Wolfsspuren
Eine Forschungsgruppe sitzt in einem einsamen Blockhaus im Schnee fest. In der Gegend an der kanadischen Grenze soll ein Riesenwolf sein Unwesen treiben. Dann verschwindet eine Mitarbeiterin und nur kurze Zeit später findet man ihre völlig...
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Produktinformationen zu „Wolfsspuren “
Eine Forschungsgruppe sitzt in einem einsamen Blockhaus im Schnee fest. In der Gegend an der kanadischen Grenze soll ein Riesenwolf sein Unwesen treiben. Dann verschwindet eine Mitarbeiterin und nur kurze Zeit später findet man ihre völlig zerfetzte Leiche. Hat die Bestie etwa zugeschlagen?
Lese-Probe zu „Wolfsspuren “
Wolfsspuren von Nevada Barr Vorwort Im Juli 1970, ich war damals ein unerfahrener Student und begann gerade mein Praktikum im Isle-Royale-Nationalpark, wurde ich von einem Fremden zum Mittagessen in den Windigo Inn eingeladen. Offenbar dachte er, dass ich etwas wusste. Vielleicht hielt er mich auch für so arm, dass ich eine kostenlose Mahlzeit nicht ausschlagen würde. Die Cafeteria grenzte an das Haus des ehemaligen Washington Clubs an, eines privaten Vereins, gegründet um die Jahrhundertwende, also noch vor der Ernennung der Isle Royale zum Nationalpark. (Über ein Jahrzehnt später half ich eines Winters, das Haus niederzubrennen und die Reste zu beseitigen, damit der Wald das Gebiet wieder in Besitz nehmen konnte.) Der Fremde, ein kahlköpfiger, sonnengebräunter Mann, der teure Freizeitkleidung trug, erklärte mir, er habe die ganze Welt bereist, hielte die Isle Royale jedoch für das schönste Fleckchen Erde überhaupt. Ich erinnere mich noch, dass ich fand, großes Glück gehabt zu haben, denn dieser Mann hatte mir die Mühe erspart, mich weiter auf unserem Planeten umzusehen.
Vermutlich war es ein ähnlicher Eindruck - nämlich der einer zauberhaften Wildnis -, der Nevada Bart zurück auf die Isle Royale führte, um einen einzigartigen Roman zu schreiben, der in diesem Nationalpark spielt. Ich unterstützte sie gern dabei, denn die für Nevada typische Mischung aus Kriminalroman und Naturschilderung erfreut sich einer großen Anhängerschaft.
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Die Isle Royale war schon immer schwierig zu erreichen und wird von verhältnismäßig wenigen Menschen besucht, obwohl sie im Sommer frei zugänglich ist. Dass man überhaupt von ihrer Existenz weiß, ist hauptsächlich den Werken und Schilderungen verschiedener Autoren zu verdanken. Eine erfahrene Wildhüterin im Mesa Verde Nationalpark sagte zu mir, sie kenne die Isle Royale eigentlich nur aus Nevadas Roman A Superior Death aus dem Jahr 1994.
Trotz ihrer illustren und weitgehend unerforschten Vergangenheit ist die Isle Royale uns heutzutage hauptsächlich wegen der dort lebenden Wölfe und Elche ein Begriff. Während dieses Buch in den Druck geht, dauern die Bemühungen, die Entwicklung der dortigen Tierpopulation wissenschaftlich zu erforschen, bereits seit fünfzig Jahren an.
Inzwischen genießt der graue Wolf weltweit einen viel besseren Ruf als in früheren Zeiten und gilt nicht mehr als verhasster Schädling, sondern als faszinierendes Wildtier. Wölfe werden nicht länger in abgelegene Gebiete fernab menschlicher Behausungen verbannt, sondern bevölkern mittlerweile privaten und öffentlichen Grund, wie zum Beispiel den gut besuchten Yellowstone Nationalpark. Allerdings gibt es in den Vereinigten Staaten außerhalb von Alaska nur vier Nationalparks, zum Beispiel den Glacier Nationalpark und den Voyageurs Nationalpark, in denen Wölfe eine Heimat gefunden haben. Genug Freifläche für Wölfe und andere große Raubtiere zur Verfügung zu stellen, ist noch immer eine Herausforderung für Naturschützer.
Ein weiterer Mensch, für den die Isle Royale das schönste Fleckchen Erde weltweit darstellt, ist Bob Linn, ein ortsansässiger Naturfreund, der bereits an den ersten Winterstudien zur Erforschung der Wölfe und Elche auf der Insel beteiligt war. In den 1960er-Jahren wurde Bob wissenschaftlicher Leiter des Projekts und stiftete die konfliktbeladene Ehe zwischen der Wissenschaft und der Nationalen Parkaufsicht, auf die Nevada in diesem Buch anspielt. Obwohl kein Freund von Auseinandersetzungen, musste Bob dreimal einschreiten, um zu verhindern, dass Politik und Bürokratie sich in die Erforschung der Wölfe auf der Isle Royale einmischten. Eigentlich möchte man meinen, dass diese Wölfe, die in Abgeschiedenheit leben und für den Menschen und seine Interessen keine Bedrohung darstellen, keine Gegner auf der Welt haben. Doch Bob war ge
zwungen, die Guten hinter sich zu scharen, um den aus Habgier, Machtansprüchen, Neid oder einfach nur Engstirnigkeit geborenen Anfeindungen entgegenzutreten. Anschließend verkündete er bescheiden, man habe die Wissenschaftler nun einmal als unsichere Kandidaten betrachtet.
Die größte Herausforderung stellte sich ihm, als James Watt unter Präsident Reagan Innenminister wurde. Die Mittel für die Parkverwaltung wurden gestrichen, die Mitarbeiter während der laufenden Winterstudie des Jahres 1983 entlassen. Allerdings fand ich später in einem Gespräch heraus, dass ihn keine Schuld daran traf. Er wusste nicht einmal von der Existenz der Isle Royale, geschweige denn, dass es sich dabei um einen Nationalpark handelte, für dessen Erhalt er von Amts wegen verantwortlich war. Über manche Dinge kann man sich nur wundern.
Jedenfalls haben die Wölfe auf der Isle Royale bis heute überlebt. Sie gedeihen prächtig an einem Ort, an dem man die Ansiedlung von Wölfen früher für unmöglich gehalten hatte. Das ist ein Beweis für die menschliche Fähigkeit, die wahre und ungebändigte Kraft der Natur zu erfassen und zu verstehen, wie wir unsere Zukunft durch einen nachhaltigen Umgang mit ihr sichern können.
Und nun willkommen in der weißen und kalten Welt der winterlichen Isle Royale und des Lake Superior. Es ist eine Welt, die Nevada Bart durch ihr schriftstellerisches Talent, ihre Liebe zur Natur, ihre langjährige Erfahrung mit Nationalparks und ihre Neugier auf das manchmal seltsame Verhalten von Naturforschern zum Leben erweckt. All das, zusammen mit den Ängsten, Schwächen und Marotten ihrer handelnden Personen, sorgt für einen spannenden Lesestoff. Vielleicht lässt sich ja jemand davon überzeugen, in Zukunft auf das Mobiltelefon zu verzichten. Ach, und noch etwas: Es empfiehlt sich nicht, in der Sauna Bier zu trinken.
Rolf Peterson im Januar 2008 1
Die Beaver war blitzblank. Noch nie hatte Anna so ein sauberes Flugzeug gesehen. Es stand im beheizten Hangar in Ely, Minnesota, hatte die jährliche Hauptuntersuchung gerade hinter sich gebracht und strahlte förmlich im hellen Glanz. Nur der von tiefen Kratzern durchzogene Boden zeugte davon, dass dem alten Schlachtross nicht viel Ruhe gegönnt wurde. Beavers wurden seit 1962 nicht mehr gebaut, weshalb die Maschine, die der Pilot gerade für die wöchentliche Proviantlieferung und den Personaltransport zur Isle Royale im Lake Superior belud, älter war als Anna.
Aber das Flugzeug hat sich besser gehalten, dachte sie ungnädig.
Sie hatte nagelneue, noch nie getragene und mit Filz gefütterte Stiefel und Thermosocken an den Füßen. Dazu war sie mit einer Skihose und einem Parka bekleidet.
Anna beobachtete eine Frau, die etwa halb so alt war wie sie und Beine so lang und kräftig wie die eines einjährigen Elchs besaß. In ihrer dünnen Hose und der besorgniserregend leichten Winterjacke bewegte sie sich rasch und anmutig. Anna wurde von einem Gefühl ergriffen, das ihr weder vertraut noch willkommen war.
Sie war ratlos, verunsichert und außerdem nicht in ihrem Element. Die Isle Royale in Michigan war zwar einer ihrer ersten Einsatzorte gewesen, allerdings vor vielen Jahren. Außerdem im Sommer. Ein Aufenthalt bei arktischen Januartemperaturen, wenn die Insel für Besucher gesperrt war, entsprach nicht ihren Vorstellungen von einem idealen Winterurlaub. Nach den vielen Jahren im Natchez Trace Nationalpark in Mississipi, wo eine Jeansjacke und Kniestrümpfe als Wintergarde
robe genügten, war sie kälteempfindlich geworden. Vielleicht würde ihre neue Position als oberste Parkpolizistin im RockyMountain-Nationalpark sie ja ein wenig abhärten, aber dazu musste sie erst einmal einen Winter dort verbringen.
Unbeholfen trat sie von einem Fuß auf den anderen und spürte, wie ihre Zehen sich in den klobigen Stiefeln bewegten. Die vielen Schichten aus Daunen und Fleece machten ihren Körper steif.
Anna begegnete neuer Kleidung stets mit Argwohn und mochte auch keine Partys, für die man sich schick machen musste. Die Einladung, sich an dem seit vielen Jahren andauernden Forschungsprojekt zum Thema Wölfe und Elche auf der Isle Royale zu beteiligen, war vom Leiter des Rocky Mountain Nationalparks gekommen, und zwar in Worten, denen keine Frau widerstehen konnte: »Haben Sie keine Lust, sich in Schneeschuhen durch unwegsames Gelände zu quälen und mit Blut vollgesogene Zecken und Elchpisse einzusammeln?«
Als wahre Romantikerin hatte Anna begeistert zugestimmt. Schließlich würde sie es auch im Rocky Mountain Nationalpark bald mit Raubtieren zu tun bekommen. Nicht etwa, weil die Politiker plötzlich eine Erleuchtung gehabt hätten, sondern weil sich die prachtvollen und früher so verhassten Fleischfresser überall rasch vermehrten. Inzwischen eroberten sich Wölfe Gebiete zurück, aus denen sie vor mehr als einem Jahrhundert vertrieben worden waren.
Anna hatte Grund zu der Annahme, dass sich die erwarteten Wölfe bereits im Park aufhielten, beabsichtigte allerdings nicht, das in der Öffentlichkeit breitzutreten. Zumindest so lang nicht, bis die Welpen alt genug waren, um sich selbst durchzuschlagen. Der zukünftige Umgang mit Wölfen und Elchen stand also ganz oben auf der Aufgabenliste des Rocky Mountain Nationalparks, und wo konnte man sich besser darüber informieren als auf der Isle Royale?
»Alles fertig«, verkündete der Pilot.
Anna kletterte die zwei schmalen Stufen hinauf auf den Radkasten der Beaver, um in das hoch gelegene Cockpit zu steigen, keine Kleinigkeit in Stiefeln mit dem Ausmaß von Schneeschuhen.
»Brauchen Sie Hilfe mit dem Sicherheitsgurt?«
Der Pilot verhielt sich förmlich und schien nervös. Seine Uniform, die ihn als Mitarbeiter der amerikanischen Forstbehörde auswies, war steif von Stärke. Anna, die von ihren Einsätzen eher an verschwitzte und zerknitterte Versionen dieses Kleidungsstücks gewöhnt war, hatte sie auf den ersten Blick mit einer Militäruniform verwechselt.
»Nein«, erwiderte sie knapp.
Sie war schon häufiger auf Such- oder Rettungsaktionen sowie bei Waldbränden und Tierzählungen mit dem Flugzeug unterwegs gewesen, als sie sich erinnern konnte, und das lang vor dem Highschoolabschluss des Piloten. Verärgert wegen ihrer eigenen Gereiztheit, fummelte sie am Sicherheitsgurt herum. Weil sie so dick eingepackt war wie ein Schuljunge, der im Januar in Iowa auf einen Bus wartet, konnte sie sich kaum bewegen.
Hochmut kommt vor dem Fall, dachte sie spöttisch, während ihre in Fäustlingen steckenden Hände am Gurt zerrten.
Als sie versuchte, die Handschuhe mit den Zähnen auszuziehen, geriet ihr die schicke neue Sturmhaube in den Weg. Schließlich blieb sie still und geduldig wie der bereits erwähnte Schuljunge aus Iowa sitzen und ließ sich vom Piloten den Schultergurt in den Beckengurt haken und das Ganze einrasten.
Dann bedankte sie sich höflich.
Robin Adair, die langbeinige Forschungsassistentin, schlüpfte anmutig auf den Rücksitz und schnallte sich an wie ein Profi. Dann wurde das Flugzeug aus dem Hangar geschoben.
Der Flugplatz der Forstbehörde befand sich am Ufer des Shagawa Lake, unweit der kleinen Stadt Ely. Im Sommer diente die Wasserfläche als Startbahn, im Winter bot sie eine Piste aus hartgefrorenem, schneebedecktem Eis, die in nordöstlicher Richtung verlief. Sie wurde von in kräftigen Farben gestrichenen Fischerhütten gesäumt, die kreuz und quer herumstanden und an einen bunt zusammengewürfelten Wohnwagenpark aus den 1940er-Jahren erinnerten.
In dem Versuch, die innere Gereiztheit niederzukämpfen, ließ Anna die Schönheit des Waldes auf sich wirken, als die Beaver von der Eisfläche abhob und eine Linkskurve in Richtung Michigan flog. Die Sonne schien grell, und der Tag war so klar, wie es nur im Norden möglich ist, wo der Frost jegliche Feuchtigkeit aus der Luft vertreibt. Die Sonne stand so tief am südlichen Himmel, sodass schon mittags eine Art Abendstimmung herrschte. Ein durchscheinendes bernsteinfarbenes Licht lies die Konturen weich erscheinen, und die Nadelbäume an den Ufern der mit Schnee bedeckten Seen warfen Schatten, so spitz und schwarz wie Raubtierzähne auf einer Kinderzeichnung. Selbst aus einer Höhe von über siebenhundert Metern schimmerte jeder über die funkelnde weiße Fläche verlaufende Pfad blau.
Es knisterte in Annas Kopfhörer.
»Waren Sie schon einmal auf der Isle Royale?«, fragte die Stimme des Piloten.
»Einmal.« Anna konnte das sogar mit einer Narbe beweisen, einem achtzehn Zentimeter langen glänzenden Streifen, der quer über ihren Unterleib verlief. Sie schmerzte hin und wieder noch immer.
Wenn es kalt war.
»Haben Sie dort gearbeitet?«
Die Höhenluft schien den Mann gesprächig zu machen. Anna war er zwar schweigsam lieber gewesen, doch sie riss sich von dem Anblick der schwarzen Bäume und weißen Seen los, um Konversation zu betreiben.
»Vor zehn oder fünfzehn Jahren. Damals war ich Parkpolizistin in Windigo. Bootspatrouille.«
»Wahnsinn!«, rief der Pilot. »Damals war ich in der siebten Klasse«, fügte er hinzu, bevor Anna Gelegenheit hatte, sich in seiner Ehrfurcht zu sonnen.
Weltbild Buchverlag-Originalausgabe-
Deutsche Erstausgabe 2009-11-11 Copyright © 2008 by Nevada Barr
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009
Verlagsgruppe Weltbild GmbH
Steineren Furt, 86167 Augsburg
Übersetzung: »Karin Dufner«
Trotz ihrer illustren und weitgehend unerforschten Vergangenheit ist die Isle Royale uns heutzutage hauptsächlich wegen der dort lebenden Wölfe und Elche ein Begriff. Während dieses Buch in den Druck geht, dauern die Bemühungen, die Entwicklung der dortigen Tierpopulation wissenschaftlich zu erforschen, bereits seit fünfzig Jahren an.
Inzwischen genießt der graue Wolf weltweit einen viel besseren Ruf als in früheren Zeiten und gilt nicht mehr als verhasster Schädling, sondern als faszinierendes Wildtier. Wölfe werden nicht länger in abgelegene Gebiete fernab menschlicher Behausungen verbannt, sondern bevölkern mittlerweile privaten und öffentlichen Grund, wie zum Beispiel den gut besuchten Yellowstone Nationalpark. Allerdings gibt es in den Vereinigten Staaten außerhalb von Alaska nur vier Nationalparks, zum Beispiel den Glacier Nationalpark und den Voyageurs Nationalpark, in denen Wölfe eine Heimat gefunden haben. Genug Freifläche für Wölfe und andere große Raubtiere zur Verfügung zu stellen, ist noch immer eine Herausforderung für Naturschützer.
Ein weiterer Mensch, für den die Isle Royale das schönste Fleckchen Erde weltweit darstellt, ist Bob Linn, ein ortsansässiger Naturfreund, der bereits an den ersten Winterstudien zur Erforschung der Wölfe und Elche auf der Insel beteiligt war. In den 1960er-Jahren wurde Bob wissenschaftlicher Leiter des Projekts und stiftete die konfliktbeladene Ehe zwischen der Wissenschaft und der Nationalen Parkaufsicht, auf die Nevada in diesem Buch anspielt. Obwohl kein Freund von Auseinandersetzungen, musste Bob dreimal einschreiten, um zu verhindern, dass Politik und Bürokratie sich in die Erforschung der Wölfe auf der Isle Royale einmischten. Eigentlich möchte man meinen, dass diese Wölfe, die in Abgeschiedenheit leben und für den Menschen und seine Interessen keine Bedrohung darstellen, keine Gegner auf der Welt haben. Doch Bob war ge
zwungen, die Guten hinter sich zu scharen, um den aus Habgier, Machtansprüchen, Neid oder einfach nur Engstirnigkeit geborenen Anfeindungen entgegenzutreten. Anschließend verkündete er bescheiden, man habe die Wissenschaftler nun einmal als unsichere Kandidaten betrachtet.
Die größte Herausforderung stellte sich ihm, als James Watt unter Präsident Reagan Innenminister wurde. Die Mittel für die Parkverwaltung wurden gestrichen, die Mitarbeiter während der laufenden Winterstudie des Jahres 1983 entlassen. Allerdings fand ich später in einem Gespräch heraus, dass ihn keine Schuld daran traf. Er wusste nicht einmal von der Existenz der Isle Royale, geschweige denn, dass es sich dabei um einen Nationalpark handelte, für dessen Erhalt er von Amts wegen verantwortlich war. Über manche Dinge kann man sich nur wundern.
Jedenfalls haben die Wölfe auf der Isle Royale bis heute überlebt. Sie gedeihen prächtig an einem Ort, an dem man die Ansiedlung von Wölfen früher für unmöglich gehalten hatte. Das ist ein Beweis für die menschliche Fähigkeit, die wahre und ungebändigte Kraft der Natur zu erfassen und zu verstehen, wie wir unsere Zukunft durch einen nachhaltigen Umgang mit ihr sichern können.
Und nun willkommen in der weißen und kalten Welt der winterlichen Isle Royale und des Lake Superior. Es ist eine Welt, die Nevada Bart durch ihr schriftstellerisches Talent, ihre Liebe zur Natur, ihre langjährige Erfahrung mit Nationalparks und ihre Neugier auf das manchmal seltsame Verhalten von Naturforschern zum Leben erweckt. All das, zusammen mit den Ängsten, Schwächen und Marotten ihrer handelnden Personen, sorgt für einen spannenden Lesestoff. Vielleicht lässt sich ja jemand davon überzeugen, in Zukunft auf das Mobiltelefon zu verzichten. Ach, und noch etwas: Es empfiehlt sich nicht, in der Sauna Bier zu trinken.
Rolf Peterson im Januar 2008 1
Die Beaver war blitzblank. Noch nie hatte Anna so ein sauberes Flugzeug gesehen. Es stand im beheizten Hangar in Ely, Minnesota, hatte die jährliche Hauptuntersuchung gerade hinter sich gebracht und strahlte förmlich im hellen Glanz. Nur der von tiefen Kratzern durchzogene Boden zeugte davon, dass dem alten Schlachtross nicht viel Ruhe gegönnt wurde. Beavers wurden seit 1962 nicht mehr gebaut, weshalb die Maschine, die der Pilot gerade für die wöchentliche Proviantlieferung und den Personaltransport zur Isle Royale im Lake Superior belud, älter war als Anna.
Aber das Flugzeug hat sich besser gehalten, dachte sie ungnädig.
Sie hatte nagelneue, noch nie getragene und mit Filz gefütterte Stiefel und Thermosocken an den Füßen. Dazu war sie mit einer Skihose und einem Parka bekleidet.
Anna beobachtete eine Frau, die etwa halb so alt war wie sie und Beine so lang und kräftig wie die eines einjährigen Elchs besaß. In ihrer dünnen Hose und der besorgniserregend leichten Winterjacke bewegte sie sich rasch und anmutig. Anna wurde von einem Gefühl ergriffen, das ihr weder vertraut noch willkommen war.
Sie war ratlos, verunsichert und außerdem nicht in ihrem Element. Die Isle Royale in Michigan war zwar einer ihrer ersten Einsatzorte gewesen, allerdings vor vielen Jahren. Außerdem im Sommer. Ein Aufenthalt bei arktischen Januartemperaturen, wenn die Insel für Besucher gesperrt war, entsprach nicht ihren Vorstellungen von einem idealen Winterurlaub. Nach den vielen Jahren im Natchez Trace Nationalpark in Mississipi, wo eine Jeansjacke und Kniestrümpfe als Wintergarde
robe genügten, war sie kälteempfindlich geworden. Vielleicht würde ihre neue Position als oberste Parkpolizistin im RockyMountain-Nationalpark sie ja ein wenig abhärten, aber dazu musste sie erst einmal einen Winter dort verbringen.
Unbeholfen trat sie von einem Fuß auf den anderen und spürte, wie ihre Zehen sich in den klobigen Stiefeln bewegten. Die vielen Schichten aus Daunen und Fleece machten ihren Körper steif.
Anna begegnete neuer Kleidung stets mit Argwohn und mochte auch keine Partys, für die man sich schick machen musste. Die Einladung, sich an dem seit vielen Jahren andauernden Forschungsprojekt zum Thema Wölfe und Elche auf der Isle Royale zu beteiligen, war vom Leiter des Rocky Mountain Nationalparks gekommen, und zwar in Worten, denen keine Frau widerstehen konnte: »Haben Sie keine Lust, sich in Schneeschuhen durch unwegsames Gelände zu quälen und mit Blut vollgesogene Zecken und Elchpisse einzusammeln?«
Als wahre Romantikerin hatte Anna begeistert zugestimmt. Schließlich würde sie es auch im Rocky Mountain Nationalpark bald mit Raubtieren zu tun bekommen. Nicht etwa, weil die Politiker plötzlich eine Erleuchtung gehabt hätten, sondern weil sich die prachtvollen und früher so verhassten Fleischfresser überall rasch vermehrten. Inzwischen eroberten sich Wölfe Gebiete zurück, aus denen sie vor mehr als einem Jahrhundert vertrieben worden waren.
Anna hatte Grund zu der Annahme, dass sich die erwarteten Wölfe bereits im Park aufhielten, beabsichtigte allerdings nicht, das in der Öffentlichkeit breitzutreten. Zumindest so lang nicht, bis die Welpen alt genug waren, um sich selbst durchzuschlagen. Der zukünftige Umgang mit Wölfen und Elchen stand also ganz oben auf der Aufgabenliste des Rocky Mountain Nationalparks, und wo konnte man sich besser darüber informieren als auf der Isle Royale?
»Alles fertig«, verkündete der Pilot.
Anna kletterte die zwei schmalen Stufen hinauf auf den Radkasten der Beaver, um in das hoch gelegene Cockpit zu steigen, keine Kleinigkeit in Stiefeln mit dem Ausmaß von Schneeschuhen.
»Brauchen Sie Hilfe mit dem Sicherheitsgurt?«
Der Pilot verhielt sich förmlich und schien nervös. Seine Uniform, die ihn als Mitarbeiter der amerikanischen Forstbehörde auswies, war steif von Stärke. Anna, die von ihren Einsätzen eher an verschwitzte und zerknitterte Versionen dieses Kleidungsstücks gewöhnt war, hatte sie auf den ersten Blick mit einer Militäruniform verwechselt.
»Nein«, erwiderte sie knapp.
Sie war schon häufiger auf Such- oder Rettungsaktionen sowie bei Waldbränden und Tierzählungen mit dem Flugzeug unterwegs gewesen, als sie sich erinnern konnte, und das lang vor dem Highschoolabschluss des Piloten. Verärgert wegen ihrer eigenen Gereiztheit, fummelte sie am Sicherheitsgurt herum. Weil sie so dick eingepackt war wie ein Schuljunge, der im Januar in Iowa auf einen Bus wartet, konnte sie sich kaum bewegen.
Hochmut kommt vor dem Fall, dachte sie spöttisch, während ihre in Fäustlingen steckenden Hände am Gurt zerrten.
Als sie versuchte, die Handschuhe mit den Zähnen auszuziehen, geriet ihr die schicke neue Sturmhaube in den Weg. Schließlich blieb sie still und geduldig wie der bereits erwähnte Schuljunge aus Iowa sitzen und ließ sich vom Piloten den Schultergurt in den Beckengurt haken und das Ganze einrasten.
Dann bedankte sie sich höflich.
Robin Adair, die langbeinige Forschungsassistentin, schlüpfte anmutig auf den Rücksitz und schnallte sich an wie ein Profi. Dann wurde das Flugzeug aus dem Hangar geschoben.
Der Flugplatz der Forstbehörde befand sich am Ufer des Shagawa Lake, unweit der kleinen Stadt Ely. Im Sommer diente die Wasserfläche als Startbahn, im Winter bot sie eine Piste aus hartgefrorenem, schneebedecktem Eis, die in nordöstlicher Richtung verlief. Sie wurde von in kräftigen Farben gestrichenen Fischerhütten gesäumt, die kreuz und quer herumstanden und an einen bunt zusammengewürfelten Wohnwagenpark aus den 1940er-Jahren erinnerten.
In dem Versuch, die innere Gereiztheit niederzukämpfen, ließ Anna die Schönheit des Waldes auf sich wirken, als die Beaver von der Eisfläche abhob und eine Linkskurve in Richtung Michigan flog. Die Sonne schien grell, und der Tag war so klar, wie es nur im Norden möglich ist, wo der Frost jegliche Feuchtigkeit aus der Luft vertreibt. Die Sonne stand so tief am südlichen Himmel, sodass schon mittags eine Art Abendstimmung herrschte. Ein durchscheinendes bernsteinfarbenes Licht lies die Konturen weich erscheinen, und die Nadelbäume an den Ufern der mit Schnee bedeckten Seen warfen Schatten, so spitz und schwarz wie Raubtierzähne auf einer Kinderzeichnung. Selbst aus einer Höhe von über siebenhundert Metern schimmerte jeder über die funkelnde weiße Fläche verlaufende Pfad blau.
Es knisterte in Annas Kopfhörer.
»Waren Sie schon einmal auf der Isle Royale?«, fragte die Stimme des Piloten.
»Einmal.« Anna konnte das sogar mit einer Narbe beweisen, einem achtzehn Zentimeter langen glänzenden Streifen, der quer über ihren Unterleib verlief. Sie schmerzte hin und wieder noch immer.
Wenn es kalt war.
»Haben Sie dort gearbeitet?«
Die Höhenluft schien den Mann gesprächig zu machen. Anna war er zwar schweigsam lieber gewesen, doch sie riss sich von dem Anblick der schwarzen Bäume und weißen Seen los, um Konversation zu betreiben.
»Vor zehn oder fünfzehn Jahren. Damals war ich Parkpolizistin in Windigo. Bootspatrouille.«
»Wahnsinn!«, rief der Pilot. »Damals war ich in der siebten Klasse«, fügte er hinzu, bevor Anna Gelegenheit hatte, sich in seiner Ehrfurcht zu sonnen.
Weltbild Buchverlag-Originalausgabe-
Deutsche Erstausgabe 2009-11-11 Copyright © 2008 by Nevada Barr
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2009
Verlagsgruppe Weltbild GmbH
Steineren Furt, 86167 Augsburg
Übersetzung: »Karin Dufner«
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Bibliographische Angaben
- Autor: Nevada Barr
- 2009, 1, 432 Seiten, Masse: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 386800274X
- ISBN-13: 9783868002744
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