Wege zur Weisheit
Der Traum vom richtigen Leben
Der Traum vom richtigen Leben und wie man ihn verwirklicht Weisheit lässt sich nicht erlernen wie eine Fremdsprache, man kann sie nicht herbeizwingen und man bekommt sie nicht verliehen wie eine Auszeichnung. Und doch gibt es Wege, dem Schicksal...
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Produktinformationen zu „Wege zur Weisheit “
Der Traum vom richtigen Leben und wie man ihn verwirklicht Weisheit lässt sich nicht erlernen wie eine Fremdsprache, man kann sie nicht herbeizwingen und man bekommt sie nicht verliehen wie eine Auszeichnung. Und doch gibt es Wege, dem Schicksal gelassen, achtsam und mit Humor zu begegnen. Die Wissenschaftsjournalistin und GEO-Redakteurin Hanne Tügel hat sich aufgemacht, die vielfältigen Vorstellungen und Lehren des hohen Ideals Weisheit zu ergründen und sie auf ihre Alltagstauglichkeit hin zu prüfen. Ob Buddhismus, Philosophie oder die Traumzeit der Aboriginies, neugierig erkundet sie die vielfältigen Konzepte, mit denen sich Menschen seit Jahrtausenden Einsicht erhoffen und sieht sich an, wie sie uns dem Traum vom richtigen Leben näher bringen. Dabei begegnet sie u.a. Neurowissenschaftlern, Caféhausphilosophen, Musikern, Dichtern und Weisheitsforschern - eine spannende Reise, die uns alle ein Stück weiser macht. »Es gibt etliche 'Wege zur Weisheit' [...], zeigt die Wissenschaftsjournalistin Hanne Tügel in ihrem gründlich recherchierten Buch, in dem sie die vielfältigen Vorstellungen und Lehren des hohen Ideals ergründet und auf ihre Alltagstauglichkeit hin prüft.« Psychologie Heute »Tügels Darstellung zeichnet sich vor allem durch ihren weichen, einfühlsamen Ton aus. [...] Hanne Tügel zeichnet anschaulich und klug nach, was weise Menschen quer durch alle Epochen und Erdkreise auszeichnet - nämlich vor allem Mitgefühl, Humor, Toleranz und Gelassenheit. Ein Buch, das Lust macht, sich davon eine Scheibe abzuschneiden.« Gehirn & Geist
Klappentext zu „Wege zur Weisheit “
Der Traum vom richtigen Leben und wie man ihn verwirklichtWeisheit lässt sich nicht erlernen wie eine Fremdsprache, man kann sie nicht herbeizwingen und man bekommt sie nicht verliehen wie eine Auszeichnung. Und doch gibt es Wege, dem Schicksal gelassen, achtsam und mit Humor zu begegnen. Die Wissenschaftsjournalistin und GEO-Redakteurin Hanne Tügel hat sich aufgemacht, die vielfältigen Vorstellungen und Lehren des hohen Ideals Weisheit zu ergründen und sie auf ihre Alltagstauglichkeit hin zu prüfen. Ob Buddhismus, Philosophie oder die Traumzeit der Aboriginies, neugierig erkundet sie die vielfältigen Konzepte, mit denen sich Menschen seit Jahrtausenden Einsicht erhoffen und sieht sich an, wie sie uns dem Traum vom richtigen Leben näher bringen. Dabei begegnet sie u.a. Neurowissenschaftlern, Caféhausphilosophen, Musikern, Dichtern und Weisheitsforschern - eine spannende Reise, die uns alle ein Stück weiser macht.»Es gibt etliche 'Wege zur Weisheit' [...], zeigt die Wissenschaftsjournalistin Hanne Tügel in ihrem gründlich recherchierten Buch, in dem sie die vielfältigen Vorstellungen und Lehren des hohen Ideals ergründet und auf ihre Alltagstauglichkeit hin prüft.«Psychologie Heute»Tügels Darstellung zeichnet sich vor allem durch ihren weichen, einfühlsamen Ton aus. [...] Hanne Tügel zeichnet anschaulich und klug nach, was weise Menschen quer durch alle Epochen und Erdkreise auszeichnet - nämlich vor allem Mitgefühl, Humor, Toleranz und Gelassenheit. Ein Buch, das Lust macht, sich davon eine Scheibe abzuschneiden.«Gehirn & Geist
Lese-Probe zu „Wege zur Weisheit “
Wege zur Weisheit von Hanne Tügel1 Wer weiß, redet nicht. Wer redet, weiß nicht.
Die Weisheit als Paradox - einfach und geheimnisvoll; leicht zu erkennen, schwer zu erringen
Der Weise auf dem Wasserbüffel und der Passwächter: 5000 Zeichen mit Langzeitwirkung
... mehr
Man weiß nicht so genau, wann er gelebt hat. Manche sind sich sogar nicht völlig sicher, ob er überhaupt existiert hat. Sicher aber gibt es das Daodejing, ein Werk, bestehend aus 5000 Schriftzeichen, entstanden um das 5. Jahrhundert vor Christus, das ihm zugeschrieben wird. Die Legende über seinen (wahrscheinlichen) Verfasser ist zu schön, um nicht wahr zu sein. Und weil eine Prise Mystik die Begebenheit adelt, eignet sie sich ideal als Einstieg in das große Thema Weisheit.
Der Held ist ein älterer Gelehrter. Angesprochen wird er als Laozi, Alter Meister. Er hat als Archivar in der Bibliothek des Königs von Chou im Norden Chinas gearbeitet. Nun verlässt er seine Heimat, weil er den Verfall des Reichs vorausahnt und zieht hinter die Berge. Auf chinesischen Tuschezeichnungen ist ein Wasserbüffel sein Begleiter und Gepäckträger, ein kräftiges, aber auch sanftes, gemächliches und gemütliches Tier. Die beiden pilgern nach Westen. Als sie auf dem Weg einen Passwächter treffen, verwickelt der den alten Archivar in ein Gespräch über seine Einsichten. Auf Drängen des Wissbegierigen schreibt Laozi ihm auf, was er wesentlich findet, bevor er endgültig ins Gebirge entschwindet. So entsteht das Daodejing, das angeblich nach der Bibel am häufigsten übersetzte Buch der Welt.
Die Szene strahlt Einfachheit, Freundlichkeit, Ruhe aus. Im Alter die Heimat zu verlassen und ins Ungewisse zu ziehen, weil es angemessen erscheint - so handelt einer, der Mut besitzt und Seelenfrieden gefunden hat. Arroganz ist ihm fremd, er ziert sich nicht, als er um Rat gefragt wird. Aber er missioniert auch nicht. Er ist bescheiden und hätte seine Weisheit für sich behalten, hätte es nicht jemand gegeben, der begierig war, sie zu hören. Bertolt Brecht hat der Begegnung ein Denkmal gesetzt und dieses Detail in seiner Ballade betont: »Aber rühmen wir nicht nur den Weisen/ dessen Name auf dem Buche prangt! / Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreißen. / Darum sei der Zöllner auch bedankt: / Er hat sie ihm abverlangt.« Das wird nicht immer mitbedacht, wenn es um Weisheit geht. Um Wirksamkeit zu entfalten, muss sie ein offenes Ohr finden.
Worin besteht die Weisheit des Daodejing? Die 81 Kapitel der Textsammlung sind selbst für diejenigen, die das Original lesen können, alles andere als leicht verständlich. Nicht minder dunkel sind die Übertragungen. Die Hauptrolle in Laozis Buch spielt das »unnennbare« Dao. In den verschiedenen deutschen Übersetzungen wird es umschrieben als »Rechter Weg«, als »Sinn«, als »Urquell des Seins« oder als das »große Eine, in dem die Gegensätze aufgehoben sind«.
Im Groben ist das Werk eine einzige Warnung, dass die tiefgründigen Wahrheiten jenseits des Vermittelbaren liegen. Dass deshalb diejenigen schweigen, die um sie wissen: »Wer weiß, redet nicht / wer redet, weiß nicht.« Es geht hier, soviel ist schnell klar, nicht um Allerweltskenntnisse, es geht um das Wesentliche. Und natürlich lassen sich die Wissenden manchmal doch zum Reden verführen, sonst gäbe es auch das Daodejing nicht. Ihr Kunstgriff besteht darin, Einsichten in Metaphern zu kleiden. Konkret genug, um eine Ahnung zu geben von den Schätzen, die zu heben sind. Um bei Zuhörern und Lesern die Sehnsucht zu wecken, sich auf den Weg zu begeben und irgendwann selbst zu den Eingeweihten zu zählen, zu den Wissenden, die in sich ruhen - selbst dann, wenn um sie herum das Chaos tobt.
Ein Kapitel spricht von denen, die das geschafft haben, von den »alten Weisen«, die im Dao bewandert sind. In einer modernen Nachdichtung des Salzburgers Bodo Kirchner lautet die Stelle: »Ihre Haltung war / behutsam, wie beim Überqueren eines Flusses im Winter/vorsichtig, wie bei drohender Gefahr / zurückhaltend, wie willkommene Gäste/nachgebend, wie schmelzendes Eis/einfach, wie rohes Holz/offen, wie ein weites Tal / anspruchslos, wie trübes Wasser.«
Wie bitte? Ein Weiser soll trübem Wasser ähneln? Das erscheint als bizarrer Vergleich. Laozis Erklärung beinhaltet eines der Paradoxa, die das Daodejing berühmt gemacht haben: »Wer wie trübes Wasser sein kann/kann in Stille zur Klarheit gelangen/Wer in Bewegung behutsam ist/kann in Ruhe zur Beständigkeit gelangen.«
Das Wasser, allgegenwärtig, unscheinbar und wunderbar, stillt Durst, nährt Pflanzen, erfrischt und reinigt. In dem alten chinesischen Text wird es an verschiedenen Stellen gerühmt. Es sei bereit, allen Wesen zu dienen. Es bleibe an Orten, die Menschen verachten. Es gleiche dem Dao, denn: »Nichts in der Welt / ist nachgiebiger und weicher als Wasser/ doch nichts ist besser/um Hartes und Starkes zu überwinden. « Die Lehre daraus: Das Weiche kann das Harte besiegen, das Schwache überwindet das Starke. Und die melancholische Erkenntnis: »Obwohl jeder es weiß/handelt keiner danach.«
Was bedeutet es, einer Weisheitslehre zu folgen, die ihre Anhänger auffordert, wie trübes Wasser zu sein? Laozis Lösung ist typisch asiatisch. Er rät zur Praxis des Schweigens, der Demut, der Innenschau: »Beende das Gerede/ schließe die Türen/dämpfe den Eifer/löse die Verwirrung/ mindere den Glanz / finde den Grund.«
Vom Daoismus, der chinesischen philosophischen Schule, die nach diesen Prinzipien ausgerichtet ist, wird noch die Rede sein. Die Lehre unterscheidet sich in vielen Aspekten von Weisheitswegen anderer Kulturkreise. Doch einen Punkt, an dem sich alle treffen, beleuchtet das Daodejing und die Legende seiner Entstehung besonders gut: Weisheit ist keine theoretische, sondern eine angewandte Kunst. Sie erschöpft sich nicht in Gerede, kann sogar ohne Worte auskommen; sie misst sich am Tun. Dabei folgt sie Laozis Paradox: Sie ist einfach und geheimnisvoll zugleich, leicht zu erkennen, schwer zu erringen. Und sie erfordert persönlichen Einsatz, wie es der französische Philosoph Michel de Montaigne viele Jahrhunderte nach Laozi gesagt hat: »Es mag sein, dass wir durch das Wissen anderer gelehrter werden. Weiser werden wir nur durch uns selbst.«
Ehrlich, nett und rätselhaft: vom Psychogramm der Weisen, dem Mangel an modernen Weg-Weisern und der Notwendigkeit von Selbstversuchen
Schön gesagt, schwer zu verwirklichen. Die Weisheit ruft laut auf der Straße, aber ihr Ruf erreicht die Ohren der Menschen nicht, hieß es bei Salomo. Ganz ähnlich klingt die Klage Laozis: Jeder kenne sie, aber aus dieser Kenntnis folge kein entsprechendes Handeln. Wieder ein Paradox. Weisheit scheint ein durchaus greifbarer Schatz zu sein, destilliert aus Lebens-und Welterfahrung, aus den bedeutendsten Erkenntnissen und Überlieferungen. Eigentlich steht der Gebrauch jedem offen, es gibt nur eine Hürde: Man muss sich gewissermaßen selbst dazu überlisten, den Schatz zu heben.
Und das ist verwirrend und verzwickt. Denn wie dabei vorzugehen ist, steht in keinem Lehrbuch. Weisheit lässt sich nicht studieren, trainieren und anschließend beherrschen wie eine Fremdsprache, ein Musikinstrument, eine Sportart oder die höhere Mathematik. Sie ist nicht durch Einheirat zu erringen wie ein Adelsprädikat oder ein Familienvermögen. Man kann sie nicht herbeizwingen, nicht einmal mit Waffengewalt. Sie fällt keinem in den Schoß wie ein Lottogewinn. Und ein »Weisheitsquotient«, der mit ein paar Standardaufgaben zu ermitteln wäre wie der IQ, lässt auch auf sich warten.
Wie also ist dem geheimnisvollen Ideal auf die Schliche zu kommen? Vielleicht über die Einzelteile, aus denen sich das größere Ganze zusammensetzt. Immerhin gibt es ein intuitives Grundverständnis darüber, was weise Menschen ausmacht. Und das scheint in erstaunlich frühem Alter geprägt zu werden. Psychologiestudentinnen der Universität Wien haben die Jüngsten zu Wort kommen lassen und Kinder ab sechs Jahren befragt, welche Eigenschaften weise Menschen ihrer Meinung nach auszeichnen. Von den Schulanfängern hatten schon fast die Hälfte eine Antwort parat, ab Klasse 4 praktisch alle.
Originelle Definitionen sind da zu hören. Ein Weiser sei »ehrlich, nett und rätselhaft«, sagt ein neunjähriger Bub. »Er hält zu dir und hilft dir, wenn es dir nicht gut geht. Man kann ihm Geheimnisse anvertrauen«, findet ein gleichaltriges Mädchen. »Weise geben schlaue Tipps und erzählen uralte Geschichten«, meint ein Zehnjähriger.
Ratgebertalent, Verlässlichkeit, Erfahrung, eine besondere Aura - dieses frühe Bild ergänzen Erwachsene um weitere positive Facetten. Sie nennen am häufigsten die Eigenschaften ruhig, lebenserfahren, wissend, belesen, über den Dingen und Menschen stehend, gelassen, gütig, milde, bescheiden, ausgeglichen, freundlich, mit persönlicher Ausstrahlung, besonnen, selbstbewusst, einfühlsam, kann zuhören, gibt gute Ratschläge / Hilfen / Urteile. Man könnte das erweitern, bis der Universalkatalog guter Eigenschaften vollständig ist: aufmerksam, beharrlich, unabhängig, unerschrocken, uneigennützig, unbestechlich. Vertrauensvoll, aber nicht vertrauensselig. Loyal, aber nicht unkritisch.
Das Übermaß an aufgezählten Ideal-Qualitäten hat eine fatale Nebenwirkung. Es lähmt. Es setzt Maßstäbe, denen in ihrer Gesamtheit kaum ein Irdischer oder eine Irdische gewachsen ist. Wenn in Umfragen nach realen Weisen gefragt wird, landen auf den hohen Rängen Religionsstifter wie Buddha und Jesus. Dazu kommen bewunderte Prominente, die für Frieden und eine bessere Welt nicht nur Worte, sondern ihr ganzes Leben in die Waagschale geworfen haben: Gandhi, Martin Luther King, Mutter Teresa, Nelson Mandela, der Dalai Lama. Diese Heilsgestalten sind Projektionsflächen einer Sehnsucht, doch dummerweise ziemlich weit vom eigenen Leben entfernt. Zu weit, um Orientierung im Detail zu geben.
Und die ist gründlich verloren gegangen in einer Gesellschaft, in der keine Einigkeit mehr über Werte besteht. Richtig und falsch sind keine gültigen Kategorien mehr. Von den zehn biblischen Geboten werden gerade noch Nummer 5 (nicht töten) und Nummer 7 (nicht stehlen) allgemein anerkannt. Ein Begriff wie Sünde hat Bedeutung verloren; die ehemaligen Todsünden haben sich in die Mitte der Gesellschaft vorgearbeitet, von den Medien fasziniert begleitet. Zu Habgier und Hochmut applaudieren die Wirtschaftsmagazine; Genusssucht, Selbstsucht und Trägheit des Herzens sind Favoriten der Regenbogenpresse; für Geiz wirbt der Anzeigenteil. Und denjenigen, die sich teurere Sünden nicht leisten können, bleibt immerhin Zorn und Neid.
Der Bedarf an weisen Vorbildern, die noch Maßstäbe liefern, ist in dieser Situation groß. Gleichzeitig sind die Bedürftigen anspruchsvoll geworden und misstrauen vermeintlichen Autoritäten. Ehemalige Sinnstiftungs-Institutionen wie die Kirche haben Überzeugungskraft verloren. Kein Trost mehr von oben. Genauso wenig von den vorangegangenen Generationen, von Eltern, Großeltern, Lehrern - das Tempo der Neuerungen im Wissenszeitalter entwertet deren Lebenserfahrung rapide. Politiker, Ärzte, Manager? Sind als Eigeninteressenvertreter in Misskredit geraten. Wissenschaftler? Sind Experten für Spezialistentum, nicht für Lebenskunst.
Geachtete Mentoren im persönlichen Umfeld, die sich Zeit nehmen, um Entwicklungshilfe zu leisten zu den großen Fragen, den Zielen des eigenen Lebens, sind Mangelware. Kein Sokrates schreitet durch unsere Städte, um Jugendliche und Erwachsene in Streitgespräche über Wesentliches zu verwickeln. Für ein langjähriges Meister-Schüler- Verhältnis, wie es in östlichen Weisheitstraditionen praktiziert wird, gibt es im Westen kaum Parallelen. Lehrerinnen oder Professoren haben häufig weder die Muße noch die Gabe, einzelne Schüler oder Studierende über Jahre hinweg zu beraten und zu begleiten. Die Berufsgruppe, die am ehesten als Weg-Weiser und Ratgeber fungiert, ist die der Therapeuten. Und die kommen meist erst ins Spiel, wenn man selbst so gar keinen Ausweg mehr weiß.
Was wie eine Sackgasse aussieht, lässt ein Schlupfloch offen. Selbsterkundung und Selbstverantwortung sind gefragt. Montaignes Wort »Weiser werden wir nur durch uns selbst« kann auch als Ermutigung verstanden werden, nicht darauf zu warten, dass ein Guru auftaucht, dem man brav folgt. Es fordert auf, eine Geisteshaltung zu kultivieren, die Weisheit aufspürt - auch dort, wo man sie nicht erwartet.
Die Passwächter-Situation in der chinesischen Legende ist da ein Sonderfall. Die Voraussetzungen sind vollkommen - hier ein Lehrer, der sein Wissen freigebig teilt, dort ein Adressat, der die Muße hat zuzuhören und es dankend annimmt. In dieser Konstellation scheint weise Ernte fast langweilig zwingend vorprogrammiert. Zu den Paradoxa der Weisheit passt besser, dass es oft kleinere Lektionen sind, die große Wirkung entfalten: Inspirationen, Anstöße, Anregungen, die das Leben ein wenig in Richtung Weisheit verrücken. Sie speisen sich aus kurzen Zufallsbegegnungen. Aus überwundenen Enttäuschungen. Aus verrauchter Wut. Stammen von fiktiven Helden aus Büchern, Film und Fernsehen. Aus Songtexten oder Comics. Irgendein richtiges Wort zur rechten Zeit fällt auf fruchtbaren Boden und beschert ein Aha-Erlebnis, das im Leben fortwirkt, vielleicht nur für einen kurzen Moment, vielleicht dauerhaft.
Grundlagen der Weisheit: Geduld, Gefühl, die Würdigung des Irrationalen und der Mut zur Selbsterkenntnis
Ein solches Erlebnis berührt nicht nur das Gehirn. Was Weisheit so besonders und geheimnisvoll macht, ist, dass sie die reine Vernunft hinter sich lässt. Weise werten das logische Denken nicht gering, aber sie vergessen nicht, dass die menschliche Natur nur an der Oberfläche mit einer Tünche Ratio überzogen ist. Es sind nur ein paar Jahrtausende, die das moderne Bewusstsein geprägt haben; darunter schlummern Jahrmillionen eines älteren naturgeschichtlichen Erbes. Einflüsse, die sich als starke Gefühle, als Intuition, als Vorlieben oder als Vorurteile bemerkbar machen. Variablen, mit denen zu rechnen ist.
Seit Mitte der 1990er Jahre hat die Gefühlswelt in der Naturwissenschaft eine beachtliche Aufwertung erfahren.
Psychologen sind nicht mehr allein mit dem Hinweis, wie eng Denken und Fühlen zusammengehören. Hirnforscher und Neurologen haben begonnen, Details des Zusammenspiels zu entschlüsseln. Ihre Erkenntnisse legen eine faszinierend neue Sicht der Dinge nah: Ohne Gefühle kein rationales Denken. Die sinnliche Begegnung mit der Umwelt erzeugt Emotionen, und die bilden die Grundlage, auf der sich der Geist überhaupt entfalten kann.
Diese Einsicht kann das Geheimnis der Weisheit ein wenig lüften und erklären, warum sie über alle Orte und Zeiten hinweg ihren Reiz behalten hat. Wir verehren sie, weil wir auch im 21. Jahrhundert der Vergötterung reiner Ratio instinktiv misstrauen. Den menschlichen Geist auf Vernunft und Logik zu reduzieren, beleidigt ihn. Denn lebendig sein, heißt nicht nur Denken, sondern Sinnlichkeit, Freude und Trauer, Verbundenheit mit der Natur. Biophilie nennen Evolutionsforscher diese intuitive Vertrautheit mit anderen lebendigen Wesen.
Weisheit zollt unseren biologischen Wurzeln, unseren Gefühlen und Ahnungen zu Recht Respekt. Die irrationalen und rätselhaften Aspekte im eigenen Leben und im menschlichen Miteinander zu verstehen und zu würdigen und auszubalancieren, gehört zu ihrem Kern. Nach der dualistischen Logik, die das Abendland seit Aristoteles verehrt hat, gilt entweder a oder nicht a und nichts dazwischen. Und wenn aus a heute b folgt, dann auch morgen und für immer. In der Lebenswirklichkeit stimmt das, was heute gilt, morgen vielleicht überhaupt nicht mehr. Zu viele unvorhersagbare Randbedingungen beeinflussen das System; mathematische Modelle mit strengen Ursache-Wirkungs- Beziehungen versagen.
Das Paradox von Laozi beschreibt die Welt poetischer und genauer als die abendländische Ja-Nein-Logik. Stark, schwach, hart, weich - jede Qualität birgt ihren Gegenpol in sich. Aus dem Spannungsverhältnis der Gegensätze ergibt sich der neue Zustand. Irgendwann besiegt das weiche Wasser den Stein; das Harte unterliegt. Laozi weiß es, schreibt es auf und zieht die Konsequenzen. Als er sieht, dass sich die Dinge in seiner Lebenszeit wohl nicht wieder zum Besseren wenden werden, wählt er das Exil.
Zu diesem Schritt gehören Mut und vor allem Selbsterkenntnis. »Wer andere kennt, ist klug. Wer sich selbst kennt, ist weise«, heißt es im Daodejing. Auch in diesem Punkt trifft sich Laozis Werk mit den Weisheitslehren anderer Kulturkreise. »Gnothi seautón« lautet die griechische Entsprechung. Sie stand auf dem Apollo-Tempel in Delphi, in dem die Priesterin Pythia am siebten Tag eines jeden Monats im Sommer ihre Orakel verkündete - erkenne dich selbst. Für die Griechen war Selbsterkenntnis ein Ringen um philosophische Fragen: Wo ist der eigene Platz im Kosmos? Was bedeutet Menschsein an sich? Wie tief kann der menschliche Verstand in die Geheimnisse des Kosmos eindringen? Inwieweit lässt sich der Ursprung des Seins ergründen?
Für persönliche Weisheit ist über diese philosophische Dimension hinaus die psychologische von Belang. Selbsterkenntnis heißt, sich den eigenen Möglichkeiten und Grenzen zu stellen. Warum bin ich, wie ich bin? Welche Menschen, welche Umstände haben meine Persönlichkeit geprägt? Was mag ich an mir, was hasse ich? Welche Aspekte kann ich ändern, mit welchen muss ich mich abfinden?
Merkmale, die beim Blick in den Spiegel Freude oder Seufzer hervorrufen, sind jedem als unabänderliche genetische Faktoren in die Wiege gelegt: Augen-und Haarfarbe, die Größe, die Form der Nase, die Anfälligkeit für Krankheiten. Andere Prägungen haben ihren Ursprung in zufälligen Lebensumständen, die nachträglich nicht zu ändern sind. Es hat Auswirkungen, ob man in der Stadt oder auf dem Land aufwächst, als Einzelkind oder mit drei Geschwistern, im Direktoren-oder Hartz-IV-Haushalt, oft getadelt, gelobt oder ignoriert, überbehütet oder früh auf sich gestellt. Längst vergessene Erfahrungen haben Einfluss genommen auf Selbstbewusstsein, Durchsetzungsvermögen, Ängste. Nebensächlich erscheinende Dinge wie zum Beispiel die Länge des Schulwegs. Frühe Freundschaften. Streitigkeiten im Kindergarten. Dazu kommen mehr oder weniger gezielt getroffene Entscheidungen für Ausbildung, Hobbys, Partner, Beruf.
Wer ist dieses Ich, welche Spielräume stehen ihm offen? Woher rühren die Stärken, Schwächen, Hoffnungen, Kränkungen und Enttäuschungen? Welche Aspekte, die nicht zum eigenen Ideal passen, sind veränderbar? Welche Erwartungen an die eigenen Ansprüche sind realistisch? Sich kennenzulernen, sich wichtig zu nehmen und sich mit den eigenen Schwächen zu versöhnen, ist ein lebenslanger bereichernder Prozess. Wer sich selbst über-oder unterschätzt, wird es schwer haben, mit sich ins Reine zu kommen.
Der holländische Gestalttherapeut Bruno-Paul de Roeck drückt es drastisch aus: »Elefanten versuchen nicht, Giraffen oder Schwalben zu werden. Radieschen versuchen nicht Rote Bete zu werden. Aber wir versuchen zu sein, was wir nicht sind. Wir ersticken in den Idealen, die unerreichbar sind oder die nur auf unsere eigenen Kosten erreicht werden können.« Das Ergebnis der Selbstzweifel sieht er in seiner therapeutischen Praxis: »Wir gehen auf den Zehenspitzen, um nur ja nirgendwo anzustoßen, und werden schließlich ärgerlich auf unsere Zehen, wenn sie uns weh tun.«
Ehrlich mit sich selbst zu sein und die eigenen Grenzen zu akzeptieren, ist keine Garantie dafür, Weisheit zu entwickeln, aber ein Schritt auf dem Weg zu ihr. Wer das Abenteuer auf sich nimmt, wird sich manchmal wie trübes Wasser fühlen. Und dann wieder wie ein erhabener Pilger in einer langen Reihe von Vorgängern auf dem Pfad zum Wesentlichen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Man weiß nicht so genau, wann er gelebt hat. Manche sind sich sogar nicht völlig sicher, ob er überhaupt existiert hat. Sicher aber gibt es das Daodejing, ein Werk, bestehend aus 5000 Schriftzeichen, entstanden um das 5. Jahrhundert vor Christus, das ihm zugeschrieben wird. Die Legende über seinen (wahrscheinlichen) Verfasser ist zu schön, um nicht wahr zu sein. Und weil eine Prise Mystik die Begebenheit adelt, eignet sie sich ideal als Einstieg in das große Thema Weisheit.
Der Held ist ein älterer Gelehrter. Angesprochen wird er als Laozi, Alter Meister. Er hat als Archivar in der Bibliothek des Königs von Chou im Norden Chinas gearbeitet. Nun verlässt er seine Heimat, weil er den Verfall des Reichs vorausahnt und zieht hinter die Berge. Auf chinesischen Tuschezeichnungen ist ein Wasserbüffel sein Begleiter und Gepäckträger, ein kräftiges, aber auch sanftes, gemächliches und gemütliches Tier. Die beiden pilgern nach Westen. Als sie auf dem Weg einen Passwächter treffen, verwickelt der den alten Archivar in ein Gespräch über seine Einsichten. Auf Drängen des Wissbegierigen schreibt Laozi ihm auf, was er wesentlich findet, bevor er endgültig ins Gebirge entschwindet. So entsteht das Daodejing, das angeblich nach der Bibel am häufigsten übersetzte Buch der Welt.
Die Szene strahlt Einfachheit, Freundlichkeit, Ruhe aus. Im Alter die Heimat zu verlassen und ins Ungewisse zu ziehen, weil es angemessen erscheint - so handelt einer, der Mut besitzt und Seelenfrieden gefunden hat. Arroganz ist ihm fremd, er ziert sich nicht, als er um Rat gefragt wird. Aber er missioniert auch nicht. Er ist bescheiden und hätte seine Weisheit für sich behalten, hätte es nicht jemand gegeben, der begierig war, sie zu hören. Bertolt Brecht hat der Begegnung ein Denkmal gesetzt und dieses Detail in seiner Ballade betont: »Aber rühmen wir nicht nur den Weisen/ dessen Name auf dem Buche prangt! / Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreißen. / Darum sei der Zöllner auch bedankt: / Er hat sie ihm abverlangt.« Das wird nicht immer mitbedacht, wenn es um Weisheit geht. Um Wirksamkeit zu entfalten, muss sie ein offenes Ohr finden.
Worin besteht die Weisheit des Daodejing? Die 81 Kapitel der Textsammlung sind selbst für diejenigen, die das Original lesen können, alles andere als leicht verständlich. Nicht minder dunkel sind die Übertragungen. Die Hauptrolle in Laozis Buch spielt das »unnennbare« Dao. In den verschiedenen deutschen Übersetzungen wird es umschrieben als »Rechter Weg«, als »Sinn«, als »Urquell des Seins« oder als das »große Eine, in dem die Gegensätze aufgehoben sind«.
Im Groben ist das Werk eine einzige Warnung, dass die tiefgründigen Wahrheiten jenseits des Vermittelbaren liegen. Dass deshalb diejenigen schweigen, die um sie wissen: »Wer weiß, redet nicht / wer redet, weiß nicht.« Es geht hier, soviel ist schnell klar, nicht um Allerweltskenntnisse, es geht um das Wesentliche. Und natürlich lassen sich die Wissenden manchmal doch zum Reden verführen, sonst gäbe es auch das Daodejing nicht. Ihr Kunstgriff besteht darin, Einsichten in Metaphern zu kleiden. Konkret genug, um eine Ahnung zu geben von den Schätzen, die zu heben sind. Um bei Zuhörern und Lesern die Sehnsucht zu wecken, sich auf den Weg zu begeben und irgendwann selbst zu den Eingeweihten zu zählen, zu den Wissenden, die in sich ruhen - selbst dann, wenn um sie herum das Chaos tobt.
Ein Kapitel spricht von denen, die das geschafft haben, von den »alten Weisen«, die im Dao bewandert sind. In einer modernen Nachdichtung des Salzburgers Bodo Kirchner lautet die Stelle: »Ihre Haltung war / behutsam, wie beim Überqueren eines Flusses im Winter/vorsichtig, wie bei drohender Gefahr / zurückhaltend, wie willkommene Gäste/nachgebend, wie schmelzendes Eis/einfach, wie rohes Holz/offen, wie ein weites Tal / anspruchslos, wie trübes Wasser.«
Wie bitte? Ein Weiser soll trübem Wasser ähneln? Das erscheint als bizarrer Vergleich. Laozis Erklärung beinhaltet eines der Paradoxa, die das Daodejing berühmt gemacht haben: »Wer wie trübes Wasser sein kann/kann in Stille zur Klarheit gelangen/Wer in Bewegung behutsam ist/kann in Ruhe zur Beständigkeit gelangen.«
Das Wasser, allgegenwärtig, unscheinbar und wunderbar, stillt Durst, nährt Pflanzen, erfrischt und reinigt. In dem alten chinesischen Text wird es an verschiedenen Stellen gerühmt. Es sei bereit, allen Wesen zu dienen. Es bleibe an Orten, die Menschen verachten. Es gleiche dem Dao, denn: »Nichts in der Welt / ist nachgiebiger und weicher als Wasser/ doch nichts ist besser/um Hartes und Starkes zu überwinden. « Die Lehre daraus: Das Weiche kann das Harte besiegen, das Schwache überwindet das Starke. Und die melancholische Erkenntnis: »Obwohl jeder es weiß/handelt keiner danach.«
Was bedeutet es, einer Weisheitslehre zu folgen, die ihre Anhänger auffordert, wie trübes Wasser zu sein? Laozis Lösung ist typisch asiatisch. Er rät zur Praxis des Schweigens, der Demut, der Innenschau: »Beende das Gerede/ schließe die Türen/dämpfe den Eifer/löse die Verwirrung/ mindere den Glanz / finde den Grund.«
Vom Daoismus, der chinesischen philosophischen Schule, die nach diesen Prinzipien ausgerichtet ist, wird noch die Rede sein. Die Lehre unterscheidet sich in vielen Aspekten von Weisheitswegen anderer Kulturkreise. Doch einen Punkt, an dem sich alle treffen, beleuchtet das Daodejing und die Legende seiner Entstehung besonders gut: Weisheit ist keine theoretische, sondern eine angewandte Kunst. Sie erschöpft sich nicht in Gerede, kann sogar ohne Worte auskommen; sie misst sich am Tun. Dabei folgt sie Laozis Paradox: Sie ist einfach und geheimnisvoll zugleich, leicht zu erkennen, schwer zu erringen. Und sie erfordert persönlichen Einsatz, wie es der französische Philosoph Michel de Montaigne viele Jahrhunderte nach Laozi gesagt hat: »Es mag sein, dass wir durch das Wissen anderer gelehrter werden. Weiser werden wir nur durch uns selbst.«
Ehrlich, nett und rätselhaft: vom Psychogramm der Weisen, dem Mangel an modernen Weg-Weisern und der Notwendigkeit von Selbstversuchen
Schön gesagt, schwer zu verwirklichen. Die Weisheit ruft laut auf der Straße, aber ihr Ruf erreicht die Ohren der Menschen nicht, hieß es bei Salomo. Ganz ähnlich klingt die Klage Laozis: Jeder kenne sie, aber aus dieser Kenntnis folge kein entsprechendes Handeln. Wieder ein Paradox. Weisheit scheint ein durchaus greifbarer Schatz zu sein, destilliert aus Lebens-und Welterfahrung, aus den bedeutendsten Erkenntnissen und Überlieferungen. Eigentlich steht der Gebrauch jedem offen, es gibt nur eine Hürde: Man muss sich gewissermaßen selbst dazu überlisten, den Schatz zu heben.
Und das ist verwirrend und verzwickt. Denn wie dabei vorzugehen ist, steht in keinem Lehrbuch. Weisheit lässt sich nicht studieren, trainieren und anschließend beherrschen wie eine Fremdsprache, ein Musikinstrument, eine Sportart oder die höhere Mathematik. Sie ist nicht durch Einheirat zu erringen wie ein Adelsprädikat oder ein Familienvermögen. Man kann sie nicht herbeizwingen, nicht einmal mit Waffengewalt. Sie fällt keinem in den Schoß wie ein Lottogewinn. Und ein »Weisheitsquotient«, der mit ein paar Standardaufgaben zu ermitteln wäre wie der IQ, lässt auch auf sich warten.
Wie also ist dem geheimnisvollen Ideal auf die Schliche zu kommen? Vielleicht über die Einzelteile, aus denen sich das größere Ganze zusammensetzt. Immerhin gibt es ein intuitives Grundverständnis darüber, was weise Menschen ausmacht. Und das scheint in erstaunlich frühem Alter geprägt zu werden. Psychologiestudentinnen der Universität Wien haben die Jüngsten zu Wort kommen lassen und Kinder ab sechs Jahren befragt, welche Eigenschaften weise Menschen ihrer Meinung nach auszeichnen. Von den Schulanfängern hatten schon fast die Hälfte eine Antwort parat, ab Klasse 4 praktisch alle.
Originelle Definitionen sind da zu hören. Ein Weiser sei »ehrlich, nett und rätselhaft«, sagt ein neunjähriger Bub. »Er hält zu dir und hilft dir, wenn es dir nicht gut geht. Man kann ihm Geheimnisse anvertrauen«, findet ein gleichaltriges Mädchen. »Weise geben schlaue Tipps und erzählen uralte Geschichten«, meint ein Zehnjähriger.
Ratgebertalent, Verlässlichkeit, Erfahrung, eine besondere Aura - dieses frühe Bild ergänzen Erwachsene um weitere positive Facetten. Sie nennen am häufigsten die Eigenschaften ruhig, lebenserfahren, wissend, belesen, über den Dingen und Menschen stehend, gelassen, gütig, milde, bescheiden, ausgeglichen, freundlich, mit persönlicher Ausstrahlung, besonnen, selbstbewusst, einfühlsam, kann zuhören, gibt gute Ratschläge / Hilfen / Urteile. Man könnte das erweitern, bis der Universalkatalog guter Eigenschaften vollständig ist: aufmerksam, beharrlich, unabhängig, unerschrocken, uneigennützig, unbestechlich. Vertrauensvoll, aber nicht vertrauensselig. Loyal, aber nicht unkritisch.
Das Übermaß an aufgezählten Ideal-Qualitäten hat eine fatale Nebenwirkung. Es lähmt. Es setzt Maßstäbe, denen in ihrer Gesamtheit kaum ein Irdischer oder eine Irdische gewachsen ist. Wenn in Umfragen nach realen Weisen gefragt wird, landen auf den hohen Rängen Religionsstifter wie Buddha und Jesus. Dazu kommen bewunderte Prominente, die für Frieden und eine bessere Welt nicht nur Worte, sondern ihr ganzes Leben in die Waagschale geworfen haben: Gandhi, Martin Luther King, Mutter Teresa, Nelson Mandela, der Dalai Lama. Diese Heilsgestalten sind Projektionsflächen einer Sehnsucht, doch dummerweise ziemlich weit vom eigenen Leben entfernt. Zu weit, um Orientierung im Detail zu geben.
Und die ist gründlich verloren gegangen in einer Gesellschaft, in der keine Einigkeit mehr über Werte besteht. Richtig und falsch sind keine gültigen Kategorien mehr. Von den zehn biblischen Geboten werden gerade noch Nummer 5 (nicht töten) und Nummer 7 (nicht stehlen) allgemein anerkannt. Ein Begriff wie Sünde hat Bedeutung verloren; die ehemaligen Todsünden haben sich in die Mitte der Gesellschaft vorgearbeitet, von den Medien fasziniert begleitet. Zu Habgier und Hochmut applaudieren die Wirtschaftsmagazine; Genusssucht, Selbstsucht und Trägheit des Herzens sind Favoriten der Regenbogenpresse; für Geiz wirbt der Anzeigenteil. Und denjenigen, die sich teurere Sünden nicht leisten können, bleibt immerhin Zorn und Neid.
Der Bedarf an weisen Vorbildern, die noch Maßstäbe liefern, ist in dieser Situation groß. Gleichzeitig sind die Bedürftigen anspruchsvoll geworden und misstrauen vermeintlichen Autoritäten. Ehemalige Sinnstiftungs-Institutionen wie die Kirche haben Überzeugungskraft verloren. Kein Trost mehr von oben. Genauso wenig von den vorangegangenen Generationen, von Eltern, Großeltern, Lehrern - das Tempo der Neuerungen im Wissenszeitalter entwertet deren Lebenserfahrung rapide. Politiker, Ärzte, Manager? Sind als Eigeninteressenvertreter in Misskredit geraten. Wissenschaftler? Sind Experten für Spezialistentum, nicht für Lebenskunst.
Geachtete Mentoren im persönlichen Umfeld, die sich Zeit nehmen, um Entwicklungshilfe zu leisten zu den großen Fragen, den Zielen des eigenen Lebens, sind Mangelware. Kein Sokrates schreitet durch unsere Städte, um Jugendliche und Erwachsene in Streitgespräche über Wesentliches zu verwickeln. Für ein langjähriges Meister-Schüler- Verhältnis, wie es in östlichen Weisheitstraditionen praktiziert wird, gibt es im Westen kaum Parallelen. Lehrerinnen oder Professoren haben häufig weder die Muße noch die Gabe, einzelne Schüler oder Studierende über Jahre hinweg zu beraten und zu begleiten. Die Berufsgruppe, die am ehesten als Weg-Weiser und Ratgeber fungiert, ist die der Therapeuten. Und die kommen meist erst ins Spiel, wenn man selbst so gar keinen Ausweg mehr weiß.
Was wie eine Sackgasse aussieht, lässt ein Schlupfloch offen. Selbsterkundung und Selbstverantwortung sind gefragt. Montaignes Wort »Weiser werden wir nur durch uns selbst« kann auch als Ermutigung verstanden werden, nicht darauf zu warten, dass ein Guru auftaucht, dem man brav folgt. Es fordert auf, eine Geisteshaltung zu kultivieren, die Weisheit aufspürt - auch dort, wo man sie nicht erwartet.
Die Passwächter-Situation in der chinesischen Legende ist da ein Sonderfall. Die Voraussetzungen sind vollkommen - hier ein Lehrer, der sein Wissen freigebig teilt, dort ein Adressat, der die Muße hat zuzuhören und es dankend annimmt. In dieser Konstellation scheint weise Ernte fast langweilig zwingend vorprogrammiert. Zu den Paradoxa der Weisheit passt besser, dass es oft kleinere Lektionen sind, die große Wirkung entfalten: Inspirationen, Anstöße, Anregungen, die das Leben ein wenig in Richtung Weisheit verrücken. Sie speisen sich aus kurzen Zufallsbegegnungen. Aus überwundenen Enttäuschungen. Aus verrauchter Wut. Stammen von fiktiven Helden aus Büchern, Film und Fernsehen. Aus Songtexten oder Comics. Irgendein richtiges Wort zur rechten Zeit fällt auf fruchtbaren Boden und beschert ein Aha-Erlebnis, das im Leben fortwirkt, vielleicht nur für einen kurzen Moment, vielleicht dauerhaft.
Grundlagen der Weisheit: Geduld, Gefühl, die Würdigung des Irrationalen und der Mut zur Selbsterkenntnis
Ein solches Erlebnis berührt nicht nur das Gehirn. Was Weisheit so besonders und geheimnisvoll macht, ist, dass sie die reine Vernunft hinter sich lässt. Weise werten das logische Denken nicht gering, aber sie vergessen nicht, dass die menschliche Natur nur an der Oberfläche mit einer Tünche Ratio überzogen ist. Es sind nur ein paar Jahrtausende, die das moderne Bewusstsein geprägt haben; darunter schlummern Jahrmillionen eines älteren naturgeschichtlichen Erbes. Einflüsse, die sich als starke Gefühle, als Intuition, als Vorlieben oder als Vorurteile bemerkbar machen. Variablen, mit denen zu rechnen ist.
Seit Mitte der 1990er Jahre hat die Gefühlswelt in der Naturwissenschaft eine beachtliche Aufwertung erfahren.
Psychologen sind nicht mehr allein mit dem Hinweis, wie eng Denken und Fühlen zusammengehören. Hirnforscher und Neurologen haben begonnen, Details des Zusammenspiels zu entschlüsseln. Ihre Erkenntnisse legen eine faszinierend neue Sicht der Dinge nah: Ohne Gefühle kein rationales Denken. Die sinnliche Begegnung mit der Umwelt erzeugt Emotionen, und die bilden die Grundlage, auf der sich der Geist überhaupt entfalten kann.
Diese Einsicht kann das Geheimnis der Weisheit ein wenig lüften und erklären, warum sie über alle Orte und Zeiten hinweg ihren Reiz behalten hat. Wir verehren sie, weil wir auch im 21. Jahrhundert der Vergötterung reiner Ratio instinktiv misstrauen. Den menschlichen Geist auf Vernunft und Logik zu reduzieren, beleidigt ihn. Denn lebendig sein, heißt nicht nur Denken, sondern Sinnlichkeit, Freude und Trauer, Verbundenheit mit der Natur. Biophilie nennen Evolutionsforscher diese intuitive Vertrautheit mit anderen lebendigen Wesen.
Weisheit zollt unseren biologischen Wurzeln, unseren Gefühlen und Ahnungen zu Recht Respekt. Die irrationalen und rätselhaften Aspekte im eigenen Leben und im menschlichen Miteinander zu verstehen und zu würdigen und auszubalancieren, gehört zu ihrem Kern. Nach der dualistischen Logik, die das Abendland seit Aristoteles verehrt hat, gilt entweder a oder nicht a und nichts dazwischen. Und wenn aus a heute b folgt, dann auch morgen und für immer. In der Lebenswirklichkeit stimmt das, was heute gilt, morgen vielleicht überhaupt nicht mehr. Zu viele unvorhersagbare Randbedingungen beeinflussen das System; mathematische Modelle mit strengen Ursache-Wirkungs- Beziehungen versagen.
Das Paradox von Laozi beschreibt die Welt poetischer und genauer als die abendländische Ja-Nein-Logik. Stark, schwach, hart, weich - jede Qualität birgt ihren Gegenpol in sich. Aus dem Spannungsverhältnis der Gegensätze ergibt sich der neue Zustand. Irgendwann besiegt das weiche Wasser den Stein; das Harte unterliegt. Laozi weiß es, schreibt es auf und zieht die Konsequenzen. Als er sieht, dass sich die Dinge in seiner Lebenszeit wohl nicht wieder zum Besseren wenden werden, wählt er das Exil.
Zu diesem Schritt gehören Mut und vor allem Selbsterkenntnis. »Wer andere kennt, ist klug. Wer sich selbst kennt, ist weise«, heißt es im Daodejing. Auch in diesem Punkt trifft sich Laozis Werk mit den Weisheitslehren anderer Kulturkreise. »Gnothi seautón« lautet die griechische Entsprechung. Sie stand auf dem Apollo-Tempel in Delphi, in dem die Priesterin Pythia am siebten Tag eines jeden Monats im Sommer ihre Orakel verkündete - erkenne dich selbst. Für die Griechen war Selbsterkenntnis ein Ringen um philosophische Fragen: Wo ist der eigene Platz im Kosmos? Was bedeutet Menschsein an sich? Wie tief kann der menschliche Verstand in die Geheimnisse des Kosmos eindringen? Inwieweit lässt sich der Ursprung des Seins ergründen?
Für persönliche Weisheit ist über diese philosophische Dimension hinaus die psychologische von Belang. Selbsterkenntnis heißt, sich den eigenen Möglichkeiten und Grenzen zu stellen. Warum bin ich, wie ich bin? Welche Menschen, welche Umstände haben meine Persönlichkeit geprägt? Was mag ich an mir, was hasse ich? Welche Aspekte kann ich ändern, mit welchen muss ich mich abfinden?
Merkmale, die beim Blick in den Spiegel Freude oder Seufzer hervorrufen, sind jedem als unabänderliche genetische Faktoren in die Wiege gelegt: Augen-und Haarfarbe, die Größe, die Form der Nase, die Anfälligkeit für Krankheiten. Andere Prägungen haben ihren Ursprung in zufälligen Lebensumständen, die nachträglich nicht zu ändern sind. Es hat Auswirkungen, ob man in der Stadt oder auf dem Land aufwächst, als Einzelkind oder mit drei Geschwistern, im Direktoren-oder Hartz-IV-Haushalt, oft getadelt, gelobt oder ignoriert, überbehütet oder früh auf sich gestellt. Längst vergessene Erfahrungen haben Einfluss genommen auf Selbstbewusstsein, Durchsetzungsvermögen, Ängste. Nebensächlich erscheinende Dinge wie zum Beispiel die Länge des Schulwegs. Frühe Freundschaften. Streitigkeiten im Kindergarten. Dazu kommen mehr oder weniger gezielt getroffene Entscheidungen für Ausbildung, Hobbys, Partner, Beruf.
Wer ist dieses Ich, welche Spielräume stehen ihm offen? Woher rühren die Stärken, Schwächen, Hoffnungen, Kränkungen und Enttäuschungen? Welche Aspekte, die nicht zum eigenen Ideal passen, sind veränderbar? Welche Erwartungen an die eigenen Ansprüche sind realistisch? Sich kennenzulernen, sich wichtig zu nehmen und sich mit den eigenen Schwächen zu versöhnen, ist ein lebenslanger bereichernder Prozess. Wer sich selbst über-oder unterschätzt, wird es schwer haben, mit sich ins Reine zu kommen.
Der holländische Gestalttherapeut Bruno-Paul de Roeck drückt es drastisch aus: »Elefanten versuchen nicht, Giraffen oder Schwalben zu werden. Radieschen versuchen nicht Rote Bete zu werden. Aber wir versuchen zu sein, was wir nicht sind. Wir ersticken in den Idealen, die unerreichbar sind oder die nur auf unsere eigenen Kosten erreicht werden können.« Das Ergebnis der Selbstzweifel sieht er in seiner therapeutischen Praxis: »Wir gehen auf den Zehenspitzen, um nur ja nirgendwo anzustoßen, und werden schließlich ärgerlich auf unsere Zehen, wenn sie uns weh tun.«
Ehrlich mit sich selbst zu sein und die eigenen Grenzen zu akzeptieren, ist keine Garantie dafür, Weisheit zu entwickeln, aber ein Schritt auf dem Weg zu ihr. Wer das Abenteuer auf sich nimmt, wird sich manchmal wie trübes Wasser fühlen. Und dann wieder wie ein erhabener Pilger in einer langen Reihe von Vorgängern auf dem Pfad zum Wesentlichen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Hanne Tügel
Hanne Tügel ist 1953 geboren. Nach einer Ausbildung zur Verlagskauffrau und einem Pädagogikstudium hat sie die Hamburger Journalistenschule absolviert und arbeitet seit 25 Jahren als Journalistin mit einer Vorliebe für Themen am Schnittpunkt von Wissenschaft und Gesellschaft. Seit 1995 ist sie Redakteurin bei GEO. Dort war sie verantwortlich für Titelgeschichten wie »Kreativität« und »Meditation« und die ausserordentlich erfolgreiche Serie »Weisheit«.
Bibliographische Angaben
- Autor: Hanne Tügel
- 2011, 2. Aufl., 328 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596188563
- ISBN-13: 9783596188567
- Erscheinungsdatum: 15.01.2013
Rezension zu „Wege zur Weisheit “
Hanne Tügel zeichnet anschaulich und klug nach, was weise Menschen quer durch alle Epochen und Erdkreise auszeichnet - nämlich vor allem Mitgefühl, Humor, Toleranz und Gelassenheit. Gehirn & Geist
Pressezitat
Hanne Tügel zeichnet anschaulich und klug nach, was weise Menschen quer durch alle Epochen und Erdkreise auszeichnet - nämlich vor allem Mitgefühl, Humor, Toleranz und Gelassenheit. Gehirn & Geist
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