigkeit aus, eine schier unbegrenzte Vielzahl von Figuren in die Handlung zu integrieren und ihnen auch psychische Vielschichtigkeit zu verleihen; in der Folge sind die Figuren von »The Sopranos« in hohem Maß lernfähig und imstande, sich zu verändern. Solche Wirklichkeitsnähe und die entsprechende Fähigkeit, Komplexität zu verarbeiten, fehlt S&C aus strukturellen Gründen, aufgrund der Strenge der komödiantischen Form. Wenn »The Sopranos« mit einem Epos verglichen werden kann, das darum auch nahezu endlos fortsetzbar zu sein scheint (wenngleich diese »Unendlichkeit« letztlich wohl doch ihre Grenzen in der »narrativen Schließung« durch die Perspektive des Helden Tony Soprano findet), dann ist S & C dagegen ein Gedicht, mit einem fixen, sozusagen vierhebigen Versmaß und einer notwendigen Beschränkung auf eine bestimmte, kleine Anzahl von Strophen. S & C muss einmal zu Ende sein - nämlich dann, wenn die handelnden Figuren jene Handlungskurve durchlaufen haben, die sich aus ihrer bestimmten Lebenssituation ergibt. Diese Situation wird in der ersten Folge etwa wie folgt offen dargelegt: vier gutausgebildete und (weitgehend) gutverdienende Frauen im Alter zwischen Mitte 30 und Anfang 40, in einem historischen Moment, in dem Frauen die Freiheit haben, sich in Bezug auf die Sexualität genauso zu verhalten wie Männer - und das in einer Stadt, die dafür genügend Gelegenheiten, ausreichend Anonymität, entsprechende Möglichkeiten zu hochmodischer Selbstgestaltung, aber freilich auch ein hohes Maß an Konkurrenz aus dem Glamoursektor (Models und Schauspielerinnen) bereitstellt.
Der emanzipatorischen Utopie eines den Männern ebenbürtigen weiblichen Sexualverhaltens steht allerdings ein zweites, diametral entgegengesetztes Ideal gegenüber - nämlich endlich den richtigen Mann zu finden, mit dem sich das gesellschaftlich respektierte, traditionelle Lebensmodell von Heirat, gemeinsamer Haushaltsgründung, Fortpflanzung etc. verwirklichen lässt. Sämtliche Heldinnen von S & C finden sich, wenn auch mit unterschiedlichen Zugängen, diesem Zwiespalt ausgesetzt - zwischen der Befreiungsperspektive und der Familienperspektive. In dieser Antinomie zweier als gleichermaßen verführerisch dargestellten Perspektiven besitzt die Serie übrigens, ebenso wie in den im Vorspann erscheinenden »Twin Towers« des 2001 zerstörten World Trade Center, einen deutlichen Zeitindex: Schon jetzt, rund zehn Jahre später, erscheint dieser Zwiespalt nämlich kaum mehr nachvollziehbar; zu sehr hat sich die eine Utopie scheinbar aufgelöst, während die andere sich verfestigt hat. Denn heute, 2012, verfolgen offenbar nur die wenigsten urbanen jungen Frauen noch die Perspektive eines bisher den Männern vorbehaltenen vielfältigen Sexuallebens. Diese Utopie kann somit als ein Restbestand der Moderne in S & C begriffen werden; als ein Element jenes modernen, egalitären Feminismus, der für die Frauen dasselbe wollte wie für die Männer. Die andere, traditionelle Utopie hingegen hat sich mit weiterer Fortdauer der Postmoderne verfestigt: In der Vorstellung, dass Frauen kein vielfältiges Liebesleben, sondern lieber eine stabile Partnerschaft wollen, treffen sich das traditionelle Frauenbild und jenes des postmodernen »Differenzfeminismus«, der Frauen als grundsätzlich von Männern verschieden betrachtet und mithin die Errungenschaften und bisherigen Privilegien der Männer nicht als erstrebenswerte Beute begreift. S&C spielt also genau an jenem historischen Wendepunkt, jenem Moment eines labilen Gleichgewichts, in dem die beiden Utopien noch als ebenbürtig und als gleichermaßen verlockend begriffen werden konnten. Die Serie ist insofern - da man sich heute kaum vorzustellen oder sich noch daran zu erinnern vermag, dass das einmal so gewesen ist - ein lehrreiches Stück Geschichte.
Entsprechend diesem nunmehr historischen Zwiespalt findet die Handlungskurve von S&C ihren notwendigen Abschluss in jenem Moment, in dem der Schwebezustand der Heldinnen lebensgeschichtlich beendet werden muss: wenn sie ihre Antworten auf die Frage gefunden haben, ob sie ständig so weiterleben wollen, wie sie es derzeit tun, oder lieber nicht; und wenn sie an die Stelle des Zweifels und der Unentschlossenheit oder auch an die Stelle des spontanen Glaubens - sei es an die Ehe, sei es an die unbegrenzte Fortführbarkeit eines unverbindlichen Lebensstils -, die sie in die komischen Verwicklungen treiben, die Entscheidung für eine definitive Lebensform gesetzt haben. So, wie die Heldinnen nicht ewig zweifeln können, kann die Serie sie auch nicht ewig so weitermachen lassen; ihre amüsanten Schwebezustände sind nur dann amüsant, wenn diese einmal ein Ende finden: sei es durch die Entscheidung für einen bestimmten Lebenspartner oder sei es auch dadurch, dass an die Stelle der Unsicherheit, ob man ständig in unsicheren Liebesverhältnissen leben soll oder lieber nicht, die definitive und reflektierte Entscheidung getreten ist, dass man mit Sicherheit immer in unsicheren Liebesverhältnissen leben will.
3.
Wenn S & C also durch die strenge Form eine bestimmte Komplexität ausschließt; wenn die Serie, verglichen mit »The Sopranos «, keinen vergleichbaren Reichtum an Empirie zulassen und auch keine (lebensnahe) Unabschließbarkeit menschlichen Handelns zeigen darf, ist S&C doch gerade dadurch andererseits ein exzellentes Analyseinstrument für komplexe Zusammenhänge. So wie in den Wissenschaften die Beschränkung auf ein einfaches Modell oder eine einfache Weltformel oft erstaunliche Einsichten in komplexe Sachverhalte ermöglicht, lässt auch S&C durch seine formale Strenge und Abstraktheit gerade die konkrete Feinstruktur des sozialen Gewebes ausgezeichnet erkennen. Denn eine so strenge Sichtweise hat den unbestreitbaren Vorteil der systematischen Methodik: Hier muss alles auf einfache, miteinander verträgliche Prinzipien zurückgeführt und daraus abgeleitet werden. Dies ist ein entscheidender Unterschied - und hierin besteht der »epistemologische Einschnitt« sowie die theoretische »Verfremdungsleistung « - gegenüber dem Common Sense, mit dem wir uns im Alltagsleben halb erkennend, halb uns selbst beschwichtigend bewegen und in dem wir eine nicht näher bestimmte Zahl von Prinzipien und Gemeinplätzen zur Anwendung bringen, ohne uns über deren Verhältnisse zueinander und deren Widersprüche vollständige Klarheit zu verschaffen.
4.
Die Klarheit, die S & C verschafft, wird begünstigt durch eine Besonderheit der Form. Im Unterschied zu anderen, strengen Komödien-Settings (wie etwa dem von »Golden Girls«) hat S & C nämlich eine zweite Präsentationsebene: Immer dann, wenn eine der Heldinnen auf der ersten Bühne etwas Besonderes erlebt hat, ruft sie danach ihre Freundinnen zu einer Diskussion über das Erlebte zusammen - einer Diskussion, die gleichsam eine zweite Bühne bildet (deren Schauplatz ein Restaurant, die Lieblings-Konditorei oder auch ein Taxi sein kann). Wir sehen die Heldinnen also etwas erleben, und wir sehen sie das Erlebte analysieren - was freilich selbst wieder nach den Gesetzen der Komödie geschieht: das heißt, genau wie das Erleben wird auch das Analysieren immer von den einfachen, »atomaren« Standpunkten der Heldinnenfiguren aus unternommen. So wie sie alles ihrer spezifischen Charaktereigenschaft entsprechend erleben müssen, müssen sie alles auch dieser ihrer Eigenschaft entsprechend beurteilen. Darum ist das Analysieren mindestens genauso komisch wie jenes Erleben, das es verdoppelt - wobei freilich auch alleine die Tatsache der Verdoppelung selbst schon komisch ist.4 Wir verfolgen in S&C also, wie Leute Affären anbahnen, wie sie Sex haben, was sie dabei und darüber sprechen; und wir verfolgen sie dabei, wie sie über das Anbahnen, das Sex-Haben und das Sprechen beim Sex und darüber selbst noch einmal sprechen.
5. Man könnte versucht sein, dieses Verdoppelungssystem mit dem deutschen Titel von Michel Foucaults »Histoire de la sexualité« zu benennen: denn auf Deutsch heißt dieses Werk »Sexualität und Wahrheit«. Sex and the City ist, so gesehen, eine andere Formulierung für »Sexualität und Wahrheit«. Allerdings muss hier eine wichtige Präzisierung eingefügt werden: Foucaults Werk nämlich handelt von der Zunahme jener Geständnispraktiken, mit Hilfe deren westliche Gesellschaften die Individuen mehr und mehr dazu bringen, durch das Sprechen über ihre Sexualität sich diese zu ihrer wesentlichen Charaktereigenschaft zu machen; sie mithin zu »subjektivieren « und damit sich selbst als für ihren Sex verantwortliche und durch ihn geprägte Subjekte zu verstehen; mit anderen Worten: in ihrem Sex nicht bloß eine Summe mehr oder weniger zufälliger Vergnügungen, sondern die Wahrheit ihrer eigenen Subjektivität zu erblicken.
Im Gegensatz dazu versteht S & C unter »Wahrheit« nicht das, was Subjekte selbst für ihr innerstes Wesen halten; die Wahrheit ist in S & C vielmehr etwas Äußeres (ähnlich übrigens wie auch im Motto der Serie »X-Files«, wo es heißt: »Die Wahrheit ist irgendwo da draußen.«) Die im Titel von S&C angesprochene Urbanität besteht darin, dass die Stadt als Raum einer äußeren, virtuellen Beobachtung begriffen wird, die über die Bedeutung der eigenen Handlungen und Erlebnisse entscheidet. Nicht das, was man selbst für die Bedeutung der Aktionen hält, ist entscheidend, und auch nicht das, was bestimmte andere Leute darüber denken, sondern vielmehr das, was die Öffentlichkeit bzw. »die Leute« hätten denken können.5 Dies entspricht einem Grundmerkmal der Komödie: Während die Tragödie immer der Selbsteinschätzung der Helden gegen die Sicht der Umwelt recht gibt, handelt die Komödie - ganz materialistisch - vom Trügerischen eines jeden Selbstverständnisses und sagt: Das, was andere hätten denken können, als sie euch sahen, ist die Wahrheit über euch.
Aus diesem Grund muss in S&C alles ständig erörtert werden. Die Besprechungsnotwendigkeit ergibt sich nicht aus dem (gesellschaftlich veranlassten) Bedürfnis, den eigenen Sex zu subjektivieren, sich zum Subjekt der eigenen Sexualität zu machen. Ganz im Gegenteil: Die Heldinnen wollen die Erlebnisse objektivieren, sie möchten herausfinden, was dieser Sex objektiv bedeutet, weil er es für andere, für die Stadt sozusagen, bedeuten könnte. Nur im Rahmen der Komödie sowie im Rahmen der Stadt kann diese Art des Besprechens und witzigen Räsonierens auftreten, denn nur im Komödienrahmen und nur im urbanen Raum ist das Entscheidende diese Art von objektiver Bedeutung.6
6.
Richard Sennett hat in seiner grundlegenden Studie »The Fall of Public Man« (Sennett [1974]) gezeigt, dass die Stadt, spätestens seit der Renaissance, ein theatralischer Raum ist: Die Stadt besteht aus Plätzen, die wie Bühnen funktionieren; sie verschafft den Individuen das Gefühl, betrachtet zu werden, und sich dementsprechend benehmen zu müssen. In der Öffentlichkeit hat man eleganter, entspannter, glücklicher aufzutreten, als man vielleicht in Wirklichkeit zu sein meint; man hat sich ein bisschen besser zu kleiden, formeller zu sprechen, Hochsprache statt Dialekt, in Höflichkeitsformen anstatt von Vertrautheitsformen (z. B. hat man »Sie« zu sagen statt »Du«; oder »Mr. Gates« statt »Bill«). Die Stadt veranlasst die Individuen also dazu, eine Trennung einzuführen zwischen der privaten Person und ihrer öffentlichen Rolle, und sie lehrt die Individuen, als Schauspieler ihrer selbst aufzutreten.
Da nun dieses Schauspiel eben eines der Zivilisiertheit ist, ist das Genre dieses Schauspiels die Komödie. Tragisch ist man vielleicht zu Hause, als private Person;7 die Rolle hingegen, die man in der Öffentlichkeit spielt, gehört notwendigerweise zum Fach der Komödie. Der Philosoph Alain hat auf diese Komödien-Dimension des zivilisierten Verhaltens hingewiesen. Er schreibt:
»Die Gesten der Höflichkeit haben große Macht über unsere Gedanken; und es hilft sowohl gegen schlechte Laune wie gegen Magenschmerzen, wenn man Liebenswürdigkeit, Wohlwollen und Freude mimt; die dazu erforderlichen Bewegungen - Verbeugungen und Lächeln - haben nämlich das Gute, die ihnen entgegengesetzten Bewegungen des Zorns, des Mißtrauens und der Traurigkeit unmöglich zu machen. Darum sind gesellschaftliche Veranstaltungen so beliebt: sie geben Gelegenheit, das Glück zu mimen; und diese Komödie heilt uns mit Sicherheit von der Tragödie, was nicht eben wenig ist.« (Alain 1982: 45)
7.
Die Komödie ist, wie die Stadt, der Schauplatz dessen, was irgendjemand - sozusagen ein unsichtbarer, naiver Beobachter - hätte glauben können.8 Es ist jenes Feld, in dem die Bedeutung der Dinge durch den äußeren Anschein bestimmt wird, und nicht etwa durch die inneren Absichten oder Überzeugungen der handelnden Personen. Darum ist dieses Feld zugleich heikel; es ist auch das Feld der Tabus im Sinne Sigmund Freuds (s. Freud [1912-13]). Eine bestimmte Geste kann notwendigerweise eine bestimmte Bedeutung haben und eine Sache entscheiden, auch wenn man es nicht so gemeint hat. So bemerkt Freud über die automatischen, selbststrafenden Mechanismen der Tabus im Fall ihrer Übertretung in den Stammeskulturen:
»Es liegen zuverlässige Berichte vor, daß die unwissentliche Übertretung eines solchen Verbotes sich tatsächlich automatisch gestraft hat. Der unschuldige Missetäter, der z. B. von einem ihm verbotenen Tier gegessen hat, wird tief deprimiert, erwartet seinen Tod und stirbt dann in allem Ernst.« (Freud 1912-13: 314)
Auch wenn die sogenannten zivilisierten Gesellschaften mit den Systemen der Moral und des Rechts andere Mechanismen entwickelt haben als die Stammeskulturen, besteht in ihnen in manchen Bereichen, oft unbemerkt, das stammeskulturelle System des Tabus fort. Die Peinlichkeit, die manche Menschen dazu bringen kann, am liebsten vor Scham sterben zu wollen, gehört zum Tabu-System. Fehler bei Akten der Höflichkeit zum Beispiel produzieren solche selbststrafende Peinlichkeit. Darum muss Höflichkeit, wie Alain bemerkt, »ebenso gelernt werden wie Tanzen« (Alain 1982: 200). Alle Gesten der Höflichkeit wie des Tanzes haben eine objektive Bedeutung. Und Fehler sind objektive Fehler. Man kann solche Fehler (wie zum Beispiel, dass man jemandem auf die Zehen getreten ist) darum nicht wieder gutmachen, indem man betont, dass es nicht so gemeint gewesen sei.
8.
Dasselbe gilt auch für die Sexualität. Auch hier müssen viele Dinge gelernt werden - genau wie beim Tanzen. Sonst gehen sie schief, und das bedeutet objektives Scheitern, welches nicht durch gute Absichten kompensiert oder repariert werden kann. Aber diese Notwendigkeit, die Dinge objektiv richtig zu machen, betrifft nicht die Technik und die taktvolle Gestaltung der sexuellen Praktiken alleine. Sie gilt vor allem auch für das Verhältnis zwischen den Praktiken und den Institutionen. Genau dies muss von den Protagonistinnen in S&C immer wieder erörtert werden: »Kann man das machen, oder nicht?« - dasisteineder am meistendiskutiertenFrageninS&C.
9.
Es geht dabei in S&C nicht darum, ob man diese Dinge selbst als lustvoll oder eklig empfindet, sondern vielmehr darum, ob sie, unabhängig davon, wie man sie selbst empfindet, objektiv in Ordnung und damit lustvoll sind - und zwar in der Ordnung urbaner, emanzipierter weiblicher Zivilisiertheit (die eine Ordnung des ästhetischen Anscheins, und darum etwas ganz anderes als zum Beispiel die Ordnung der sogenannten »political correctness« ist). Nicht zu Unrecht leiten die Heldinnen von S & C ihr eigenes, subjektives Gefallen an diesen Praktiken erst als etwas Sekundäres aus dieser primären, objektiven Legitimation ab. Das alles gefällt ihnen selbst nur dann, wenn es ihnen gefallen darf, weil es einer unsichtbaren, emanzipierten urbanen Beobachterin gefallen könnte. Wie in Kants »Kritik der Urteilskraft« (wo diese Alterität des ästhetischen Empfindens freilich auf das interesselose Wohlgefallen alleine beschränkt bleibt) wird in S &C der eigene sexuelle Geschmack als Folge eines Sozialgeschmacks begriffen. Bei Kant ist das Subjekt dieses Sozialgeschmacks »die Menschheit in unserer Person«;beiS&Ckönnte manes »dieStadtinmir«nennen.9
So wird zum Beispiel in der Konditorei die allgemeine Frage erörtert, ob anal-orale Sexualpraktiken in Ordnung sind. Miranda stellt aufgrund einer Erfahrung diese Frage; Carrie taucht in ratlose, schamhafte Verneinung ab. Samantha hingegen unterscheidet selbstbewusst: Selbstverständlich dürfen Frauen ihren Anus vom Mund eines Mannes verwöhnen lassen, aber natürlich niemals umgekehrt - das wäre für eine Frau ja zutiefst erniedrigend! Zur Überraschung aller toppt die romantisch-naive Charlotte dieses keck-libertine Urteil, und zwar ausgerechnet dank ihres idealisierten Bildes der Ehe: In einer Ehe, so Charlotte, könne man das doch alles machen, und sicherlich doch auch in beiden Richtungen zwischen den Geschlechtern!
10.
Eines der größten philosophischen Verdienste von S & C besteht darin, diese objektive Dimension der Bedeutung von sexuellen Angelegenheiten in Erinnerung gerufen zu haben. Das steht im Widerspruch zu einer gesellschaftlichen Entwicklung der »De-Insitutionalisierung« von Liebesbeziehungen10 sowie zu einem Zeitgeist, der sexuellen Dingen nur eine intime, private Bedeutung zuerkennen möchte. Wie Richard Sennett erkannt hat, entwickeln sich westliche Gesellschaften etwa seit den 70er Jahren »von außen-geleiteten zu innen-geleiteten Verhältnissen «. (Sennett [1974]: 18) Als entscheidend wird dabei nur erachtet, »was die Dinge für mich bedeuten«. Diese narzisstische Verinnerlichung und das entsprechende völlige Absehen von objektiven Beurteilungskriterien hat, so Sennett, fatale Folgen: »Die Welt intimer Empfindungen verliert alle Grenzen; sie wird nicht mehr von einer öffentlichen Welt begrenzt, die eine Art Gegengewicht zur Intimität darstellen würde. « (Sennett [1974]: 19)
Zwar kann das ausschließliche Beharren auf den innerlichen Kriterien zu einer Rebellion gegen Fremdbestimmung anstacheln. Dieser Impuls liegt, Sennett zufolge, der sexuellen Befreiung nach 1968 zugrunde. Doch mit dem Feind überwindet und zerstört man bei einer alleine auf Innerlichkeit gestützten Rebellion zugleich auch alle sozialen Institutionen, die man nach dem Sieg vielleicht benötigt hätte: »Indem wir gegen die Sexualunterdrückung rebellierten, haben wir auch gegen den Gedanken rebelliert, daß die Sexualität eine soziale Dimension besitzt.« (Sennett [1974]: 21)
Diese Ignoranz gegen die für das glückliche Funktionieren von Sexualität entscheidende soziale Dimension kennzeichnet keineswegs etwa nur die romantische Hippiebewegung der 60er und 70er Jahre. Sie kehrt auch wieder in der neueren Gendertheorie, die bekanntlich dazu tendiert, alle diesbezüglichen Fragen ausschließlich als Probleme der Selbstkonstruktion bzw. der performativen Umgestaltung der eigenen, gesellschaftlich bestimmten Rolle zu betrachten, wobei sie die Sexualität lediglich durch die Parameter der Identität und der Orientierung bestimmt sieht.11
Aber die Schwierigkeiten zwischen möglichen Sexualpartnern bestehen nicht nur darin, eine andere Person mit passender Identität und Orientierung zu finden. Sexuelle Positionen und Begehrensformen sind vielmehr immer auch durch einen Institutionenwunsch gekennzeichnet. Und dieser Institutionenwunsch erscheint auffällig starr; er lässt sich kaum verändern, auch wenn man es will, und er kann die größten Probleme bereiten, selbst wenn Identität und Orientierung der geliebten Person passen sollten. Es kann sein, dass die eine Person sich zum Beispiel Heirat wünscht, während die andere auf eine Zweierbeziehung ohne Trauschein abzielt, oder auf eine offene Beziehung, auf eine heimliche Affäre, oder auch nur auf flüchtigen Sex. Und selbst wenn diese Frage nach der Form der Beziehung geklärt ist, kann man sich, sogar bei inniger gegenseitiger Liebe, zum Beispiel an der Frage zerstreiten, ob man Kinder haben möchte oder nicht. Ferner kann die eine Person zum Beispiel die Eltern der anderen kennenlernen wollen, aber die andere Person kann genau dies als äußersten Horror empfinden und daraufhin die Beziehung abbrechen (an einem solchen Hindernis scheitert die erste Fallgeschichte, vonder S&CindererstenFolgeerzählt).
11.
Da S & C von den institutionellen Bedingungen der Liebe und der Wünsche handelt, müssen die Heldinnen von S & C kämpfen. Das, wogegen sie kämpfen müssen, ist allerdings nicht die von der Gendertheorie oft beklagte »heterosexuelle Matrix«, sondern vielmehr die vorherrschende »monogame Matrix«. Dies ist eine weitere kluge und hellsichtige Lektion von S & C:
Die entscheidende Norm, die westliche Gesellschaften prägt, ist die der Monogamie, und nicht etwa die der Heterosexualität.12
Homosexualität ist, wie S&C zeigt, vollkommen akzeptiert, und zwar bis hinauf in die obersten, stockkonservativen, republikanischen Eigentümeretagen von Mirandas Anwaltspraxis. Geduldet und sogar willkommen sind weiterhin die amüsanten Erzählungen von erotischen Abenteuern, die Carrie und ihre Freundinnen an der Stelle von Ehemännern vorweisen können. Nicht geduldet sind hingegen die Versuchungen, die von jungen, klugen Frauen auf verheiratete Ehegatten ausgeübt werden. Und unverheiratete Frauen, die auf Partys kommen, müssen angesichts vollständiger Paarsituationen mit Langeweile rechnen. »Verheiratete Paare sind der Feind«, resümiert Samantha diese Lage.
12.
Leider sitzt dieser Feind, und das ist das Schlimme, nicht nur außen. Da die eigenen Wünsche immer von der »Stadt«, das heißt: von der Gesellschaft, mitgeformt und mitbestimmt sind, und da es in einer Situation, in der die Menschen notwendigerweise verrückt sind, wie Pascal bemerkte, noch verrückter wäre, nicht ebenso verrückt zu sein wie sie,13 müssen Carrie und ihre Freundinnen nicht nur mit verheirateten Paaren kämpfen, sondern auch mit ihrem eigenen, mehr oder weniger andrängenden Institutionenwunsch, der mit ihrer doch ebenfalls gewünschten Freiheitsperspektive in Konflikt gerät. An diesem Punkt können die drei Freundinnen mitunter gleichsam als Persönlichkeitsatome von Carries eigenem, zutiefst gespaltenem Seelenleben verstanden werden - als Verkörperungen ihrer eigenen, in verschiedene Richtungen zielenden Wünsche: Samantha führt ihr die Idee der Freiheit und sexuellen Selbstbestimmung vor Augen; Charlotte dagegen eine traditionelle Idee von Eheglück; Miranda schließlich veranschaulicht meist den Totalausfall des Begehrens und die sexuelle Resignation angesichts dieses von den beiden anderen Freundinnen verkörperten Dilemmas.
13.
Für die Komik der Serie ist freilich entscheidend, dass jede dieser eindimensionalen Figuren ihre entscheidenden Erlebnisse dann doch und bezeichnenderweise gerade im Widerspruch zum eigenen Programm erfährt. Was sie wirklich wollen und leben, ist etwas ganz anderes als das, was sie ausdrücklich dafür erklären; und das Gewollte widerfährt ihnen dann völlig überraschend, offenbar ohne jede Entsprechung zu einer vielleicht versteckteren inneren Regung, buchstäblich von außen. Insofern bilden die expliziten Weltanschauungen der Heldinnen sozusagen deren »zweite Welten« gegenüber dem, was dann tatsächlich kommt. Denn die Liebe findet - gemäß Mannonis Formel der Verleugnung »ich weiß zwar, dennoch aber« (»je sais bien, mais quand même«, s. Mannoni 1985: 9 ff.) - hier immer als ein »dennoch aber« (»quand même«) statt: Miranda verfällt, ohne es zu wollen, einem schüchternen, etwas einfältigen, gutmütigen Verehrer. Charlotte treibt ihren ersten, scheinbar idealen Ehegatten gerade durch Mustergültigkeit in die psychische Impotenz. Samantha hingegen findet endlich einen Gleichgesinnten. Ein gutaussehender Geschäftsmann hat über die Liebe genau dieselbe zynische Auffassung wie sie. Wenn man nun aber jemanden wegen seines Zynismus in Bezug auf die Liebe liebt - ist diese Liebe dann selbst noch zynisch?
14.
Auch im wirklichen Leben ist die Liebe immer wieder, und offenbar mit Notwendigkeit, von der Ordnung des »quand même«, des Widerspruchs gegen das Beabsichtigte oder Intendierte. S & C lässt das deutlich genug erkennen. Samantha sagt: »Married people just want to be single again.«14 Es verhält sich offenbar wie in Marilyn Monroes Song: »When you get what you want you don't want it.« Wenn Carrie sich im Zug ihrer Recherchen mit programmatischer Absicht dem Casual Sex verschreibt, dann beginnt ihr bald die längerfristige Perspektive zu fehlen. Trifft sie dagegen auf einen Mann mit seriösen Heiratsabsichten, dann wird sie vom sogenannten »Fracksausen« gepackt und muss die Flucht ergreifen. Es verhält sich wie bei Pascals Analyse der menschlichen Zerstreuungen: Der Jäger jagt den ganzen Tag einem Hasen nach, den er geschenkt nicht haben möchte. Die Jagd scheint somit das eigentlich Begehrenswerte zu sein, nicht der Hase. Schickt man den Jäger also jagen, erklärt ihm aber, dass es im Wald keine Hasen gibt, macht ihm auch die Jagd keine Freude mehr. Den Spieler freut das Geld nicht, wenn er nicht darum gespielt hat. Gibt es aber kein Geld zu gewinnen, macht ihm auch das Spiel keine Freude.
Das bedeutet, dass im menschlichen Begehren eine Notwendigkeit der Täuschung besteht - eine Täuschung allerdings, von der (ähnlich wie bei der Höflichkeit) eigentlich jeder und jede wissen müsste, dass sie eine ist. Pascal schreibt über den Jäger und den Spieler: »...so formt er sich einen Gegenstand der Leidenschaft und erregt dadurch seine Begierde, seinen Zorn, seine Furcht und wendet sie jener Sache zu, die er selbst geformt hat, den Kindern gleich, die vor dem Gesicht erschrecken, das sie selbst gekritzelt haben.« (Pascal 1997,§ 136)
Diese erstaunliche Wirkung der Illusion, die doch eine durchschaute Illusion sein müsste, ist nicht unkomisch. Das selbe passiert auch bei den bereits im vorangegangenen Kapitel erwähnten, abendlichen Haustor-Fragen vom Typ »Kommst du noch mit auf einen Tee?« Obwohl beide Anwesenden sehr genau wissen, welche Realität damit gemeint ist, können sie nicht anders, als diese mit Hilfe einer milden Illusion zu benennen und möglich zu machen.
15.
In der Liebesgeschichte zwischen Samantha und ihrem ebenbürtig zynischen Barbesitzer nimmt diese Täuschung eine hübsche, spezielle Form an. Wenn sich die beiden miteinander verabreden, dann formulieren sie das drastisch. Sie sagen zum Beispiel: »Heute Abend um 8, Ficken bei mir?« Diese obszöne Deutlichkeit scheint nur auf den ersten Blick dem eben erläuterten Gesetz von der Notwendigkeit der Täuschung zu widersprechen. Auch hier wird nämlich schamhaft etwas bedeckt, dessen Zerstörung man fürchtet, wenn man es direkt und bei seinem wirklichen Namen benennen würde. Was zwischen Samantha und ihrem Freund auf keinen Fall benannt werden darf, ist, dass es bei ihrem Vorhaben vielleicht doch um mehr gehen könnte als nur um regelmäßigen guten Sex. Während andere Paare sich bemühen müssen, zarte Gefühle oder unbedeutende Getränke vorzuschützen, wenn sie Sex haben wollen, müssen Samantha und ihr Freund Sex vorschützen, wenn sie zärtliche Gefühle leben wollen. Noch einmal widerspricht S& C hier der von Foucault kritisierten Auffassung der Sexualität als der »Wahrheit« des Subjekts: Der Sex ist keinesfalls immer die unterste, nackte Schicht, die man unter einer Reihe kultureller Bedeckungen und Schleier antrifft. Auch der Sex selbst eignet sich durchaus, um etwas anderes, noch Nackteres zu verschleiern.
16.
Wenn man von S & C nicht nur blendende Unterhaltung verschafft bekommen, sondern auch für das Leben etwas lernen kann, dann ist es vielleicht vor allem das. Die Liebeskomödie S & C lehrt für das Leben nicht allein etwas über die Liebe. Sie lehrt vor allem, dass auch die Liebe im wirklichen Leben nicht ohne Komödie möglich ist.
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Die von HBO produzierte und zwischen 1998 und 2004 in den USA erstmals ausgestrahlte Serie »Sex and the City« (in der Folge abgekürzt als »S&C«)1 hat, was ihr Personal betrifft, die typische, klassische Form einer Komödie bzw. einer SitCom. Vier Heldinnen treten auf, von denen jede durch ein einziges, möglichst einfach gehaltenes Charaktermerkmal gekennzeichnet ist. Man könnte sie in etwa wie folgt benennen: die Fragenstellende, die zynische Erotomanin, die romantische Naive und die notorisch männerfeindliche Skeptikerin. Die Komödie besteht - das ist ihr eigenes, ebenfalls einfaches Gattungsmerkmal - grundsätzlich darauf, ihre handelnden Heldinnen und Helden so einfach zu halten: zum Beispiel der Geizige, der eingebildete Kranke, der eifersüchtige Ehemann, der Bauer, der Rothaarige, der Menschenfeind etc. Wenn Aristoteles bemerkt, die Komödie handle prinzipiell von schlechteren, die Tragödie hingegen von besseren Menschen, als sie im wirklichen Leben vorkommen, dann kann dieser Satz - sofern Bessersein oder (was für Aristoteles dasselbe ist) sozial Höhergestelltsein zugleich bedeutet, höhere psychische Komplexität zu besitzen - wie folgt abgewandelt werden: Die Tragödie handelt von komplexeren, gespalteneren, die Komödie dagegen von einfacheren, weniger vielschichtigen Menschen, als sie im wirklichen Leben vorkommen.2 Die Komödie betrachtet Menschen nicht als Schauplätze seelischen Reichtums an mannigfaltigen Bestrebungen und daraus folgender innerer, psychischer Konflikte, sondern vielmehr - darin besteht ihr philosophischer Materialismus - als Atome: als einfache Spielsteine komischer, äußerer Verwicklungen im Sozialen.3 In diesem Sinn ist S & C eine klassische Komödie. S & C hat dieselbe Personalstruktur wie andere klassische Komödien, und es ist bezeichnend, dass sich dabei die Zahl Vier erfahrungsgemäß als besonders günstig erwiesen hat. Auch die in einer ganz anderen Altersgruppe als S & C angesiedelte Komödie »Golden Girls« zum Beispiel handelt von genau vier speziellen Damen. Deren Charakterausprägungen sind nicht nur ebenso einfach wie die von Carrie, Samantha, Charlotte und Miranda in S & C; es sind sogar fast genau dieselben vier atomaren Charaktere, wenn auch in einem anderen Entwicklungsstadium, so dass man »Golden Girls« beinahe als die Ruhestands-Version von S & C betrachten könnte.
2.
Diese strenge Begrenzung der Zahl handelnder Hauptfiguren und die ebenso strenge Beschränkung der Charakterisierung dieser Figuren auf ein einziges Merkmal unterscheidet S & C von offeneren, sozusagen epischeren Serien wie zum Beispiel »The Sopranos«. Letztere zeichnet sich durch eine faszinierende Fähigkeit aus, eine schier unbegrenzte Vielzahl von Figuren in die Handlung zu integrieren und ihnen auch psychische Vielschichtigkeit zu verleihen; in der Folge sind die Figuren von »The Sopranos« in hohem Maß lernfähig und imstande, sich zu verändern. Solche Wirklichkeitsnähe und die entsprechende Fähigkeit, Komplexität zu verarbeiten, fehlt S&C aus strukturellen Gründen, aufgrund der Strenge der komödiantischen Form. Wenn »The Sopranos« mit einem Epos verglichen werden kann, das darum auch nahezu endlos fortsetzbar zu sein scheint (wenngleich diese »Unendlichkeit« letztlich wohl doch ihre Grenzen in der »narrativen Schließung« durch die Perspektive des Helden Tony Soprano findet), dann ist S & C dagegen ein Gedicht, mit einem fixen, sozusagen vierhebigen Versmaß und einer notwendigen Beschränkung auf eine bestimmte, kleine Anzahl von Strophen. S & C muss einmal zu Ende sein - nämlich dann, wenn die handelnden Figuren jene Handlungskurve durchlaufen haben, die sich aus ihrer bestimmten Lebenssituation ergibt. Diese Situation wird in der ersten Folge etwa wie folgt offen dargelegt: vier gutausgebildete und (weitgehend) gutverdienende Frauen im Alter zwischen Mitte 30 und Anfang 40, in einem historischen Moment, in dem Frauen die Freiheit haben, sich in Bezug auf die Sexualität genauso zu verhalten wie Männer - und das in einer Stadt, die dafür genügend Gelegenheiten, ausreichend Anonymität, entsprechende Möglichkeiten zu hochmodischer Selbstgestaltung, aber freilich auch ein hohes Maß an Konkurrenz aus dem Glamoursektor (Models und Schauspielerinnen) bereitstellt.
Der emanzipatorischen Utopie eines den Männern ebenbürtigen weiblichen Sexualverhaltens steht allerdings ein zweites, diametral entgegengesetztes Ideal gegenüber - nämlich endlich den richtigen Mann zu finden, mit dem sich das gesellschaftlich respektierte, traditionelle Lebensmodell von Heirat, gemeinsamer Haushaltsgründung, Fortpflanzung etc. verwirklichen lässt. Sämtliche Heldinnen von S & C finden sich, wenn auch mit unterschiedlichen Zugängen, diesem Zwiespalt ausgesetzt - zwischen der Befreiungsperspektive und der Familienperspektive. In dieser Antinomie zweier als gleichermaßen verführerisch dargestellten Perspektiven besitzt die Serie übrigens, ebenso wie in den im Vorspann erscheinenden »Twin Towers« des 2001 zerstörten World Trade Center, einen deutlichen Zeitindex: Schon jetzt, rund zehn Jahre später, erscheint dieser Zwiespalt nämlich kaum mehr nachvollziehbar; zu sehr hat sich die eine Utopie scheinbar aufgelöst, während die andere sich verfestigt hat. Denn heute, 2012, verfolgen offenbar nur die wenigsten urbanen jungen Frauen noch die Perspektive eines bisher den Männern vorbehaltenen vielfältigen Sexuallebens. Diese Utopie kann somit als ein Restbestand der Moderne in S & C begriffen werden; als ein Element jenes modernen, egalitären Feminismus, der für die Frauen dasselbe wollte wie für die Männer. Die andere, traditionelle Utopie hingegen hat sich mit weiterer Fortdauer der Postmoderne verfestigt: In der Vorstellung, dass Frauen kein vielfältiges Liebesleben, sondern lieber eine stabile Partnerschaft wollen, treffen sich das traditionelle Frauenbild und jenes des postmodernen »Differenzfeminismus«, der Frauen als grundsätzlich von Männern verschieden betrachtet und mithin die Errungenschaften und bisherigen Privilegien der Männer nicht als erstrebenswerte Beute begreift. S&C spielt also genau an jenem historischen Wendepunkt, jenem Moment eines labilen Gleichgewichts, in dem die beiden Utopien noch als ebenbürtig und als gleichermaßen verlockend begriffen werden konnten. Die Serie ist insofern - da man sich heute kaum vorzustellen oder sich noch daran zu erinnern vermag, dass das einmal so gewesen ist - ein lehrreiches Stück Geschichte.
Entsprechend diesem nunmehr historischen Zwiespalt findet die Handlungskurve von S&C ihren notwendigen Abschluss in jenem Moment, in dem der Schwebezustand der Heldinnen lebensgeschichtlich beendet werden muss: wenn sie ihre Antworten auf die Frage gefunden haben, ob sie ständig so weiterleben wollen, wie sie es derzeit tun, oder lieber nicht; und wenn sie an die Stelle des Zweifels und der Unentschlossenheit oder auch an die Stelle des spontanen Glaubens - sei es an die Ehe, sei es an die unbegrenzte Fortführbarkeit eines unverbindlichen Lebensstils -, die sie in die komischen Verwicklungen treiben, die Entscheidung für eine definitive Lebensform gesetzt haben. So, wie die Heldinnen nicht ewig zweifeln können, kann die Serie sie auch nicht ewig so weitermachen lassen; ihre amüsanten Schwebezustände sind nur dann amüsant, wenn diese einmal ein Ende finden: sei es durch die Entscheidung für einen bestimmten Lebenspartner oder sei es auch dadurch, dass an die Stelle der Unsicherheit, ob man ständig in unsicheren Liebesverhältnissen leben soll oder lieber nicht, die definitive und reflektierte Entscheidung getreten ist, dass man mit Sicherheit immer in unsicheren Liebesverhältnissen leben will.
3.
Wenn S & C also durch die strenge Form eine bestimmte Komplexität ausschließt; wenn die Serie, verglichen mit »The Sopranos «, keinen vergleichbaren Reichtum an Empirie zulassen und auch keine (lebensnahe) Unabschließbarkeit menschlichen Handelns zeigen darf, ist S&C doch gerade dadurch andererseits ein exzellentes Analyseinstrument für komplexe Zusammenhänge. So wie in den Wissenschaften die Beschränkung auf ein einfaches Modell oder eine einfache Weltformel oft erstaunliche Einsichten in komplexe Sachverhalte ermöglicht, lässt auch S&C durch seine formale Strenge und Abstraktheit gerade die konkrete Feinstruktur des sozialen Gewebes ausgezeichnet erkennen. Denn eine so strenge Sichtweise hat den unbestreitbaren Vorteil der systematischen Methodik: Hier muss alles auf einfache, miteinander verträgliche Prinzipien zurückgeführt und daraus abgeleitet werden. Dies ist ein entscheidender Unterschied - und hierin besteht der »epistemologische Einschnitt« sowie die theoretische »Verfremdungsleistung « - gegenüber dem Common Sense, mit dem wir uns im Alltagsleben halb erkennend, halb uns selbst beschwichtigend bewegen und in dem wir eine nicht näher bestimmte Zahl von Prinzipien und Gemeinplätzen zur Anwendung bringen, ohne uns über deren Verhältnisse zueinander und deren Widersprüche vollständige Klarheit zu verschaffen.
4.
Die Klarheit, die S & C verschafft, wird begünstigt durch eine Besonderheit der Form. Im Unterschied zu anderen, strengen Komödien-Settings (wie etwa dem von »Golden Girls«) hat S & C nämlich eine zweite Präsentationsebene: Immer dann, wenn eine der Heldinnen auf der ersten Bühne etwas Besonderes erlebt hat, ruft sie danach ihre Freundinnen zu einer Diskussion über das Erlebte zusammen - einer Diskussion, die gleichsam eine zweite Bühne bildet (deren Schauplatz ein Restaurant, die Lieblings-Konditorei oder auch ein Taxi sein kann). Wir sehen die Heldinnen also etwas erleben, und wir sehen sie das Erlebte analysieren - was freilich selbst wieder nach den Gesetzen der Komödie geschieht: das heißt, genau wie das Erleben wird auch das Analysieren immer von den einfachen, »atomaren« Standpunkten der Heldinnenfiguren aus unternommen. So wie sie alles ihrer spezifischen Charaktereigenschaft entsprechend erleben müssen, müssen sie alles auch dieser ihrer Eigenschaft entsprechend beurteilen. Darum ist das Analysieren mindestens genauso komisch wie jenes Erleben, das es verdoppelt - wobei freilich auch alleine die Tatsache der Verdoppelung selbst schon komisch ist.4 Wir verfolgen in S&C also, wie Leute Affären anbahnen, wie sie Sex haben, was sie dabei und darüber sprechen; und wir verfolgen sie dabei, wie sie über das Anbahnen, das Sex-Haben und das Sprechen beim Sex und darüber selbst noch einmal sprechen.
5. Man könnte versucht sein, dieses Verdoppelungssystem mit dem deutschen Titel von Michel Foucaults »Histoire de la sexualité« zu benennen: denn auf Deutsch heißt dieses Werk »Sexualität und Wahrheit«. Sex and the City ist, so gesehen, eine andere Formulierung für »Sexualität und Wahrheit«. Allerdings muss hier eine wichtige Präzisierung eingefügt werden: Foucaults Werk nämlich handelt von der Zunahme jener Geständnispraktiken, mit Hilfe deren westliche Gesellschaften die Individuen mehr und mehr dazu bringen, durch das Sprechen über ihre Sexualität sich diese zu ihrer wesentlichen Charaktereigenschaft zu machen; sie mithin zu »subjektivieren « und damit sich selbst als für ihren Sex verantwortliche und durch ihn geprägte Subjekte zu verstehen; mit anderen Worten: in ihrem Sex nicht bloß eine Summe mehr oder weniger zufälliger Vergnügungen, sondern die Wahrheit ihrer eigenen Subjektivität zu erblicken.
Im Gegensatz dazu versteht S & C unter »Wahrheit« nicht das, was Subjekte selbst für ihr innerstes Wesen halten; die Wahrheit ist in S & C vielmehr etwas Äußeres (ähnlich übrigens wie auch im Motto der Serie »X-Files«, wo es heißt: »Die Wahrheit ist irgendwo da draußen.«) Die im Titel von S&C angesprochene Urbanität besteht darin, dass die Stadt als Raum einer äußeren, virtuellen Beobachtung begriffen wird, die über die Bedeutung der eigenen Handlungen und Erlebnisse entscheidet. Nicht das, was man selbst für die Bedeutung der Aktionen hält, ist entscheidend, und auch nicht das, was bestimmte andere Leute darüber denken, sondern vielmehr das, was die Öffentlichkeit bzw. »die Leute« hätten denken können.5 Dies entspricht einem Grundmerkmal der Komödie: Während die Tragödie immer der Selbsteinschätzung der Helden gegen die Sicht der Umwelt recht gibt, handelt die Komödie - ganz materialistisch - vom Trügerischen eines jeden Selbstverständnisses und sagt: Das, was andere hätten denken können, als sie euch sahen, ist die Wahrheit über euch.
Aus diesem Grund muss in S&C alles ständig erörtert werden. Die Besprechungsnotwendigkeit ergibt sich nicht aus dem (gesellschaftlich veranlassten) Bedürfnis, den eigenen Sex zu subjektivieren, sich zum Subjekt der eigenen Sexualität zu machen. Ganz im Gegenteil: Die Heldinnen wollen die Erlebnisse objektivieren, sie möchten herausfinden, was dieser Sex objektiv bedeutet, weil er es für andere, für die Stadt sozusagen, bedeuten könnte. Nur im Rahmen der Komödie sowie im Rahmen der Stadt kann diese Art des Besprechens und witzigen Räsonierens auftreten, denn nur im Komödienrahmen und nur im urbanen Raum ist das Entscheidende diese Art von objektiver Bedeutung.6
6.
Richard Sennett hat in seiner grundlegenden Studie »The Fall of Public Man« (Sennett [1974]) gezeigt, dass die Stadt, spätestens seit der Renaissance, ein theatralischer Raum ist: Die Stadt besteht aus Plätzen, die wie Bühnen funktionieren; sie verschafft den Individuen das Gefühl, betrachtet zu werden, und sich dementsprechend benehmen zu müssen. In der Öffentlichkeit hat man eleganter, entspannter, glücklicher aufzutreten, als man vielleicht in Wirklichkeit zu sein meint; man hat sich ein bisschen besser zu kleiden, formeller zu sprechen, Hochsprache statt Dialekt, in Höflichkeitsformen anstatt von Vertrautheitsformen (z. B. hat man »Sie« zu sagen statt »Du«; oder »Mr. Gates« statt »Bill«). Die Stadt veranlasst die Individuen also dazu, eine Trennung einzuführen zwischen der privaten Person und ihrer öffentlichen Rolle, und sie lehrt die Individuen, als Schauspieler ihrer selbst aufzutreten.
Da nun dieses Schauspiel eben eines der Zivilisiertheit ist, ist das Genre dieses Schauspiels die Komödie. Tragisch ist man vielleicht zu Hause, als private Person;7 die Rolle hingegen, die man in der Öffentlichkeit spielt, gehört notwendigerweise zum Fach der Komödie. Der Philosoph Alain hat auf diese Komödien-Dimension des zivilisierten Verhaltens hingewiesen. Er schreibt:
»Die Gesten der Höflichkeit haben große Macht über unsere Gedanken; und es hilft sowohl gegen schlechte Laune wie gegen Magenschmerzen, wenn man Liebenswürdigkeit, Wohlwollen und Freude mimt; die dazu erforderlichen Bewegungen - Verbeugungen und Lächeln - haben nämlich das Gute, die ihnen entgegengesetzten Bewegungen des Zorns, des Mißtrauens und der Traurigkeit unmöglich zu machen. Darum sind gesellschaftliche Veranstaltungen so beliebt: sie geben Gelegenheit, das Glück zu mimen; und diese Komödie heilt uns mit Sicherheit von der Tragödie, was nicht eben wenig ist.« (Alain 1982: 45)
7.
Die Komödie ist, wie die Stadt, der Schauplatz dessen, was irgendjemand - sozusagen ein unsichtbarer, naiver Beobachter - hätte glauben können.8 Es ist jenes Feld, in dem die Bedeutung der Dinge durch den äußeren Anschein bestimmt wird, und nicht etwa durch die inneren Absichten oder Überzeugungen der handelnden Personen. Darum ist dieses Feld zugleich heikel; es ist auch das Feld der Tabus im Sinne Sigmund Freuds (s. Freud [1912-13]). Eine bestimmte Geste kann notwendigerweise eine bestimmte Bedeutung haben und eine Sache entscheiden, auch wenn man es nicht so gemeint hat. So bemerkt Freud über die automatischen, selbststrafenden Mechanismen der Tabus im Fall ihrer Übertretung in den Stammeskulturen:
»Es liegen zuverlässige Berichte vor, daß die unwissentliche Übertretung eines solchen Verbotes sich tatsächlich automatisch gestraft hat. Der unschuldige Missetäter, der z. B. von einem ihm verbotenen Tier gegessen hat, wird tief deprimiert, erwartet seinen Tod und stirbt dann in allem Ernst.« (Freud 1912-13: 314)
Auch wenn die sogenannten zivilisierten Gesellschaften mit den Systemen der Moral und des Rechts andere Mechanismen entwickelt haben als die Stammeskulturen, besteht in ihnen in manchen Bereichen, oft unbemerkt, das stammeskulturelle System des Tabus fort. Die Peinlichkeit, die manche Menschen dazu bringen kann, am liebsten vor Scham sterben zu wollen, gehört zum Tabu-System. Fehler bei Akten der Höflichkeit zum Beispiel produzieren solche selbststrafende Peinlichkeit. Darum muss Höflichkeit, wie Alain bemerkt, »ebenso gelernt werden wie Tanzen« (Alain 1982: 200). Alle Gesten der Höflichkeit wie des Tanzes haben eine objektive Bedeutung. Und Fehler sind objektive Fehler. Man kann solche Fehler (wie zum Beispiel, dass man jemandem auf die Zehen getreten ist) darum nicht wieder gutmachen, indem man betont, dass es nicht so gemeint gewesen sei.
8.
Dasselbe gilt auch für die Sexualität. Auch hier müssen viele Dinge gelernt werden - genau wie beim Tanzen. Sonst gehen sie schief, und das bedeutet objektives Scheitern, welches nicht durch gute Absichten kompensiert oder repariert werden kann. Aber diese Notwendigkeit, die Dinge objektiv richtig zu machen, betrifft nicht die Technik und die taktvolle Gestaltung der sexuellen Praktiken alleine. Sie gilt vor allem auch für das Verhältnis zwischen den Praktiken und den Institutionen. Genau dies muss von den Protagonistinnen in S&C immer wieder erörtert werden: »Kann man das machen, oder nicht?« - dasisteineder am meistendiskutiertenFrageninS&C.
9.
Es geht dabei in S&C nicht darum, ob man diese Dinge selbst als lustvoll oder eklig empfindet, sondern vielmehr darum, ob sie, unabhängig davon, wie man sie selbst empfindet, objektiv in Ordnung und damit lustvoll sind - und zwar in der Ordnung urbaner, emanzipierter weiblicher Zivilisiertheit (die eine Ordnung des ästhetischen Anscheins, und darum etwas ganz anderes als zum Beispiel die Ordnung der sogenannten »political correctness« ist). Nicht zu Unrecht leiten die Heldinnen von S & C ihr eigenes, subjektives Gefallen an diesen Praktiken erst als etwas Sekundäres aus dieser primären, objektiven Legitimation ab. Das alles gefällt ihnen selbst nur dann, wenn es ihnen gefallen darf, weil es einer unsichtbaren, emanzipierten urbanen Beobachterin gefallen könnte. Wie in Kants »Kritik der Urteilskraft« (wo diese Alterität des ästhetischen Empfindens freilich auf das interesselose Wohlgefallen alleine beschränkt bleibt) wird in S &C der eigene sexuelle Geschmack als Folge eines Sozialgeschmacks begriffen. Bei Kant ist das Subjekt dieses Sozialgeschmacks »die Menschheit in unserer Person«;beiS&Ckönnte manes »dieStadtinmir«nennen.9
So wird zum Beispiel in der Konditorei die allgemeine Frage erörtert, ob anal-orale Sexualpraktiken in Ordnung sind. Miranda stellt aufgrund einer Erfahrung diese Frage; Carrie taucht in ratlose, schamhafte Verneinung ab. Samantha hingegen unterscheidet selbstbewusst: Selbstverständlich dürfen Frauen ihren Anus vom Mund eines Mannes verwöhnen lassen, aber natürlich niemals umgekehrt - das wäre für eine Frau ja zutiefst erniedrigend! Zur Überraschung aller toppt die romantisch-naive Charlotte dieses keck-libertine Urteil, und zwar ausgerechnet dank ihres idealisierten Bildes der Ehe: In einer Ehe, so Charlotte, könne man das doch alles machen, und sicherlich doch auch in beiden Richtungen zwischen den Geschlechtern!
10.
Eines der größten philosophischen Verdienste von S & C besteht darin, diese objektive Dimension der Bedeutung von sexuellen Angelegenheiten in Erinnerung gerufen zu haben. Das steht im Widerspruch zu einer gesellschaftlichen Entwicklung der »De-Insitutionalisierung« von Liebesbeziehungen10 sowie zu einem Zeitgeist, der sexuellen Dingen nur eine intime, private Bedeutung zuerkennen möchte. Wie Richard Sennett erkannt hat, entwickeln sich westliche Gesellschaften etwa seit den 70er Jahren »von außen-geleiteten zu innen-geleiteten Verhältnissen «. (Sennett [1974]: 18) Als entscheidend wird dabei nur erachtet, »was die Dinge für mich bedeuten«. Diese narzisstische Verinnerlichung und das entsprechende völlige Absehen von objektiven Beurteilungskriterien hat, so Sennett, fatale Folgen: »Die Welt intimer Empfindungen verliert alle Grenzen; sie wird nicht mehr von einer öffentlichen Welt begrenzt, die eine Art Gegengewicht zur Intimität darstellen würde. « (Sennett [1974]: 19)
Zwar kann das ausschließliche Beharren auf den innerlichen Kriterien zu einer Rebellion gegen Fremdbestimmung anstacheln. Dieser Impuls liegt, Sennett zufolge, der sexuellen Befreiung nach 1968 zugrunde. Doch mit dem Feind überwindet und zerstört man bei einer alleine auf Innerlichkeit gestützten Rebellion zugleich auch alle sozialen Institutionen, die man nach dem Sieg vielleicht benötigt hätte: »Indem wir gegen die Sexualunterdrückung rebellierten, haben wir auch gegen den Gedanken rebelliert, daß die Sexualität eine soziale Dimension besitzt.« (Sennett [1974]: 21)
Diese Ignoranz gegen die für das glückliche Funktionieren von Sexualität entscheidende soziale Dimension kennzeichnet keineswegs etwa nur die romantische Hippiebewegung der 60er und 70er Jahre. Sie kehrt auch wieder in der neueren Gendertheorie, die bekanntlich dazu tendiert, alle diesbezüglichen Fragen ausschließlich als Probleme der Selbstkonstruktion bzw. der performativen Umgestaltung der eigenen, gesellschaftlich bestimmten Rolle zu betrachten, wobei sie die Sexualität lediglich durch die Parameter der Identität und der Orientierung bestimmt sieht.11
Aber die Schwierigkeiten zwischen möglichen Sexualpartnern bestehen nicht nur darin, eine andere Person mit passender Identität und Orientierung zu finden. Sexuelle Positionen und Begehrensformen sind vielmehr immer auch durch einen Institutionenwunsch gekennzeichnet. Und dieser Institutionenwunsch erscheint auffällig starr; er lässt sich kaum verändern, auch wenn man es will, und er kann die größten Probleme bereiten, selbst wenn Identität und Orientierung der geliebten Person passen sollten. Es kann sein, dass die eine Person sich zum Beispiel Heirat wünscht, während die andere auf eine Zweierbeziehung ohne Trauschein abzielt, oder auf eine offene Beziehung, auf eine heimliche Affäre, oder auch nur auf flüchtigen Sex. Und selbst wenn diese Frage nach der Form der Beziehung geklärt ist, kann man sich, sogar bei inniger gegenseitiger Liebe, zum Beispiel an der Frage zerstreiten, ob man Kinder haben möchte oder nicht. Ferner kann die eine Person zum Beispiel die Eltern der anderen kennenlernen wollen, aber die andere Person kann genau dies als äußersten Horror empfinden und daraufhin die Beziehung abbrechen (an einem solchen Hindernis scheitert die erste Fallgeschichte, vonder S&CindererstenFolgeerzählt).
11.
Da S & C von den institutionellen Bedingungen der Liebe und der Wünsche handelt, müssen die Heldinnen von S & C kämpfen. Das, wogegen sie kämpfen müssen, ist allerdings nicht die von der Gendertheorie oft beklagte »heterosexuelle Matrix«, sondern vielmehr die vorherrschende »monogame Matrix«. Dies ist eine weitere kluge und hellsichtige Lektion von S & C:
Die entscheidende Norm, die westliche Gesellschaften prägt, ist die der Monogamie, und nicht etwa die der Heterosexualität.12
Homosexualität ist, wie S&C zeigt, vollkommen akzeptiert, und zwar bis hinauf in die obersten, stockkonservativen, republikanischen Eigentümeretagen von Mirandas Anwaltspraxis. Geduldet und sogar willkommen sind weiterhin die amüsanten Erzählungen von erotischen Abenteuern, die Carrie und ihre Freundinnen an der Stelle von Ehemännern vorweisen können. Nicht geduldet sind hingegen die Versuchungen, die von jungen, klugen Frauen auf verheiratete Ehegatten ausgeübt werden. Und unverheiratete Frauen, die auf Partys kommen, müssen angesichts vollständiger Paarsituationen mit Langeweile rechnen. »Verheiratete Paare sind der Feind«, resümiert Samantha diese Lage.
12.
Leider sitzt dieser Feind, und das ist das Schlimme, nicht nur außen. Da die eigenen Wünsche immer von der »Stadt«, das heißt: von der Gesellschaft, mitgeformt und mitbestimmt sind, und da es in einer Situation, in der die Menschen notwendigerweise verrückt sind, wie Pascal bemerkte, noch verrückter wäre, nicht ebenso verrückt zu sein wie sie,13 müssen Carrie und ihre Freundinnen nicht nur mit verheirateten Paaren kämpfen, sondern auch mit ihrem eigenen, mehr oder weniger andrängenden Institutionenwunsch, der mit ihrer doch ebenfalls gewünschten Freiheitsperspektive in Konflikt gerät. An diesem Punkt können die drei Freundinnen mitunter gleichsam als Persönlichkeitsatome von Carries eigenem, zutiefst gespaltenem Seelenleben verstanden werden - als Verkörperungen ihrer eigenen, in verschiedene Richtungen zielenden Wünsche: Samantha führt ihr die Idee der Freiheit und sexuellen Selbstbestimmung vor Augen; Charlotte dagegen eine traditionelle Idee von Eheglück; Miranda schließlich veranschaulicht meist den Totalausfall des Begehrens und die sexuelle Resignation angesichts dieses von den beiden anderen Freundinnen verkörperten Dilemmas.
13.
Für die Komik der Serie ist freilich entscheidend, dass jede dieser eindimensionalen Figuren ihre entscheidenden Erlebnisse dann doch und bezeichnenderweise gerade im Widerspruch zum eigenen Programm erfährt. Was sie wirklich wollen und leben, ist etwas ganz anderes als das, was sie ausdrücklich dafür erklären; und das Gewollte widerfährt ihnen dann völlig überraschend, offenbar ohne jede Entsprechung zu einer vielleicht versteckteren inneren Regung, buchstäblich von außen. Insofern bilden die expliziten Weltanschauungen der Heldinnen sozusagen deren »zweite Welten« gegenüber dem, was dann tatsächlich kommt. Denn die Liebe findet - gemäß Mannonis Formel der Verleugnung »ich weiß zwar, dennoch aber« (»je sais bien, mais quand même«, s. Mannoni 1985: 9 ff.) - hier immer als ein »dennoch aber« (»quand même«) statt: Miranda verfällt, ohne es zu wollen, einem schüchternen, etwas einfältigen, gutmütigen Verehrer. Charlotte treibt ihren ersten, scheinbar idealen Ehegatten gerade durch Mustergültigkeit in die psychische Impotenz. Samantha hingegen findet endlich einen Gleichgesinnten. Ein gutaussehender Geschäftsmann hat über die Liebe genau dieselbe zynische Auffassung wie sie. Wenn man nun aber jemanden wegen seines Zynismus in Bezug auf die Liebe liebt - ist diese Liebe dann selbst noch zynisch?
14.
Auch im wirklichen Leben ist die Liebe immer wieder, und offenbar mit Notwendigkeit, von der Ordnung des »quand même«, des Widerspruchs gegen das Beabsichtigte oder Intendierte. S & C lässt das deutlich genug erkennen. Samantha sagt: »Married people just want to be single again.«14 Es verhält sich offenbar wie in Marilyn Monroes Song: »When you get what you want you don't want it.« Wenn Carrie sich im Zug ihrer Recherchen mit programmatischer Absicht dem Casual Sex verschreibt, dann beginnt ihr bald die längerfristige Perspektive zu fehlen. Trifft sie dagegen auf einen Mann mit seriösen Heiratsabsichten, dann wird sie vom sogenannten »Fracksausen« gepackt und muss die Flucht ergreifen. Es verhält sich wie bei Pascals Analyse der menschlichen Zerstreuungen: Der Jäger jagt den ganzen Tag einem Hasen nach, den er geschenkt nicht haben möchte. Die Jagd scheint somit das eigentlich Begehrenswerte zu sein, nicht der Hase. Schickt man den Jäger also jagen, erklärt ihm aber, dass es im Wald keine Hasen gibt, macht ihm auch die Jagd keine Freude mehr. Den Spieler freut das Geld nicht, wenn er nicht darum gespielt hat. Gibt es aber kein Geld zu gewinnen, macht ihm auch das Spiel keine Freude.
Das bedeutet, dass im menschlichen Begehren eine Notwendigkeit der Täuschung besteht - eine Täuschung allerdings, von der (ähnlich wie bei der Höflichkeit) eigentlich jeder und jede wissen müsste, dass sie eine ist. Pascal schreibt über den Jäger und den Spieler: »...so formt er sich einen Gegenstand der Leidenschaft und erregt dadurch seine Begierde, seinen Zorn, seine Furcht und wendet sie jener Sache zu, die er selbst geformt hat, den Kindern gleich, die vor dem Gesicht erschrecken, das sie selbst gekritzelt haben.« (Pascal 1997,§ 136)
Diese erstaunliche Wirkung der Illusion, die doch eine durchschaute Illusion sein müsste, ist nicht unkomisch. Das selbe passiert auch bei den bereits im vorangegangenen Kapitel erwähnten, abendlichen Haustor-Fragen vom Typ »Kommst du noch mit auf einen Tee?« Obwohl beide Anwesenden sehr genau wissen, welche Realität damit gemeint ist, können sie nicht anders, als diese mit Hilfe einer milden Illusion zu benennen und möglich zu machen.
15.
In der Liebesgeschichte zwischen Samantha und ihrem ebenbürtig zynischen Barbesitzer nimmt diese Täuschung eine hübsche, spezielle Form an. Wenn sich die beiden miteinander verabreden, dann formulieren sie das drastisch. Sie sagen zum Beispiel: »Heute Abend um 8, Ficken bei mir?« Diese obszöne Deutlichkeit scheint nur auf den ersten Blick dem eben erläuterten Gesetz von der Notwendigkeit der Täuschung zu widersprechen. Auch hier wird nämlich schamhaft etwas bedeckt, dessen Zerstörung man fürchtet, wenn man es direkt und bei seinem wirklichen Namen benennen würde. Was zwischen Samantha und ihrem Freund auf keinen Fall benannt werden darf, ist, dass es bei ihrem Vorhaben vielleicht doch um mehr gehen könnte als nur um regelmäßigen guten Sex. Während andere Paare sich bemühen müssen, zarte Gefühle oder unbedeutende Getränke vorzuschützen, wenn sie Sex haben wollen, müssen Samantha und ihr Freund Sex vorschützen, wenn sie zärtliche Gefühle leben wollen. Noch einmal widerspricht S& C hier der von Foucault kritisierten Auffassung der Sexualität als der »Wahrheit« des Subjekts: Der Sex ist keinesfalls immer die unterste, nackte Schicht, die man unter einer Reihe kultureller Bedeckungen und Schleier antrifft. Auch der Sex selbst eignet sich durchaus, um etwas anderes, noch Nackteres zu verschleiern.
16.
Wenn man von S & C nicht nur blendende Unterhaltung verschafft bekommen, sondern auch für das Leben etwas lernen kann, dann ist es vielleicht vor allem das. Die Liebeskomödie S & C lehrt für das Leben nicht allein etwas über die Liebe. Sie lehrt vor allem, dass auch die Liebe im wirklichen Leben nicht ohne Komödie möglich ist.
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Autoren-Porträt von Robert Pfaller
Robert Pfaller, geboren 1962, studierte Philosophie in Wien und Berlin und ist nach Gastprofessuren in Chicago, Berlin, Zürich und Strassburg Professor für Philosophie an der Kunstuniversität Linz. Von 2009 bis 2014 war er Professor für Philosophie an der Universität für angewandte Kunst Wien. In den Fischer Verlagen ist von ihm »Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft. Symptome der Gegenwartskultur« erschienen, die vielbeachtete Studie »Wofür es sich zu leben lohnt. Elemente materialistischer Philosophie«, »Zweite Welten. Und andere Lebenselixiere« sowie im Fischer Taschenbuch »Kurze Sätze über gutes Leben«. Mit Beate Hofstadtler hat er ausserdem den Band »After you get what you want, you don't want it. Wunscherfüllung, Begehren und Geniessen« herausgegeben. Zuletzt erschien von ihm »Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur« (2017). 2020 wurde ihm der Paul-Watzlawick-Ehrenring verliehen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Robert Pfaller
- 2012, 1. Auflage, 272 Seiten, Masse: 13,6 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100590341
- ISBN-13: 9783100590343
- Erscheinungsdatum: 05.10.2012
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