Zwei Grad mehr in Deutschland
Wie der Klimawandel unseren Alltag verändern wird. Das Szenario 2040
Was bewirkt der Klimawandel in Deutschland? - Das Szenario 2040
Klimaforschung, Klimapolitik und Klimaprotest drehen sich um das Erreichen des "2-Grad-Ziels": das Abbremsen der Erderwärmung bei zwei Grad Celsius über der vorindustriellen...
Klimaforschung, Klimapolitik und Klimaprotest drehen sich um das Erreichen des "2-Grad-Ziels": das Abbremsen der Erderwärmung bei zwei Grad Celsius über der vorindustriellen...
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Produktinformationen zu „Zwei Grad mehr in Deutschland “
Klappentext zu „Zwei Grad mehr in Deutschland “
Was bewirkt der Klimawandel in Deutschland? - Das Szenario 2040Klimaforschung, Klimapolitik und Klimaprotest drehen sich um das Erreichen des "2-Grad-Ziels": das Abbremsen der Erderwärmung bei zwei Grad Celsius über der vorindustriellen Durchschnittstemperatur. Aber zwei Grad global sehen lokal sehr unterschiedlich aus: das können vor Ort vier Grad oder auch nur ein Grad mehr sein, genauso wie die Folgen in einer Region Wasserknappheit und in einer anderen extreme Hochwasser sein können. Friedrich-Wilhelm Gerstengarbe vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung und der Soziologe Harald Welzer bieten ein realistisches Bild der Auswirkungen des Klimawandels in deutschen Städten und Landschaften im Jahr 2040.
Lese-Probe zu „Zwei Grad mehr in Deutschland “
Zwei Grad mehr in Deutschland von Friedrich-Wilhelm Gerstengarbe/ Harald Welzer1 Zum Verhältnis von Natur und Gesellschaft: Was heißt Anpassung an den Klimawandel?
Sebastian Wessels
Die Fähigkeit zur Anpassung an verschiedenste ökologische und soziale Lebensbedingungen ist ein herausragendes Merkmal der menschlichen Natur. Während Tiere und Pflanzen immer zum Überleben in einer ganz bestimmten Umwelt ausgestattet sind - ihrer sogenannten ökologischen Nische -, fehlt eine solche spezielle Ausstattung und Festgelegtheit beim Menschen. Menschen leben in tropischen Wäldern, in Eis und Schnee, in der Wüste, am Meer und auf Bergen. Überall haben sie im Lauf der Entwicklung ihrer Gesellschaften spezielle Kulturtechniken entwickelt, die es ihnen ermöglichen, den ökologischen Bedingungen, in denen sie sich befinden, ein Leben abzutrotzen. Während Tiere und Pflanzen biologisch auf das Leben in bestimmten Umweltbedingungen abgestimmt sind, bringt die menschliche Biologie eine Flexibilität und Erfahrungsoffenheit mit sich, die unter anderen Lebensformen ohne Beispiel ist. Auf bestimmte Umweltbedingungen spezialisiert und mehr oder weniger festgelegt sind Menschen letztlich auch, doch bei ihnen erfolgt die Festlegung nicht biologisch durch genetische Vererbung, sondern sozial durch Erfahrung, Lernen und Tradition. Ihre ökologische Nische ist, wenn man so will, vor allem die Gesellschaft, weil es die besondere Sozialität der Menschen ist, die ihre herausragende Anpassungsflexibilität ermöglicht.
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Vor diesem Hintergrund ist auffällig, dass im Zusammenhang mit dem Klimawandel erst in jüngster Vergangenheit das Thema Anpassung als praktisches und politisches Problem breit diskutiert wird. Wenn doch Menschen sich schon immer dadurch auszeichnen, dass sie sich höchst flexibel an verschiedenste Umweltbedingungen anpassen können, wieso wird dann heute Anpassung zum Thema und Problem? Was genau ist eigentlich unter »Anpassung« zu verstehen?
Schaut man sich die gesellschaftliche Entwicklung vom Zusammenleben in relativ einfach strukturierten, kleinen Sippen und Stämmen bis zu den komplexen, hochtechnisierten Millionengesellschaften der Gegenwart an, dann wird deutlich, dass Menschen sich nicht nur an die ökologischen Bedingungen anpassen, die sie vorfinden, sondern auch umgekehrt ihre Umgebung an sich anpassen. Wenn Menschen etwa anfangen, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben, sind sie nicht mehr wie Jäger und Sammler davon abhängig, verwertbare Pflanzen und Tiere zu suchen und zu finden, sondern sie kontrollieren nun das Vorkommen von bestimmten Pflanzen und Tieren an bestimmten Orten für ihre eigenen Zwecke. Acker und Viehherden sind ein Stück Natur, das von Menschen so geformt wurde, dass es der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dient. Indem sie Häuser bauen und Tierfelle oder Kleidung tragen, machen sich Menschen unabhängiger vom Wetter. Heute ermöglichen uns Kühl- und Gefrierschränke sowie Konservierungsstoffe, Lebensmittel länger zu lagern, was die Taktung unseres Verbrauchs unabhängiger von ökologisch bedingten Produktionszyklen macht. Wasserversorgungssysteme machen uns unabhängiger von Niederschlag und Flussverläufen; die Techniken der Energiegewinnung und -verteilung machen uns unabhängiger von den Jahreszeiten (oder der Verfügbarkeit von Brennholz); moderne Verkehrsmittel machen uns unabhängiger von den Orten, an denen wir uns befinden.
An dieser Reihe von Beispielen, die sich beliebig fortsetzen ließe, wird bereits deutlich, dass »Anpassung« im ökologischen Sinn nie eine Einbahnstraße ist. Alle Organismen, und besonders die Menschen, verändern nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Umgebung, und müssen sich immer gleichzeitig wieder mit der veränderten Umgebung arrangieren (Lewontin 2002: 53 ff.). Die Wechselseitigkeit von ökologischen und sozialen Anpassungsvorgängen wird oft übersehen, lässt sich aber an vielen Beispielen leicht verdeutlichen. So ließe sich etwa das Tragen von Kleidung als Anpassung an ein kälteres Klima beschreiben, denn das Klima selbst wird davon nicht beeinflusst. Die Herstellung dieser Kleidung ist jedoch ein Vorgang, in dem natürliche Rohstoffe so verformt werden, dass sie bestimmte menschliche Bedürfnisse befriedigen, indem etwa Jagd-, Zucht- und Verarbeitungspraktiken entwickelt und etabliert werden, durch die sich Menschen auf vielfältige Weise zur Natur ins Verhältnis setzen und Aspekte davon für ihre Zwecke umformen und kontrollieren. Auch Werkzeuge machen die Wechselseitigkeit von Anpassung anschaulich. Indem man ein Werkzeug so formt, wie man es braucht, passt man dieses Stück Natur - sei es aus Holz, Stein oder Metall - an sich an; zum Beispiel an die Form und Motorik der Hände. Indem man aber den Umgang mit diesem Werkzeug lernt, passt man sich an das Werkzeug an. Man bildet Gehirnstrukturen und Muskeln aus, die mit der Benutzung dieses Werkzeugs korrespondieren. Das Werkzeug ist seinerseits an die ökologischen Bedingungen angepasst, in denen es funktionieren soll - etwa an die Beschaffenheit eines Baumes, wenn es sich um eine Axt handelt. Ob man nun sagt, mit unseren modernen Wohnanlagen passen wir uns an die Natur oder die Natur an uns an, hängt einfach davon ab, wo man jeweils die Grenze zwischen Natur und Gesellschaft zieht. Fasst man nur Regen und Witterung als Natur auf, passen wir uns durch den Bau von Häusern an die Natur an; zieht man jedoch in Betracht, dass dieser Bau umfangreiche Bearbeitungen von Naturressourcen einschließt und das Haus aus solchen besteht, kann man den Vorgang ebenso als Anpassung der Natur an unsere Bedürfnisse beschreiben.
Man kann diese letztlich nicht auflösbaren Definitionsprobleme vermeiden, indem man sich den Gesamtzusammenhang von Menschen und ökologischen Bedingungen als komplexes und mehr oder weniger stabiles Gesamtsystem von Kreisläufen vorstellt. »Komplexität« kann man definieren als Vielfalt an Systemelementen und Beziehungen zwischen ihnen. Der Begriff »Anpassung« bezieht sich dann auf den Grad, zu dem die Systemelemente aufeinander abgestimmt sind und eine Reproduktion des Systems ermöglichen.
Hiermit eng verbunden ist die Vorstellung eines Gleichgewichts zwischen gegensätzlichen Kräften und Funktionen, die sich gegenseitig die Waage halten. Für ein solches Gleichgewicht wird zuweilen der Begriff der »Homöostase« verwendet, der ursprünglich die Aufrechterhaltung von bestimmten Sollwerten innerhalb von Organismen bezeichnet. Eine klassische Illustration dafür ist der Thermostat, den wir von unseren Zentralheizungen kennen. Wenn der Thermostat eine Abweichung vom eingestellten Sollwert registriert, sorgt er dafür, dass die Heizung anspringt oder ausgeht, um die Raumtemperatur wieder diesem Sollwert anzunähern. Vergleichbare Mechanismen bei Lebewesen sind zum Beispiel Durst- und Hungergefühle, wenn Flüssigkeit fehlt oder der Blutzuckerspiegel sinkt, oder das Schwitzen, das bei Hitze dazu dient, die Körpertemperatur zu senken. Auf der Ebene von Ökosystemen kann die Nahrungspyramide als Beispiel für homöostatische Kreisläufe dienen. Pflanzen erzeugen mit Hilfe der Photosynthese organisches Material, von dem sich direkt oder indirekt alle tierischen Organismen des Systems ernähren. Der Kreislauf schließt sich durch die Nährstoffe, die in den Ausscheidungen und sterblichen Überresten der Organismen enthalten sind, welche in den Boden übergehen und damit weiteres Pflanzenwachstum ermöglichen.
Nun könnte das Gleichgewicht eines Ökosystems etwa dadurch gestört sein, dass ein Raubtier ausstirbt, das sich bislang von kleineren Pflanzenfressern ernährt hat. Ohne seinen Fressfeind könnte sich dieser Pflanzenfresser nun verstärkt vermehren, wodurch die Pflanzen, von denen er sich ernährt, vergleichsweise dezimiert würden. Nun kann es sein, dass in der Folge die Zahl dieser Pflanzenfresser durch den von ihnen selbst geschaffenen Nahrungsmangel wieder abnimmt, die Vegetation sich erholt und sich ein neuer Gleichgewichtszustand etabliert. Die Komplexität solcher Kreisläufe kommt aber immer wieder darin zum Ausdruck, dass sich dies nicht mit Gewissheit vorhersagen lässt. Durch das verstärkte Grasen könnte es - etwa durch starken Wind und Niederschlag im betreffenden Jahr - auch zu einer Bodenerosion kommen, so dass dann selbst im Fall eines völligen Verschwindens der Pflanzenfresser die Vegetation nicht mehr in dem Maß nachwachsen könnte, wie sie zuvor bestanden hatte. Ebenso könnte der Pflanzenfresser in seinem Blütejahr andere Tiere verdrängen, die mit ihm um Nahrung konkurrieren. Das intensive Grasen könnte außerdem dazu führen, dass schnell nachwachsende Pflanzenarten sowie diejenigen, die unser Pflanzenfresser meidet, begünstigt würden, was das Spektrum vorhandener und vorherrschender Pflanzen in diesem Ökosystem verschieben würde. Das könnte sich wiederum negativ auf die Lebenschancen des Tieres auswirken. Dieses Phänomen, dass Veränderungen von Teilsystemen (Ausbreitung der Pflanzenfresser) zu Reaktionen in anderen Teilsystemen führen (gemindertes Nahrungsangebot für diese Pflanzenfresser), die das System zu einem neuen Gleichgewicht hinstreben lassen (weniger Pflanzenfresser infolge des Nahrungsmangels), ist der Grund dafür, dass man auch von selbstorganisierenden Systemen spricht. Was Selbstorganisation auf elementarer Ebene ermöglicht, sind die Reaktionen, die auf die ursprüngliche Veränderung folgen und in der Kybernetik als »Feedback« oder »Rückkopplung« bezeichnet werden. Ein anschauliches Beispiel für eine homöostatische Reaktion in gesellschaftlichem Zusammenhang stammt von Gregory Bateson:
»Unter dem Einfluss der Prohibition reagierte das amerikanische Sozialsystem homöostatisch, um die Konstanz der Alkoholversorgung aufrechtzuerhalten. Es entstand ein neuer Beruf, nämlich der des Alkoholschmugglers. Zur Kontrolle dieses Berufs ergaben sich Veränderungen im Polizeisystem. Als die Frage der Aufhebung ins Gespräch kam, war zu erwarten, dass mit Sicherheit die Alkoholschmuggler und vielleicht auch die Polizei für die Beibehaltung der Prohibition sein würden « (Bateson 1985: 568).
Genaugenommen sind dies sogar zwei homöostatische Reaktionen: Die Herausbildung des Schmuggels, um die Alkoholversorgung aufrechtzuerhalten, und die Veränderungen im Polizeisystem, um die Kriminalität unter Kontrolle zu behalten. Dass nun beide Parteien es bei dem neuen Gleichgewichtszustand belassen wollen, liegt daran, dass sie sich damit arrangiert haben und möglicherweise gut davon leben.
Die Anwendung des Konzepts der Homöostase auf gesellschaftliche Zusammenhänge ist gelegentlich dafür kritisiert worden, dass sie Wandel und Konflikt als Ausnahmeerscheinungen darstelle und den Eindruck erwecke, eine Gesellschaft befinde sich normalerweise in einem Zustand der Harmonie und Wandellosigkeit (vgl. Elias 1997a: 22f.). Schon auf biologischer Ebene ist ein statisches Modell irreführend, denn auch ein Organismus befindet sich im ständigen Wandel und durchläuft verschiedenste Zyklen und Phasen, in denen seine »Sollwerte« unterschiedlich sind. Der Biologe Steven Rose legte deshalb nahe, den Begriff der »Homöodynamik« vorzuziehen (Rose 2000: 174f.). Diese Kritik ist berechtigt, und wenn man von »Homöostase« oder »Gleichgewicht« spricht, muss man im Hinterkopf behalten, dass Ökosysteme wie Gesellschaften dynamisch sind und sich nicht nur im Fall von »Störungen«, sondern permanent wandeln (vgl. auch Rappaport 1978: 50). Gleichzeitig aber lassen sich in solchen Systemen erstens zahlreiche homöostatische Reaktionen im beschriebenen Sinn beobachten, und diese Beobachtung ist durchaus relevant, da sich aus diesen Reaktionen eine gewisse Veränderungsresistenz des Systems ergibt. Radikal neue Ideen, so einleuchtend sie manchen auch erscheinen mögen, stoßen regelmäßig bei anderen auf ebenso radikale Ablehnung. Der Komplexität und Dynamik sozialer Systeme ist wiederum der Umstand geschuldet, dass auch und gerade die angestrengtesten Versuche, einen Status quo aufrechtzuerhalten, Teil einer Dynamik sind und unbeabsichtigt weitreichende gesellschaftliche Veränderungen bewirken können. Und zweitens hat der Begriff der Homöostase darin eine gewisse Berechtigung, dass man in Ökosystemen wie einer Gesellschaft durchaus zwischen graduellem Wandel und fundamentalen Umbrüchen unterscheiden kann. Auch wenn sich die Grenze zwischen einem bloß gewandelten und einem völlig neuen System, das aus einem Kollaps des alten hervorging, nicht genau ziehen lässt, ist die Unterscheidung sinnvoll.
Wenn man nun beurteilen will, ob die Veränderungen, die in einem System vor sich gehen, »gut« oder »schlecht« sind, braucht man einen äußeren Maßstab. Wenn bestimmte Tier- oder Pflanzenarten verschwinden und sich dafür andere ausbreiten, aber auch, wenn weniger Arten oder insgesamt weniger Individuen dieser Arten vorhanden sind, dann hat man es zunächst einmal mit einem veränderten bzw. einem anderen Ökosystem zu tun, das an sich weder »besser« noch »schlechter « ist. Wenn die Zahl der Arten und Individuen eines Systems abnimmt, kann man allenfalls sagen, dass es an Komplexität verloren hat, und auch das stellt sich nur dann als »schlecht« dar, wenn man voraussetzt, dass Komplexität oder Vielfalt »gut« sei. Wenn heute etwa der Verlust biologischer Vielfalt beklagt wird, dann vor allem aus dem Grund, dass die biologische Vielfalt ein reichhaltiges Reservoir an für Menschen nutzbaren Rohstoffen bereitstellt. Andere Gründe können sein, dass ein vielfältiges Ökosystem im Allgemeinen resilienter, also widerstandsfähiger ist, oder auch, dass man der Vielfalt einen religiösen, ästhetischen oder sonstigen immateriellen Wert zuschreibt. Und obwohl man durchaus auch von einer radikalen biozentrischen Position aus argumentieren kann, die außermenschliche Natur sei als Selbstzweck vor menschlichen Eingriffen zu schützen, sind mit »Schäden« oder »Belastungen« für die Natur in der Regel eher solche Veränderungen in Ökosystemen gemeint, von denen wir über kurz oder lang ungünstige Auswirkungen auf Leben und Lebensqualität von Menschen befürchten.
So oder so ist der bloße Fortbestand von homöostatischen Systemen nicht das, worauf es uns Menschen ankommt. Auch ein minimales, aus menschlicher Sicht karges Ökosystem kann sich über lange Zeit homöostatisch reproduzieren - und ebenso eine Gesellschaft mit korrupter Führung im Bürgerkrieg. Bei inner- und zwischenstaatlichen Konflikten ist sogar die Stabilität der konflikthaften Beziehungen häufig gerade das Problem. Genau betrachtet ist also weder Wandel zwangsläufig schlecht noch Stabilität zwangsläufig gut. Spricht man von »Schäden«, die einem Ökosystem oder einer Gesellschaft drohen, steckt darin also erstens eine Tatsachenbehauptung
- das System verändert sich in bestimmter Weise -, und zweitens eine Wertung: Diese Veränderung ist schlecht, womit meistens gemeint ist, schlecht für Menschen. Dies drückt sich im Begriff der »Ökosystemleistungen« (»ecosystem services «) aus, der sich ausdrücklich auf diejenigen Funktionen von Ökosystemen bezieht, die für Menschen von Nutzen sind (vgl. etwa Lucas 2011: 7). Wenn also heute die »Anpassung« von Menschen oder Gesellschaften an den Klimawandel gefordert wird, so ist damit gemeint, es soll ein sozial-ökologischer Systemzustand herbeigeführt werden, in dem Menschen Lebensbedingungen vorfinden, die möglichst nicht schlechter sind als die gegenwärtigen. Was man dabei unter »schlechter« zu verstehen hat, ist letztlich immer politische und gesellschaftliche Verhandlungssache. In Begriffen der Homöostase geht es bei solchen Verhandlungen darum, welche »Sollwerte« es sind, die konstant gehalten oder erreicht werden sollen. Die Lebensqualität möglichst vieler Menschen wäre ein möglicher Sollwert, an dem man sich orientieren kann, aber in der Praxis werden auch viele andere immer wieder vorgeschlagen, zum Beispiel das Wirtschaftswachstum, die Exportquote, die Inflation, die Geburtenrate, die Renten und viele andere mehr. In allen diesen Fällen will man planmäßig einige Aspekte der inneren Konfiguration des Systems verändern - z.B. die Steuern senken -, um andere Aspekte konstant zu halten oder auf einen Sollwert hin zu verändern - z. B. das Wirtschaftswachstum erhöhen. Was geändert werden darf und muss, welche Aspekte konstant zu halten und welche Sollwerte zu erreichen sind, ist für Gesellschaften ein zentraler Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Nicht nur deshalb, weil verschiedene Akteure verschiedene Interessen und Werte vertreten, sondern auch, weil in den meisten Fällen ungewiss ist, ob vorgeschlagene Änderungen überhaupt die gewünschten Folgen zeitigen werden und welche unerwarteten Nebenfolgen dabei auftreten können.
Darum also wird trotz der großen, biologisch bedingten Anpassungsfähigkeit der Menschen »Anpassung« im Zusammenhang mit dem Klimawandel zum Problem. Wir können zwar grundsätzlich davon ausgehen, dass Menschen auch unter radikal veränderten ökologischen und sozialen Bedingungen noch leben können und leben werden, aber die Aussicht, dass es »wahrscheinlich irgendwie weitergehen« wird, genügt uns nicht, oder anders ausgedrückt: Wir wollen keine radikale Veränderung der ökologischen und sozialen Bedingungen. »Anpassung« könnte vieles bedeuten, aber wir wollen nicht deindustrialisieren oder Küstenregionen evakuieren, wir wollen nicht auf Mobilität, Lebensmittelvielfalt, Unterhaltungselektronik und zahlreiche andere Annehmlichkeiten unseres Alltags verzichten, und können es zum Teil auch gar nicht. Das heißt, in vielerlei Hinsicht wollen wir uns gerade nicht anpassen, sondern Bestehendes trotz sich unweigerlich ändernder ökologischer und sozialer Bedingungen bewahren. »Anpassung an den Klimawandel« als politisches und gesellschaftliches Programm bedeutet also, ausgewählte Systemfunktionen - seien es Infrastrukturen, Institutionen oder Verhaltensweisen - gezielt zu verändern, damit andere, denen wir einen hohen Wert zuschreiben, unverändert bleiben können.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Vor diesem Hintergrund ist auffällig, dass im Zusammenhang mit dem Klimawandel erst in jüngster Vergangenheit das Thema Anpassung als praktisches und politisches Problem breit diskutiert wird. Wenn doch Menschen sich schon immer dadurch auszeichnen, dass sie sich höchst flexibel an verschiedenste Umweltbedingungen anpassen können, wieso wird dann heute Anpassung zum Thema und Problem? Was genau ist eigentlich unter »Anpassung« zu verstehen?
Schaut man sich die gesellschaftliche Entwicklung vom Zusammenleben in relativ einfach strukturierten, kleinen Sippen und Stämmen bis zu den komplexen, hochtechnisierten Millionengesellschaften der Gegenwart an, dann wird deutlich, dass Menschen sich nicht nur an die ökologischen Bedingungen anpassen, die sie vorfinden, sondern auch umgekehrt ihre Umgebung an sich anpassen. Wenn Menschen etwa anfangen, Ackerbau und Viehzucht zu betreiben, sind sie nicht mehr wie Jäger und Sammler davon abhängig, verwertbare Pflanzen und Tiere zu suchen und zu finden, sondern sie kontrollieren nun das Vorkommen von bestimmten Pflanzen und Tieren an bestimmten Orten für ihre eigenen Zwecke. Acker und Viehherden sind ein Stück Natur, das von Menschen so geformt wurde, dass es der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse dient. Indem sie Häuser bauen und Tierfelle oder Kleidung tragen, machen sich Menschen unabhängiger vom Wetter. Heute ermöglichen uns Kühl- und Gefrierschränke sowie Konservierungsstoffe, Lebensmittel länger zu lagern, was die Taktung unseres Verbrauchs unabhängiger von ökologisch bedingten Produktionszyklen macht. Wasserversorgungssysteme machen uns unabhängiger von Niederschlag und Flussverläufen; die Techniken der Energiegewinnung und -verteilung machen uns unabhängiger von den Jahreszeiten (oder der Verfügbarkeit von Brennholz); moderne Verkehrsmittel machen uns unabhängiger von den Orten, an denen wir uns befinden.
An dieser Reihe von Beispielen, die sich beliebig fortsetzen ließe, wird bereits deutlich, dass »Anpassung« im ökologischen Sinn nie eine Einbahnstraße ist. Alle Organismen, und besonders die Menschen, verändern nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Umgebung, und müssen sich immer gleichzeitig wieder mit der veränderten Umgebung arrangieren (Lewontin 2002: 53 ff.). Die Wechselseitigkeit von ökologischen und sozialen Anpassungsvorgängen wird oft übersehen, lässt sich aber an vielen Beispielen leicht verdeutlichen. So ließe sich etwa das Tragen von Kleidung als Anpassung an ein kälteres Klima beschreiben, denn das Klima selbst wird davon nicht beeinflusst. Die Herstellung dieser Kleidung ist jedoch ein Vorgang, in dem natürliche Rohstoffe so verformt werden, dass sie bestimmte menschliche Bedürfnisse befriedigen, indem etwa Jagd-, Zucht- und Verarbeitungspraktiken entwickelt und etabliert werden, durch die sich Menschen auf vielfältige Weise zur Natur ins Verhältnis setzen und Aspekte davon für ihre Zwecke umformen und kontrollieren. Auch Werkzeuge machen die Wechselseitigkeit von Anpassung anschaulich. Indem man ein Werkzeug so formt, wie man es braucht, passt man dieses Stück Natur - sei es aus Holz, Stein oder Metall - an sich an; zum Beispiel an die Form und Motorik der Hände. Indem man aber den Umgang mit diesem Werkzeug lernt, passt man sich an das Werkzeug an. Man bildet Gehirnstrukturen und Muskeln aus, die mit der Benutzung dieses Werkzeugs korrespondieren. Das Werkzeug ist seinerseits an die ökologischen Bedingungen angepasst, in denen es funktionieren soll - etwa an die Beschaffenheit eines Baumes, wenn es sich um eine Axt handelt. Ob man nun sagt, mit unseren modernen Wohnanlagen passen wir uns an die Natur oder die Natur an uns an, hängt einfach davon ab, wo man jeweils die Grenze zwischen Natur und Gesellschaft zieht. Fasst man nur Regen und Witterung als Natur auf, passen wir uns durch den Bau von Häusern an die Natur an; zieht man jedoch in Betracht, dass dieser Bau umfangreiche Bearbeitungen von Naturressourcen einschließt und das Haus aus solchen besteht, kann man den Vorgang ebenso als Anpassung der Natur an unsere Bedürfnisse beschreiben.
Man kann diese letztlich nicht auflösbaren Definitionsprobleme vermeiden, indem man sich den Gesamtzusammenhang von Menschen und ökologischen Bedingungen als komplexes und mehr oder weniger stabiles Gesamtsystem von Kreisläufen vorstellt. »Komplexität« kann man definieren als Vielfalt an Systemelementen und Beziehungen zwischen ihnen. Der Begriff »Anpassung« bezieht sich dann auf den Grad, zu dem die Systemelemente aufeinander abgestimmt sind und eine Reproduktion des Systems ermöglichen.
Hiermit eng verbunden ist die Vorstellung eines Gleichgewichts zwischen gegensätzlichen Kräften und Funktionen, die sich gegenseitig die Waage halten. Für ein solches Gleichgewicht wird zuweilen der Begriff der »Homöostase« verwendet, der ursprünglich die Aufrechterhaltung von bestimmten Sollwerten innerhalb von Organismen bezeichnet. Eine klassische Illustration dafür ist der Thermostat, den wir von unseren Zentralheizungen kennen. Wenn der Thermostat eine Abweichung vom eingestellten Sollwert registriert, sorgt er dafür, dass die Heizung anspringt oder ausgeht, um die Raumtemperatur wieder diesem Sollwert anzunähern. Vergleichbare Mechanismen bei Lebewesen sind zum Beispiel Durst- und Hungergefühle, wenn Flüssigkeit fehlt oder der Blutzuckerspiegel sinkt, oder das Schwitzen, das bei Hitze dazu dient, die Körpertemperatur zu senken. Auf der Ebene von Ökosystemen kann die Nahrungspyramide als Beispiel für homöostatische Kreisläufe dienen. Pflanzen erzeugen mit Hilfe der Photosynthese organisches Material, von dem sich direkt oder indirekt alle tierischen Organismen des Systems ernähren. Der Kreislauf schließt sich durch die Nährstoffe, die in den Ausscheidungen und sterblichen Überresten der Organismen enthalten sind, welche in den Boden übergehen und damit weiteres Pflanzenwachstum ermöglichen.
Nun könnte das Gleichgewicht eines Ökosystems etwa dadurch gestört sein, dass ein Raubtier ausstirbt, das sich bislang von kleineren Pflanzenfressern ernährt hat. Ohne seinen Fressfeind könnte sich dieser Pflanzenfresser nun verstärkt vermehren, wodurch die Pflanzen, von denen er sich ernährt, vergleichsweise dezimiert würden. Nun kann es sein, dass in der Folge die Zahl dieser Pflanzenfresser durch den von ihnen selbst geschaffenen Nahrungsmangel wieder abnimmt, die Vegetation sich erholt und sich ein neuer Gleichgewichtszustand etabliert. Die Komplexität solcher Kreisläufe kommt aber immer wieder darin zum Ausdruck, dass sich dies nicht mit Gewissheit vorhersagen lässt. Durch das verstärkte Grasen könnte es - etwa durch starken Wind und Niederschlag im betreffenden Jahr - auch zu einer Bodenerosion kommen, so dass dann selbst im Fall eines völligen Verschwindens der Pflanzenfresser die Vegetation nicht mehr in dem Maß nachwachsen könnte, wie sie zuvor bestanden hatte. Ebenso könnte der Pflanzenfresser in seinem Blütejahr andere Tiere verdrängen, die mit ihm um Nahrung konkurrieren. Das intensive Grasen könnte außerdem dazu führen, dass schnell nachwachsende Pflanzenarten sowie diejenigen, die unser Pflanzenfresser meidet, begünstigt würden, was das Spektrum vorhandener und vorherrschender Pflanzen in diesem Ökosystem verschieben würde. Das könnte sich wiederum negativ auf die Lebenschancen des Tieres auswirken. Dieses Phänomen, dass Veränderungen von Teilsystemen (Ausbreitung der Pflanzenfresser) zu Reaktionen in anderen Teilsystemen führen (gemindertes Nahrungsangebot für diese Pflanzenfresser), die das System zu einem neuen Gleichgewicht hinstreben lassen (weniger Pflanzenfresser infolge des Nahrungsmangels), ist der Grund dafür, dass man auch von selbstorganisierenden Systemen spricht. Was Selbstorganisation auf elementarer Ebene ermöglicht, sind die Reaktionen, die auf die ursprüngliche Veränderung folgen und in der Kybernetik als »Feedback« oder »Rückkopplung« bezeichnet werden. Ein anschauliches Beispiel für eine homöostatische Reaktion in gesellschaftlichem Zusammenhang stammt von Gregory Bateson:
»Unter dem Einfluss der Prohibition reagierte das amerikanische Sozialsystem homöostatisch, um die Konstanz der Alkoholversorgung aufrechtzuerhalten. Es entstand ein neuer Beruf, nämlich der des Alkoholschmugglers. Zur Kontrolle dieses Berufs ergaben sich Veränderungen im Polizeisystem. Als die Frage der Aufhebung ins Gespräch kam, war zu erwarten, dass mit Sicherheit die Alkoholschmuggler und vielleicht auch die Polizei für die Beibehaltung der Prohibition sein würden « (Bateson 1985: 568).
Genaugenommen sind dies sogar zwei homöostatische Reaktionen: Die Herausbildung des Schmuggels, um die Alkoholversorgung aufrechtzuerhalten, und die Veränderungen im Polizeisystem, um die Kriminalität unter Kontrolle zu behalten. Dass nun beide Parteien es bei dem neuen Gleichgewichtszustand belassen wollen, liegt daran, dass sie sich damit arrangiert haben und möglicherweise gut davon leben.
Die Anwendung des Konzepts der Homöostase auf gesellschaftliche Zusammenhänge ist gelegentlich dafür kritisiert worden, dass sie Wandel und Konflikt als Ausnahmeerscheinungen darstelle und den Eindruck erwecke, eine Gesellschaft befinde sich normalerweise in einem Zustand der Harmonie und Wandellosigkeit (vgl. Elias 1997a: 22f.). Schon auf biologischer Ebene ist ein statisches Modell irreführend, denn auch ein Organismus befindet sich im ständigen Wandel und durchläuft verschiedenste Zyklen und Phasen, in denen seine »Sollwerte« unterschiedlich sind. Der Biologe Steven Rose legte deshalb nahe, den Begriff der »Homöodynamik« vorzuziehen (Rose 2000: 174f.). Diese Kritik ist berechtigt, und wenn man von »Homöostase« oder »Gleichgewicht« spricht, muss man im Hinterkopf behalten, dass Ökosysteme wie Gesellschaften dynamisch sind und sich nicht nur im Fall von »Störungen«, sondern permanent wandeln (vgl. auch Rappaport 1978: 50). Gleichzeitig aber lassen sich in solchen Systemen erstens zahlreiche homöostatische Reaktionen im beschriebenen Sinn beobachten, und diese Beobachtung ist durchaus relevant, da sich aus diesen Reaktionen eine gewisse Veränderungsresistenz des Systems ergibt. Radikal neue Ideen, so einleuchtend sie manchen auch erscheinen mögen, stoßen regelmäßig bei anderen auf ebenso radikale Ablehnung. Der Komplexität und Dynamik sozialer Systeme ist wiederum der Umstand geschuldet, dass auch und gerade die angestrengtesten Versuche, einen Status quo aufrechtzuerhalten, Teil einer Dynamik sind und unbeabsichtigt weitreichende gesellschaftliche Veränderungen bewirken können. Und zweitens hat der Begriff der Homöostase darin eine gewisse Berechtigung, dass man in Ökosystemen wie einer Gesellschaft durchaus zwischen graduellem Wandel und fundamentalen Umbrüchen unterscheiden kann. Auch wenn sich die Grenze zwischen einem bloß gewandelten und einem völlig neuen System, das aus einem Kollaps des alten hervorging, nicht genau ziehen lässt, ist die Unterscheidung sinnvoll.
Wenn man nun beurteilen will, ob die Veränderungen, die in einem System vor sich gehen, »gut« oder »schlecht« sind, braucht man einen äußeren Maßstab. Wenn bestimmte Tier- oder Pflanzenarten verschwinden und sich dafür andere ausbreiten, aber auch, wenn weniger Arten oder insgesamt weniger Individuen dieser Arten vorhanden sind, dann hat man es zunächst einmal mit einem veränderten bzw. einem anderen Ökosystem zu tun, das an sich weder »besser« noch »schlechter « ist. Wenn die Zahl der Arten und Individuen eines Systems abnimmt, kann man allenfalls sagen, dass es an Komplexität verloren hat, und auch das stellt sich nur dann als »schlecht« dar, wenn man voraussetzt, dass Komplexität oder Vielfalt »gut« sei. Wenn heute etwa der Verlust biologischer Vielfalt beklagt wird, dann vor allem aus dem Grund, dass die biologische Vielfalt ein reichhaltiges Reservoir an für Menschen nutzbaren Rohstoffen bereitstellt. Andere Gründe können sein, dass ein vielfältiges Ökosystem im Allgemeinen resilienter, also widerstandsfähiger ist, oder auch, dass man der Vielfalt einen religiösen, ästhetischen oder sonstigen immateriellen Wert zuschreibt. Und obwohl man durchaus auch von einer radikalen biozentrischen Position aus argumentieren kann, die außermenschliche Natur sei als Selbstzweck vor menschlichen Eingriffen zu schützen, sind mit »Schäden« oder »Belastungen« für die Natur in der Regel eher solche Veränderungen in Ökosystemen gemeint, von denen wir über kurz oder lang ungünstige Auswirkungen auf Leben und Lebensqualität von Menschen befürchten.
So oder so ist der bloße Fortbestand von homöostatischen Systemen nicht das, worauf es uns Menschen ankommt. Auch ein minimales, aus menschlicher Sicht karges Ökosystem kann sich über lange Zeit homöostatisch reproduzieren - und ebenso eine Gesellschaft mit korrupter Führung im Bürgerkrieg. Bei inner- und zwischenstaatlichen Konflikten ist sogar die Stabilität der konflikthaften Beziehungen häufig gerade das Problem. Genau betrachtet ist also weder Wandel zwangsläufig schlecht noch Stabilität zwangsläufig gut. Spricht man von »Schäden«, die einem Ökosystem oder einer Gesellschaft drohen, steckt darin also erstens eine Tatsachenbehauptung
- das System verändert sich in bestimmter Weise -, und zweitens eine Wertung: Diese Veränderung ist schlecht, womit meistens gemeint ist, schlecht für Menschen. Dies drückt sich im Begriff der »Ökosystemleistungen« (»ecosystem services «) aus, der sich ausdrücklich auf diejenigen Funktionen von Ökosystemen bezieht, die für Menschen von Nutzen sind (vgl. etwa Lucas 2011: 7). Wenn also heute die »Anpassung« von Menschen oder Gesellschaften an den Klimawandel gefordert wird, so ist damit gemeint, es soll ein sozial-ökologischer Systemzustand herbeigeführt werden, in dem Menschen Lebensbedingungen vorfinden, die möglichst nicht schlechter sind als die gegenwärtigen. Was man dabei unter »schlechter« zu verstehen hat, ist letztlich immer politische und gesellschaftliche Verhandlungssache. In Begriffen der Homöostase geht es bei solchen Verhandlungen darum, welche »Sollwerte« es sind, die konstant gehalten oder erreicht werden sollen. Die Lebensqualität möglichst vieler Menschen wäre ein möglicher Sollwert, an dem man sich orientieren kann, aber in der Praxis werden auch viele andere immer wieder vorgeschlagen, zum Beispiel das Wirtschaftswachstum, die Exportquote, die Inflation, die Geburtenrate, die Renten und viele andere mehr. In allen diesen Fällen will man planmäßig einige Aspekte der inneren Konfiguration des Systems verändern - z.B. die Steuern senken -, um andere Aspekte konstant zu halten oder auf einen Sollwert hin zu verändern - z. B. das Wirtschaftswachstum erhöhen. Was geändert werden darf und muss, welche Aspekte konstant zu halten und welche Sollwerte zu erreichen sind, ist für Gesellschaften ein zentraler Gegenstand politischer Auseinandersetzungen. Nicht nur deshalb, weil verschiedene Akteure verschiedene Interessen und Werte vertreten, sondern auch, weil in den meisten Fällen ungewiss ist, ob vorgeschlagene Änderungen überhaupt die gewünschten Folgen zeitigen werden und welche unerwarteten Nebenfolgen dabei auftreten können.
Darum also wird trotz der großen, biologisch bedingten Anpassungsfähigkeit der Menschen »Anpassung« im Zusammenhang mit dem Klimawandel zum Problem. Wir können zwar grundsätzlich davon ausgehen, dass Menschen auch unter radikal veränderten ökologischen und sozialen Bedingungen noch leben können und leben werden, aber die Aussicht, dass es »wahrscheinlich irgendwie weitergehen« wird, genügt uns nicht, oder anders ausgedrückt: Wir wollen keine radikale Veränderung der ökologischen und sozialen Bedingungen. »Anpassung« könnte vieles bedeuten, aber wir wollen nicht deindustrialisieren oder Küstenregionen evakuieren, wir wollen nicht auf Mobilität, Lebensmittelvielfalt, Unterhaltungselektronik und zahlreiche andere Annehmlichkeiten unseres Alltags verzichten, und können es zum Teil auch gar nicht. Das heißt, in vielerlei Hinsicht wollen wir uns gerade nicht anpassen, sondern Bestehendes trotz sich unweigerlich ändernder ökologischer und sozialer Bedingungen bewahren. »Anpassung an den Klimawandel« als politisches und gesellschaftliches Programm bedeutet also, ausgewählte Systemfunktionen - seien es Infrastrukturen, Institutionen oder Verhaltensweisen - gezielt zu verändern, damit andere, denen wir einen hohen Wert zuschreiben, unverändert bleiben können.
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Autoren-Porträt
Friedrich-Wilhelm Gerstengarbe, ausserplanmässiger Professor für Allgemeine Klimatologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, gehört seit der Gründung des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung als Meteorologe zu dessen festen Wissenaschaftlerstamm. Er leitet dort die Forschungsgruppe "Klimaanalyse und -szenarien", die das Klima statistisch analysiert und künftige Klimaänderungen für verschiedene Regionen berechnet. Harald Welzer, geboren 1958, ist Sozialpsychologe. Er ist Direktor von FUTURZWEI. Stiftung Zukunftsfähigkeit und des Norbert-Elias-Centers für Transformationsdesign an der Europa-Universität Flensburg. In den Fischer Verlagen sind von ihm u. a. erschienen: »Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden«, »Klimakriege. Wofür im 21. Jahrhundert getötet wird«, »Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen«, »Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens« und - gemeinsam mit Richard David Precht - »Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist«. Seine Bücher sind in 21 Ländern erschienen.
Bibliographische Angaben
- 2013, 2. Aufl., 320 Seiten, 50 farbige Abbildungen, Masse: 12,6 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Herausgegeben: Friedrich-Wilhelm Gerstengarbe, Harald Welzer, Stiftung Forum für Verantwortung Herrn Klaus Wiegandt
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596189101
- ISBN-13: 9783596189106
- Erscheinungsdatum: 15.01.2013
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