Zu viel Glück
Zehn Erzählungen
Zu viel oder zu wenig: für das Glück gibt es kein Maß, nie trifft man es richtig.
Alice Munros Heldinnen und Helden geht es nicht anders, aber sie haben das Zuviel und Zuwenig erlebt: Sie kennen die Namen der...
Alice Munros Heldinnen und Helden geht es nicht anders, aber sie haben das Zuviel und Zuwenig erlebt: Sie kennen die Namen der...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Zu viel Glück “
Zu viel oder zu wenig: für das Glück gibt es kein Maß, nie trifft man es richtig.
Alice Munros Heldinnen und Helden geht es nicht anders, aber sie haben das Zuviel und Zuwenig erlebt: Sie kennen die Namen der Bäume, die Last ungeschriebener Briefe. Sie wissen, wie es sich anfühlt, wenn man den Mann, der die gemeinsamen Kinder getötet hat, in der Anstalt besucht.
Alice Munro ist die Meisterin des Nachhalls, der einem Leben seinen besonderen Klang gibt die Spannung und Vibration, die unserer Existenz ihre Farbe verleiht. Wie wir sie nehmen und verstehen entscheidet, ob wir zuviel oder zuwenig Glück messen: Alice Munro macht ihre Leser zu Komplizen dieser schwierigen Mission. Und plötzlich verstehen wir unser Leben neu.
Alice Munros Heldinnen und Helden geht es nicht anders, aber sie haben das Zuviel und Zuwenig erlebt: Sie kennen die Namen der Bäume, die Last ungeschriebener Briefe. Sie wissen, wie es sich anfühlt, wenn man den Mann, der die gemeinsamen Kinder getötet hat, in der Anstalt besucht.
Alice Munro ist die Meisterin des Nachhalls, der einem Leben seinen besonderen Klang gibt die Spannung und Vibration, die unserer Existenz ihre Farbe verleiht. Wie wir sie nehmen und verstehen entscheidet, ob wir zuviel oder zuwenig Glück messen: Alice Munro macht ihre Leser zu Komplizen dieser schwierigen Mission. Und plötzlich verstehen wir unser Leben neu.
Klappentext zu „Zu viel Glück “
Nobelpreis für Literatur 2013Zu viel oder zu wenig - für das Glück gibt es kein Mass, nie trifft man es richtig. Alice Munros Heldinnen und Helden geht es nicht anders, sie haben das Zuviel und Zuwenig erlebt: eine Balance ist nur schwer zu finden. Auf der Suche nach ihr macht Alice Munro ihre Leser zu Komplizen dieser spannenden Mission.
»Ich bewundere Alice Munro. Ich bewundere die Direktheit ihres Erzählens, die
Nüchternheit und Einfachheit ihrer Sprache. (...) Was für Geschichten, was für ein Werk!« Bernhard Schlink, Die Welt
Lese-Probe zu „Zu viel Glück “
Zu viel Glück von Alice MunroDimensionen
Doree musste drei Busse nehmen - einen nach Kincardine, wo sie auf den Bus nach London wartete, und dort dann noch auf den Nahverkehrsbus zu der Anstalt. Sie begann die Fahrt an einem Sonntag um neun Uhr morgens. Wegen der Wartezeiten zwischen den Bussen brauchte sie bis gegen zwei Uhr nachmittags, um die etwas über einhundert Meilen zurückzulegen. Das viele Sitzen, entweder in den Bussen oder auf den Busbahnhöfen, war nichts, was ihr etwas ausgemacht hätte. Ihre tägliche Arbeit gehörte nicht zu den im Sitzen ausgeübten Tätigkeiten.
Sie war Zimmermädchen im Blue Spruce Inn. Sie machte Badezimmer sauber, bezog Betten frisch, staubsaugte Teppichböden und putzte Spiegel. Sie mochte diese Arbeit, die bis zu einem gewissen Grade ihre Gedanken in Anspruch nahm und sie ermüdete, so dass sie nachts schlafen konnte. Sie fand selten eine wirklich schlimme Schweinerei vor, obwohl einige der Frauen, mit denen sie arbeitete, Geschichten erzählen konnten, dass einem die Haare zu Berge standen. Diese Frauen waren älter als sie und vertraten alle die Ansicht, sie solle versuchen, sich hochzuarbeiten. Sie sagten ihr, sie solle sich für einen Job hinter dem Empfangstresen ausbilden lassen, solange sie noch jung und ansehnlich sei. Aber sie war zufrieden mit dem, was sie tat. Sie mochte nicht mit anderen Menschen reden müssen.
... mehr
Niemand von den Leuten, mit denen sie arbeitete, wusste, was passiert war. Oder falls doch, so ließ es sich niemand anmerken. Ihr Foto hatte in der Zeitung gestanden - man hatte das Foto benutzt, das er von ihr mit allen drei Kindern aufgenommen hatte, in ihren Armen Dimitri, das neue Baby, links und rechts von ihr Barbara Ann und Sasha, die zum Baby schauten. Ihr Haar war damals lang und lockig und braun gewesen, in seiner natürlichen Form und Farbe, wie er es mochte, und ihr Gesicht zaghaft und weich - ein Abbild weniger der Frau, die sie zu der Zeit war, als der Frau, die er in ihr sehen wollte.
Inzwischen war ihr Haar kurz geschnitten und blondiert und zu Stacheln gegelt, und sie hatte eine Menge abgenommen. Und sie benutzte jetzt ihren zweiten Vornamen: Fleur. Außerdem befand sich der Arbeitsplatz, den man ihr besorgt hatte, in einer Stadt, die ein ganzes Stück weit weg war von dem Ort, an dem sie gelebt hatte.
Sie unternahm diese Fahrt nun zum dritten Mal. Bei den ersten beiden Malen hatte er sich geweigert, sie zu sehen. Wenn er das wieder tat, würde sie es aufgeben. Sogar wenn er diesmal kam, konnte es sein, dass sie eine Zeitlang nicht mehr hinfahren würde. Sie hatte nicht vor, weich zu werden. Doch eigentlich wusste sie nicht, was sie tun würde.
Im ersten Bus war sie nicht allzu unruhig. Saß nur da und schaute in die Landschaft. Sie war an der Küste aufgewachsen, wo es so etwas wie Frühling gab, aber hier ging der Winter fast direkt in den Sommer über. Vor einem Monat hatte noch Schnee gelegen, und jetzt war es heiß genug, um mit bloßen Armen zu gehen. Blendende Tücher aus Wasser lagen auf den Feldern, und das Sonnenlicht ergoss sich durch die kahlen Zweige.
Im zweiten Bus fing sie an, nervös zu werden, und konnte nicht anders, als zu überlegen, welche der Frauen um sie herum dasselbe Ziel haben könnten. Frauen, die allein fuhren und meistens mit einiger Sorgfalt gekleidet waren, vielleicht, damit sie aussahen, als ob sie in die Kirche gingen. Die älteren sahen aus, als gehörten sie strengen, altmodischen Kirchen an, wo man einen Rock und Strümpfe und eine Kopfbedeckung tragen musste, während die jüngeren in einer flotteren Gemeinde hätten sein können, die Hosenanzüge, leuchtend bunte Schals, Ohrringe und toupierte Frisuren zuließ.
Doree passte in keine der beiden Kategorien. In den ganzen anderthalb Jahren, seit sie arbeitete, hatte sie sich kein einziges neues Kleidungsstück gekauft. Bei der Arbeit trug sie ihre Uniform und sonst ihre Jeans. Sie hatte sich abgewöhnt, Make-up aufzulegen, denn er hatte es nicht erlaubt, und jetzt hätte sie es zwar tun können, tat es aber nicht. Die Stacheln aus maisfarbenem Haar passten nicht zu ihrem knochigen, ungeschminkten Gesicht, aber das machte ihr nichts aus.
Im dritten Bus bekam sie einen Fensterplatz und versuchte, ruhig zu bleiben, indem sie Schilder las - die Straßenschilder und auch die mit Reklame. Sie war auf einen Trick gestoßen, mit dem sie sich ablenken konnte. Sie nahm die Buchstaben von irgendeinem Wort, das ihr ins Auge fiel, und probierte, wie viele neue Wörter sie daraus bilden konnte. »Restaurant« zum Beispiel, das ergab »Rest« und »Stau« und dann »Star« und »Raute« und »Natur« und »Tante« und - Moment - »Trauer«. Wörter gab es auf dem Weg hinaus aus der Stadt mehr als genug, denn sie kamen an Reklametafeln, Großmärkten und Parkplätzen vorbei, sogar an Ballons, die auf den Dächern verankert waren und für Ausverkäufe warben.
Doree hatte Mrs Sands nichts von ihren ersten beiden Versuchen gesagt und würde ihr wahrscheinlich auch von diesem nichts sagen. Mrs Sands, zu der sie immer am Montagnachmittag ging, sprach davon, voranzukommen, obwohl sie immer betonte, dass es Zeit brauche, dass man nichts überstürzen solle. Sie sagte, dass Doree ihre Sache gut mache, dass sie nach und nach ihre eigene Stärke entdecke.
»Ich weiß, dass diese Worte totgeredet worden sind«, sagte sie. »Aber sie sind trotzdem wahr.«
Sie wurde rot, als sie sich das Wort »tot« sagen hörte, aber sie machte es nicht durch eine Entschuldigung schlimmer.
Als Doree sechzehn war - nämlich vor sieben Jahren -, ging sie jeden Tag nach der Schule zu ihrer Mutter ins Krankenhaus. Ihre Mutter lag dort nach einer Rückenoperation, von der es hieß, sie sei ernst, aber nicht lebensgefährlich gewesen. Lloyd war einer der Pfleger. Mit Dorees Mutter verband ihn, dass beide alte Hippies waren, auch wenn Lloyd einige Jahre jünger war, und wann immer er Zeit hatte, kam er und plauderte mit ihr über die Konzerte und die Protestmärsche, an denen sie beide teilgenommen hatten, über unmögliche Leute, die sie gekannt hatten, über Drogentrips, die ihnen das Hirn weggeblasen hatten, und solche Sachen.
Lloyd war bei den Patienten beliebt, wegen seiner Witze und seiner zupackenden Art. Er war untersetzt, breitschultrig und beeindruckend genug, um manchmal für einen Arzt gehalten zu werden. (Nicht, dass ihm das gefiel - er vertrat die Ansicht, dass vieles in der Medizin Betrug sei und dass viele Ärzte Volltrottel seien.) Er hatte empfindliche rötliche Haut, helle Haare und kühne Augen.
Er küsste Doree im Fahrstuhl und sagte ihr, sie sei eine Blume in der Wüste. Dann lachte er über sich selbst und sagte: »Ungeheuer originell, was?«
»Du bist ein Dichter und weißt es nicht«, sagte sie, um freundlich zu sein.
Eines Nachts starb plötzlich ihre Mutter an einer Embolie. Dorees Mutter hatte viele Freundinnen, die Doree bei sich aufgenommen hätten - und eine Zeitlang blieb sie auch bei einer von ihnen -, aber es war der neue Freund Lloyd, dem sie den Vorzug gab. Als ihr nächster Geburtstag kam, war sie schwanger, dann verheiratet. Lloyd war noch nie verheiratet gewesen, obwohl er mindestens zwei Kinder hatte, deren Aufenthaltsorte er nicht genau kannte. Außerdem waren sie inzwischen sowieso erwachsen. Seine Lebensphilosophie hatte sich mit zunehmendem Alter geändert. Er glaubte jetzt an die Ehe, an Beständigkeit und null Geburtenkontrolle. Und er fand, dass es auf der Sechelt-Halbinsel, wo er mit Doree lebte, mittlerweile zu viele Leute gab - alte Freunde, alte Lebensweisen, alte Geliebte. Bald zog er mit Doree quer durchs Land in eine Stadt, die sie sich auf der Karte wegen ihres Namens ausgesucht hatten: Mildmay. Sie wohnten nicht in der Stadt; sie mieteten etwas in der Umgebung. Lloyd fand Arbeit in einer Eiscremefabrik. Sie legten einen Garten an. Lloyd hatte viel Ahnung davon, ebenso wie vom Tischlern und davon, wie man mit einem Holzofen umging und ein altes Auto in Gang hielt.
Sasha wurde geboren.
»Vollkommen natürlich«, sagte Mrs Sands.
»Wirklich?«, fragte Doree.
Doree setzte sich immer auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, nicht auf das geblümte Sofa mit den Kissen. Mrs Sands rückte dann ihren eigenen Stuhl neben den Schreibtisch, damit sie ohne irgendeine Barriere dazwischen miteinander reden konnten.
»Irgendwie habe ich erwartet, dass Sie das tun würden«, sagte sie. »Ich meine, ich an Ihrer Stelle hätte das wahrscheinlich getan.«
Anfangs hätte Mrs Sands so etwas nicht gesagt. Sogar noch vor einem Jahr wäre sie vorsichtiger gewesen, da sie wusste, wie Doree gegen die Vorstellung revoltiert hätte, dass jemand anders, irgendein anderer Mensch, an ihrer Stelle sein könnte. Jetzt wusste sie, dass Doree es einfach als einen Versuch auffassen würde, sogar nur einen bescheidenen, sie zu verstehen.
Mrs Sands war nicht wie einige von denen. Sie war nicht forsch, nicht dünn, nicht hübsch. Auch nicht zu alt. Sie war etwa so alt, wie Dorees Mutter jetzt wäre, obwohl sie nicht so aussah, als sei sie je ein Hippie gewesen. Ihre ergrauenden Haare waren kurz geschnitten, und auf einem ihrer Backenknochen thronte ein Leberfleck. Sie trug flache Absätze und weite Hosen und geblümte Tops. Sogar wenn diese Tops himbeerrot oder türkisgrün waren, entstand nicht der Eindruck, dass ihr wichtig sei, was sie anzog - eher, als habe ihr jemand gesagt, sie müsse sich aufhübschen, und sie habe sich daraufhin gehorsam etwas gekauft, was das ihrer Meinung nach bewirkte. Ihre große, freundliche, unpersönliche Ernsthaftigkeit entzog diesen Sachen alle aggressive Fröhlichkeit, alle Frechheit.
»Die ersten beiden Male habe ich ihn gar nicht gesehen«, sagte Doree. »Er wollte nicht herunterkommen.«
»Aber diesmal doch? Er ist heruntergekommen?«
»Doch, ja. Aber ich hätte ihn fast nicht erkannt.«
»Er war gealtert?«
»Kann schon sein. Kann sein, dass er abgenommen hat. Und diese Sachen. Diese Uniform. In so was hab ich ihn noch nie gesehen.«
»Er sah für Sie wie jemand anders aus?«
»Nein.« Doree knabberte an ihrer Oberlippe und versuchte, sich über den Unterschied klarzuwerden. Er war so still gewesen. Sie hatte ihn noch nie so still erlebt. Er schien nicht einmal zu wissen, dass er ihr gegenüber Platz nehmen musste. Ihre ersten Worte zu ihm waren: »Willst du dich nicht hinsetzen?« Und er hatte geantwortet: »Darf ich denn?«
»Er sah irgendwie so abwesend aus«, sagte sie. »Ich hab mich gefragt, ob sie ihn unter Drogen gesetzt haben.«
»Vielleicht etwas, damit er im Lot bleibt. Doch ich weiß es nicht. Kamen Sie miteinander ins Gespräch?«
Doree überlegte, ob man es so nennen konnte. Sie hatte ihm irgendwelche blöden, ganz normalen Fragen gestellt. Wie fühlte er sich? (Geht so.) Bekam er genug zu essen? (Doch, schon.) Gab es einen Ort, wo er spazieren gehen konnte, wenn er wollte? (Unter Aufsicht, ja. Vielleicht konnte man's einen Ort nennen. Vielleicht konnte man's spazieren gehen nennen.)
Sie hatte gesagt: »Du brauchst frische Luft.«
Er hatte gesagt: »Stimmt.«
Sie hätte ihn beinahe gefragt, ob er schon Freunde gefunden habe. So, wie man sein Kind über die Schule ausfragt. Wenn man Kinder hätte, die zur Schule gingen.
»Ja, ja«, sagte Mrs Sands und schob ihr die bereitstehende Kleenex-Schachtel zu. Doree brauchte sie nicht: Ihre Augen waren trocken. Ihr Magen war das Problem. Der Brechreiz.
Mrs Sands wartete einfach, war klug genug, sich zurückzuhalten.
Und Lloyd, als habe er gespürt, was sie sagen wollte, erzählte ihr, dass es einen Psychiater gebe, der hin und wieder mit ihm spreche.
»Ich sag ihm, dass er seine Zeit verschwendet«, sagte Lloyd. »Ich weiß ebenso viel wie er.«
Das war das einzige Mal, dass er sich für Doree annähernd wie er selbst angehört hatte.
Während des gesamten Besuchs hämmerte ihr Herz. Sie meinte, gleich in Ohnmacht zu fallen oder zu sterben. So anstrengend war es für sie, ihn anzusehen, ihn zu erkennen in diesem dünnen und grauen, schüchternen, dabei kalten, sich mechanisch bewegenden, dabei unkoordinierten Mann.
Sie hatte Mrs Sands nichts davon gesagt. Sonst hätte Mrs Sands sie vielleicht - taktvoll - gefragt, vor wem sie Angst habe? Vor sich selbst oder vor ihm? Aber sie hatte keine Angst!
Als Sasha anderthalb war, wurde Barbara Ann geboren, und als Barbara Ann zwei war, bekamen sie Dimitri. Sasha hatten sie zusammen benannt, und dann hatten sie sich geeinigt, dass er den Jungen die Namen geben werde und sie den Mädchen.
Dimitri war der Erste, der Koliken kriegte. Doree dachte, dass er vielleicht nicht genug Milch bekam oder dass ihre Milch nicht reichhaltig genug war. Oder zu reichhaltig? Jedenfalls nicht das Richtige. Lloyd ließ eine Dame von der La Leche Liga kommen, die mit ihr redete. Was Sie auch tun, sagte die Dame, Sie dürfen ihm keine Zusatzflasche geben. Das sei der Anfang vom Ende, sagte sie, und schon bald werde er die Brust ganz zurückweisen. Sie sprach, als sei das eine schlimme Tragödie.
Sie hatte keine Ahnung, dass Doree ihm bereits Zusatznahrung gegeben hatte. Und es schien zu stimmen, dass er die vorzog - er sträubte sich mehr und mehr gegen die Brust. Mit drei Monaten nahm er nur noch die Flasche, und dann ließ es sich nicht mehr vor Lloyd verheimlichen. Sie sagte ihm, dass ihre Milch versiegt sei und sie angefangen habe, ihm Zusatznahrung zu geben. Lloyd nahm sich mit finsterer Entschlossenheit erst die eine, dann die andere Brust vor, und es gelang ihm, ein paar Tropfen dürftig aussehende Milch herauszuquetschen. Er nannte sie eine Lügnerin. Sie stritten sich. Er sagte, sie sei eine Hure wie ihre Mutter.
Alle diese Hippies waren Huren, sagte er.
Bald versöhnten sie sich. Aber jedes Mal, wenn Dimitri quengelig war, wenn er eine Erkältung hatte oder sich vor Sashas zahmem Kaninchen fürchtete oder sich in einem Alter, in dem sein Bruder und seine Schwester schon ohne Stütze gelaufen waren, immer noch an Stühlen festhielt, dann wurde an ihr Versagen erinnert, ihn zu stillen.
Bei Dorees erstem Besuch in Mrs Sands Büro hatte ihr eine der anderen Frauen dort eine Broschüre gegeben. Auf der Vorderseite waren ein goldenes Kreuz und Worte aus goldenen und violetten Buchstaben: »Wenn dein Verlust unerträglich scheint ...« Innen drin war ein Bild von Jesus in sanften Farben und kleiner Gedrucktes, das Doree nicht las.
Auf ihrem Stuhl vor dem Schreibtisch umklammerte Doree immer noch die Broschüre und fing an zu zittern. Mrs Sands musste sie ihr aus den Händen winden.
»Hat Ihnen das jemand gegeben?«, fragte Mrs Sands.
»Die«, sagte Doree und nickte mit dem Kopf zur geschlossenen Tür.
»Sie wollen das nicht?«
»Wenn man am Boden ist, dann versuchen die, einen zu kriegen«, sagte Doree und merkte, so etwas hatte ihre Mutter gesagt, als mehrere Damen mit einer ähnlichen Botschaft sie im Krankenhaus aufsuchten. »Die glauben, man braucht nur auf die Knie zu fallen, und alles wird gut.«
Mrs Sands seufzte.
»Na ja«, sagte sie, »so einfach ist es bestimmt nicht.«
»Nicht mal annähernd«, sagte Doree.
»Vielleicht nicht.«
Sie sprachen zu jener Zeit nie über Lloyd. Doree dachte nie an ihn, nur, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, und auch dann nur, als sei er ein schrecklicher Unfall der Natur.
»Selbst wenn ich an das Zeugs glauben würde«, sagte sie und meinte das, was in der Broschüre stand, »wär's nur so, dass ...« Sie wollte sagen, dass solch ein Glaube bequem wäre, denn dann könnte sie sich vorstellen, dass Lloyd in der Hölle schmorte oder irgend so etwas, aber sie vermochte nicht fortzufahren, weil es einfach zu blöd war, darüber zu reden. Und wegen eines vertrauten Übels, das sie wie ein Hammerschlag in den Bauch traf.
Lloyd war der Meinung, dass die Kinder zu Hause unterrichtet werden sollten. Nicht aus religiösen Gründen - auf dem Kriegspfad gegen Dinosaurier, Höhlenmenschen, Affen und all das -, sondern weil er wollte, dass sie ihren Eltern naheblieben und langsam und behutsam in die Welt eingeführt wurden, statt plötzlich in sie geworfen zu werden. »Zufällig bin ich der Ansicht, dass es meine Kinder sind«, sagte er. »Ich meine, es sind unsere Kinder, nicht die vom Erziehungsministerium.«
Doree war sich nicht sicher, ob sie damit fertig werden konnte, aber es stellte sich heraus, dass es Richtlinien vom Erziehungsministerium gab und Stundenpläne, die man sich in der Bezirksschule abholen konnte. Sasha war ein aufgeweckter Junge, der sich das Lesen praktisch selber beibrachte, und die anderen beiden waren noch zu klein, um viel zu lernen. Abends und am Wochenende gab Lloyd Sasha Unterricht in Erdkunde, über das Sonnensystem, den Winterschlaf von Tieren oder die Funktionsweise von Autos, ganz danach, welche Fragen aufkamen. Schon bald war Sasha den Schulplänen voraus, aber Doree holte sie trotzdem ab und ließ ihn die Aufgaben zeitgerecht machen, damit dem Gesetz Genüge getan werde.
Es gab noch eine andere Mutter im Bezirk, die ihre Kinder zu Hause unterrichtete. Sie hieß Maggie und hatte einen Kleinbus. Lloyd brauchte sein Auto, um zur Arbeit zu fahren, und Doree hatte keinen Führerschein, also war sie froh, als Maggie ihr anbot, sie einmal in der Woche zur Schule mitzunehmen, um die erledigten Aufgaben abzugeben und die neuen abzuholen. Natürlich nahmen sie alle Kinder mit. Maggie hatte zwei Jungen. Der ältere hatte so viele Allergien, dass sie genau auf alles aufpassen musste, was er aß - weshalb sie ihn zu Hause unterrichtete. Und dann fand sie, dass sie den jüngeren besser auch dort behielt. Er wollte sowieso bei seinem Bruder bleiben und hatte mit Asthma zu kämpfen.
Wie dankbar Doree da sein konnte, wenn sie das mit ihren gesunden drei verglich. Lloyd sagte, das sei, weil sie ihre Kinder bekommen hatte, als sie noch jung war, während Maggie gewartet hatte, bis sie kurz vor den Wechseljahren stand. Er übertrieb Maggies Alter, aber es stimmte, sie hatte sich Zeit gelassen. Sie war Optikerin. Sie und ihr Mann waren Geschäftspartner gewesen, und sie hatten mit den Kindern gewartet, bis sie ein Haus auf dem Land besaßen und Maggie die Praxis verlassen konnte.
Maggies Haar hatte die Farbe von Pfeffer und Salz und war raspelkurz geschnitten. Sie war groß, flachbrüstig, fröhlich und rechthaberisch. Lloyd nannte sie die Lesbe. Natürlich nur hinter ihrem Rücken. Am Telefon blödelte er mit ihr herum, flüsterte aber Doree unhörbar zu: »Es ist die Lesbe.« Das beunruhigte Doree nicht weiter - er nannte viele Frauen Lesben. Aber sie hatte Angst, sein Geblödel könnte Maggie übertrieben freundlich vorkommen, aufdringlich oder zumindest wie Zeitverschwendung.
»Sie wollen meine Alte sprechen. Doch, die's hier. Schrubbt gerade auf dem Waschbrett. Ich bin nämlich ein richtiger Sklaventreiber. Hat sie Ihnen das gesagt?«
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012.
Niemand von den Leuten, mit denen sie arbeitete, wusste, was passiert war. Oder falls doch, so ließ es sich niemand anmerken. Ihr Foto hatte in der Zeitung gestanden - man hatte das Foto benutzt, das er von ihr mit allen drei Kindern aufgenommen hatte, in ihren Armen Dimitri, das neue Baby, links und rechts von ihr Barbara Ann und Sasha, die zum Baby schauten. Ihr Haar war damals lang und lockig und braun gewesen, in seiner natürlichen Form und Farbe, wie er es mochte, und ihr Gesicht zaghaft und weich - ein Abbild weniger der Frau, die sie zu der Zeit war, als der Frau, die er in ihr sehen wollte.
Inzwischen war ihr Haar kurz geschnitten und blondiert und zu Stacheln gegelt, und sie hatte eine Menge abgenommen. Und sie benutzte jetzt ihren zweiten Vornamen: Fleur. Außerdem befand sich der Arbeitsplatz, den man ihr besorgt hatte, in einer Stadt, die ein ganzes Stück weit weg war von dem Ort, an dem sie gelebt hatte.
Sie unternahm diese Fahrt nun zum dritten Mal. Bei den ersten beiden Malen hatte er sich geweigert, sie zu sehen. Wenn er das wieder tat, würde sie es aufgeben. Sogar wenn er diesmal kam, konnte es sein, dass sie eine Zeitlang nicht mehr hinfahren würde. Sie hatte nicht vor, weich zu werden. Doch eigentlich wusste sie nicht, was sie tun würde.
Im ersten Bus war sie nicht allzu unruhig. Saß nur da und schaute in die Landschaft. Sie war an der Küste aufgewachsen, wo es so etwas wie Frühling gab, aber hier ging der Winter fast direkt in den Sommer über. Vor einem Monat hatte noch Schnee gelegen, und jetzt war es heiß genug, um mit bloßen Armen zu gehen. Blendende Tücher aus Wasser lagen auf den Feldern, und das Sonnenlicht ergoss sich durch die kahlen Zweige.
Im zweiten Bus fing sie an, nervös zu werden, und konnte nicht anders, als zu überlegen, welche der Frauen um sie herum dasselbe Ziel haben könnten. Frauen, die allein fuhren und meistens mit einiger Sorgfalt gekleidet waren, vielleicht, damit sie aussahen, als ob sie in die Kirche gingen. Die älteren sahen aus, als gehörten sie strengen, altmodischen Kirchen an, wo man einen Rock und Strümpfe und eine Kopfbedeckung tragen musste, während die jüngeren in einer flotteren Gemeinde hätten sein können, die Hosenanzüge, leuchtend bunte Schals, Ohrringe und toupierte Frisuren zuließ.
Doree passte in keine der beiden Kategorien. In den ganzen anderthalb Jahren, seit sie arbeitete, hatte sie sich kein einziges neues Kleidungsstück gekauft. Bei der Arbeit trug sie ihre Uniform und sonst ihre Jeans. Sie hatte sich abgewöhnt, Make-up aufzulegen, denn er hatte es nicht erlaubt, und jetzt hätte sie es zwar tun können, tat es aber nicht. Die Stacheln aus maisfarbenem Haar passten nicht zu ihrem knochigen, ungeschminkten Gesicht, aber das machte ihr nichts aus.
Im dritten Bus bekam sie einen Fensterplatz und versuchte, ruhig zu bleiben, indem sie Schilder las - die Straßenschilder und auch die mit Reklame. Sie war auf einen Trick gestoßen, mit dem sie sich ablenken konnte. Sie nahm die Buchstaben von irgendeinem Wort, das ihr ins Auge fiel, und probierte, wie viele neue Wörter sie daraus bilden konnte. »Restaurant« zum Beispiel, das ergab »Rest« und »Stau« und dann »Star« und »Raute« und »Natur« und »Tante« und - Moment - »Trauer«. Wörter gab es auf dem Weg hinaus aus der Stadt mehr als genug, denn sie kamen an Reklametafeln, Großmärkten und Parkplätzen vorbei, sogar an Ballons, die auf den Dächern verankert waren und für Ausverkäufe warben.
Doree hatte Mrs Sands nichts von ihren ersten beiden Versuchen gesagt und würde ihr wahrscheinlich auch von diesem nichts sagen. Mrs Sands, zu der sie immer am Montagnachmittag ging, sprach davon, voranzukommen, obwohl sie immer betonte, dass es Zeit brauche, dass man nichts überstürzen solle. Sie sagte, dass Doree ihre Sache gut mache, dass sie nach und nach ihre eigene Stärke entdecke.
»Ich weiß, dass diese Worte totgeredet worden sind«, sagte sie. »Aber sie sind trotzdem wahr.«
Sie wurde rot, als sie sich das Wort »tot« sagen hörte, aber sie machte es nicht durch eine Entschuldigung schlimmer.
Als Doree sechzehn war - nämlich vor sieben Jahren -, ging sie jeden Tag nach der Schule zu ihrer Mutter ins Krankenhaus. Ihre Mutter lag dort nach einer Rückenoperation, von der es hieß, sie sei ernst, aber nicht lebensgefährlich gewesen. Lloyd war einer der Pfleger. Mit Dorees Mutter verband ihn, dass beide alte Hippies waren, auch wenn Lloyd einige Jahre jünger war, und wann immer er Zeit hatte, kam er und plauderte mit ihr über die Konzerte und die Protestmärsche, an denen sie beide teilgenommen hatten, über unmögliche Leute, die sie gekannt hatten, über Drogentrips, die ihnen das Hirn weggeblasen hatten, und solche Sachen.
Lloyd war bei den Patienten beliebt, wegen seiner Witze und seiner zupackenden Art. Er war untersetzt, breitschultrig und beeindruckend genug, um manchmal für einen Arzt gehalten zu werden. (Nicht, dass ihm das gefiel - er vertrat die Ansicht, dass vieles in der Medizin Betrug sei und dass viele Ärzte Volltrottel seien.) Er hatte empfindliche rötliche Haut, helle Haare und kühne Augen.
Er küsste Doree im Fahrstuhl und sagte ihr, sie sei eine Blume in der Wüste. Dann lachte er über sich selbst und sagte: »Ungeheuer originell, was?«
»Du bist ein Dichter und weißt es nicht«, sagte sie, um freundlich zu sein.
Eines Nachts starb plötzlich ihre Mutter an einer Embolie. Dorees Mutter hatte viele Freundinnen, die Doree bei sich aufgenommen hätten - und eine Zeitlang blieb sie auch bei einer von ihnen -, aber es war der neue Freund Lloyd, dem sie den Vorzug gab. Als ihr nächster Geburtstag kam, war sie schwanger, dann verheiratet. Lloyd war noch nie verheiratet gewesen, obwohl er mindestens zwei Kinder hatte, deren Aufenthaltsorte er nicht genau kannte. Außerdem waren sie inzwischen sowieso erwachsen. Seine Lebensphilosophie hatte sich mit zunehmendem Alter geändert. Er glaubte jetzt an die Ehe, an Beständigkeit und null Geburtenkontrolle. Und er fand, dass es auf der Sechelt-Halbinsel, wo er mit Doree lebte, mittlerweile zu viele Leute gab - alte Freunde, alte Lebensweisen, alte Geliebte. Bald zog er mit Doree quer durchs Land in eine Stadt, die sie sich auf der Karte wegen ihres Namens ausgesucht hatten: Mildmay. Sie wohnten nicht in der Stadt; sie mieteten etwas in der Umgebung. Lloyd fand Arbeit in einer Eiscremefabrik. Sie legten einen Garten an. Lloyd hatte viel Ahnung davon, ebenso wie vom Tischlern und davon, wie man mit einem Holzofen umging und ein altes Auto in Gang hielt.
Sasha wurde geboren.
»Vollkommen natürlich«, sagte Mrs Sands.
»Wirklich?«, fragte Doree.
Doree setzte sich immer auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, nicht auf das geblümte Sofa mit den Kissen. Mrs Sands rückte dann ihren eigenen Stuhl neben den Schreibtisch, damit sie ohne irgendeine Barriere dazwischen miteinander reden konnten.
»Irgendwie habe ich erwartet, dass Sie das tun würden«, sagte sie. »Ich meine, ich an Ihrer Stelle hätte das wahrscheinlich getan.«
Anfangs hätte Mrs Sands so etwas nicht gesagt. Sogar noch vor einem Jahr wäre sie vorsichtiger gewesen, da sie wusste, wie Doree gegen die Vorstellung revoltiert hätte, dass jemand anders, irgendein anderer Mensch, an ihrer Stelle sein könnte. Jetzt wusste sie, dass Doree es einfach als einen Versuch auffassen würde, sogar nur einen bescheidenen, sie zu verstehen.
Mrs Sands war nicht wie einige von denen. Sie war nicht forsch, nicht dünn, nicht hübsch. Auch nicht zu alt. Sie war etwa so alt, wie Dorees Mutter jetzt wäre, obwohl sie nicht so aussah, als sei sie je ein Hippie gewesen. Ihre ergrauenden Haare waren kurz geschnitten, und auf einem ihrer Backenknochen thronte ein Leberfleck. Sie trug flache Absätze und weite Hosen und geblümte Tops. Sogar wenn diese Tops himbeerrot oder türkisgrün waren, entstand nicht der Eindruck, dass ihr wichtig sei, was sie anzog - eher, als habe ihr jemand gesagt, sie müsse sich aufhübschen, und sie habe sich daraufhin gehorsam etwas gekauft, was das ihrer Meinung nach bewirkte. Ihre große, freundliche, unpersönliche Ernsthaftigkeit entzog diesen Sachen alle aggressive Fröhlichkeit, alle Frechheit.
»Die ersten beiden Male habe ich ihn gar nicht gesehen«, sagte Doree. »Er wollte nicht herunterkommen.«
»Aber diesmal doch? Er ist heruntergekommen?«
»Doch, ja. Aber ich hätte ihn fast nicht erkannt.«
»Er war gealtert?«
»Kann schon sein. Kann sein, dass er abgenommen hat. Und diese Sachen. Diese Uniform. In so was hab ich ihn noch nie gesehen.«
»Er sah für Sie wie jemand anders aus?«
»Nein.« Doree knabberte an ihrer Oberlippe und versuchte, sich über den Unterschied klarzuwerden. Er war so still gewesen. Sie hatte ihn noch nie so still erlebt. Er schien nicht einmal zu wissen, dass er ihr gegenüber Platz nehmen musste. Ihre ersten Worte zu ihm waren: »Willst du dich nicht hinsetzen?« Und er hatte geantwortet: »Darf ich denn?«
»Er sah irgendwie so abwesend aus«, sagte sie. »Ich hab mich gefragt, ob sie ihn unter Drogen gesetzt haben.«
»Vielleicht etwas, damit er im Lot bleibt. Doch ich weiß es nicht. Kamen Sie miteinander ins Gespräch?«
Doree überlegte, ob man es so nennen konnte. Sie hatte ihm irgendwelche blöden, ganz normalen Fragen gestellt. Wie fühlte er sich? (Geht so.) Bekam er genug zu essen? (Doch, schon.) Gab es einen Ort, wo er spazieren gehen konnte, wenn er wollte? (Unter Aufsicht, ja. Vielleicht konnte man's einen Ort nennen. Vielleicht konnte man's spazieren gehen nennen.)
Sie hatte gesagt: »Du brauchst frische Luft.«
Er hatte gesagt: »Stimmt.«
Sie hätte ihn beinahe gefragt, ob er schon Freunde gefunden habe. So, wie man sein Kind über die Schule ausfragt. Wenn man Kinder hätte, die zur Schule gingen.
»Ja, ja«, sagte Mrs Sands und schob ihr die bereitstehende Kleenex-Schachtel zu. Doree brauchte sie nicht: Ihre Augen waren trocken. Ihr Magen war das Problem. Der Brechreiz.
Mrs Sands wartete einfach, war klug genug, sich zurückzuhalten.
Und Lloyd, als habe er gespürt, was sie sagen wollte, erzählte ihr, dass es einen Psychiater gebe, der hin und wieder mit ihm spreche.
»Ich sag ihm, dass er seine Zeit verschwendet«, sagte Lloyd. »Ich weiß ebenso viel wie er.«
Das war das einzige Mal, dass er sich für Doree annähernd wie er selbst angehört hatte.
Während des gesamten Besuchs hämmerte ihr Herz. Sie meinte, gleich in Ohnmacht zu fallen oder zu sterben. So anstrengend war es für sie, ihn anzusehen, ihn zu erkennen in diesem dünnen und grauen, schüchternen, dabei kalten, sich mechanisch bewegenden, dabei unkoordinierten Mann.
Sie hatte Mrs Sands nichts davon gesagt. Sonst hätte Mrs Sands sie vielleicht - taktvoll - gefragt, vor wem sie Angst habe? Vor sich selbst oder vor ihm? Aber sie hatte keine Angst!
Als Sasha anderthalb war, wurde Barbara Ann geboren, und als Barbara Ann zwei war, bekamen sie Dimitri. Sasha hatten sie zusammen benannt, und dann hatten sie sich geeinigt, dass er den Jungen die Namen geben werde und sie den Mädchen.
Dimitri war der Erste, der Koliken kriegte. Doree dachte, dass er vielleicht nicht genug Milch bekam oder dass ihre Milch nicht reichhaltig genug war. Oder zu reichhaltig? Jedenfalls nicht das Richtige. Lloyd ließ eine Dame von der La Leche Liga kommen, die mit ihr redete. Was Sie auch tun, sagte die Dame, Sie dürfen ihm keine Zusatzflasche geben. Das sei der Anfang vom Ende, sagte sie, und schon bald werde er die Brust ganz zurückweisen. Sie sprach, als sei das eine schlimme Tragödie.
Sie hatte keine Ahnung, dass Doree ihm bereits Zusatznahrung gegeben hatte. Und es schien zu stimmen, dass er die vorzog - er sträubte sich mehr und mehr gegen die Brust. Mit drei Monaten nahm er nur noch die Flasche, und dann ließ es sich nicht mehr vor Lloyd verheimlichen. Sie sagte ihm, dass ihre Milch versiegt sei und sie angefangen habe, ihm Zusatznahrung zu geben. Lloyd nahm sich mit finsterer Entschlossenheit erst die eine, dann die andere Brust vor, und es gelang ihm, ein paar Tropfen dürftig aussehende Milch herauszuquetschen. Er nannte sie eine Lügnerin. Sie stritten sich. Er sagte, sie sei eine Hure wie ihre Mutter.
Alle diese Hippies waren Huren, sagte er.
Bald versöhnten sie sich. Aber jedes Mal, wenn Dimitri quengelig war, wenn er eine Erkältung hatte oder sich vor Sashas zahmem Kaninchen fürchtete oder sich in einem Alter, in dem sein Bruder und seine Schwester schon ohne Stütze gelaufen waren, immer noch an Stühlen festhielt, dann wurde an ihr Versagen erinnert, ihn zu stillen.
Bei Dorees erstem Besuch in Mrs Sands Büro hatte ihr eine der anderen Frauen dort eine Broschüre gegeben. Auf der Vorderseite waren ein goldenes Kreuz und Worte aus goldenen und violetten Buchstaben: »Wenn dein Verlust unerträglich scheint ...« Innen drin war ein Bild von Jesus in sanften Farben und kleiner Gedrucktes, das Doree nicht las.
Auf ihrem Stuhl vor dem Schreibtisch umklammerte Doree immer noch die Broschüre und fing an zu zittern. Mrs Sands musste sie ihr aus den Händen winden.
»Hat Ihnen das jemand gegeben?«, fragte Mrs Sands.
»Die«, sagte Doree und nickte mit dem Kopf zur geschlossenen Tür.
»Sie wollen das nicht?«
»Wenn man am Boden ist, dann versuchen die, einen zu kriegen«, sagte Doree und merkte, so etwas hatte ihre Mutter gesagt, als mehrere Damen mit einer ähnlichen Botschaft sie im Krankenhaus aufsuchten. »Die glauben, man braucht nur auf die Knie zu fallen, und alles wird gut.«
Mrs Sands seufzte.
»Na ja«, sagte sie, »so einfach ist es bestimmt nicht.«
»Nicht mal annähernd«, sagte Doree.
»Vielleicht nicht.«
Sie sprachen zu jener Zeit nie über Lloyd. Doree dachte nie an ihn, nur, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, und auch dann nur, als sei er ein schrecklicher Unfall der Natur.
»Selbst wenn ich an das Zeugs glauben würde«, sagte sie und meinte das, was in der Broschüre stand, »wär's nur so, dass ...« Sie wollte sagen, dass solch ein Glaube bequem wäre, denn dann könnte sie sich vorstellen, dass Lloyd in der Hölle schmorte oder irgend so etwas, aber sie vermochte nicht fortzufahren, weil es einfach zu blöd war, darüber zu reden. Und wegen eines vertrauten Übels, das sie wie ein Hammerschlag in den Bauch traf.
Lloyd war der Meinung, dass die Kinder zu Hause unterrichtet werden sollten. Nicht aus religiösen Gründen - auf dem Kriegspfad gegen Dinosaurier, Höhlenmenschen, Affen und all das -, sondern weil er wollte, dass sie ihren Eltern naheblieben und langsam und behutsam in die Welt eingeführt wurden, statt plötzlich in sie geworfen zu werden. »Zufällig bin ich der Ansicht, dass es meine Kinder sind«, sagte er. »Ich meine, es sind unsere Kinder, nicht die vom Erziehungsministerium.«
Doree war sich nicht sicher, ob sie damit fertig werden konnte, aber es stellte sich heraus, dass es Richtlinien vom Erziehungsministerium gab und Stundenpläne, die man sich in der Bezirksschule abholen konnte. Sasha war ein aufgeweckter Junge, der sich das Lesen praktisch selber beibrachte, und die anderen beiden waren noch zu klein, um viel zu lernen. Abends und am Wochenende gab Lloyd Sasha Unterricht in Erdkunde, über das Sonnensystem, den Winterschlaf von Tieren oder die Funktionsweise von Autos, ganz danach, welche Fragen aufkamen. Schon bald war Sasha den Schulplänen voraus, aber Doree holte sie trotzdem ab und ließ ihn die Aufgaben zeitgerecht machen, damit dem Gesetz Genüge getan werde.
Es gab noch eine andere Mutter im Bezirk, die ihre Kinder zu Hause unterrichtete. Sie hieß Maggie und hatte einen Kleinbus. Lloyd brauchte sein Auto, um zur Arbeit zu fahren, und Doree hatte keinen Führerschein, also war sie froh, als Maggie ihr anbot, sie einmal in der Woche zur Schule mitzunehmen, um die erledigten Aufgaben abzugeben und die neuen abzuholen. Natürlich nahmen sie alle Kinder mit. Maggie hatte zwei Jungen. Der ältere hatte so viele Allergien, dass sie genau auf alles aufpassen musste, was er aß - weshalb sie ihn zu Hause unterrichtete. Und dann fand sie, dass sie den jüngeren besser auch dort behielt. Er wollte sowieso bei seinem Bruder bleiben und hatte mit Asthma zu kämpfen.
Wie dankbar Doree da sein konnte, wenn sie das mit ihren gesunden drei verglich. Lloyd sagte, das sei, weil sie ihre Kinder bekommen hatte, als sie noch jung war, während Maggie gewartet hatte, bis sie kurz vor den Wechseljahren stand. Er übertrieb Maggies Alter, aber es stimmte, sie hatte sich Zeit gelassen. Sie war Optikerin. Sie und ihr Mann waren Geschäftspartner gewesen, und sie hatten mit den Kindern gewartet, bis sie ein Haus auf dem Land besaßen und Maggie die Praxis verlassen konnte.
Maggies Haar hatte die Farbe von Pfeffer und Salz und war raspelkurz geschnitten. Sie war groß, flachbrüstig, fröhlich und rechthaberisch. Lloyd nannte sie die Lesbe. Natürlich nur hinter ihrem Rücken. Am Telefon blödelte er mit ihr herum, flüsterte aber Doree unhörbar zu: »Es ist die Lesbe.« Das beunruhigte Doree nicht weiter - er nannte viele Frauen Lesben. Aber sie hatte Angst, sein Geblödel könnte Maggie übertrieben freundlich vorkommen, aufdringlich oder zumindest wie Zeitverschwendung.
»Sie wollen meine Alte sprechen. Doch, die's hier. Schrubbt gerade auf dem Waschbrett. Ich bin nämlich ein richtiger Sklaventreiber. Hat sie Ihnen das gesagt?«
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012.
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Autoren-Porträt von Alice Munro
Alice Munro, geboren am 10. Juli 1931 in Wingham, Ontario, ist eine der bedeutendsten Autorinnen der Gegenwart. Sie erhielt 2013 die höchste Auszeichnung für Literatur, den Nobelpreis. Ihr umfangreiches erzählerisches Werk wurde bereits zuvor mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Giller Prize, dem Book Critics Circle Award und dem Man Booker International Prize. Alice Munro lebt in Ontario, Kanada. Im S. FISCHER Verlag bzw. FISCHER Taschenbuch Verlag liegen vor: 'Himmel und Hölle', 'Die Liebe einer Frau', 'Der Traum meiner Mutter', 'Tricks', 'Wozu wollen Sie das wissen?', 'Zu viel Glück', 'Tanz der seligen Geister', 'Offene Geheimnisse', 'Glaubst du, es war Liebe?', 'Das Bettlermädchen', 'Der Mond über der Eisbahn', 'Liebes Leben', 'Was ich dir schon immer sagen wollte', 'Die Jupitermonde', 'Ferne Verabredungen. Die schönsten Erzählungen' und Munros einziger Roman 'Kleine Aussichten'.Literaturpreise (Auswahl):Canada-Australia Literary Prize (1977)Commonwealth Writers' Prize (1991)Giller Prize for Fiction (1998 und 2004)Man Booker International (2009)Trillium Award (2013)Nobelpreis für Literatur (2013) Heidi Zerning, geboren 1940 in Berlin, studierte Anglistik, Amerikanistik, Geschichte und Philosophie und ist seit 1990 hauptberuflich als Übersetzerin tätig. Neben Alice Munros Erzählungen hat sie Werke von Virginia Woolf, Truman Capote und Steve Tesich übersetzt. Heidi Zerning verstarb im Oktober 2022 in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alice Munro
- 2013, 6. Aufl., 368 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Heidi Zerning
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596186862
- ISBN-13: 9783596186860
- Erscheinungsdatum: 13.05.2013
Pressezitat
Munro kann auf wenigen Seiten ganze Schicksale und Welten fühlbar machen. Ihre Beobachtungen sind präzise, direkt und nüchtern, die Sprache glasklar und souverän. Judith W. Taschler Bücher Magazin 20190724
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