Wissenschaft vom Gehen
Erstaunliche Geschichten aus der Erforschung eines der scheinbar vertrautesten Tätigkeiten des Menschen, dem Gehen - von Physiologie und Medizin über die Kriminologie bis hin zur Literatur und bildender Kunst.
Das Gehen ist ein vertrauter und...
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Produktinformationen zu „Wissenschaft vom Gehen “
Klappentext zu „Wissenschaft vom Gehen “
Erstaunliche Geschichten aus der Erforschung eines der scheinbar vertrautesten Tätigkeiten des Menschen, dem Gehen - von Physiologie und Medizin über die Kriminologie bis hin zur Literatur und bildender Kunst.Das Gehen ist ein vertrauter und alltäglicher Vorgang, der sich der exakten Erfassung hartnäckig zu entziehen scheint. Die Ungreifbarkeit des Gegenstandes stiess im 19. Jahrhundert eine Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen an, die die menschliche und tierische Bewegung messen, analysieren und auch verbessern sollten.
Von der Physiologie und Medizin über die Kriminologie bis hin zur Literatur und bildenden Kunst reichen die Ansätze zur Sicherung und Verwertung von Gangspuren. Ein bisher kaum beleuchtetes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte, in dem sich zentrale soziale, politische und ästhetische Probleme des neunzehnten Jahrhunderts bündeln.
Lese-Probe zu „Wissenschaft vom Gehen “
Wissenschaft vom Gehen von Andreas MayerEinleitung
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Kaum eine Tätigkeit scheint in ihrem alltäglichen Vollzug dem Wesen der menschlichen Natur so sehr inhärent zu sein wie das Gehen auf zwei Beinen. Die Selbstverständlichkeit dieses gleichsam automatisch ablaufenden Aktes erweist sich jedoch spätestens dann als zerbrechlich und zweifelhaft, sobald die Frage nach seinem Mechanismus zum Thema wissenschaftlicher Forschung wird. Die seit dem späten achtzehnten Jahrhundert unternommenen Versuche, die natürliche Gangart des Menschen mit Hilfe von Messinstrumenten und Deutungstechniken eindeutig zu bestimmen und zu kultivieren, antworten auf eine Verunsicherung, die westlichen Industriegesellschaften eignet. Sie ist mit Schlagworten wie »Mechanisierung« oder »Beschleunigung der Lebenswelt« nur unzureichend beschrieben. Als ein genuines Projekt des neunzehnten Jahrhunderts lässt sich die Karriere der wissenschaftlichen Gangforschung nicht ohne die schrittweise Einführung neuer wissenschaftlicher und technischer Erfindungen wie der mit Dampfkraft betriebenen neuen motorischen Fortbewegungsmittel verstehen. Doch tritt das Gehen des Menschen nicht mit bewegten Maschinen in Konkurrenz, deren reibungsloses Funktionieren sichergestellt wäre (wie es etwa eine optimistische Fortschrittsgeschichte nahelegt). Sobald die Geschichte der Geschwindigkeit im neunzehnten Jahrhundert nicht aus der Ingenieursperspektive erzählt wird, sondern aus der Sicht derer, die sich täglich im modernen Verkehr bewegen müssen, bietet sich ein weitaus zwiespältigeres, nicht selten chaotisches Bild. Die Kräfte von Menschen, Tieren und Maschinen treten in einen Wettlauf ein, der sich keineswegs in einem wohlkoordinierten System abspielt. Sei es bei weiten Reisen über Land oder im Stadtraum, die neuen Fortbewegungsmaschinen befinden sich noch lange in zäher Konkurrenz zu Fußgängern und Pferden, die nun selbst als ideale Gangmaschinen begriffen werden.
Wenn das Gehen schon am Ende des achtzehnten Jahrhunderts von vielen Autoren als ideale und natürlichste Form der Fortbewegung gepriesen wird, so verdankt sich diese Bestimmung jedoch nicht nur pragmatischen Aspekten. Dass das Ideal vom natürlichen aufrechten Gang von moralischen und politischen Werten durchdrungen ist, haben eine Reihe von kulturhistorischen Arbeiten gezeigt. Im Anschluss an Norbert Elias wird dieses Ideal zumeist als Ausdruck einer bürgerlichen Gehkultur begriffen, die sich von aristokratischen Habitusformen distinguiert, oder, den Thesen von Michel Foucault folgend, als ein Prozess der Disziplinierung von Körperbewegungen, in dem sich eine neue subtile Form der Disziplinarmacht manifestiert Die Geschichte und Soziologie des Körpers, die in den letzten zwei Dekaden eine mittlerweile unüberschaubare Literatur hervorgebracht hat, hat sich auch episodisch mit der Erforschung menschlicher Bewegung im neunzehnten Jahrhundert befasst, doch diese vorwiegend als einen Prozess der Verwissenschaftlichung oder der Normalisierung interpretiert. Der kognitive Aspekt der medizinischen und physiologischen Literatur wird dabei zugunsten ihrer als normativ gesetzten Funktionen vernachlässigt. Wenn auch der Wille zur kontrollierten Reform bewegter Körper bei vielen Wissenschaftlern und Medizinern offensichtlich ist, scheint es jedoch nicht als ausgemacht, dass die Auswirkungen wissenschaftlicher Beobachtungen und Experimente zwangsläufig zur Ausbildung neuer Normen führen.
Das vorliegende Buch nähert sich der Untersuchung dieses weitverzweigten Feldes nicht über eine Geschichte des Gehens im Sinne von körperhistorischen oder -soziologischen Ansätzen, sondern als eines bisher ungeschriebenen Kapitels der Geschichte wissenschaftlichen Beobachtens und Experimentierens. Es rekonstruiert in vier Etappen ein bisher kaum in seiner Gesamtheit erfasstes Feld, in dem sich das Problem der Objektivierung anhand eines zugleich trivialen und kulturell hoch bewerteten menschlichen Aktes unausgesetzt stellt. Die Erforschung des Gehens, die bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts vor allem in Frankreich und Deutschland zu einem prestigereichen Projekt aufrückte, wird im Folgenden im Rahmen einer historischen Anthropologie des Wissens untersucht. Dabei gilt es primär zu verstehen, wie das alltägliche Phänomen der menschlichen Bewegung in den Rang eines ungreifbaren Objektes aufgestiegen ist.
Das erste Kapitel bestimmt die Ausgangspunkte zu einem empirischen Wissen über den menschlichen Gang, wie sie sich bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Europa und insbesondere in Deutschland herauskristallisieren. Dieses Wissen geht aus neuen kulturellen Bewertungen hervor, die die Praxis des Gehens mit der Fußreise erfährt, die sich von neuen Transportmitteln und -wegen absondert. Rousseaus anthropologische Bestimmung des menschlichen Körpers als eines ursprünglichen Instruments, die auch mit einer philosophischen Nobilitierung des Reisens zu Fuße einhergeht, liefert vielen Wissenschaftlern, Medizinern und Intellektuellen die Stichworte für das Kultivieren einer natürlichen Gangweise, die sich betont langsam und ungeregelt der Quantifizierung von Reisewegen im neuen Verkehrssystem entgegensetzt. Die Formen dieses Wissens über die der Natur gemäßen Körperbewegung sind heterogen und treten verstreut an verschiedenen Orten und im Zusammenhang mit der Neudefinition von kulturellen Praktiken auf. Das Wissen über den natürlichen Gang beruft sich zunehmend auf eine mechanistische Physiologie, die den menschlichen Körper als eine zugleich im Sinne der Kraftersparnis eingerichtete und auf ästhetische Zwecke hin berechnete Maschine begreift, wie anhand von drei exemplarischen Formationen gezeigt wird: Dies sind pädagogische Institutionen wie die deutschen Philantropine, die für eine neue Erziehung des Gehens im Rahmen von Gymnastiklehren plädieren, militärische Exerzierplätze, auf denen Soldaten die zweckmäßigsten Marschschritte einüben, sowie die ersten in den Städten und ihrer Umgebung angelegten Promenaden, die ein neues, alltägliches Beobachtungsfeld für eine Physiognomik des Ganges bieten.
Das zweite Kapitel wendet sich den Beobachtern der Körperbewegung in Frankreich zu, die erstmals versuchen, die »fortschreitenden Bewegungen des Menschen und der Tiere« zum Gegenstand einer neuen Wissenschaft zu machen. Die kritische Revision der Iatromechanik des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, die lebende Organismen als bewegte Maschinen auffasst, wird dabei zum Ausgangspunkt neuer physiologischer Lehren. Im Zentrum dieser Diskussionen steht der berühmte Traktat De motu animalium von Giovanni Alfonso Borelli, der bis heute als Gründungstext der Biomechanik gilt. Die vitalistische Physiologie, die die Bezüge zwischen dem Moralischen und dem Physischen ins Zentrum ihrer neuen »Wissenschaft vom Menschen« stellt, greift den deduktiven Experimentalstil der Iatromechanik an und privilegiert ein Vorgehen, bei dem wissenschaftliche Theorien über die Lebensvorgänge aus einer Fülle von Tatsachen abgeleitet werden. Viele Mediziner begreifen im frühen neunzehnten Jahrhundert die Bewegungsphysiologie im Sinne einer ganzheitlichen Anthropologie, die eine hohe Diversität von Erscheinungen des Gehens, Laufens und Springens ohne Rückgriff auf die Gesetze der Mechanik oder metaphysische Prinzipien zu erklären sucht. Der Versuch einer Integration von mechanischen und semiotischen Ansätzen bei der Analyse des Bewegungsakts führt jedoch den totalisierenden Diskurs der Wissenschaft vom Menschen an seine Grenzen. In seiner »Théorie de la démarche«, einem kurzen, aber zentralen Text seiner Comédie Humaine, antwortet Balzac auf die französischen Versuche, eine physiologische Theorie des Gehens auf der Grundlage der Mechanik zu entwickeln, mit einem spielerischen Gegenentwurf, der in radikaler Zuspitzung die Bewegung zum notwendigen und unmöglichen Gegenstand einer neuen Wissenschaft vom Menschen erklärt.
Das dritte Kapitel wendet sich den Anfängen eines neuen Experimentalismus zu, wie er erstmals 1836 mit der ersten längeren Abhandlung zur Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge von Wilhelm und Eduard Weber auf den Plan tritt. Das weitgespannte Feld der diversen kulturellen und individuellen Variationen der Gangarten sowie ihrer pathologischen Erscheinungsformen, mit denen sich die weitgehend nosographisch ausgerichtete Physiologie der menschlichen Bewegung befasst, wird hier zugunsten einer Untersuchung des »natürlichen Gangs« ausgeschlossen, der als ein idealer Gegenstand für eine physikalisch-mechanische Studie gilt. Diese Idealbestimmung erfolgt weitgehend im Anschluss an die Zielsetzungen der industriellen Mechanik, die die Leistungen menschlicher, tierischer und maschineller Bewegung im Hinblick auf reibungslosen Transport und eine effizientere Organisation militärischer Marschformationen vergleichenden Berechnungen unterzieht. In ihrer Studie entwickeln die Brüder Weber neuartige Praktiken, die die räumliche Isolierung und Selektionsmechanismen in einem Labor mit dem Gebrauch von populären Illusionstechniken verknüpften, um das regelhafte Spiel der »Gehwerkzeuge« in Ablösung von den gehenden Menschen selbst auf eine neue Weise sichtbar zu machen.
Von der Weber'schen Studie führt jedoch kein bruchloser Weg zu den graphischen und photographischen Aufzeichnungsverfahren des französischen Physiologen Etienne Jules Marey. Das vierte Kapitel behandelt dieses sicherlich prestigereichste Unternehmen zur Erforschung menschlicher und tierischer Bewegung, das sich in Frankreich ab 1870 ausbreitete. Mit der weitgehenden Mechanisierung und Objektivierung der Gangaufzeichnung, die die Sinne des menschlichen Beobachters für unzureichend erklärte, beanspruchen Marey und seine Mitarbeiter, zu einer homogenen und eindeutigen Repräsentationsform zu gelangen, die diverse »Lokomotionssysteme « jeweils in derselben Form nicht nur kognitiv erfassen, sondern auch kontrollierbar und letztlich reformierbar machen soll. Die Forschungen des französischen Bewegungsphysiologen an seiner Station physiologique, die im zwanzigsten Jahrhundert zum Symbol einer vollständig durchmechanisierten Moderne aufgerückt sind, wurden jedoch in wissenschaftlichen, medizinischen, künstlerischen und politischen Praxisfeldern jeweils sehr unterschiedlich rezipiert. Ein zentrales Feld für die Ausbildung von Beobachtungs- und Notationstechniken, die Anspruch auf wissenschaftliche Exaktheit erhoben, bildete das Projekt einer »rationalen« Dressur, das mit der Forderung nach einer realistischen Darstellung von Pferden in der Historienmalerei einherging. Gleichzeitig bildeten sich in Bezug auf die Klassifikation der Pferdegangarten, die klinische Diagnostik in der Forensik, der Neurologie oder der Orthopädie jedoch mit dem Gebrauch des Spurenbildes andere Verfahren der Gangaufzeichnung heraus, die implizit oder direkt mit den graphischen und photographischen Methoden der Bewegungsphysiologie rivalisierten. Trotz der von Mareys Forschungen ausgehenden Versuche, die chronophotographische Zerlegung der Gangarten zur Norm für eine neue wissenschaftliche Ästhetik und pädagogische Reformen des Gehens zu erheben, koexistieren am Ende des Jahrhunderts vielmehr in den Humanwissenschaften verschiedene Techniken, die Körperbewegung zum Gegenstand zu machen.
1.
Spaziergänger, Fußreisende, Soldaten: Konturen eines praktischen Wissens vom Gehen
In seinem Briefroman Julie ou La Nouvelle Héloïse (1761) sondert Jean-Jacques Rousseau die vornehme Welt, die sich in der Kutsche fortbewegt, von jener »anderen« sozialen Welt, die sich freiwillig oder notgedrungen zu Fuß bewegt: »Diejenigen, die zu Fuß gehen, gehören nicht zur vornehmen Welt: Sie sind Bürger, Leute aus dem Volke, Leute aus der anderen Welt, und man könnte sagen, dass die Karosse nicht so sehr zum Fahren notwendig ist als um zu existieren.« Rousseau ist nicht der Einzige, der in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts das Fahren und das Gehen nicht nur als zwei gegensätzliche Arten der Fortbewegung, sondern auch als grundlegend verschiedene Existenzweisen bestimmt. Die Kultur- und Literaturgeschichte hat in der neuen Bewertung des Gehens das Aufkommen einer »bürgerlichen Gehkultur« in der Aufklärung gesehen, die in ihrem Bestreben nach Distinktion gegenüber den Repräsentationsformen der höfischen Welt den Spaziergang als eine neue Praxis des Erfahrens und Beschreibens von Natur und Gesellschaft definiert. Die Abgrenzung vom aristokratischen Kodex der Bewegung richtete sich vor allem gegen dessen Künstlichkeit und Trägheit, wie sie sich auf den Promenaden zeigte, wo die Fahrt in der luxuriös ausgestatteten Kutsche demonstrativ dem Gehen vorgezogen wurde. In der Aufklärung definierten sich zahlreiche Philosophen, Schriftsteller und Pädagogen in klarer und meist polemischer Distanz zu dieser Existenzweise. Wie das Beispiel Rousseaus zeigt, blieb jedoch unklar, welches soziale Profil und welche Form der Existenz dem Fußgänger im achtzehnten Jahrhundert letztlich eignete: »Bürger, Leute aus dem Volke, Leute aus der anderen Welt« formen keine eigene Klasse. Das Problem durchzieht eine umfangreiche Reiseliteratur, die die »Promenade«, den »Spaziergang « oder die »Fußreise« im Titel führt. In diesen Texten wird das Gehen zur natürlichsten und besten Form des Reisens erklärt und zugleich eine neue Sensibilität für die ästhetischen und poetischen Qualitäten der ambulanten Lebensweise propagiert. Das menschliche Gehen wird jedoch nicht nur als eine Praxis in Abgrenzung zum Fahren im Wagen neu bestimmt, sondern erscheint auch bereits in Konturen als Gegenstand eines vorerst noch heterogenen Wissens, in dem mechanische und semiotische Ansätze ineinandergreifen. Nach einer Bestimmung der anthropologischen Ausgangspunkte, wie sie sich in der Literatur zur Fußreise finden, werden im Folgenden die Versuche betrachtet, den natürlichen Gang zum Gegenstand eines Wissens zu machen. Dieses Wissen bezieht sich zwar auch auf wissenschaftliche Theorien, doch bleibt es durch seine praktische Ausrichtung an konkreten Orten und Tätigkeiten orientiert: Es zirkuliert auf den ersten halböffentlichen Promenaden, auf denen Spaziergänger ein neues Beobachtungsfeld entdecken, in den Institutionen der Philantropen, die eine neue Erziehung des Gehens propagieren, und auf militärischen Exerzierplätzen, wo sich die Einübung in den Soldatenmarsch vollzieht.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
Kaum eine Tätigkeit scheint in ihrem alltäglichen Vollzug dem Wesen der menschlichen Natur so sehr inhärent zu sein wie das Gehen auf zwei Beinen. Die Selbstverständlichkeit dieses gleichsam automatisch ablaufenden Aktes erweist sich jedoch spätestens dann als zerbrechlich und zweifelhaft, sobald die Frage nach seinem Mechanismus zum Thema wissenschaftlicher Forschung wird. Die seit dem späten achtzehnten Jahrhundert unternommenen Versuche, die natürliche Gangart des Menschen mit Hilfe von Messinstrumenten und Deutungstechniken eindeutig zu bestimmen und zu kultivieren, antworten auf eine Verunsicherung, die westlichen Industriegesellschaften eignet. Sie ist mit Schlagworten wie »Mechanisierung« oder »Beschleunigung der Lebenswelt« nur unzureichend beschrieben. Als ein genuines Projekt des neunzehnten Jahrhunderts lässt sich die Karriere der wissenschaftlichen Gangforschung nicht ohne die schrittweise Einführung neuer wissenschaftlicher und technischer Erfindungen wie der mit Dampfkraft betriebenen neuen motorischen Fortbewegungsmittel verstehen. Doch tritt das Gehen des Menschen nicht mit bewegten Maschinen in Konkurrenz, deren reibungsloses Funktionieren sichergestellt wäre (wie es etwa eine optimistische Fortschrittsgeschichte nahelegt). Sobald die Geschichte der Geschwindigkeit im neunzehnten Jahrhundert nicht aus der Ingenieursperspektive erzählt wird, sondern aus der Sicht derer, die sich täglich im modernen Verkehr bewegen müssen, bietet sich ein weitaus zwiespältigeres, nicht selten chaotisches Bild. Die Kräfte von Menschen, Tieren und Maschinen treten in einen Wettlauf ein, der sich keineswegs in einem wohlkoordinierten System abspielt. Sei es bei weiten Reisen über Land oder im Stadtraum, die neuen Fortbewegungsmaschinen befinden sich noch lange in zäher Konkurrenz zu Fußgängern und Pferden, die nun selbst als ideale Gangmaschinen begriffen werden.
Wenn das Gehen schon am Ende des achtzehnten Jahrhunderts von vielen Autoren als ideale und natürlichste Form der Fortbewegung gepriesen wird, so verdankt sich diese Bestimmung jedoch nicht nur pragmatischen Aspekten. Dass das Ideal vom natürlichen aufrechten Gang von moralischen und politischen Werten durchdrungen ist, haben eine Reihe von kulturhistorischen Arbeiten gezeigt. Im Anschluss an Norbert Elias wird dieses Ideal zumeist als Ausdruck einer bürgerlichen Gehkultur begriffen, die sich von aristokratischen Habitusformen distinguiert, oder, den Thesen von Michel Foucault folgend, als ein Prozess der Disziplinierung von Körperbewegungen, in dem sich eine neue subtile Form der Disziplinarmacht manifestiert Die Geschichte und Soziologie des Körpers, die in den letzten zwei Dekaden eine mittlerweile unüberschaubare Literatur hervorgebracht hat, hat sich auch episodisch mit der Erforschung menschlicher Bewegung im neunzehnten Jahrhundert befasst, doch diese vorwiegend als einen Prozess der Verwissenschaftlichung oder der Normalisierung interpretiert. Der kognitive Aspekt der medizinischen und physiologischen Literatur wird dabei zugunsten ihrer als normativ gesetzten Funktionen vernachlässigt. Wenn auch der Wille zur kontrollierten Reform bewegter Körper bei vielen Wissenschaftlern und Medizinern offensichtlich ist, scheint es jedoch nicht als ausgemacht, dass die Auswirkungen wissenschaftlicher Beobachtungen und Experimente zwangsläufig zur Ausbildung neuer Normen führen.
Das vorliegende Buch nähert sich der Untersuchung dieses weitverzweigten Feldes nicht über eine Geschichte des Gehens im Sinne von körperhistorischen oder -soziologischen Ansätzen, sondern als eines bisher ungeschriebenen Kapitels der Geschichte wissenschaftlichen Beobachtens und Experimentierens. Es rekonstruiert in vier Etappen ein bisher kaum in seiner Gesamtheit erfasstes Feld, in dem sich das Problem der Objektivierung anhand eines zugleich trivialen und kulturell hoch bewerteten menschlichen Aktes unausgesetzt stellt. Die Erforschung des Gehens, die bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts vor allem in Frankreich und Deutschland zu einem prestigereichen Projekt aufrückte, wird im Folgenden im Rahmen einer historischen Anthropologie des Wissens untersucht. Dabei gilt es primär zu verstehen, wie das alltägliche Phänomen der menschlichen Bewegung in den Rang eines ungreifbaren Objektes aufgestiegen ist.
Das erste Kapitel bestimmt die Ausgangspunkte zu einem empirischen Wissen über den menschlichen Gang, wie sie sich bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Europa und insbesondere in Deutschland herauskristallisieren. Dieses Wissen geht aus neuen kulturellen Bewertungen hervor, die die Praxis des Gehens mit der Fußreise erfährt, die sich von neuen Transportmitteln und -wegen absondert. Rousseaus anthropologische Bestimmung des menschlichen Körpers als eines ursprünglichen Instruments, die auch mit einer philosophischen Nobilitierung des Reisens zu Fuße einhergeht, liefert vielen Wissenschaftlern, Medizinern und Intellektuellen die Stichworte für das Kultivieren einer natürlichen Gangweise, die sich betont langsam und ungeregelt der Quantifizierung von Reisewegen im neuen Verkehrssystem entgegensetzt. Die Formen dieses Wissens über die der Natur gemäßen Körperbewegung sind heterogen und treten verstreut an verschiedenen Orten und im Zusammenhang mit der Neudefinition von kulturellen Praktiken auf. Das Wissen über den natürlichen Gang beruft sich zunehmend auf eine mechanistische Physiologie, die den menschlichen Körper als eine zugleich im Sinne der Kraftersparnis eingerichtete und auf ästhetische Zwecke hin berechnete Maschine begreift, wie anhand von drei exemplarischen Formationen gezeigt wird: Dies sind pädagogische Institutionen wie die deutschen Philantropine, die für eine neue Erziehung des Gehens im Rahmen von Gymnastiklehren plädieren, militärische Exerzierplätze, auf denen Soldaten die zweckmäßigsten Marschschritte einüben, sowie die ersten in den Städten und ihrer Umgebung angelegten Promenaden, die ein neues, alltägliches Beobachtungsfeld für eine Physiognomik des Ganges bieten.
Das zweite Kapitel wendet sich den Beobachtern der Körperbewegung in Frankreich zu, die erstmals versuchen, die »fortschreitenden Bewegungen des Menschen und der Tiere« zum Gegenstand einer neuen Wissenschaft zu machen. Die kritische Revision der Iatromechanik des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, die lebende Organismen als bewegte Maschinen auffasst, wird dabei zum Ausgangspunkt neuer physiologischer Lehren. Im Zentrum dieser Diskussionen steht der berühmte Traktat De motu animalium von Giovanni Alfonso Borelli, der bis heute als Gründungstext der Biomechanik gilt. Die vitalistische Physiologie, die die Bezüge zwischen dem Moralischen und dem Physischen ins Zentrum ihrer neuen »Wissenschaft vom Menschen« stellt, greift den deduktiven Experimentalstil der Iatromechanik an und privilegiert ein Vorgehen, bei dem wissenschaftliche Theorien über die Lebensvorgänge aus einer Fülle von Tatsachen abgeleitet werden. Viele Mediziner begreifen im frühen neunzehnten Jahrhundert die Bewegungsphysiologie im Sinne einer ganzheitlichen Anthropologie, die eine hohe Diversität von Erscheinungen des Gehens, Laufens und Springens ohne Rückgriff auf die Gesetze der Mechanik oder metaphysische Prinzipien zu erklären sucht. Der Versuch einer Integration von mechanischen und semiotischen Ansätzen bei der Analyse des Bewegungsakts führt jedoch den totalisierenden Diskurs der Wissenschaft vom Menschen an seine Grenzen. In seiner »Théorie de la démarche«, einem kurzen, aber zentralen Text seiner Comédie Humaine, antwortet Balzac auf die französischen Versuche, eine physiologische Theorie des Gehens auf der Grundlage der Mechanik zu entwickeln, mit einem spielerischen Gegenentwurf, der in radikaler Zuspitzung die Bewegung zum notwendigen und unmöglichen Gegenstand einer neuen Wissenschaft vom Menschen erklärt.
Das dritte Kapitel wendet sich den Anfängen eines neuen Experimentalismus zu, wie er erstmals 1836 mit der ersten längeren Abhandlung zur Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge von Wilhelm und Eduard Weber auf den Plan tritt. Das weitgespannte Feld der diversen kulturellen und individuellen Variationen der Gangarten sowie ihrer pathologischen Erscheinungsformen, mit denen sich die weitgehend nosographisch ausgerichtete Physiologie der menschlichen Bewegung befasst, wird hier zugunsten einer Untersuchung des »natürlichen Gangs« ausgeschlossen, der als ein idealer Gegenstand für eine physikalisch-mechanische Studie gilt. Diese Idealbestimmung erfolgt weitgehend im Anschluss an die Zielsetzungen der industriellen Mechanik, die die Leistungen menschlicher, tierischer und maschineller Bewegung im Hinblick auf reibungslosen Transport und eine effizientere Organisation militärischer Marschformationen vergleichenden Berechnungen unterzieht. In ihrer Studie entwickeln die Brüder Weber neuartige Praktiken, die die räumliche Isolierung und Selektionsmechanismen in einem Labor mit dem Gebrauch von populären Illusionstechniken verknüpften, um das regelhafte Spiel der »Gehwerkzeuge« in Ablösung von den gehenden Menschen selbst auf eine neue Weise sichtbar zu machen.
Von der Weber'schen Studie führt jedoch kein bruchloser Weg zu den graphischen und photographischen Aufzeichnungsverfahren des französischen Physiologen Etienne Jules Marey. Das vierte Kapitel behandelt dieses sicherlich prestigereichste Unternehmen zur Erforschung menschlicher und tierischer Bewegung, das sich in Frankreich ab 1870 ausbreitete. Mit der weitgehenden Mechanisierung und Objektivierung der Gangaufzeichnung, die die Sinne des menschlichen Beobachters für unzureichend erklärte, beanspruchen Marey und seine Mitarbeiter, zu einer homogenen und eindeutigen Repräsentationsform zu gelangen, die diverse »Lokomotionssysteme « jeweils in derselben Form nicht nur kognitiv erfassen, sondern auch kontrollierbar und letztlich reformierbar machen soll. Die Forschungen des französischen Bewegungsphysiologen an seiner Station physiologique, die im zwanzigsten Jahrhundert zum Symbol einer vollständig durchmechanisierten Moderne aufgerückt sind, wurden jedoch in wissenschaftlichen, medizinischen, künstlerischen und politischen Praxisfeldern jeweils sehr unterschiedlich rezipiert. Ein zentrales Feld für die Ausbildung von Beobachtungs- und Notationstechniken, die Anspruch auf wissenschaftliche Exaktheit erhoben, bildete das Projekt einer »rationalen« Dressur, das mit der Forderung nach einer realistischen Darstellung von Pferden in der Historienmalerei einherging. Gleichzeitig bildeten sich in Bezug auf die Klassifikation der Pferdegangarten, die klinische Diagnostik in der Forensik, der Neurologie oder der Orthopädie jedoch mit dem Gebrauch des Spurenbildes andere Verfahren der Gangaufzeichnung heraus, die implizit oder direkt mit den graphischen und photographischen Methoden der Bewegungsphysiologie rivalisierten. Trotz der von Mareys Forschungen ausgehenden Versuche, die chronophotographische Zerlegung der Gangarten zur Norm für eine neue wissenschaftliche Ästhetik und pädagogische Reformen des Gehens zu erheben, koexistieren am Ende des Jahrhunderts vielmehr in den Humanwissenschaften verschiedene Techniken, die Körperbewegung zum Gegenstand zu machen.
1.
Spaziergänger, Fußreisende, Soldaten: Konturen eines praktischen Wissens vom Gehen
In seinem Briefroman Julie ou La Nouvelle Héloïse (1761) sondert Jean-Jacques Rousseau die vornehme Welt, die sich in der Kutsche fortbewegt, von jener »anderen« sozialen Welt, die sich freiwillig oder notgedrungen zu Fuß bewegt: »Diejenigen, die zu Fuß gehen, gehören nicht zur vornehmen Welt: Sie sind Bürger, Leute aus dem Volke, Leute aus der anderen Welt, und man könnte sagen, dass die Karosse nicht so sehr zum Fahren notwendig ist als um zu existieren.« Rousseau ist nicht der Einzige, der in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts das Fahren und das Gehen nicht nur als zwei gegensätzliche Arten der Fortbewegung, sondern auch als grundlegend verschiedene Existenzweisen bestimmt. Die Kultur- und Literaturgeschichte hat in der neuen Bewertung des Gehens das Aufkommen einer »bürgerlichen Gehkultur« in der Aufklärung gesehen, die in ihrem Bestreben nach Distinktion gegenüber den Repräsentationsformen der höfischen Welt den Spaziergang als eine neue Praxis des Erfahrens und Beschreibens von Natur und Gesellschaft definiert. Die Abgrenzung vom aristokratischen Kodex der Bewegung richtete sich vor allem gegen dessen Künstlichkeit und Trägheit, wie sie sich auf den Promenaden zeigte, wo die Fahrt in der luxuriös ausgestatteten Kutsche demonstrativ dem Gehen vorgezogen wurde. In der Aufklärung definierten sich zahlreiche Philosophen, Schriftsteller und Pädagogen in klarer und meist polemischer Distanz zu dieser Existenzweise. Wie das Beispiel Rousseaus zeigt, blieb jedoch unklar, welches soziale Profil und welche Form der Existenz dem Fußgänger im achtzehnten Jahrhundert letztlich eignete: »Bürger, Leute aus dem Volke, Leute aus der anderen Welt« formen keine eigene Klasse. Das Problem durchzieht eine umfangreiche Reiseliteratur, die die »Promenade«, den »Spaziergang « oder die »Fußreise« im Titel führt. In diesen Texten wird das Gehen zur natürlichsten und besten Form des Reisens erklärt und zugleich eine neue Sensibilität für die ästhetischen und poetischen Qualitäten der ambulanten Lebensweise propagiert. Das menschliche Gehen wird jedoch nicht nur als eine Praxis in Abgrenzung zum Fahren im Wagen neu bestimmt, sondern erscheint auch bereits in Konturen als Gegenstand eines vorerst noch heterogenen Wissens, in dem mechanische und semiotische Ansätze ineinandergreifen. Nach einer Bestimmung der anthropologischen Ausgangspunkte, wie sie sich in der Literatur zur Fußreise finden, werden im Folgenden die Versuche betrachtet, den natürlichen Gang zum Gegenstand eines Wissens zu machen. Dieses Wissen bezieht sich zwar auch auf wissenschaftliche Theorien, doch bleibt es durch seine praktische Ausrichtung an konkreten Orten und Tätigkeiten orientiert: Es zirkuliert auf den ersten halböffentlichen Promenaden, auf denen Spaziergänger ein neues Beobachtungsfeld entdecken, in den Institutionen der Philantropen, die eine neue Erziehung des Gehens propagieren, und auf militärischen Exerzierplätzen, wo sich die Einübung in den Soldatenmarsch vollzieht.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main.
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Autoren-Porträt von Andreas Mayer
Andreas Mayer, geboren 1970 in Wien, studierte Soziologie und Wissenschaftsgeschichte in Wien, Paris, Cambridge und Bielefeld. Von 2005¿-¿2007 lehrte er an der Universität Cambridge sowie als Gast an der EHESS (Paris) und an der University of Chicago. Seit Herbst 2007 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter in Abteilung II am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Zahlreiche Publikationen zur Geschichte der Humanwissenschaften, u.¿a. 'Mikroskopie der Psyche. Die Anfänge der Psychoanalyse im Labor der Hypnose' (2002), 'Träume nach Freud' (gem. m. L. Marinelli, 2002), die in mehrere Sprachen übersetzt sind.
Bibliographische Angaben
- Autor: Andreas Mayer
- 2013, 1. Auflage, 320 Seiten, Masse: 12,8 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100486048
- ISBN-13: 9783100486042
- Erscheinungsdatum: 25.07.2013
Rezension zu „Wissenschaft vom Gehen “
Mayers Buch ist penibel recherchiert, wissenschaftlich präzise und äusserst lehrreich. Da geht was! Patrick Spät Philosophie Magazin
Pressezitat
Mayers Buch ist penibel recherchiert, wissenschaftlich präzise und äusserst lehrreich. Da geht was! Patrick Spät Philosophie Magazin
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