Weisser Tod
Kriminalroman
'In einer Schneewehe liegt eine blasse schöne Frau. Sie ist nicht die Erste, die in den vergangenen Monaten in einem Stockholmer Vorort erstochen wurde. Journalistin Annika Bengtzon glaubt nicht an einen Serienmörder und beginnt zu recherchieren. Plötzlich...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Weisser Tod “
'In einer Schneewehe liegt eine blasse schöne Frau. Sie ist nicht die Erste, die in den vergangenen Monaten in einem Stockholmer Vorort erstochen wurde. Journalistin Annika Bengtzon glaubt nicht an einen Serienmörder und beginnt zu recherchieren. Plötzlich bricht eine Katastrophe über sie herein: Ihr Mann Thomas ist in Afrika entführt worden. Er ist derzeit in Nairobi mit einer internationalen politischen Delegation. Nach und nach exekutierendie Geiselnehmer die Mitglieder der Gruppe. Annika reist sofort dorthin und versucht mit allen Mitteln, ihren Mann zu retten.
Lese-Probe zu „Weisser Tod “
Weisser Tod von Liza MarklundTAG 0
Dienstag, 22. November
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Ich hatte keine Angst. Die Straßensperre sah aus wie alle anderen, die wir passiert hatten: Ölfässer auf beiden Seiten der Piste (ein Frevel, so etwas Straße zu nennen), quer darüber ein notdürftig von Ästen befreiter Baumstamm und daneben einige Männer mit verdreckten Maschinengewehren.
Kein Grund zur Beunruhigung also. Trotzdem drückte Catherine ihr Bein fest an meins. Das Gefühl strömte durch Muskeln und Nervenbahnen bis in meinen Schwanz, aber ich verfolgte es nicht weiter, sondern warf ihr nur schnell einen Seitenblick zu und lächelte sie vielversprechend an.
Sie war interessiert, wartete nur auf meinen nächsten Zug.
Ali, unser Fahrer, ließ das Seitenfenster runter und reichte unsere Passierscheine mit der beglaubigten Sicherheitsstufe hinaus. Ich saß direkt hinter ihm. Der Wagen war für den Verkehr im Commonwealth gebaut und hatte Rechtssteuerung. Ein heißer Wind wirbelte Staub herein, trocken und rau. Ich betrachtete die Landschaft: niedrige Dornenbüsche, struppige Akazien. Die Erde war verbrannt, der Himmel endlos. Ein Stück weiter vor uns war auf der rechten Seite ein schmutziger Lastwagen zu erkennen, vollbeladen mit leeren Flaschen, alten Kartons und einem Tierkadaver. Der andere Landcruiser hielt links neben uns, und die deutsche Staatssekretärin winkte durchs Fenster herüber. Keiner von uns machte sich die Mühe zu reagieren.
Warum wurde eine Staatssekretärin auf eine solche Reise geschickt? Diese Frage stellten wir uns alle.
Ich sah auf die Uhr. 13.23. Wir hatten ein wenig Verspätung, aber nicht nennenswert. Der rumänische Delegierte hatte jede Menge Fotos geschossen, und Catherine hatte bereits eine Art Briefing für die Konferenz abgeschickt. Ich konnte mir schon denken, warum. Sie hatte keine Lust, den Abend heute mit Schreibarbeiten zu verbringen. Sie wollte das offizielle Essen ausfallen lassen und mit mir allein sein. Sie hatte mich noch nicht gefragt, aber ich spürte es.
Jetzt lehnte sie sich an mich, doch ich beschloss, sie noch ein bisschen zappeln zu lassen.
»Thomas, was geht hier vor?«, flüsterte sie in schönstem BBC-Englisch.
Unser Fahrer hatte die Autotür geöffnet und war ausgestiegen. Männer mit Maschinengewehren umringten den Wagen. Einer öffnete die Beifahrertür und sagte etwas in lautem Kommandoton zu dem Dolmetscher. Der schmächtige Mann hob die Hände über den Kopf und stieg ebenfalls aus; ich hörte, wie einer der Bodyguards auf dem Sitz hinter uns seine Waffe entsicherte. Plötzlich sah ich Metall aufblitzen. In diesem Augenblick fand ich die Situation zum ersten Mal unangenehm.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte ich und versuchte, gelassen zu klingen. »Ali regelt das schon.«
Auf der Beifahrerseite wurde jetzt auch die hintere Tür geöffnet. Der französische Delegierte, Margurie, der direkt an der Tür saß, stieg demonstrativ seufzend aus. Trockene Hitze drang herein und vernichtete den letzten Rest der klimatisierten Luftfeuchtigkeit im Wageninneren, der rote Staub legte sich wie ein dünnes Flies auf die Lederbezüge.
»Worum geht es?«, fragte der Franzose mit nasaler Stimme. Er klang ehrlich entrüstet.
Ein hochgewachsener Mann mit gerader Nase und hohen Wangenknochen baute sich vor meiner Tür auf und starrte mich an. Sein schwarzes Gesicht kam sehr nah. Das eine Auge war rotgeädert, als ob es erst kürzlich einen Schlag abbekommen hätte. Er hob sein Maschinengewehr und klopfte mit dem Lauf ans Fenster. Hinter ihm flimmerte die Luft vor Hitze, der Himmel erschien weiß und löchrig.
Die Angst schnürte mir den Hals zu.
»Was sollen wir tun?«, flüsterte Catherine. »Was wollen diese Männer?«
Annikas Bild schoss mir durch den Kopf, ihre großen Augen und ihr regengleiches Haar.
»Macht demonstrieren«, sagte ich. »Mach dir keine Sorgen. Tu, was sie sagen, dann wird es schon gutgehen.«
Der Lange öffnete die Tür auf meiner Seite des Wagens.
TAG 1
Mittwoch, 23. November
Der Körper der Frau lag zugeschneit auf dem Waldboden, knapp zwanzig Meter von der Kindertagesstätte entfernt. Ein Stiefel ragte aus dem Schnee, wie ein heruntergewehter Ast oder wie ein Teil einer rausgerissenen Wurzel. Genau an dieser Stelle sah die Skispur auf dem Weg unsicher aus, die Abdrücke der Skistöcke waren unregelmäßig. Ansonsten war der Schnee unberührt.
Wäre der Stiefel nicht gewesen, hätte der Körper auch ein Stein sein können, ein Ameisenhaufen oder ein Sack mit Herbstlaub. Er wölbte sich wie eine weiße Robbe aus dem Unterholz, schimmernd und weich. Schneekristalle, die am Stiefelschaft hängengeblieben waren, glitzerten hier und da im Licht der Dämmerung. Der Schuh war braun, der Absatz spitz.
»Sie dürfen hier nicht hin.«
Annika Bengtzon kümmerte sich nicht um den Polizisten, der hinter ihr angeschnauft kam. Sie hatte sich über einen Pfad hinter dem Selmedalsvägen bis zum Fundort durchgeschlagen, vorbei an einem verlassenen Fußballplatz, einen Hügel hinauf und durch den kleinen Wald. Ihre Stiefel waren voller Schnee und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie in den Füßen jegliches Gefühl verloren hätte.
»Ich kann keine Absperrung entdecken«, sagte sie, ohne die Leiche aus den Augen zu lassen.
»Dies ist ein Tatort«, sagte der Polizist. Es klang, als würde er seiner Stimme bewusst mehr Tiefe geben. »Ich muss Sie bitten, sich zu entfernen. Sofort.«
Annika machte noch zwei Bilder mit der Handykamera und schaute zu dem Polizisten auf. Er hatte nicht einmal richtigen Bartwuchs.
»Ich bin beeindruckt«, sagte sie. »Die Leiche ist noch nicht ausgegraben und Sie haben schon eine vorläufige Todesursache. Wie ist die Frau denn gestorben?«
Die Augen des Polizisten wurden schmal.
»Woher wissen Sie, dass es sich um eine Frau handelt?« Annika sah wieder zur Toten hinüber.
»An und für sich stehen ja auch Transen auf hochhackige Schuhe, aber die tragen selten Größe ... Was meinen Sie? Sechsunddreißig? Siebenunddreißig?«
Sie ließ ihr Handy in die Umhängetasche fallen, wo es in einem Meer aus Stiften, Kinderhandschuhen, Berechtigungsausweisen, USB-Sticks und Notizblöcken unterging. Ein Kollege des Beamten kam mit einer Rolle Absperrband in der Hand keuchend den Hügel herauf.
»Ist sie vermisst gemeldet?«
»Das ist doch zum Kotzen«, sagte der andere Polizist. »Was denn?«, fragte Annika.
»Dass die von der Einsatzzentrale die Presse informieren, bevor sie eine Streife losschicken. Hauen Sie ab.«
Annika schulterte ihre Tasche, kehrte der Leiche den Rücken zu und ging wieder zum Fußballplatz hinunter.
Seit ein paar Monaten arbeiteten Polizei, Rettungsdienst und Feuerwehr in ganz Schweden mit dem neuen digitalen Funksystem RAKEL. Es war abhörsicher, und sämtliche zivilen Belauscher des Polizeifunks waren dadurch arbeitslos geworden. Das Personal der Bezirks-Einsatzzentralen hatte den Job und die Gehaltsaufbesserung, die bei den Medien für Hinweise auf Gewalt und Elend raussprang, begeistert übernommen.
Am Waldrand blieb Annika stehen und ließ den Blick über die vorstädtische Umgebung schweifen.
Die graubraunen neunstöckigen Häuser weiter unten waren in Frost und Nebel gehüllt. Die schwarzen Äste der Bäume spiegelten sich in den blanken Fenstern. Sicher waren die Häuser in den 70ern, ganz zu Anfang der staatlichen Großoffensive im sozialen Wohnungsbau, gebaut worden - die Fassaden vermittelten trotz allem eine Art Wertigkeit, als hätte man damals noch den Ehrgeiz gehabt, menschenwürdigen Wohnraum zu schaffen.
Sie hatte kein Gefühl mehr in den Zehen. Es war schon später Nachmittag. Zwischen den Betonklötzen schien der Wind zu pfeifen.
Axelsberg. Ein Wohngebiet ohne äußere Begrenzung, der Name einer zugigen U-Bahnstation.
»Es gibt eine Leiche hinter einer Kita in Axelsberg, kann noch nicht lange da liegen.«
Der Anruf war von der Telefonzentrale der Zeitung gekommen, als sie gerade auf dem Rückweg von IKEA in Kungens Kurva war. Daraufhin pflügte sie quer über alle vier Fahrspuren durch den Schneematsch, fuhr bei Mälarhojden von der Autobahn ab und erreichte den Fundort sogar eine halbe Minute vor dem ersten Streifenwagen.
Sie schickte zwei der Handyfotos an den Newsdesk, das eine zeigte den Fundort, das andere war eine Nahaufnahme des Schuhs.
Eine Leiche bedeutete nicht zwangsläufig, dass ein Verbrechen geschehen war. Die Polizei ermittelte immer bei unklaren Todesfällen, aber oft stellte sich heraus, dass eine natürliche Ursache vorlag, ein Unfall oder Selbstmord.
Etwas sagte ihr, dass dies hier nicht so war.
Diese Frau war nicht joggen gewesen und hatte dann einen Herzinfarkt bekommen. Nicht in solchen Schuhen. Und selbst wenn, wäre sie nicht durch das Gebüsch neben dem Weg ge joggt. Es war kaum wahrscheinlich, dass sie gestolpert und gefallen war, mehrere Meter weit und direkt ins Dickicht.
Die Leiche war zugeschneit, aber der Informant hatte recht gehabt: Sie konnte noch nicht lange dort gelegen haben.
Es hatte erst spät am Vorabend begonnen zu schneien. Scharfe Eiskristalle, die gegen die Fenster peitschten und jeden wie Nadeln ins Gesicht stachen, der wie Annika gezwungen gewesen war, um halb elf Uhr abends noch einmal das Haus zu verlassen und Milch zu kaufen.
Im Laufe des Morgens war der Schneefall stärker geworden, und der nationale Wetterdienst SMHI hatte eine Unwetterwarnung herausgegeben.
Vor einer Stunde hatte der Schneefall dann plötzlich aufgehört.
Die Frau konnte nicht die ganze Nacht dort gelegen haben, sonst wäre auch der Fuß eingeschneit gewesen.
Sie ist irgendwann in den Morgenstunden dort hingekommen, dachte Annika. Was hatte eine Frau in hochhackigen Stiefeln morgens um acht im Schneesturm und allein auf einem Fußweg hinter einer Kindertagesstätte zu suchen?
Annika bog nach rechts ab, hinunter zur Straße.
Auf dem Selmedalsvägen gab es nicht nur eine, sondern gleich zwei Kindertagesstätten direkt nebeneinander: eine städtische und eine private. Drei Streifenwagen mit rotierenden Saftmixern auf dem Dach produzierten vor den Kitaeingängen eine Wolke aus Abgasen, die in Schwaden zwischen Klettergerüsten und Rutschbahnen abzogen. Solange das Blaulicht eingeschaltet war, mussten die Motoren laufen, sonst entluden sich die Batterien. Mehr als einmal war eine entscheidende Verbrecherjagd gescheitert, weil die Polizeiwagen nicht angesprungen waren.
Zwei Frauen und ein Mann, vermutlich Eltern, näherten sich mit aufgerissenen Augen und schnellen Schritten. War etwas passiert? Doch wohl nicht in ihrer Kita? Doch wohl nicht ihren Kindern? Ach nein, dann hätte man sie ja angerufen.
Annika stellte sich hinter einen der Streifenwagen, um die Leute abzupassen. Der Vater übernahm das Kommando und ging zu dem Polizeianwärter, der in der Kälte abgestellt worden war, um die Presse und andere Neugierige abzuwimmeln.
Eine Person sei aufgefunden worden, vermutlich tot, oben im Wald ... Nein, nicht auf dem Grundstück der Kita, oben auf dem Hügel im Wald ... Nein, es sei unwahrscheinlich, dass eines der Kinder die Leiche gesehen habe ... Nein, die Todesursache sei zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht bekannt und nichts deute darauf hin, dass der Todesfall im Zusammenhang mit der Kita stehe ...
Die Eltern atmeten auf und eilten zu ihrem Nachwuchs, offensichtlich erleichtert, dass der Tod auch dieses Mal das Problem und die Sorge anderer Leute war.
Sie ging zu dem Polizeianwärter hinüber.
»Bengtzon«, sagte sie. »Vom Abendblatt. In welcher Kita hatte sie ihre Kinder?«
Der Anwärter schielte zur städtischen Kita hinüber.
»Eins«, sagte er. »Sie hatte nur ein Kind, soweit ich weiß. Einen Jungen.«
Annika folgte seinem Blick. Ein roter Pappstern leuchtete im Fenster der Eingangstür. Auf den Scheiben klebten ausgeschnittene weiße Schneeflocken.
»Wer hat denn Alarm geschlagen? Ihre Kollegen? Weil sie heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen ist?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ein Nachbar«, sagte er und trat einen Schritt zurück. »Aber darüber müssen Sie mit den Kollegen von der Einsatzzentrale sprechen oder einem Vorgesetzten. Ich weiß eigentlich nichts.«
Das Unbehagen begann wie ein dumpfer Bass in ihrer Magengegend zu vibrieren. Dass sie sich nie daran gewöhnte.
Eine junge Mutter mit kleinen Füßen und hohen Absätzen liefert ihr Kind in der Kita ab, geht heim und stirbt auf einem Fußweg im Schneesturm.
Sie merkte, dass sie vor Kälte zitterte. Der Pappstern drehte sich langsam im Fenster. Ein Mann auf einem Fahrrad fuhr den Selmedalsvägen entlang.
Sie durchwühlte ihre Tasche nach dem Handy, knipste ein Foto von der Kita, nickte dem Polizeianwärter kurz zu und ging zu ihrem Auto.
Ich hatte keine Angst. Die Straßensperre sah aus wie alle anderen, die wir passiert hatten: Ölfässer auf beiden Seiten der Piste (ein Frevel, so etwas Straße zu nennen), quer darüber ein notdürftig von Ästen befreiter Baumstamm und daneben einige Männer mit verdreckten Maschinengewehren.
Kein Grund zur Beunruhigung also. Trotzdem drückte Catherine ihr Bein fest an meins. Das Gefühl strömte durch Muskeln und Nervenbahnen bis in meinen Schwanz, aber ich verfolgte es nicht weiter, sondern warf ihr nur schnell einen Seitenblick zu und lächelte sie vielversprechend an.
Sie war interessiert, wartete nur auf meinen nächsten Zug.
Ali, unser Fahrer, ließ das Seitenfenster runter und reichte unsere Passierscheine mit der beglaubigten Sicherheitsstufe hinaus. Ich saß direkt hinter ihm. Der Wagen war für den Verkehr im Commonwealth gebaut und hatte Rechtssteuerung. Ein heißer Wind wirbelte Staub herein, trocken und rau. Ich betrachtete die Landschaft: niedrige Dornenbüsche, struppige Akazien. Die Erde war verbrannt, der Himmel endlos. Ein Stück weiter vor uns war auf der rechten Seite ein schmutziger Lastwagen zu erkennen, vollbeladen mit leeren Flaschen, alten Kartons und einem Tierkadaver. Der andere Landcruiser hielt links neben uns, und die deutsche Staatssekretärin winkte durchs Fenster herüber. Keiner von uns machte sich die Mühe zu reagieren.
Warum wurde eine Staatssekretärin auf eine solche Reise geschickt? Diese Frage stellten wir uns alle.
Ich sah auf die Uhr. 13.23. Wir hatten ein wenig Verspätung, aber nicht nennenswert. Der rumänische Delegierte hatte jede Menge Fotos geschossen, und Catherine hatte bereits eine Art Briefing für die Konferenz abgeschickt. Ich konnte mir schon denken, warum. Sie hatte keine Lust, den Abend heute mit Schreibarbeiten zu verbringen. Sie wollte das offizielle Essen ausfallen lassen und mit mir allein sein. Sie hatte mich noch nicht gefragt, aber ich spürte es.
Jetzt lehnte sie sich an mich, doch ich beschloss, sie noch ein bisschen zappeln zu lassen.
»Thomas, was geht hier vor?«, flüsterte sie in schönstem BBC-Englisch.
Unser Fahrer hatte die Autotür geöffnet und war ausgestiegen. Männer mit Maschinengewehren umringten den Wagen. Einer öffnete die Beifahrertür und sagte etwas in lautem Kommandoton zu dem Dolmetscher. Der schmächtige Mann hob die Hände über den Kopf und stieg ebenfalls aus; ich hörte, wie einer der Bodyguards auf dem Sitz hinter uns seine Waffe entsicherte. Plötzlich sah ich Metall aufblitzen. In diesem Augenblick fand ich die Situation zum ersten Mal unangenehm.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte ich und versuchte, gelassen zu klingen. »Ali regelt das schon.«
Auf der Beifahrerseite wurde jetzt auch die hintere Tür geöffnet. Der französische Delegierte, Margurie, der direkt an der Tür saß, stieg demonstrativ seufzend aus. Trockene Hitze drang herein und vernichtete den letzten Rest der klimatisierten Luftfeuchtigkeit im Wageninneren, der rote Staub legte sich wie ein dünnes Flies auf die Lederbezüge.
»Worum geht es?«, fragte der Franzose mit nasaler Stimme. Er klang ehrlich entrüstet.
Ein hochgewachsener Mann mit gerader Nase und hohen Wangenknochen baute sich vor meiner Tür auf und starrte mich an. Sein schwarzes Gesicht kam sehr nah. Das eine Auge war rotgeädert, als ob es erst kürzlich einen Schlag abbekommen hätte. Er hob sein Maschinengewehr und klopfte mit dem Lauf ans Fenster. Hinter ihm flimmerte die Luft vor Hitze, der Himmel erschien weiß und löchrig.
Die Angst schnürte mir den Hals zu.
»Was sollen wir tun?«, flüsterte Catherine. »Was wollen diese Männer?«
Annikas Bild schoss mir durch den Kopf, ihre großen Augen und ihr regengleiches Haar.
»Macht demonstrieren«, sagte ich. »Mach dir keine Sorgen. Tu, was sie sagen, dann wird es schon gutgehen.«
Der Lange öffnete die Tür auf meiner Seite des Wagens.
TAG 1
Mittwoch, 23. November
Der Körper der Frau lag zugeschneit auf dem Waldboden, knapp zwanzig Meter von der Kindertagesstätte entfernt. Ein Stiefel ragte aus dem Schnee, wie ein heruntergewehter Ast oder wie ein Teil einer rausgerissenen Wurzel. Genau an dieser Stelle sah die Skispur auf dem Weg unsicher aus, die Abdrücke der Skistöcke waren unregelmäßig. Ansonsten war der Schnee unberührt.
Wäre der Stiefel nicht gewesen, hätte der Körper auch ein Stein sein können, ein Ameisenhaufen oder ein Sack mit Herbstlaub. Er wölbte sich wie eine weiße Robbe aus dem Unterholz, schimmernd und weich. Schneekristalle, die am Stiefelschaft hängengeblieben waren, glitzerten hier und da im Licht der Dämmerung. Der Schuh war braun, der Absatz spitz.
»Sie dürfen hier nicht hin.«
Annika Bengtzon kümmerte sich nicht um den Polizisten, der hinter ihr angeschnauft kam. Sie hatte sich über einen Pfad hinter dem Selmedalsvägen bis zum Fundort durchgeschlagen, vorbei an einem verlassenen Fußballplatz, einen Hügel hinauf und durch den kleinen Wald. Ihre Stiefel waren voller Schnee und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie in den Füßen jegliches Gefühl verloren hätte.
»Ich kann keine Absperrung entdecken«, sagte sie, ohne die Leiche aus den Augen zu lassen.
»Dies ist ein Tatort«, sagte der Polizist. Es klang, als würde er seiner Stimme bewusst mehr Tiefe geben. »Ich muss Sie bitten, sich zu entfernen. Sofort.«
Annika machte noch zwei Bilder mit der Handykamera und schaute zu dem Polizisten auf. Er hatte nicht einmal richtigen Bartwuchs.
»Ich bin beeindruckt«, sagte sie. »Die Leiche ist noch nicht ausgegraben und Sie haben schon eine vorläufige Todesursache. Wie ist die Frau denn gestorben?«
Die Augen des Polizisten wurden schmal.
»Woher wissen Sie, dass es sich um eine Frau handelt?« Annika sah wieder zur Toten hinüber.
»An und für sich stehen ja auch Transen auf hochhackige Schuhe, aber die tragen selten Größe ... Was meinen Sie? Sechsunddreißig? Siebenunddreißig?«
Sie ließ ihr Handy in die Umhängetasche fallen, wo es in einem Meer aus Stiften, Kinderhandschuhen, Berechtigungsausweisen, USB-Sticks und Notizblöcken unterging. Ein Kollege des Beamten kam mit einer Rolle Absperrband in der Hand keuchend den Hügel herauf.
»Ist sie vermisst gemeldet?«
»Das ist doch zum Kotzen«, sagte der andere Polizist. »Was denn?«, fragte Annika.
»Dass die von der Einsatzzentrale die Presse informieren, bevor sie eine Streife losschicken. Hauen Sie ab.«
Annika schulterte ihre Tasche, kehrte der Leiche den Rücken zu und ging wieder zum Fußballplatz hinunter.
Seit ein paar Monaten arbeiteten Polizei, Rettungsdienst und Feuerwehr in ganz Schweden mit dem neuen digitalen Funksystem RAKEL. Es war abhörsicher, und sämtliche zivilen Belauscher des Polizeifunks waren dadurch arbeitslos geworden. Das Personal der Bezirks-Einsatzzentralen hatte den Job und die Gehaltsaufbesserung, die bei den Medien für Hinweise auf Gewalt und Elend raussprang, begeistert übernommen.
Am Waldrand blieb Annika stehen und ließ den Blick über die vorstädtische Umgebung schweifen.
Die graubraunen neunstöckigen Häuser weiter unten waren in Frost und Nebel gehüllt. Die schwarzen Äste der Bäume spiegelten sich in den blanken Fenstern. Sicher waren die Häuser in den 70ern, ganz zu Anfang der staatlichen Großoffensive im sozialen Wohnungsbau, gebaut worden - die Fassaden vermittelten trotz allem eine Art Wertigkeit, als hätte man damals noch den Ehrgeiz gehabt, menschenwürdigen Wohnraum zu schaffen.
Sie hatte kein Gefühl mehr in den Zehen. Es war schon später Nachmittag. Zwischen den Betonklötzen schien der Wind zu pfeifen.
Axelsberg. Ein Wohngebiet ohne äußere Begrenzung, der Name einer zugigen U-Bahnstation.
»Es gibt eine Leiche hinter einer Kita in Axelsberg, kann noch nicht lange da liegen.«
Der Anruf war von der Telefonzentrale der Zeitung gekommen, als sie gerade auf dem Rückweg von IKEA in Kungens Kurva war. Daraufhin pflügte sie quer über alle vier Fahrspuren durch den Schneematsch, fuhr bei Mälarhojden von der Autobahn ab und erreichte den Fundort sogar eine halbe Minute vor dem ersten Streifenwagen.
Sie schickte zwei der Handyfotos an den Newsdesk, das eine zeigte den Fundort, das andere war eine Nahaufnahme des Schuhs.
Eine Leiche bedeutete nicht zwangsläufig, dass ein Verbrechen geschehen war. Die Polizei ermittelte immer bei unklaren Todesfällen, aber oft stellte sich heraus, dass eine natürliche Ursache vorlag, ein Unfall oder Selbstmord.
Etwas sagte ihr, dass dies hier nicht so war.
Diese Frau war nicht joggen gewesen und hatte dann einen Herzinfarkt bekommen. Nicht in solchen Schuhen. Und selbst wenn, wäre sie nicht durch das Gebüsch neben dem Weg ge joggt. Es war kaum wahrscheinlich, dass sie gestolpert und gefallen war, mehrere Meter weit und direkt ins Dickicht.
Die Leiche war zugeschneit, aber der Informant hatte recht gehabt: Sie konnte noch nicht lange dort gelegen haben.
Es hatte erst spät am Vorabend begonnen zu schneien. Scharfe Eiskristalle, die gegen die Fenster peitschten und jeden wie Nadeln ins Gesicht stachen, der wie Annika gezwungen gewesen war, um halb elf Uhr abends noch einmal das Haus zu verlassen und Milch zu kaufen.
Im Laufe des Morgens war der Schneefall stärker geworden, und der nationale Wetterdienst SMHI hatte eine Unwetterwarnung herausgegeben.
Vor einer Stunde hatte der Schneefall dann plötzlich aufgehört.
Die Frau konnte nicht die ganze Nacht dort gelegen haben, sonst wäre auch der Fuß eingeschneit gewesen.
Sie ist irgendwann in den Morgenstunden dort hingekommen, dachte Annika. Was hatte eine Frau in hochhackigen Stiefeln morgens um acht im Schneesturm und allein auf einem Fußweg hinter einer Kindertagesstätte zu suchen?
Annika bog nach rechts ab, hinunter zur Straße.
Auf dem Selmedalsvägen gab es nicht nur eine, sondern gleich zwei Kindertagesstätten direkt nebeneinander: eine städtische und eine private. Drei Streifenwagen mit rotierenden Saftmixern auf dem Dach produzierten vor den Kitaeingängen eine Wolke aus Abgasen, die in Schwaden zwischen Klettergerüsten und Rutschbahnen abzogen. Solange das Blaulicht eingeschaltet war, mussten die Motoren laufen, sonst entluden sich die Batterien. Mehr als einmal war eine entscheidende Verbrecherjagd gescheitert, weil die Polizeiwagen nicht angesprungen waren.
Zwei Frauen und ein Mann, vermutlich Eltern, näherten sich mit aufgerissenen Augen und schnellen Schritten. War etwas passiert? Doch wohl nicht in ihrer Kita? Doch wohl nicht ihren Kindern? Ach nein, dann hätte man sie ja angerufen.
Annika stellte sich hinter einen der Streifenwagen, um die Leute abzupassen. Der Vater übernahm das Kommando und ging zu dem Polizeianwärter, der in der Kälte abgestellt worden war, um die Presse und andere Neugierige abzuwimmeln.
Eine Person sei aufgefunden worden, vermutlich tot, oben im Wald ... Nein, nicht auf dem Grundstück der Kita, oben auf dem Hügel im Wald ... Nein, es sei unwahrscheinlich, dass eines der Kinder die Leiche gesehen habe ... Nein, die Todesursache sei zum aktuellen Zeitpunkt noch nicht bekannt und nichts deute darauf hin, dass der Todesfall im Zusammenhang mit der Kita stehe ...
Die Eltern atmeten auf und eilten zu ihrem Nachwuchs, offensichtlich erleichtert, dass der Tod auch dieses Mal das Problem und die Sorge anderer Leute war.
Sie ging zu dem Polizeianwärter hinüber.
»Bengtzon«, sagte sie. »Vom Abendblatt. In welcher Kita hatte sie ihre Kinder?«
Der Anwärter schielte zur städtischen Kita hinüber.
»Eins«, sagte er. »Sie hatte nur ein Kind, soweit ich weiß. Einen Jungen.«
Annika folgte seinem Blick. Ein roter Pappstern leuchtete im Fenster der Eingangstür. Auf den Scheiben klebten ausgeschnittene weiße Schneeflocken.
»Wer hat denn Alarm geschlagen? Ihre Kollegen? Weil sie heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen ist?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ein Nachbar«, sagte er und trat einen Schritt zurück. »Aber darüber müssen Sie mit den Kollegen von der Einsatzzentrale sprechen oder einem Vorgesetzten. Ich weiß eigentlich nichts.«
Das Unbehagen begann wie ein dumpfer Bass in ihrer Magengegend zu vibrieren. Dass sie sich nie daran gewöhnte.
Eine junge Mutter mit kleinen Füßen und hohen Absätzen liefert ihr Kind in der Kita ab, geht heim und stirbt auf einem Fußweg im Schneesturm.
Sie merkte, dass sie vor Kälte zitterte. Der Pappstern drehte sich langsam im Fenster. Ein Mann auf einem Fahrrad fuhr den Selmedalsvägen entlang.
Sie durchwühlte ihre Tasche nach dem Handy, knipste ein Foto von der Kita, nickte dem Polizeianwärter kurz zu und ging zu ihrem Auto.
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Autoren-Porträt von Liza Marklund
Die Bestsellerautorin Liza Marklund, Jahrgang 1962, stammt aus Nordschweden. Bevor sie die Schriftstellerei zum Beruf machte, hat sie als Journalistin für verschiedene Zeitungen und Fernsehsender gearbeitet. Ihre preisgekrönten Romane machten sie innerhalb kürzester Zeit zum gefeierten Star. Liza Marklund lebt mit ihrer Familie in Stockholm.Dagmar Lendt ist Skandinavistin und übersetzt aus dem Norwegischen, Schwedischen und Dänischen. Sie lebt und arbeitet in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Liza Marklund
- 2012, 2, 384 Seiten, Masse: 14,4 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Bubenzer, Anne; Lendt, Dagmar
- Übersetzer: Anne Bubenzer, Dagmar Lendt
- Verlag: Ullstein HC
- ISBN-10: 3550087527
- ISBN-13: 9783550087523
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