Wenn das Schlachten vorbei ist
Roman
Zwei Fraktionen von Umweltschützern liefern sich einen erbitterten Kampf. Schauplatz sind die Channel Islands vor der Südküste von Kalifornien, wo die Umwelt vom Menschen empfindlich gestört wurde. Soll man das Gleichgewicht des Ökosystems mit viel...
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Produktinformationen zu „Wenn das Schlachten vorbei ist “
Klappentext zu „Wenn das Schlachten vorbei ist “
Zwei Fraktionen von Umweltschützern liefern sich einen erbitterten Kampf. Schauplatz sind die Channel Islands vor der Südküste von Kalifornien, wo die Umwelt vom Menschen empfindlich gestört wurde. Soll man das Gleichgewicht des Ökosystems mit viel Steuergeldern wiederherstellen - was zwangsläufig die Ausrottung mancher Tierarten bedeutet -, oder soll man um jeden Preis das Töten verhindern? T. C. Boyles furioser, apokalyptischer Roman handelt von der Ausbeutung der Natur durch den Menschen und den katastrophalen Folgen. Boyle hat eines seiner ältesten Themen weiterentwickelt, nie war er so bitter und böse, nie war es ihm so ernst.
Mit Lesebändchen
Lese-Probe zu „Wenn das Schlachten vorbei ist “
Wenn das Schlachten vorbei ist von T. C. BoyleDER SCHIFFBRUCH DER BEVERLY B.
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Da war sie nun, in der beengten Kombüse, wo man kaum stehen konnte, ohne sich den Kopf anzuschlagen, die rechte Hand rot und schmerzend, weil sie sich mit dem Kaffee verbrüht hatte, den sie pflichtbewusst - und törichterweise - hatte kochen wollen, damit sie alle etwas Warmes im Bauch hätten, tapfer, immer tapfer, und dabei war sie vor nicht mal einer halben Stunde kotzend in ihrer Koje aufgewacht. Sie trug einen zu großen Pullover mit Zopfmuster, den sie aus dem Schrank ihres Mannes gezogen hatte, weil es in der Kajüte so kalt war, und jede Faser davon schien auf ihrer Haut zu scheuern, als wäre sie im Schlaf wundgepeitscht worden. Sie hatte ihr Haar nicht gebürstet. Die Zähne ebenfalls nicht. Es fiel ihr schwer, das Gleichgewicht zu bewahren, und sie fragte sich, ob die See hier draußen immer so rauh war, traute sich aber nicht, Till oder Warren zu fragen. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie man ein Boot steuerte oder einen Sturm abwetterte oder auch nur eine Seekarte las, daran hatten die beiden sie ja bei jeder Gelegenheit erinnert, und Till hatte ihr gesagt, sie solle sich irgendwohin setzen und die Fahrt genießen. Ihr Platz war in der Küche. Oder vielmehr: in der Kombüse. Sie würde die Fische ausnehmen und braten, und wenn die Sonne herauskam - sofern sie herauskam -, würde sie ein Strandtuch auf dem Kajütendach ausbreiten, die Beine mit einer Mischung aus Babyöl und Jod einreiben, sich auf den Rücken legen, die Augen schließen und liegenbleiben, bis sie schön gleichmäßig gebräunt war.
Erst jetzt - das Boot bockte und rollte, und ihre Hand glühte vor Schmerz - merkte sie, dass ihre Füße nass waren, dass die Sokken an der Haut klebten und die neuen weißen Tennisschuhe sich zu einem feuchten Dunkelgrau verfärbt hatten. Und warum waren ihre Füße nass? Weil auf dem Kombüsenboden Wasser war. Nicht Kaffee - sie hatte ihn so gut es ging mit einem Putzlumpen aufgewischt -, sondern Wasser. Salzwasser. Eine Lache floss auf sie zu und schwappte wieder zurück, als das Boot in ein weiteres Wellental tauchte. Sie ließ sich schwer auf die Bank fallen, die sich ihr entgegenhob, und klammerte sich mit beiden Händen an den Tisch, so hilflos, als wäre sie in einem dieser Achterbahnwagen im Vergnügungspark festgeschnallt, die Till so liebte, während sie ihr bloß das Gefühl gaben, als hätte ihr Magen sich selbst verschluckt - wie diese Cartoonschlange, die ihren eigenen Schwanz auffraß.
Die Säume ihrer Bluejeans waren mit einemmal ganz nass, das Boot tauchte aus dem Tal empor, und wieder schoss das Wasser auf sie zu, mehr diesmal, ein Kälteschock bis zu den Knöcheln. Sie wollte rufen, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Das Wasser wich nach achtern zurück und kehrte dann wieder, tiefer und kälter. Tu was! rief sie sich zu. Steh auf. Beweg dich! Sie kämpfte gegen die Übelkeit an und hangelte sich mit beiden Händen am Tisch entlang, so dass sie zum drei Stufen höher gelegenen Deck hinaufsehen konnte, wo Till mit seinem stocksteifen versehrten Arm am Ruder saß, während Warren, sein Bruder Warren, der Exmarine, der rechthaberische Besserwisser, wild an ihm zerrte und das Steuer übernehmen wollte. Sie wollte die beiden warnen, wollte das Wasser in der Kombüse melden, damit sie etwas dagegen taten, damit sie machten, dass es wegging, damit sie irgendwas reparierten, so dass alles wieder in Ordnung war, aber Warren schrie, die Adern an seinem Hals standen hervor, und die Gischt, die hinter dem Heck aufstob, sah aus wie der peitschende Schweif eines Unterwasserkometen. »Verdammt, du Arschloch! Nicht quer zu den Wellen!« Das Boot schlingerte seitwärts und erbebte. »Willst du das verdammte Scheißding versenken?«
Ja. Das war die Geschichte. So war es gewesen. Und so oft sie auch ihre Version dessen erzählte, was ihrer Großmutter im kalten, wütenden, aufgewühlten Wasser des Santa-Barbara-Kanals widerfahren war, vor so langer Zeit, dass sie die Augen halb schließen musste, um ein Bild davon zu bekommen - ein schärferes, klareres Bild als ihre Mutter, die ebensowenig dabeigewesen war wie sie selbst, jedenfalls nicht bewusst -, senkte Alma ihre Stimme zu einem Flüstern, wenn sie zur Pointe, zum überraschenden, krönenden Schluss kam: »Als das Boot sank, war Nana im zweiten Monat schwanger.«
Sie versäumte es nie, innezuhalten und aufzusehen, ob sie die Geschichte nun am Esstisch ihrer College-Wohngemeinschaft einer Mitbewohnerin erzählte oder einem Wildfremden im Flugzeug. »Im zweiten Monat schwanger. Und sie wusste es nicht mal.« Dann hielt sie abermals bedeutungsvoll inne. Ihre eigene Mutter wäre ungeboren gestorben, wäre irgendwo angespült worden, Futter für die Krabben, und sie selbst würde nicht existieren, würde nicht hier sitzen können, das Haar noch nass von der Dusche oder zu einem Pferdeschwanz gebunden und durch das Loch an der Rückseite der Baseballmütze gesteckt, sie würde nicht alle Nuancen und existentiellen Implikationen aus dieser Geschichte, der Geschichte der Welt vor ihrer Geburt, herauskitzeln können, wenn ihre Großmutter, an die sie sich nur als hinfällige und gebrechliche Frau erinnerte, in Körper, Geist und Seele nicht so zäh gewesen wäre.
Und natürlich empfand sie auch die Kälte, die darin lag, sah das Würfeln des Schicksals, das die Unglücklichen und Untüchtigen ausmerzte, während die anderen sich vermehrten. Wenn tausend Generationen derselben Familie Schiffbruch erlitten, würden ihre Nachkommen dann irgendwann Schwimmhäute und Kiemen entwickeln, oder würden sie lernen, an Land zu bleiben und der Versuchung der Inseln, die am glitzernden Horizont zu schweben schienen, zu widerstehen? Sie lebte, war im Schnittpunkt der Schöpfung wie alles andere, das in dem Augenblick, da sie die Geschichte erzählte, den Funken des Lebens enthielt, und eines Tages würde sie ebenfalls Kinder haben, der Summe des Lebens etwas hinzufügen, die DNA voranbringen. Der Vater ihrer Mutter war tot. Sein Bruder ebenfalls. Und auch die Mutter ihrer Mutter hätte sterben sollen. Nur: Sie war nicht gestorben.
Es war im März des Jahres 1946. Almas Großvater Tilden Matthew Boyd war seit sechs Monaten aus dem Krieg im Pazifik zurück, von wo er einen verkrüppelten rechten Arm mitgebracht hatte: kein Fleisch oberhalb des Ellbogens, nur eine einzige lange Narbe, die sich wie ein verbranntes Omelette um den Knochen schmiegte. Ihre Großmutter, jung und optimistisch und mit Haar, so dunkel und voll wie ihr eigenes, zerschlug eine Flasche am Bug der Beverly B., während Till, der durch ein Wunder, konkreter und greifbarer als alle Kathedralen der Welt, aus dem Rachen des Krieges zu ihr zurückgekehrt war, am Ruder saß und Möwen über ihnen kreisten und Wolken von Nordwesten herbeizogen und die Sonne über das Wasser jagten. Beverly war glücklich, weil Till glücklich war, und sie aßen die Sandwiches und tranken den billigen Sekt aus Pappbechern in der Kajüte, denn der Wind war steif und die Wellen schaumgekrönt und winterlich. Auch Warren war an jenem ersten Tag, am Tag des Stapellaufs, dabeigewesen, ein wandelndes Diktiergerät, hatte unerbetene Ratschläge, abgedroschene Klischees und ausführliche Kritik von sich gegeben. Aber er trank den Sekt und kam an zwei Wochenenden hintereinander, um Till mit dem Motor zu helfen und die Teakschränke und Schlingerleisten zu montieren, die Till in der Garage ihres gemieteten Hauses gebaut hatte, eines Hauses, das einen Anstrich, Moskitogitter und Dachrinnen gebraucht hätte, damit der Winter regen sich nicht mehr einfach vom Dach ergoss und jeden durchnässte, der, den Schlüssel in der Hand und zwei große Einkaufstüten in den schmerzenden Armen, vor der Haustür stand. Aber Till hatte keine Lust, das Haus zu reparieren - es gehörte ja nicht ihnen. Die Beverly B. dagegen schon.
Sie war ein schlankes, achteinhalb Meter langes Kajütboot mit Holzrumpf, solide gebaut, mit Teakholzverzierungen und Schotten mit Knebelverschluss, eine echte Schönheit, aber sie hatte während des Krieges, aus dem ihr Besitzer, ein Marinesoldat, nicht zurückgekehrt war, vernachlässigt auf dem Trockenen gelegen. Till entdeckte das Boot am hinteren Ende der Werft, halb von Unkraut überwuchert, machte die still trauernden Eltern des Marinesoldaten ausfindig - ihr Junge war in einem Ölteppich verbrannt, nachdem ein Kamikazepilot während der Schlacht im Golf von Leyte die St. Lo gerammt hatte - und saß, den Hut auf ein Knie gelegt, in ihrem Wohnzimmer, während sie Fotos und Orden betrachteten, die letzten Erinnerungen an ihren toten Sohn. Volle zwei Stunden saß er da, trank lauwarmen Beuteltee, auf dessen Oberfläche sich ein Stück bittere Zitrone langsam um sich selbst drehte, und als er schließlich das Boot erwähnte, starrten sie ihn an, als wäre er gerade aus den Seiten des Familienalbums gekrochen, um in dem abgedunkelten und kaum erleuchteten Wohnzimmer, in dem sie seit undenklichen Zeiten wie Geister lebten, auf den Samtpolstern des Sofas aus Ahornholz Platz zu nehmen. Die Mutter - sie musste in den Fünfzigern sein, stämmig, aber mit den zarten Handgelenken und Knöcheln eines jungen Mädchens und einem von Kummer und Empörung gleichermaßen gezeichneten Gesicht - warf den Kopf in den Nacken und schrie geradezu: »Das alte Ding?« Dann sah sie zu ihrem Mann und senkte die Stimme. »Das wird Roger jetzt auch nicht mehr brauchen, oder?«
Im Verlauf des Herbstes und Winters widmete Till sich der Aufgabe, das Boot wieder flottzumachen. Er sah sich in der Werft und beim Schiffsausrüster um und schraubte an dem Motor herum, bis er so ölverschmiert war, dass Beverly jedem, der es hören wollte, erzählte, er sehe die meiste Zeit aus, als wollte er als Neger in einer dieser Minstrelshows auftreten. Das fand sie witzig: Till als Neger. Und sie erzählte Mrs. Viola im Lebensmittelladen davon und Warren und seiner Freundin Sandra mit dem Mund wie ein Reißverschluss und dem Pullover, der so eng war, dass man die Nähte, Träger und Körbchen ihres BHs deutlich sehen konnte. Gewissenhaft, das war Till. Gewissenhaft, genau und unfehlbar. Er sprach nie darüber, aber er hatte seinem Land den rechten Arm geopfert und war entschlossen, den linken für sich selbst zu behalten. Und für sie. Vor allem für sie.
Er musste lernen, mit dem linken Arm die Arbeit des rechten zu tun. Er stempelte die Fahrscheine auf der Linie zum Santa Monica Boulevard, unter den ungeduldigen Blicken der Passagiere, die sich mit einer Art mürrischer Anerkennung mühten, höflich zu sein. Die tote Hand hielt den Fahrschein, und die neuerdings dominante stempelte ihn ab, und er lernte, seinen Gehaltsscheck mit dieser Hand einmal zu falten und ihr zu überreichen, als wäre er ein Fahrschein, eine Eintrittskarte für ein Fest, zu dem sie, nur sie allein eingeladen war. Spät am Abend, nach dem Essen und dem Radio, ließ er die Linke über ihren nackten Körper gleiten, als wäre sie seit langem darin geübt, und das war in Ordnung, und besser würde es nicht werden, denn er war jetzt Linkshänder und würde es bis zu seinem Tod bleiben. Und als sie die Beverly B. zu Wasser gelassen hatten, war er mit dem Boot so sanft und rücksichtsvoll wie mit ihr im Ehebett, und der rechte Arm schwang steif herum, wenn er mit dem linken am Steuer drehte. Die ersten paar Male entfernte er sich nicht außer Sichtweite des Hafens. Till sagte, er wolle ein Gefühl für das Boot bekommen, es zureiten und hören, was der Chrysler-Doppelmotor zu sagen hatte, wenn er den Gashebel ganz nach vorn schob und zusah, wie die Nadel des Drehzahlmessers auf 2800 UpM kletterte.
Und dann kam jener Freitagnachmittag Ende März, als sie und Till und Warren aus dem Hafen fuhren und Kurs auf die nächstgelegenen der nördlichen Santa-Barbara-Inseln nahmen, auf Anacapa und Santa Cruz, die große Insel jenseits davon, denn dort waren die Fische: jede Menge Lingcod, so lang wie ein Arm, die Abalone konnte man einfach von den Felsen pflücken, und es gab viel mehr davon als Felsen, und die Hummer waren so entgegenkommend, dass sie an der Ankerkette emporkrabbelten und sich in den Kochtopf stürzten. Ein Kollege hatte Till davon erzählt. Nach Catalina konnte jeder fahren - verdammt, es fuhr ja auch jeder dorthin, Tagesausflügler und Wochenendkapitäne und der ganze Rest -, aber wenn man unberührte, freie Natur wollte, musste man von Oxnard oder Santa Barbara zu den nördlicher gelegenen Inseln fahren. Sie hatten die beiden größten Kühlboxen mitgenommen, die sie bei Sears & Roebuck hatte finden können, beide gut gefüllt mit schlanken dunklen Bierflaschen, die, wie Warren ihr versicherte, verschwunden sein würden, wenn sie auf dem Heimweg all die Fischfilets und gekochten Hummer für ein schönes langes Schläfchen zwischen all das Eis betten würde.
»Wir werden genug Fische für eine ganze Woche haben, mindestens für eine Woche«, sagte Till immer wieder. »Und wenn wir sie aufgegessen haben, fahren wir einfach wieder raus und holen uns neue.« Er sah sie an. Er stand am Ruder, das Wetter war schön, vor ihnen lag der irisierende Schimmer des Nachmittagsdunstes über dem Wasser, und hinter ihnen blieb der Hafen zurück. Das Bier in seiner Hand schien ihn kaum zu behindern, und er saß da wie ein Kapitän aus einer Geschichte von Jack London. »Und das«, sagte er, weil er wusste, welche Bedenken sie gehabt hatte, Geld in das Boot zu stecken, »wird unsere Lebensmittelausgaben um die Hälfte senken, mindestens.«
Sie hatte zu Hause Sandwiches gemacht - Leberwurst auf Weißbrot mit viel Senf und Mayonnaise, Schinken auf Roggenbrot und Thunfischsalat -, und als sie sich in die Kajüte setzten und sie mit großen hungrigen Bissen aßen und sich die Kehle mit Bier befeuchteten, so kalt, dass es runterging wie Quellwasser, da war es, als hätten sie die Welt hinter sich gelassen. Nach dem Essen saß sie lange auf dem Achterdeck. Die Luft war frisch und rein, und es war ganz still, bis auf das stete Brummen des Motors, das wie das beständige Arbeiten eines zuverlässigen Herzens klang, des Herzens im Bauch der Beverly B., beruhigend und unermüdlich. Sie sah Delphine, ganze Schwärme, die silbern und hellrosarot durchs Wasser glitten und am Rumpf entlangstrichen, um das elektrische Summen zu spüren. Sie schienen ihr zuzugrinsen, sie willkommen zu heißen, und fühlten sich in ihrem Element so wohl wie sie in dem ihren. Wie war das noch mal - hatte sie es in der Zeitung gelesen oder in Reader's Digest? Ein Junge war auf seinem Surfboard von einer Strömung aufs Meer hinausgetrieben worden, und dann waren Haie gekommen, aber kurz darauf waren diese grinsenden Delphine aufgetaucht und hatten die Haie vertrieben, denn Delphine waren Säugetiere, Warmblüter im kalten Meer, und sie hassten die Haie, in denen sie kalte Todesboten sahen. Hatten sie das Surfboard des Jungen aus der Strömung und zur Küste geschoben und ihn wie Schutzengel begleitet? Vielleicht. Vielleicht hatten sie das getan.
Die untergehende Sonne versank im Dunst vor ihnen, im Westen - »Im Westen will sie schlafen gehn«, holperte ihr der Kinderreim durch den Kopf. Sie legte die Füße auf die gefirnisste Reling und musterte ihre Zehen. Der Nagellack war abgeblättert, und sie nahm sich vor, neuen aufzutragen, wenn sich die Gelegenheit ergab, morgen früh vielleicht, wenn die Jungs angelten und sie in der Sonne liegen konnte und sich über nichts Gedanken machen musste. Der Motor summte. Dunkel geflügelte Vögel flogen vom Wasser auf, stürzten sich, wie an Gummibändern befestigt, wieder hinab und machten dabei nicht das leiseste Geräusch. Der Wind spielte mit ihrem Haar, sie zündete sich eine Zigarette an und sah durch die frisch geputzten Fenster zu ihrem Mann, der mit leichter Hand das Steuer hielt, während sein Bruder auf der gepolsterten Bank neben ihm saß und redete, immerfort redete, allerdings für sie eher pantomimisch, denn die Tür war geschlossen, und sie verstand kein Wort.
Sie rauchte die Zigarette zu Ende und schnippte die funken-sprühende Kippe in den Wind. Es wurde kühl, der Himmel verdunkelte sich und schloss sich über ihnen, als würde einem riesigen Topf ein Deckel aufgelegt. Noch eine Minute, und dann würde sie hineingehen und ihnen zuhören bei ihren Männergesprächen über Gott und die Welt, über die Fische im Meer, über die Vergaser und Spulen und Drehbänke und Lacke und Werkzeuge und Bürsten und Messfühler, die sie zu Männern machten, und sie würde zur Feier des Tages noch eine Flasche Bier trinken, auch wenn sie, ebenfalls zur Feier des Tages, bereits drei getrunken hatte - oder waren es vier gewesen? Genau in dem Augenblick, als sie aufstehen wollte, brach das Meer plötzlich auf wie ein speiender Mund und spuckte ihr etwas entgegen, ein dunkles Geschoss, das auf ihr Gesicht zielte. Sie riss den Kopf zur Seite, und es prallte mit einem vernehmlichen Klatschen an das Fenster der Kajütentür. Beide Männer fuhren herum.
Sie stieß einen Schrei aus. Sie konnte nicht anders. Das Ding lebte, es flutschte vor ihren Füßen herum wie eine Art Fledermaus aus dem Meer, so lang wie ihr Unterarm, und jetzt bebte es und schnellte hoch wie ein Schachtelteufel, fiel wieder zurück und kroch auf Flügeln und Schwanz über das Deck. Flügel? Aber es war doch ... es war doch ein Fisch, oder nicht? Doch jetzt war Till da, gefolgt von Warren, und sein Gesicht fand den Mittelweg zwischen Besorgnis und Belustigung. Er trat und stampfte, und dann beugte er sich hinunter, hob das nass glänzende lange Ding auf und hielt es mit seiner gesunden Hand hoch, als wäre es eine Opfergabe. »Herrgott, Bev, hast du mich erschreckt! Du hast so geschrien, dass ich dachte, du wärst über Bord gegangen.«
Warren lachte, und seine Augen funkelten. Das Boot hörte auf zu schaukeln. »Darauf müssen wir anstoßen«, rief er und hob die Bierflasche, die sein ständiger Begleiter war. »Bev hat den ersten Fisch gefangen!«
Sie hatte ihre Angst überwunden. Oder nein, es war keine Angst - sie war keine von diesen hilflosen, ständig heulenden Frauen, die man in Filmen sah. Sie war nur erschrocken, das war alles. Und wer wäre nicht erschrocken angesichts dieses Dings, dessen Rücken bläulichschwarz war und dessen Bauch glänzte wie ein Haufen Silbermünzen und das ohne Vorwarnung wie ein Torpedo auf sie zugeschossen war? »Du lieber Himmel«, sagte sie, »was ist das?«
Till hielt es ihr hin, und sie lächelte jetzt, ja sie lachte beinahe, lachte mit den anderen, doch zugleich wich sie zurück an die Reling, während der Himmel immer dunkler wurde und das Kielwasser schäumte. »Hast du noch nie einen fliegenden Fisch gesehen?« fragte Till. Er schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Was glaubst du, wo du bist, Frau?« sagte er und gab ihr einen Rippenstoß. »Du bist hier nicht in der Küche oder im warmen, gemütlichen Wohnzimmer. Du bist in der freien Natur.«
»Darauf trinken wir!« rief Warren. »Auf Bev, die beste Anglerin von allen!« Und er wollte gerade die Flasche zum Mund heben, als sie die Hand auf seinen Arm legte. Ihr Haar flatterte im Wind. »Wenn das so ist«, sagte sie, »wirst du mir wohl noch ein Bier holen müssen.«
...
Übersetzung: Dirk van Gunsteren
© Carl Hanser Verlag, München
Da war sie nun, in der beengten Kombüse, wo man kaum stehen konnte, ohne sich den Kopf anzuschlagen, die rechte Hand rot und schmerzend, weil sie sich mit dem Kaffee verbrüht hatte, den sie pflichtbewusst - und törichterweise - hatte kochen wollen, damit sie alle etwas Warmes im Bauch hätten, tapfer, immer tapfer, und dabei war sie vor nicht mal einer halben Stunde kotzend in ihrer Koje aufgewacht. Sie trug einen zu großen Pullover mit Zopfmuster, den sie aus dem Schrank ihres Mannes gezogen hatte, weil es in der Kajüte so kalt war, und jede Faser davon schien auf ihrer Haut zu scheuern, als wäre sie im Schlaf wundgepeitscht worden. Sie hatte ihr Haar nicht gebürstet. Die Zähne ebenfalls nicht. Es fiel ihr schwer, das Gleichgewicht zu bewahren, und sie fragte sich, ob die See hier draußen immer so rauh war, traute sich aber nicht, Till oder Warren zu fragen. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie man ein Boot steuerte oder einen Sturm abwetterte oder auch nur eine Seekarte las, daran hatten die beiden sie ja bei jeder Gelegenheit erinnert, und Till hatte ihr gesagt, sie solle sich irgendwohin setzen und die Fahrt genießen. Ihr Platz war in der Küche. Oder vielmehr: in der Kombüse. Sie würde die Fische ausnehmen und braten, und wenn die Sonne herauskam - sofern sie herauskam -, würde sie ein Strandtuch auf dem Kajütendach ausbreiten, die Beine mit einer Mischung aus Babyöl und Jod einreiben, sich auf den Rücken legen, die Augen schließen und liegenbleiben, bis sie schön gleichmäßig gebräunt war.
Erst jetzt - das Boot bockte und rollte, und ihre Hand glühte vor Schmerz - merkte sie, dass ihre Füße nass waren, dass die Sokken an der Haut klebten und die neuen weißen Tennisschuhe sich zu einem feuchten Dunkelgrau verfärbt hatten. Und warum waren ihre Füße nass? Weil auf dem Kombüsenboden Wasser war. Nicht Kaffee - sie hatte ihn so gut es ging mit einem Putzlumpen aufgewischt -, sondern Wasser. Salzwasser. Eine Lache floss auf sie zu und schwappte wieder zurück, als das Boot in ein weiteres Wellental tauchte. Sie ließ sich schwer auf die Bank fallen, die sich ihr entgegenhob, und klammerte sich mit beiden Händen an den Tisch, so hilflos, als wäre sie in einem dieser Achterbahnwagen im Vergnügungspark festgeschnallt, die Till so liebte, während sie ihr bloß das Gefühl gaben, als hätte ihr Magen sich selbst verschluckt - wie diese Cartoonschlange, die ihren eigenen Schwanz auffraß.
Die Säume ihrer Bluejeans waren mit einemmal ganz nass, das Boot tauchte aus dem Tal empor, und wieder schoss das Wasser auf sie zu, mehr diesmal, ein Kälteschock bis zu den Knöcheln. Sie wollte rufen, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Das Wasser wich nach achtern zurück und kehrte dann wieder, tiefer und kälter. Tu was! rief sie sich zu. Steh auf. Beweg dich! Sie kämpfte gegen die Übelkeit an und hangelte sich mit beiden Händen am Tisch entlang, so dass sie zum drei Stufen höher gelegenen Deck hinaufsehen konnte, wo Till mit seinem stocksteifen versehrten Arm am Ruder saß, während Warren, sein Bruder Warren, der Exmarine, der rechthaberische Besserwisser, wild an ihm zerrte und das Steuer übernehmen wollte. Sie wollte die beiden warnen, wollte das Wasser in der Kombüse melden, damit sie etwas dagegen taten, damit sie machten, dass es wegging, damit sie irgendwas reparierten, so dass alles wieder in Ordnung war, aber Warren schrie, die Adern an seinem Hals standen hervor, und die Gischt, die hinter dem Heck aufstob, sah aus wie der peitschende Schweif eines Unterwasserkometen. »Verdammt, du Arschloch! Nicht quer zu den Wellen!« Das Boot schlingerte seitwärts und erbebte. »Willst du das verdammte Scheißding versenken?«
Ja. Das war die Geschichte. So war es gewesen. Und so oft sie auch ihre Version dessen erzählte, was ihrer Großmutter im kalten, wütenden, aufgewühlten Wasser des Santa-Barbara-Kanals widerfahren war, vor so langer Zeit, dass sie die Augen halb schließen musste, um ein Bild davon zu bekommen - ein schärferes, klareres Bild als ihre Mutter, die ebensowenig dabeigewesen war wie sie selbst, jedenfalls nicht bewusst -, senkte Alma ihre Stimme zu einem Flüstern, wenn sie zur Pointe, zum überraschenden, krönenden Schluss kam: »Als das Boot sank, war Nana im zweiten Monat schwanger.«
Sie versäumte es nie, innezuhalten und aufzusehen, ob sie die Geschichte nun am Esstisch ihrer College-Wohngemeinschaft einer Mitbewohnerin erzählte oder einem Wildfremden im Flugzeug. »Im zweiten Monat schwanger. Und sie wusste es nicht mal.« Dann hielt sie abermals bedeutungsvoll inne. Ihre eigene Mutter wäre ungeboren gestorben, wäre irgendwo angespült worden, Futter für die Krabben, und sie selbst würde nicht existieren, würde nicht hier sitzen können, das Haar noch nass von der Dusche oder zu einem Pferdeschwanz gebunden und durch das Loch an der Rückseite der Baseballmütze gesteckt, sie würde nicht alle Nuancen und existentiellen Implikationen aus dieser Geschichte, der Geschichte der Welt vor ihrer Geburt, herauskitzeln können, wenn ihre Großmutter, an die sie sich nur als hinfällige und gebrechliche Frau erinnerte, in Körper, Geist und Seele nicht so zäh gewesen wäre.
Und natürlich empfand sie auch die Kälte, die darin lag, sah das Würfeln des Schicksals, das die Unglücklichen und Untüchtigen ausmerzte, während die anderen sich vermehrten. Wenn tausend Generationen derselben Familie Schiffbruch erlitten, würden ihre Nachkommen dann irgendwann Schwimmhäute und Kiemen entwickeln, oder würden sie lernen, an Land zu bleiben und der Versuchung der Inseln, die am glitzernden Horizont zu schweben schienen, zu widerstehen? Sie lebte, war im Schnittpunkt der Schöpfung wie alles andere, das in dem Augenblick, da sie die Geschichte erzählte, den Funken des Lebens enthielt, und eines Tages würde sie ebenfalls Kinder haben, der Summe des Lebens etwas hinzufügen, die DNA voranbringen. Der Vater ihrer Mutter war tot. Sein Bruder ebenfalls. Und auch die Mutter ihrer Mutter hätte sterben sollen. Nur: Sie war nicht gestorben.
Es war im März des Jahres 1946. Almas Großvater Tilden Matthew Boyd war seit sechs Monaten aus dem Krieg im Pazifik zurück, von wo er einen verkrüppelten rechten Arm mitgebracht hatte: kein Fleisch oberhalb des Ellbogens, nur eine einzige lange Narbe, die sich wie ein verbranntes Omelette um den Knochen schmiegte. Ihre Großmutter, jung und optimistisch und mit Haar, so dunkel und voll wie ihr eigenes, zerschlug eine Flasche am Bug der Beverly B., während Till, der durch ein Wunder, konkreter und greifbarer als alle Kathedralen der Welt, aus dem Rachen des Krieges zu ihr zurückgekehrt war, am Ruder saß und Möwen über ihnen kreisten und Wolken von Nordwesten herbeizogen und die Sonne über das Wasser jagten. Beverly war glücklich, weil Till glücklich war, und sie aßen die Sandwiches und tranken den billigen Sekt aus Pappbechern in der Kajüte, denn der Wind war steif und die Wellen schaumgekrönt und winterlich. Auch Warren war an jenem ersten Tag, am Tag des Stapellaufs, dabeigewesen, ein wandelndes Diktiergerät, hatte unerbetene Ratschläge, abgedroschene Klischees und ausführliche Kritik von sich gegeben. Aber er trank den Sekt und kam an zwei Wochenenden hintereinander, um Till mit dem Motor zu helfen und die Teakschränke und Schlingerleisten zu montieren, die Till in der Garage ihres gemieteten Hauses gebaut hatte, eines Hauses, das einen Anstrich, Moskitogitter und Dachrinnen gebraucht hätte, damit der Winter regen sich nicht mehr einfach vom Dach ergoss und jeden durchnässte, der, den Schlüssel in der Hand und zwei große Einkaufstüten in den schmerzenden Armen, vor der Haustür stand. Aber Till hatte keine Lust, das Haus zu reparieren - es gehörte ja nicht ihnen. Die Beverly B. dagegen schon.
Sie war ein schlankes, achteinhalb Meter langes Kajütboot mit Holzrumpf, solide gebaut, mit Teakholzverzierungen und Schotten mit Knebelverschluss, eine echte Schönheit, aber sie hatte während des Krieges, aus dem ihr Besitzer, ein Marinesoldat, nicht zurückgekehrt war, vernachlässigt auf dem Trockenen gelegen. Till entdeckte das Boot am hinteren Ende der Werft, halb von Unkraut überwuchert, machte die still trauernden Eltern des Marinesoldaten ausfindig - ihr Junge war in einem Ölteppich verbrannt, nachdem ein Kamikazepilot während der Schlacht im Golf von Leyte die St. Lo gerammt hatte - und saß, den Hut auf ein Knie gelegt, in ihrem Wohnzimmer, während sie Fotos und Orden betrachteten, die letzten Erinnerungen an ihren toten Sohn. Volle zwei Stunden saß er da, trank lauwarmen Beuteltee, auf dessen Oberfläche sich ein Stück bittere Zitrone langsam um sich selbst drehte, und als er schließlich das Boot erwähnte, starrten sie ihn an, als wäre er gerade aus den Seiten des Familienalbums gekrochen, um in dem abgedunkelten und kaum erleuchteten Wohnzimmer, in dem sie seit undenklichen Zeiten wie Geister lebten, auf den Samtpolstern des Sofas aus Ahornholz Platz zu nehmen. Die Mutter - sie musste in den Fünfzigern sein, stämmig, aber mit den zarten Handgelenken und Knöcheln eines jungen Mädchens und einem von Kummer und Empörung gleichermaßen gezeichneten Gesicht - warf den Kopf in den Nacken und schrie geradezu: »Das alte Ding?« Dann sah sie zu ihrem Mann und senkte die Stimme. »Das wird Roger jetzt auch nicht mehr brauchen, oder?«
Im Verlauf des Herbstes und Winters widmete Till sich der Aufgabe, das Boot wieder flottzumachen. Er sah sich in der Werft und beim Schiffsausrüster um und schraubte an dem Motor herum, bis er so ölverschmiert war, dass Beverly jedem, der es hören wollte, erzählte, er sehe die meiste Zeit aus, als wollte er als Neger in einer dieser Minstrelshows auftreten. Das fand sie witzig: Till als Neger. Und sie erzählte Mrs. Viola im Lebensmittelladen davon und Warren und seiner Freundin Sandra mit dem Mund wie ein Reißverschluss und dem Pullover, der so eng war, dass man die Nähte, Träger und Körbchen ihres BHs deutlich sehen konnte. Gewissenhaft, das war Till. Gewissenhaft, genau und unfehlbar. Er sprach nie darüber, aber er hatte seinem Land den rechten Arm geopfert und war entschlossen, den linken für sich selbst zu behalten. Und für sie. Vor allem für sie.
Er musste lernen, mit dem linken Arm die Arbeit des rechten zu tun. Er stempelte die Fahrscheine auf der Linie zum Santa Monica Boulevard, unter den ungeduldigen Blicken der Passagiere, die sich mit einer Art mürrischer Anerkennung mühten, höflich zu sein. Die tote Hand hielt den Fahrschein, und die neuerdings dominante stempelte ihn ab, und er lernte, seinen Gehaltsscheck mit dieser Hand einmal zu falten und ihr zu überreichen, als wäre er ein Fahrschein, eine Eintrittskarte für ein Fest, zu dem sie, nur sie allein eingeladen war. Spät am Abend, nach dem Essen und dem Radio, ließ er die Linke über ihren nackten Körper gleiten, als wäre sie seit langem darin geübt, und das war in Ordnung, und besser würde es nicht werden, denn er war jetzt Linkshänder und würde es bis zu seinem Tod bleiben. Und als sie die Beverly B. zu Wasser gelassen hatten, war er mit dem Boot so sanft und rücksichtsvoll wie mit ihr im Ehebett, und der rechte Arm schwang steif herum, wenn er mit dem linken am Steuer drehte. Die ersten paar Male entfernte er sich nicht außer Sichtweite des Hafens. Till sagte, er wolle ein Gefühl für das Boot bekommen, es zureiten und hören, was der Chrysler-Doppelmotor zu sagen hatte, wenn er den Gashebel ganz nach vorn schob und zusah, wie die Nadel des Drehzahlmessers auf 2800 UpM kletterte.
Und dann kam jener Freitagnachmittag Ende März, als sie und Till und Warren aus dem Hafen fuhren und Kurs auf die nächstgelegenen der nördlichen Santa-Barbara-Inseln nahmen, auf Anacapa und Santa Cruz, die große Insel jenseits davon, denn dort waren die Fische: jede Menge Lingcod, so lang wie ein Arm, die Abalone konnte man einfach von den Felsen pflücken, und es gab viel mehr davon als Felsen, und die Hummer waren so entgegenkommend, dass sie an der Ankerkette emporkrabbelten und sich in den Kochtopf stürzten. Ein Kollege hatte Till davon erzählt. Nach Catalina konnte jeder fahren - verdammt, es fuhr ja auch jeder dorthin, Tagesausflügler und Wochenendkapitäne und der ganze Rest -, aber wenn man unberührte, freie Natur wollte, musste man von Oxnard oder Santa Barbara zu den nördlicher gelegenen Inseln fahren. Sie hatten die beiden größten Kühlboxen mitgenommen, die sie bei Sears & Roebuck hatte finden können, beide gut gefüllt mit schlanken dunklen Bierflaschen, die, wie Warren ihr versicherte, verschwunden sein würden, wenn sie auf dem Heimweg all die Fischfilets und gekochten Hummer für ein schönes langes Schläfchen zwischen all das Eis betten würde.
»Wir werden genug Fische für eine ganze Woche haben, mindestens für eine Woche«, sagte Till immer wieder. »Und wenn wir sie aufgegessen haben, fahren wir einfach wieder raus und holen uns neue.« Er sah sie an. Er stand am Ruder, das Wetter war schön, vor ihnen lag der irisierende Schimmer des Nachmittagsdunstes über dem Wasser, und hinter ihnen blieb der Hafen zurück. Das Bier in seiner Hand schien ihn kaum zu behindern, und er saß da wie ein Kapitän aus einer Geschichte von Jack London. »Und das«, sagte er, weil er wusste, welche Bedenken sie gehabt hatte, Geld in das Boot zu stecken, »wird unsere Lebensmittelausgaben um die Hälfte senken, mindestens.«
Sie hatte zu Hause Sandwiches gemacht - Leberwurst auf Weißbrot mit viel Senf und Mayonnaise, Schinken auf Roggenbrot und Thunfischsalat -, und als sie sich in die Kajüte setzten und sie mit großen hungrigen Bissen aßen und sich die Kehle mit Bier befeuchteten, so kalt, dass es runterging wie Quellwasser, da war es, als hätten sie die Welt hinter sich gelassen. Nach dem Essen saß sie lange auf dem Achterdeck. Die Luft war frisch und rein, und es war ganz still, bis auf das stete Brummen des Motors, das wie das beständige Arbeiten eines zuverlässigen Herzens klang, des Herzens im Bauch der Beverly B., beruhigend und unermüdlich. Sie sah Delphine, ganze Schwärme, die silbern und hellrosarot durchs Wasser glitten und am Rumpf entlangstrichen, um das elektrische Summen zu spüren. Sie schienen ihr zuzugrinsen, sie willkommen zu heißen, und fühlten sich in ihrem Element so wohl wie sie in dem ihren. Wie war das noch mal - hatte sie es in der Zeitung gelesen oder in Reader's Digest? Ein Junge war auf seinem Surfboard von einer Strömung aufs Meer hinausgetrieben worden, und dann waren Haie gekommen, aber kurz darauf waren diese grinsenden Delphine aufgetaucht und hatten die Haie vertrieben, denn Delphine waren Säugetiere, Warmblüter im kalten Meer, und sie hassten die Haie, in denen sie kalte Todesboten sahen. Hatten sie das Surfboard des Jungen aus der Strömung und zur Küste geschoben und ihn wie Schutzengel begleitet? Vielleicht. Vielleicht hatten sie das getan.
Die untergehende Sonne versank im Dunst vor ihnen, im Westen - »Im Westen will sie schlafen gehn«, holperte ihr der Kinderreim durch den Kopf. Sie legte die Füße auf die gefirnisste Reling und musterte ihre Zehen. Der Nagellack war abgeblättert, und sie nahm sich vor, neuen aufzutragen, wenn sich die Gelegenheit ergab, morgen früh vielleicht, wenn die Jungs angelten und sie in der Sonne liegen konnte und sich über nichts Gedanken machen musste. Der Motor summte. Dunkel geflügelte Vögel flogen vom Wasser auf, stürzten sich, wie an Gummibändern befestigt, wieder hinab und machten dabei nicht das leiseste Geräusch. Der Wind spielte mit ihrem Haar, sie zündete sich eine Zigarette an und sah durch die frisch geputzten Fenster zu ihrem Mann, der mit leichter Hand das Steuer hielt, während sein Bruder auf der gepolsterten Bank neben ihm saß und redete, immerfort redete, allerdings für sie eher pantomimisch, denn die Tür war geschlossen, und sie verstand kein Wort.
Sie rauchte die Zigarette zu Ende und schnippte die funken-sprühende Kippe in den Wind. Es wurde kühl, der Himmel verdunkelte sich und schloss sich über ihnen, als würde einem riesigen Topf ein Deckel aufgelegt. Noch eine Minute, und dann würde sie hineingehen und ihnen zuhören bei ihren Männergesprächen über Gott und die Welt, über die Fische im Meer, über die Vergaser und Spulen und Drehbänke und Lacke und Werkzeuge und Bürsten und Messfühler, die sie zu Männern machten, und sie würde zur Feier des Tages noch eine Flasche Bier trinken, auch wenn sie, ebenfalls zur Feier des Tages, bereits drei getrunken hatte - oder waren es vier gewesen? Genau in dem Augenblick, als sie aufstehen wollte, brach das Meer plötzlich auf wie ein speiender Mund und spuckte ihr etwas entgegen, ein dunkles Geschoss, das auf ihr Gesicht zielte. Sie riss den Kopf zur Seite, und es prallte mit einem vernehmlichen Klatschen an das Fenster der Kajütentür. Beide Männer fuhren herum.
Sie stieß einen Schrei aus. Sie konnte nicht anders. Das Ding lebte, es flutschte vor ihren Füßen herum wie eine Art Fledermaus aus dem Meer, so lang wie ihr Unterarm, und jetzt bebte es und schnellte hoch wie ein Schachtelteufel, fiel wieder zurück und kroch auf Flügeln und Schwanz über das Deck. Flügel? Aber es war doch ... es war doch ein Fisch, oder nicht? Doch jetzt war Till da, gefolgt von Warren, und sein Gesicht fand den Mittelweg zwischen Besorgnis und Belustigung. Er trat und stampfte, und dann beugte er sich hinunter, hob das nass glänzende lange Ding auf und hielt es mit seiner gesunden Hand hoch, als wäre es eine Opfergabe. »Herrgott, Bev, hast du mich erschreckt! Du hast so geschrien, dass ich dachte, du wärst über Bord gegangen.«
Warren lachte, und seine Augen funkelten. Das Boot hörte auf zu schaukeln. »Darauf müssen wir anstoßen«, rief er und hob die Bierflasche, die sein ständiger Begleiter war. »Bev hat den ersten Fisch gefangen!«
Sie hatte ihre Angst überwunden. Oder nein, es war keine Angst - sie war keine von diesen hilflosen, ständig heulenden Frauen, die man in Filmen sah. Sie war nur erschrocken, das war alles. Und wer wäre nicht erschrocken angesichts dieses Dings, dessen Rücken bläulichschwarz war und dessen Bauch glänzte wie ein Haufen Silbermünzen und das ohne Vorwarnung wie ein Torpedo auf sie zugeschossen war? »Du lieber Himmel«, sagte sie, »was ist das?«
Till hielt es ihr hin, und sie lächelte jetzt, ja sie lachte beinahe, lachte mit den anderen, doch zugleich wich sie zurück an die Reling, während der Himmel immer dunkler wurde und das Kielwasser schäumte. »Hast du noch nie einen fliegenden Fisch gesehen?« fragte Till. Er schnalzte tadelnd mit der Zunge. »Was glaubst du, wo du bist, Frau?« sagte er und gab ihr einen Rippenstoß. »Du bist hier nicht in der Küche oder im warmen, gemütlichen Wohnzimmer. Du bist in der freien Natur.«
»Darauf trinken wir!« rief Warren. »Auf Bev, die beste Anglerin von allen!« Und er wollte gerade die Flasche zum Mund heben, als sie die Hand auf seinen Arm legte. Ihr Haar flatterte im Wind. »Wenn das so ist«, sagte sie, »wirst du mir wohl noch ein Bier holen müssen.«
...
Übersetzung: Dirk van Gunsteren
© Carl Hanser Verlag, München
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Autoren-Porträt von T. C. Boyle
T. Coraghessan Boyle, 1948 in Peekskill, N.Y., geboren, ist der Autor von zahlreichen Romanen und Erzählungen, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Bis 2012 lehrte er Creative Writing an der University of Southern California in Los Angeles. Bei Hanser erschienen zuletzt Das wilde Kind (Erzählung, 2010), Wenn das Schlachten vorbei ist (Roman, 2012), San Miguel (Roman, 2013), die Neuübersetzung von Wassermusik (Roman, 2014), Hart auf hart (Roman, 2015), die Neuübersetzung von Grün ist die Hoffnung (Roman, 2016), Die Terranauten (Roman, 2017), Good Home (Stories, 2018), Das Licht (Roman, 2019), Sind wir nicht Menschen (Stories, 2020), Sprich mit mir (Roman, 2021) sowie Blue Skies (Roman, 2023). Dirk van Gunsteren, 1953 geboren, studierte Amerikanistik. 2007 erhielt er den Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Preis, 2018 den Übersetzerpreis der Stadt München. Er übersetzte u.a. T.C. Boyle, Jonathan Safran Foer, Patricia Highsmith, John Irving, Philip Roth und Richard Stark.
Bibliographische Angaben
- Autor: T. C. Boyle
- 2012, 5. Aufl., 461 Seiten, Masse: 14,6 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Dirk van Gunsteren
- Verlag: HANSER
- ISBN-10: 3446237348
- ISBN-13: 9783446237346
- Erscheinungsdatum: 01.02.2012
Rezension zu „Wenn das Schlachten vorbei ist “
"In seinem Roman ,Wenn das Schlachten vorbei ist' entfesselt T.C. Boyle die Dämonen des Naturschutzes. ... Boyle zeigt sich wieder einmal als Meister der psychologischen Detailzeichnung eigenwilliger Charaktere. Überhaupt ist sein jüngster Roman ein Meisterstück des amerikanischen Realismus, der seinen Gehalt so leichthändig in Handlung aufzulösen vermag, das man ihn leicht unterschätzt." Ulrich Baron, Süddeutsche Zeitung, 29.02.2012"Wer nicht töten will, muss auch die Ratten leben lassen: T.C. Boyle hat mit ,Wenn das Schlachten vorbei ist' ein hellsichtiges Werk über den Schutz der Umwelt und der Arten geschrieben." Cord Riechelmann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.03.2012
"Auf jeder Seite lesenswerte Satire." Matthias Matussek, Der Spiegel, 05.03.2012
"Boyle schlägt auch diesmal satirische Funken aus seinem Stoff und überzeugt mit Situationskomik und scharfer Personenzeichnung. Und nicht zum ersten Mal keimt der Verdacht: Der grösste Schädling auf derErde ist der Mensch." Claus-Ulrich-Bielefeld, Die Welt
Pressezitat
"In seinem Roman ,Wenn das Schlachten vorbei ist' entfesselt T.C. Boyle die Dämonen des Naturschutzes. ... Boyle zeigt sich wieder einmal als Meister der psychologischen Detailzeichnung eigenwilliger Charaktere. Überhaupt ist sein jüngster Roman ein Meisterstück des amerikanischen Realismus, der seinen Gehalt so leichthändig in Handlung aufzulösen vermag, das man ihn leicht unterschätzt." Ulrich Baron, Süddeutsche Zeitung, 29.02.2012"Wer nicht töten will, muss auch die Ratten leben lassen: T.C. Boyle hat mit ,Wenn das Schlachten vorbei ist' ein hellsichtiges Werk über den Schutz der Umwelt und der Arten geschrieben." Cord Riechelmann, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.03.2012
"Auf jeder Seite lesenswerte Satire." Matthias Matussek, Der Spiegel, 05.03.2012
"Boyle schlägt auch diesmal satirische Funken aus seinem Stoff und überzeugt mit Situationskomik und scharfer Personenzeichnung. Und nicht zum ersten Mal keimt der Verdacht: Der grösste Schädling auf der Erde ist der Mensch." Claus-Ulrich-Bielefeld, Die Welt
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