Wir bleiben in der Nähe
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Wir bleiben in der Nähevon Tilman Rammstedt
LESEPROBE
Rollkoffer
Für den Freitag hatte ich Dienste getauscht, so dass wireinen Mittagszug nehmen konnten, am Nachmittag wären wir da, am Abend könntenwir noch einen Zug zurück nehmen, so oder so, da hatten wir uns erkundigt.
Die Tage bis dahin hatte ich auf einen Anruf von Konradgewartet, auf eine E-Mail, eine Postkarte, irgendeine einsilbige Absage, undals die ausblieb, rechnete ich beinah fest damit, dass er einfach gar nichterscheinen würde.
Er wartete aber schon am Bahnsteig, vor sich einen kleinenschwarzen Rollkoffer, nicht dasselbe Modell wie meiner, aber dennoch kaum zuunterscheiden, er las die Titelseite einer doppelt gefalteten Zeitung und saherst auf, als ich vor ihm stand.
Auf gehts", sagteich, weil es das tun sollte, und Konrad sagte, dass er das nach wie vor allesfür eine dumme Idee halte. Ich erwiderte nichts, unser Zug wurde angesagt, undich beschloss, das als ein endgültiges Argument für meine Position zu deuten.
Der Zug war überfüllt mit Wochenendfahrern, die sich in denengen Gängen gegenseitig ihre Reisetaschen an die Schenkel drückten, undtrotzdem war ich froh, hier zu sein, im Zug zu sein, der sich von selbstbewegte, der uns an ein Ziel brachte, zweieinhalb Stunden lang gab es nichts zuentscheiden, gab es nur zu sitzen, nur zu warten, die Türen würden sich nurnoch einmal vor Hamburg öffnen, in Spandau, und dort wieder auszusteigen, weilman seine Meinung geändert hatte, wäre lächerlich, das würde sich keiner vonuns beiden trauen.
Ich versuchte ein wenig zu schlafen. Eine Überraschungkostet schliesslich Kraft, bei einer Überraschung darf nichts schief gehen, damuss man hellwach sein, schon eine kurze Unaufmerksamkeit, schon einverstecktes Gähnen kann alles zerstören, doch in meinem Kopf war es viel zulaut, um schlafen zu können, und in Konrads Kopf anscheinend auch, und es drangbis nach draussen.
Was ist, wenn sie sich nicht freut?", fragte er.
Sie wird sich freuen."
Aber was, wenn nicht?"
Wenn sie sich nicht freut, dann haben wir uns getäuscht,dann geht nichts wieder los, dann können wir wieder fahren, aber immerhin habenwir dann Klarheit."
Bist du sicher", fragte Konrad, und ich sagte: Ziemlich",und versuchte wieder, die Augen geschlossen zu halten. Konrad war immer noch beider Titelseite.
Immer, wenn ich in den letzten Jahren an Katharina gedachthabe, mich gefragt habe, wie es ihr geht, was sie wohl macht, gerade jetzt, indiesem Moment, in dem ich an sie denke, fiel es mir schwer, sie mirvorzustellen. Ich musste immer mit einem bestimmten Detail, einer Szeneanfangen, ihrem Mund beim Sprechen, ihren Augen, nachdem sie etwasvorgeschlagen hatte, ihrem Gang von hinten, um von diesem Detail, dieser Szeneaus auf das Ganze zu schliessen, was dennoch selten gelang. Ich habe versucht,ihr wie mit einem Grafikprogramm von Frisören oder der Polizei längere oderkürzere Haare zu geben, ein paar Falten um die Augen, zwischen Nase und Mund,ich habe sie dicker und dünner gemacht, ihr die Brille aufgesetzt, die sie sichals Kind so gewünscht hatte, ein Nasenpiercing geschossen. Manchmal war sieschwanger, einmal im Rollstuhl.
Wir müssen auf alles gefasst sein", antwortete ich, undKonrad sagte: Ja, wahrscheinlich müssen wir das."
Es war ganz unmöglich, jetzt noch schlafen zu wollen, denndie Kurzfilme, diese abgebrochenen Szenen, wechselten sich in immer kürzerenAbständen ab, die gleich bleibende Einstellung, Katharina, wie sie die Türöffnet, und dann die Variationen, ein Jubeln, ein erleichtertes Lachen, ein Daseid ihr ja", ein kaum verstecktes Entsetzen, ein Was wollt Ihr denn hier".Auch die Hintergründe wechseln, Tobias, wie er mit noch erhitztem Gesicht undfalsch geknöpftem Hemd aus dem Bad kommt, halbgepackte Umzugskisten, KatharinasEltern am Esstisch, Katharinas und Tobias Eltern beim ersten Kennenlernen,zerbrochene Teller, durchweinte Taschentücher nach dem ersten grossenvorehelichen Streit.
Das Problem von Überraschungen ist nämlich, dass man sichleider immer mit überrascht. Das ist eine unangenehme Begleiterscheinung, dieman unbedingt eindämmen muss. Wenn man die eigene Überraschung allzuleichtfertig in Kauf nimmt, dann ist man viel zu bedacht, viel zu sehr auf derHut, viel zu umsichtig, um selbst noch halbwegs überraschen zu können. Unddeshalb glücken Überraschungen so selten, fast nie, deshalb sollte man sich dasimmer lieber noch einmal überlegen und nur im Notfall zur Überraschung greifen,aber ich war mir sicher, dass wir es hier mit einem Notfall zu tun hatten.
Als durchgesagt wurde, dass wir in wenigen Minuten Hamburgerreichen würden, faltete Konrad seine Zeitung zusammen, ich richtete mich auf,und wir schauten uns an. Da wären wir", sagte Konrad.
Katharinas Strasse befand sich in einer Wohngegend, nurvereinzelt eine Apotheke, ein Reisebüro, ein Kinderbuchladen, Kastanien ingleichmässigem Abstand. Sicherheitshalber stiegen wir schon an der Kreuzung aus,vielleicht schaute Katharina ja gerade aus dem Fenster, das Taxi fuhr weg,Konrad und ich standen mit unseren fast identischen Rollkoffern auf demBürgersteig und sahen uns um.
Nett hier."
Ja, schön mit den Kastanien."
Konrad atmete tief ein, Also, was ist. Rufen wir sie jetztan?", fragte er. Ich schlug vor, uns doch erst einmal das Haus anzuschauen, undwir liefen etwa hundert Meter die Strasse hinauf, bis wir an der richtigen Nummerangekommen waren. Das Haus sah so aus wie die meisten Häuser hier, Gründerzeit,hohe Etagen, bepflanzte Balkons, kupfernes Klingelschild. Falter/Ottensen"stand in der rechten Spalte ganz oben. Ottensen", sagte Konrad. War ja zuerwarten", sagte ich und überlegte, ob Katharina wohl ihren Namen behaltenwürde oder ob schon in drei Wochen das Klingelschild ausgetauscht werden müsste.
Ob er zu Hause ist?", fragte Konrad.
Keine Ahnung. Wir können ja mal klingeln."
Und was, wenn Katharina antwortet?"
Das wusste ich auch nicht, woher sollte ich das auch wissen,das würden wir herausfinden. Ich klingelte, nach ein paar Sekunden knackte dieGegensprechanlage, Ja?", sagte eine Stimme, Konrad schaute mich mitzusammengepressten Lippen an, die Stimme sagte Hallo?" und dann knackte eswieder.
Das war nicht Katharina", sagte ich.
Schwer zu sagen."
Das war nie und nimmer Katharina."
Konrad atmete laut durch die Nase. Ich ruf sie jetzt an",sagte er.
Selbstverständlich wohnten sie zusammen. Sie waren so gutwie verheiratet, sie wollten ihr Leben miteinander verbringen, alle irdischenGüter teilen, da gehörte eine Wohnung nun einmal mit dazu. Vielleicht solltenwir einfach noch einmal klingeln, uns vorstellen, die Lage erklären, Tobiasmacht einen Kaffee, und wenn Katharina nach Hause kommt, sitzen wir zu dritt amKüchentisch, mitten in einem angeregten Gespräch. Tobi", sagen Konrad und ichdann gerade, Tobi, da hast du den Nagel auf den Kopf getroffen", und dannsetzt sich Katharina dazu und aus dem Kaffee wird irgendwann Wein und dannsogar der Birnenschnaps, den Tobias Grossvater selbst in seinem Gartenhausbrennt, und dann fragt Tobias, ob wir nicht alle noch tanzen gehen sollen, undKatharina sagt, dass Tobias doch sonst nie tanzen gehen will, und dann gehenwir tanzen. Die Musik ist ganz und gar grauenhaft, Tobias schämt sich ein wenigund sagt, dass man eigentlich mittwochs hierher kommen müsste, ob wir dennMittwoch noch da seien. Leider nein, Tobi, sagen wir dann, aber sicherlich einandermal. Versprochen.
Aus dem Treppenhaus waren plötzlich Schritte zu hören. Weghier", sagte Konrad. Wir griffen unsere Koffer und rannten so schnell wirkonnten die Strasse hinunter. Nirgendwo gab es eine Einfahrt, keinen Laden, keinegeöffnete Tür, nichts bot uns Schutz, die nächste Querstrasse war zu weitentfernt, und so blieben wir nach ein paar Sekunden hinter einem kleinenMauervorsprung stehen und pressten uns an die Häuserwand.
Kannst du was sehen?", flüsterte ich.
Noch nichts", flüsterte Konrad zurück.
Vielleicht ist er auch nach rechts gegangen."
Scheisse."
Was ist?"
Katharina."
Was?"
Das ist Katharina, sie kommt direkt auf uns zu."
Wenn man jemanden nach langer Zeit wieder sieht, dannbereitet man sich sorgfältig darauf vor. Man überlegt, ob man sich lieber ineiner Wohnung oder auf neutralem Terrain treffen soll, man überlegt, was mananzieht, die Art der Begrüssung, die ersten Sätze, man überlegt auch, weneigentlich Schuld daran trifft, dass man sich so lange nicht gesehen hat, undob es für Entschuldigungen oder Vorwürfe schon zu spät ist. All dieseVorbereitungen sind unausweichlich, all diese Vorbereitungen sind auch wichtig,doch sie nutzen leider nichts, wenn man sich schwer atmend an eine Häuserwandpresst und diejenige, die man lange nicht gesehen hat, einen beim besten Willennicht an dieser Häuserwand erwartet, wenn es nur noch Sekunden gibt, in denenman sich entscheiden muss, ob es sich lohnt, auf ein Wunder zu hoffen.
Ich entschied mich dagegen, und sagte: Wir müssen unsküssen", und Konrad fragte: Wie bitte?", und dann schlang ich meinen linkenArm um Konrads Hals, meinen rechten um seine Hüfte, drehte seinen Oberkörperein wenig zur Seite und presste meinen Mund auf seinen. Konrad war anfangs vielzu überrascht, um irgendetwas zu tun, er wehrte sich weder, noch machte ersonst eine Bewegung, sein Körper war starr. Als Schritte zu hören waren,wisperte ich ihm zu, dass er jetzt aber schleunigst seine Hand an meine Wangelegen solle, sonst sei mein Gesicht zu erkennen, und Konrad gehorchte, grubseine andere Hand sogar noch in meinen Mantel und schmiegte den Kopf an meineSchulter. Wir waren fast gleich gross, keiner musste auf die Zehenspitzen.Unsere Münder lagen geschlossen aufeinander, wie in einem Schwarzweissfilm, dieSchritte wurden lauter, waren neben uns, ich achtete darauf, ob sie sichverlangsamten, das taten sie aber nur leicht, wenn überhaupt, entfernten sichdann, waren bald nicht mehr zu hören, und nach ein paar Sekunden trenntenKonrad und ich uns dann voneinander, ich schaute die Strasse hinauf, Katharinawar noch zu sehen, sie bog gerade um die Ecke, der wippende Gang, die Haare,wie gewohnt, in einem Pferdeschwanz, doch ob ich sie unter anderen Umständenerkannt hätte, bezweifelte ich.
Das war knapp", sagte ich.
Konrad starrte mich an.
Haben wir doch gut gemacht, oder?"
Konrad starrte immer noch.
Das war Katharina."
Ich weiss", sagte Konrad.
Und was nun?"
Können wir sie jetzt bitte anrufen?"
Ich schüttelte den Kopf. Konrad sah angestrengt aus. Mirist kalt", sagte er, und: Das führt doch zu nichts", und dann nahm er seinenRollkoffer, ging die Strasse hinunter, und ich lief hinter ihm her.
Wo willst du hin?"
Mich irgendwo reinsetzen. Mir ist kalt. Ich muss aufs Klo.Das ist doch alles albern."
Warte." Ich hieltihn von hinten an seinen Mantel fest. Er blieb stehen, drehte sich jedoch nichtum.
Lass uns hinterher. Du hast doch selbst gesagt, dass du siesehen möchtest."
Ich habe sie gerade schon gesehen."
Das zählt doch nicht. Komm, wir sind so dicht dran. -Bitte, das ist wichtig."
Dir vielleicht."
Dir auch."
Konrad sagte nichts, ich liess seinen Mantel los, drehte michum und ging langsam die Strasse wieder hinauf. Nach ein paar Sekunden hörte ichseinen Koffer hinter mir, ich verlangsamte meine Schritte, bis er zu miraufgeschlossen hatte.
Felix?"
Ja."
Küsse ich eigentlich gut?"
Wie ein junger Gott."
© DuMont Literatur und Kunst Verlag
- Autor: Tilman Rammstedt
- 2005, 2. Aufl., 237 Seiten, Masse: 14,8 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: DUMONT BUCHVERLAG
- ISBN-10: 3832179399
- ISBN-13: 9783832179397
- Erscheinungsdatum: 11.07.2005
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