Weg ins Ungewisse
Ingeborg Schalek erzählt das ergreifende Schicksal ihrer Großmutter auf der Flucht vor den Gräueln des Krieges.
Barbara Lehmann wird 1908 im heutigen Serbien geboren. Als im II. Weltkrieg die deutschen Siedler für vogelfrei...
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Ingeborg Schalek erzählt das ergreifende Schicksal ihrer Großmutter auf der Flucht vor den Gräueln des Krieges.
Barbara Lehmann wird 1908 im heutigen Serbien geboren. Als im II. Weltkrieg die deutschen Siedler für vogelfrei erklärt werden, muss Barbara mit ihren beiden Töchern vor den heranrückenden Russen fliehen. Sie gelangen nach Österreich, doch dann erhält Barbara die Nachricht, dass ihr Mann Toni in jugoslawischer Gefangenschaft gestorben ist.
Weg ins Ungewisse von Ingeborg Schalek
Alle versammelten wir uns um den Tisch - Onkel Johann setzte sich ans Kopfende, rechts neben ihm nahm Hannah Platz, und zu seiner Linken ließ sich unsere Tante nieder. Hans und ich saßen, uns an den Händen haltend, am unteren Ende des Tisches gemeinsam auf einem Stuhl. Unsere Schwester Marga spielte friedlich auf dem Lehmboden mit einer Stoffpuppe. In diesem Moment beneidete ich sie, denn sie wusste nichts von den Sorgen und Ängsten angesichts einer ungewissen Zukunft.
Onkel Johanns Blick war finster, er zog seine buschigen Augenbrauen zusammen und räusperte sich, bevor er stockend zu sprechen begann. Wir erkannten, dass seine Augen feucht wurden - es war für ihn offensichtlich nicht leicht, uns mitzuteilen, was geschehen musste.
»Aber Onkel Johann, du kannst doch nicht unseren alten Jokl versteigern, können wir nicht wenigstens ihn behalten?«, versuchte ich mit tränenerstickter Stimme vorsichtig einzuwenden.
»Das wäre Unsinn, er ist alt und nicht mehr zu vielen Sachen zu gebrauchen, das Geld wird für euch nützlicher sein als ein altersschwacher Gaul«, erwiderte Onkel Johann entschieden. Ich schwieg betroffen, denn Onkel Johanns Worte duldeten keinen Widerspruch - es war mir nur zu klar, dass ich ihn nie und nimmer umstimmen konnte.
Unsere Stiefmutter und ihre Tochter gingen völlig leer aus, da Hannah mit meinem Vater nicht verheiratet gewesen war. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich darin zu fügen, wieder einmal zu einem Mann, der vielleicht gerade die Frau verloren hatte, zu ziehen. Ich muss zugeben, dass sie vom Leben bisher wirklich nicht verwöhnt worden war, und ich wünschte ihr und unserer Schwester von Herzen eine bessere, eine sorglosere Zukunft.
Nun wandte sich Onkel Johann an meinen Bruder, der unmerklich zusammenzuckte.
»Hans, für dich habe ich in Titel eine Lehrstelle bei einem Schneider gefunden. Du bekommst im Haus deines Lehrherrn eine kleine Kammer, in der du während der Woche wohnen wirst, an den Sonntagen oder auch manchmal schon am Samstag kannst du dann ja nach Hause zu Anna oder zu uns kommen. Du wirst sehen, es wird dir gefallen, dein Lehrherr ist ein gerechter und anständiger Mann, ich habe ihn mir genau angesehen.«
Tapfer schluckte mein Bruder die aufsteigenden Tränen hinunter. Er war nicht fähig, auch nur eine einzige Silbe über die Lippen zu bringen. Starr und groß ruhte sein Blick auf Onkel Johann. Hans war klein und zart, aus seinem Gesicht war alle Farbe gewichen, und seine schmalen Lippen schienen blutleer. Ich konnte und wollte mir nicht vorstellen, dass dieser kleine Junge ganz alleine in Titel bei völlig fremden Menschen leben und arbeiten sollte. Mein Hals war wie zugeschnürt, ich drückte seine schmale Hand so fest, dass meine Knöchel weiß hervortraten.
Totenstill war es in unserer Küche, als nun Onkel Johanns Blick zu mir wanderte und er über meine Zukunft zu sprechen begann.
»Du, Barbara, wirst zu uns ziehen, denn wir sind nicht mehr ganz jung und können eine helfende Hand gut gebrauchen.«
Nach einer bedeutungsvollen Pause fügte er etwas leiser hinzu: »Bis sich ein passender Mann für dich findet.«
»Aber Onkel Johann, ich möchte lieber als Magd auf irgendeinem Hof arbeiten, vielleicht in der Nähe von Hans, dort würde ich auch niemandem zur Last fallen.«
»Nein, du kommst zu uns, daran ist nicht zu rütteln«, war die kurze und bestimmte Antwort meines Onkels.
Aber irgendwie war mir gar nicht so wichtig, was mit mir wurde. Ich dachte nur an Hans - er tat mir so unendlich leid, und ich wollte nicht, dass er nach Titel musste. Mit allen mir in den Sinn kommenden Argumenten versuchte ich Onkel Johann davon zu überzeugen, dass mein kleiner Bruder in Titel todunglücklich sein würde, doch es half alles nichts. Onkel Johann war unerbittlich. Er war unser Vormund, er hatte sich so entschieden, und wir hatten widerspruchslos zu gehorchen.
Hans sagte kein einziges Wort, er saß nur stumm neben mir auf dem Stuhl und klammerte sich krampfhaft an meine Hand.
Schon in der ersten Dezemberwoche verließ er Rudolfsgnad. Ich half ihm, seine wenigen Habseligkeiten einzupacken, viel Arbeit hatten wir damit nicht. Onkel Johann wollte ihn allein nach Titel bringen. Es war mir ganz lieb, dass ich zumindest das nicht mit ansehen musste. Beim Abschied drückte ich meinem kleinen Bruder fast den Atem ab, so fest schlossen sich meine Arme um seinen zierlichen Körper, bevor er zu unserem Onkel auf den Wagen kletterte und, ohne einen Blick zurückzuwerfen, das Dorf verließ. Kein Wort war über seine Lippen gekommen und keine Träne aus seinen Augen geflossen - er wirkte wie versteinert. Ich stand am Straßenrand unter den Maulbeerbäumen und sah ihnen nach. Tränen traten in meine Augen und rannen über meine Wangen, als der Wagen am Ende der Straße nach links abbog und aus meinem Blickfeld verschwand.
Hannah hatte ebenfalls schon gepackt und wartete mit Marga darauf, von ihrem neuen Mann abgeholt zu werden. Meine persönlichen Dinge befanden sich bereits im Haus von Onkel Johann. Hans hatte mir vor seiner Abreise noch geholfen, alles hinüberzutragen. Völlig schweigsam hatten wir den kurzen Weg zum Haus des Onkels zurückgelegt, jeder von uns hing seinen trüben Gedanken nach.
Die Versteigerung konnte stattfinden. Ich stand allein in meiner alten, geflickten Tracht in der Ecke hinter der Küchentür und blickte starr ins Leere. Ich kam mir so unendlich verlassen vor. Niemand war mehr da von meiner einst so glücklichen Familie, und mit jedem Stück, das einen neuen Besitzer fand, wurde mir das Herz schwerer und schwerer.
Als dann mein Lieblingsschwein Matzi und unser alter Jokl, mit dem mich tausend Erinnerungen an Mutter und die Großeltern verbanden, versteigert wurden, konnte ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich lief hinaus in den Stall zu Jokl, drückte mein Gesicht in sein weiches Fell und wollte nichts mehr sehen und hören von dieser Versteigerung unserer Vergangenheit, unserer Erinnerungen, unserer kleinen heilen Welt, die niemals wiederkehren würde.
Als ich zwei Tage später Matzi zu seinem neuen Besitzer bringen musste, brauchte ich keinen Strick, das Schwein folgte mir wie ein Hund in seinen neuen Stall, denn es vertraute mir. Nur zu bitter wurde mir bewusst, dass wir Dezember hatten und dass Matzi sicher noch vor Weihnachten auf der Schlachtbank landen würde. Bei dem Gedanken daran wurde mir übel. Nachdem ich mich tränenreich von ihm verabschiedet hatte, ging ich nicht zurück zu Onkel Johann und Tante Magdalena.
Es war ein besonders kalter Tag, der Himmel war klar und die Erde gefroren. Ich ging vorbei am Haus von Onkel Johann, ohne einen Blick darauf zu werfen. Niemand war im Vorgarten, und niemand sah mich vorbeigehen. Ich näherte mich dem Ortsende und ging immer weiter, mechanisch mit gleichbleibend langsamen Schritten. Ich ließ das Dorf hinter mir und folgte dem Verlauf der gefrorenen Schotterstraße. Mein Kopf war leer, ich wollte an nichts denken und schob jeden Gedanken beiseite. Ich sah nicht, ob mir jemand begegnete, ich war wie in Trance.
Früher hatte die Großmutter, wenn sie sich sehr über etwas geärgert hatte, immer gesagt: »Ich gehe in die Welt hinein und komme nie mehr zurück.« An diesen Satz dachte ich an diesem Wintertag, an nichts anderes. Ja, ich wollte das ausführen, wovon Großmutter so oft gesprochen hatte, ohne es ernst zu meinen. Ich aber wollte wirklich hinausgehen in die Welt und nie wieder zurückkommen.
Als ich wieder zurück in die Wirklichkeit fand, lag unser Dorf bereits weit hinter mir. Schneefall hatte eingesetzt, und es dämmerte. Ich zog meinen zu dünnen und zu kleinen Mantel enger über meiner Brust zusammen und band den Knoten meines Kopftuches fester. Vor mir sah ich eine Ortschaft im trüben Licht des nahenden Abends auftauchen, doch ich wollte keinen Menschen treffen, und so bog ich links in einen breiten Feldweg ein, der ins Nichts führte, in weites, ebenes Land.
Ich spürte die Kälte nicht, die meine Kleidung bis auf die Knochen durchdrang. Ich versuchte alle Gedanken, die mich schmerzten, zu verdrängen, aber es gelang mir nicht. Vor meinen Augen tauchte vor allem immer wieder unser Jokl auf, und erneut brach ich in Tränen aus. Ob er genug Futter bekam und ob seine neuen Besitzer ihn auch bürsteten, wie ich es immer tat?
Ich weiß nicht, wie spät es war, als ich dann doch aus meiner Lethargie herausfand. Wahrscheinlich waren die klirrende Kälte und der immer stärker werdende Schneefall schuld daran. Ich merkte plötzlich, dass ich fror. Mein Kinn zitterte, und ich spürte meine Füße kaum. Inzwischen war es dunkel, doch wir hatten Vollmond in dieser Nacht meiner Flucht vor einer ungewissen Zukunft, und sein Licht erhellte meinen Weg und ließ die Schneekristalle glitzern. Ich machte kehrt und ging zurück.
© Rosenheimer Verlagshaus
- Autor: Ingeborg Schalek
- 2007, 238 Seiten, Masse: 12,2 x 19,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: ROSENHEIMER VERLAGSHAUS
- ISBN-10: 347553861X
- ISBN-13: 9783475538612
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