Warum wir philosophieren müssen
Die Erfahrung des Denkens
Die Erfahrung des Denkens. Nützt die Philosophie uns
etwas für Alltag und Leben? »Ja!«, sagt der bekannte TV-Journalist Gert Scobel. In seinem neuen Buch erklärt er, was das Besondere des Philosophierens ausmacht. Auf unterhaltsame und verständliche Weise...
etwas für Alltag und Leben? »Ja!«, sagt der bekannte TV-Journalist Gert Scobel. In seinem neuen Buch erklärt er, was das Besondere des Philosophierens ausmacht. Auf unterhaltsame und verständliche Weise...
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Produktinformationen zu „Warum wir philosophieren müssen “
Die Erfahrung des Denkens. Nützt die Philosophie uns
etwas für Alltag und Leben? »Ja!«, sagt der bekannte TV-Journalist Gert Scobel. In seinem neuen Buch erklärt er, was das Besondere des Philosophierens ausmacht. Auf unterhaltsame und verständliche Weise führt er in die Grundprinzipien des Denkens ein und öffnet den Werkzeugkasten philosophischer Methoden für Sie.
etwas für Alltag und Leben? »Ja!«, sagt der bekannte TV-Journalist Gert Scobel. In seinem neuen Buch erklärt er, was das Besondere des Philosophierens ausmacht. Auf unterhaltsame und verständliche Weise führt er in die Grundprinzipien des Denkens ein und öffnet den Werkzeugkasten philosophischer Methoden für Sie.
Klappentext zu „Warum wir philosophieren müssen “
Was tut man, wenn man philosophiert? Nützt einem das etwas für das konkrete Leben? Der bekannte Autor und Fernsehjournalist Gert Scobel sagt: ja! Philosophie hilft einem, besser durch das Leben zu kommen, glücklicher zu werden und die Welt klarer und genauer zu sehen. In seinem neuen Buch zeigt er dies auf unterhaltsame und verständliche Weise und schildert, was das Besondere des Philosophierens ausmacht. Er führt in Grundprinzipien des Denkens und in verschiedene Denkstile ein und öffnet den Werkzeugkasten philosophischer Methoden. Eine spannende, notwendige und aktuelle Klärung der Frage, was man tut, wenn man nachdenkt - und wozu das gut sein kann.
Lese-Probe zu „Warum wir philosophieren müssen “
Warum wir philosophieren müssen von Gert Scobel1. Das Thema des Buches - denken und philosophieren
Es geht in diesem Buch darum, etwas zu verstehen, das Sie alle gut kennen, sehr gut sogar. Sie machen täglich Gebrauch davon. Es ist da, wenn Sie aufstehen (oder kurz danach). Es begleitet Sie, oft unbewusst, nahezu in jedem Moment Ihres Lebens. Sie verlassen sich darauf, dass Sie es richtig machen. Und dann lässt es Sie plötzlich doch im Stich. Wir alle haben unsere Erfahrungen mit dem denken gemacht.1 Und doch bin ich mir sicher, dass Sie sich gar nicht so sicher darüber sind, was Sie eigentlich tun, wenn Sie denken. Denken ist alltäglich, sicher. Aber aus der Tatsache, dass etwas alltäglich und selbstverständlich ist, folgt längst noch nicht, dass wir es auch verstehen. Wissen Sie, was in Ihnen vor sich geht, wenn Sie denken? Wo sind Sie, wenn Sie denken - und wohin kommen Sie dann wieder zurück? Was genau geht in Ihnen vor, wenn Sie über sich, Ihr Leben, Ihre Arbeit, Ihre Beziehungen nachdenken? Wo bringt Sie das denken hin? Und wenn es Sie irgendwo hinbringt - gibt es keinen anderen Weg, dorthin zu kommen? Ist das schnelle denken besser oder das denken, das Umwege geht, das wartet? Und wenn man durch denken sich selber, andere Menschen oder die Welt besser verstehen kann - warum ereignet sich dann manches »Verstehen «, manche »Erkenntnis« keineswegs bewusst, sondern unbewusst? Begleitet Sie das denken nicht auf eine seltsam veränderte Art und Weise bis in die Träume hinein? Ist die Vorstellung, wirklich frei denken zu können, womöglich selbst ein Traum?
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In diesem Buch geht es um die bewusste Tätigkeit des denkens, das ein in den Körper tief eingebundenes Geschehen ist. Deshalb ist denken, und das wird Sie womöglich überraschen, vor allem eine Erfahrung. Vielleicht ist Ihnen beigebracht worden, dass das sogenannte »rationale denken« die höchste, verlässlichste, ultimative und beste Form des denkens ist. Doch woher haben wir diese Rationalität? Gibt es so etwas wie eine Rationalität oder Vernunft außerhalb von uns, auf die wir uns zur Not berufen könnten so wie auf ein Gesetz, dessen Wortlaut ich in einem Buch finden kann, das ich aus dem Schrank nehme und aufschlage, um mich davon zu überzeugen, dass es genau so da steht? Wo aber steht dieses Buch der Vernunft? In Wahrheit existiert keine Vernunft ohne Körper. Man muss kein Neurowissenschaftler, Arzt oder Psychologe sein, um das zu erkennen. Wenn denken aber eine körperliche Erfahrung ist - wie kann sich das denken dann auf die Dinge außerhalb unseres Körpers beziehen, auf Ideen, Abstraktionen, die noch niemand gesehen hat: und schließlich auch auf die eigene Rationalität? Wie denken wir, wenn wir denken, das, was wir da tun? Wie denken wir denken? Und worauf beziehen wir uns dann? Zumal das hoch komplexe Geschehen, das wir auf bewusste Weise im denken erfahren, mit vielen anderen, ebenfalls hoch komplexen Vorgängen in uns und unserem Körper zusammenhängt, die uns nicht bewusst sind? Hängt nicht unser denken auch von Emotionen, Gefühlen, Stimmungen und Launen ab? Und auch von dem, was andere sagen oder geschrieben haben, also von Dingen, die gar nicht in unserem Kopf stattfinden? Sind wir in diesem Sinn also gar nicht richtig im Kopf, wenn wir denken? Wo aber sind wir dann - beispielsweise in einem intensiven Gedanken- Austausch? Vieles von dem, was wir von Moment zu Moment erfahren, geschieht unbewusst. Wir haben weder Kontrolle darüber, noch sind wir uns dessen, was ist, voll bewusst. Aber selbst wenn wir nicht bewusst denken, streifen noch Vorstellungen, Fetzen von Gedanken und Inhalten, unser Bewusstsein. Jeder, der Auto fährt, kennt das. Haben wir nun völlige Kontrolle über das denken oder nicht? Und wenn wir völlige Kontrolle erreichen könnten - gäbe es dann überhaupt noch einen Gedanken, der uns überraschen könnte? Oder einen neuen Gedanken?
Ein Teil unserer Erziehung zielt darauf ab, besser und genauer denken zu lernen. Wir verbringen einen nicht unwesentlichen Teil unserer Lebenszeit damit, mehr und mehr Kontrolle über diese Tätigkeit des denkens zu erlangen - und sei es auch nur, um in der Schule und später im Leben richtig rechnen zu können. Wir verwenden viel Zeit darauf: in der Kindheit bereits, in der Ausbildung und bei vielen anderen Gelegenheiten bis ins hohe Alter. Wann haben wir das denken, das wir üben, perfektioniert? Steht nicht immer wieder die Frage vor uns, nicht nur mit zunehmendem Alter, wohin uns das denken eigentlich führt? Und ob es das viele Nachdenken wert ist? Einstweilen machen wir weiter. Wir wollen Probleme lösen - und denken über sie nach. Denken ist ein Teil der Problemlösung, fast immer - beispielsweiseweil wir versuchen, eine wichtige Lebensentscheidung richtig zu treffen. Wissen wir, wann etwas richtig und falsch ist? Wissen wir es durch das denken?
Das erste Ziel meines Buches besteht darin, die seltsame Erfahrung und Tätigkeit des denkens besser zu verstehen. Ich schreibe denken meistens lieber klein als groß, weil es »das« Denken nicht gibt. Was es gibt, ist denken als Vorgang, als Tätigkeit, als Erfahrung, die sich in der Zeit entwickelt. Seltsam ist die Erfahrung des denkens deshalb, weil wir oft nicht genau sagen können, was wir machen, wenn wir denken. Der bloße Vollzug einer Tätigkeit, dieunssobekanntundgewohnt,soalltäglichundselbstverständlicherscheint, dass wir nur selten über sie nachdenken, garantiert keineswegs, dass wir auch wirklich wissen, was wir da tun. Was also ist das uns Selbstverständliche eigentlich? Was tun wir genau, wenn wir denken? Was erfahren wir dann? Und wo sind wir, wenn wir denken?
Ziel Nummer eins: zu klären, was die seltsame Erfahrung des denkens ausmacht.2
Mein Buch verfolgt jedoch, gleichsam nebenbei, noch ein zweites Ziel, das mit dem ersten zusammen hängt. Obwohl das Buch keine thematisch umfassende oder gar chronologisch vorgehende Einführung in die Philosophie sein will und auch keine Philosophiegeschichte, so bietet es dennoch eine gute Möglichkeit, ins Herz der Philosophie zugeraten. Allerdings sage ich gleich, dass es »die« Philosophie nicht gibt. Philosophie existiert wie das denken auch nur als Erfahrung im Akt des philosophierens, der sich dann in seinen vielen Formen niederschlägt und zuweilen in Philosophien verfestigt. Aber worum handelt es sich dabei? Was ist philosophieren genau, und wozu brauchen wir es? Brauchen wir es überhaupt? Hilft philosophieren beispielsweise, besser durch das Leben zukommen? Oder glücklicher zu werden? Sieht man die Welt klarer oder genauer, wenn man sie mit den Augen der Philosophie betrachtet? Und falls philosophieren tatsächlich hilft - in welcher Hinsicht hilft sie? Gibt es in diesem Fall nur eine richtige, hilfreiche, aber viele falsche Philosophien? Was macht die Falschheit aus? Und wenn es viele (richtige) Philosophien gibt: Wie kann man dann überhaupt von einem Fortschritt des philosophierens, ja von einem Fortschritt des denkens sprechen? Was bedeutet es, im philosophischen Denken einen Fortschritt zu erzielen?
Das zweite Ziel des Buches besteht darin, einige dieser Fragen zu beantworten und zu klären, was Philosophie als Disziplin genau ist, warum wir philosophieren - und vor allem: warum wir philosophieren müssen. Ich bin davon überzeugt, dass wir Philosophie brauchen. Wir müssen unser philosophieren kultivieren, auch wenn es gegenwärtig (und ich vermute: immer schon) in der »normalen« Hektik des Lebens, im Lärm, Getriebe und Geschäft wenig Zeit dafür zu geben scheint und Philosophie nicht wirklich gefragt ist. Für einen Wirtschaftler, einen Politiker, einen Manager, Techniker oder Wissenschaftler gilt in der Regel, dass zu philosophieren etwas ist, das mehr mit Freizeit, mit Muße und Luxus zu tun hat als mit Notwendigkeit, mit der eigenen Arbeit oder dem eigenen »In-der-Welt-Sein«. Dabei hängt vom philosophieren ein entscheidender Teil, oder besser eine entscheidende Dimension dessen ab, was wir als Menschen sind und wer wir in Zukunft sein wollen.
Ziel Nummer zwei: zu klären, was Philosophie ist und wozu wir sie brauchen.
Was soll so entscheidend sein am philosophieren? Oder am denken? Jetzt, in diesem Moment, in dem Siegerade lesen, aber auch in fast allen Alltagssituationen ist Ihnen denken so allgegenwärtig, so alltäglich, dass es das normalste von der Welt zu sein scheint. Ist nicht der Mensch das denkende Wesen? Doch ganz so einfach ist es mit dem denken nicht. Unser Denken fließt, das stimmt. Aber zuweilen scheint es auch still zu stehen, einzuschlafen, weil es gleichsam hart geworden ist und wir darauf warten, dass es sich wieder verflüssigt. Über das Denken nachzudenken erfordert gewissermaßen eine andere Art der Betrachtung, einen anderen Umgang mit dem denken als den alltäglichen. Philosophieren besteht daher nicht selten in nichts anderem als einer Umkehr der sonst üblichen Blickrichtung - damit das, was man tut, besser in den Blick geraten kann. Bildhaft gesprochen denken wir normalerweise gleichsam immer in die Richtung weiter, in die uns das Denken trägt. Wir denken, wie wir sehen: nach vorne. Wir folgen den Gedanken nach. Nur selten aber kehren wir diese Blickrichtung um und denken über das Denken nach und über das, was unser denken bewegt und treibt.
Dabei ist denken seit Jahrtausendenden da; es reicht weit zurück in unsere Geschichte und sogar in die Vergangenheit der Erde bis an jenen heiklen, vielleicht singulären Punkt, an dem sich die Ursprünge des Menschen endgültig verlieren, weil sich in allem, was über diesen Punkt zurückgeht, unsere Geschichte bis zur Unkenntlichkeit mit der Geschichte der Natur verbindet. Denken ist weitaus älter als alle abendländischen Überlieferungen aus den griechischen Stadtstaaten, älter als die Zeugnisse des ägyptischen Reiches, älter als die Weisheitstraditionen Indiens und sogar älter als die Höhlenzeichnungen von Lascaux oder die immer noch ins Herz treffenden Wandbilder und symbolischen Darstellungen der Chauvet-Höhle, in der sich neben den beeindruckenden Artefakten auch menschliche Fußspuren finden, die sich über mehr als 25000 Jahre im feuchten Lehm erhalten haben und vermutlich die ältesten datierbaren Abdrücke eines modernen Menschen sind. Es zeigt sich in all dem, an den Zeichnungen an der Wand, an den Schrifttafeln und Bauwerken - und ist doch selbst nirgendwo zu finden.
Irgendwann hat die Bewusstseinsdämmerung eingesetzt. Das denken begann, irgendwann, vielleicht schon beim Übergang vom tierischen zum vormenschlichen Leben. Sicher aber begann es zu der Zeit, die Paläoanthropologen meinen, wenn sie vom »modernen« Menschen sprechen. Irgendetwas ist in unseren Vorfahren erwacht und erwacht noch heute immer wieder und immer weiter in uns. Mit dem geistigen Augenaufschlag setzt die Entwicklung des Verstehens ein, dessen Ergebnisse nicht nur Poesie und Literatur, Musik und Bilder und vieles andere sind, sondern auch Wissenschaft, Technik und all das, was uns heute umgibt. Der Computer, an dem ich gerade sitze, das Buch, das Sie Wochen und Monate später in der Hand halten; all die Vorgänge davor und dazwischen - all das hat mit denken zu tun. Mit dem sich entwickelnden Denken entstand etwas, ein Fragen und Antworten, das eng mit der Menschwerdung verbunden war und bis heute verbunden geblieben ist. Vielleicht war und ist es einfach das: Wir suchen in einer überraschenden, zuweilen fremden, sich schnell verändernden Welt, die uns zum Leben gebracht hat, aber uns auch sterben lässt, nach Mustern. Nach Mustern in uns, in anderen Menschen, in der Natur, in dem, was wir tun - und denken. Wissenschaft und Poesie sind sich ähnlicher, als beide oft wahrhaben wollen. Beide knüpfen an einem Teppich, von dem wir hoffen, dass sein Muster uns unser wahres Bild zeigen wird.
Viele Jahrtausende nach der Bewusstseinsdämmerung bekam der Prozess des fragenden Verstehens der inneren und äußeren Welt einen Namen und wurde, je nach Zeit und kultureller Vorliebe, Kunst, Philosophie oder Wissenschaft, zuweilen auch Religion genannt. Heute ist »die« Wissenschaft in eine Vielzahl von Disziplinen aufgesplittert, die sich alle mit Teilaspekten der Wirklichkeit befassen, ohne sie im Gesamten zufriedenstellend beschreiben zu können. In einem Prozess, der oft langsam und stetig, zuweilen aber auch sprunghaft und revolutionär verlief, haben die Wissenschaften es verstanden, immer mehr Informationen, immer umfassenderes Wissen anzuhäufen und bestimmte Fragen, die uns früher quälten, klar und ein für alle Mal zu beantworten.
Doch einige der quälendsten Fragen sind geblieben - Fragen, die durch keine wissenschaftliche Antwort zum Schweigen gebracht werden können. Dies sind die philosophischen Fragen. Gleich wie man es nehmen will, so oder so: Die Evolution des Menschen ist untrennbar verbunden mit der Geschichte des denkens - die bis heute die Geschichte unseres denkens, eines denkens der gesamten Menschheit ist. Die Erfahrung des denkens ist etwas, das alle Menschen verbindet. Wissen wir nicht alle zumindest ungefähr, insoweit, dass es für den Anfang zumindest reicht, was wir meinen, wenn wir davon sprechen, dass wir alle denken? Darauf können wir uns beziehen und verlassen, diesseits aller Sprachen und Kulturen, jenseits aller Unterschiede.
Vielleicht klingt Ihnen der Ton ein wenig zu sehr nach Märchen. Tatsächlich haben viele Kulturen Mythen und Erzählungen, Märchen und später Theorien entwickelt, um ihren Ausgangsund Bezugspunkt zu markieren: Skizzen der Welt, der Natur und des Menschen, die vom Versuch genau zu denken zeugen und doch in erster Linie noch nicht als philosophieren begriffen werden, weildiese besondere Tätigkeit »der jeweils reflektierten Periode einer jeden Gesellschaftsentwicklung« angehört.3 Tatsächlich sind die Philosophien der verschiedenen Zeiten und Kulturen, soweit sie erhalten geblieben sind, keineswegs allein Form akademischer Abhandlungen überliefert worden. Das philosophische denken in seiner heutigen akademischen Form markiert erst einen der letzten Schritte der Entwicklungen und liegt höchstens zwei, vielleicht drei Jahrtausende zurück (und manche kritischen Zeitgenossen würden sogar noch strenger datieren und sagen, dass es höchstens zwei, drei Jahrhunderte her sei). Jedenfalls ist die Geschichte des denkens, die all dem voraus liegt, untrennbar verbunden mit so unterschiedlichen Formen wie Erzählungen oder Mythen, Geschichten jedweder Form, Gleichnissen, Dialogen und Abhandlungen, Argumenten und Theorien oder anderen Formen des Sprechens und Schreibens und zuweilen auch Zeichnens, die heute eher der Literatur oder Kunst zugeordnet werden würden. Und doch bilden all diese Formen wie der Amazonas einen großen, weit verzweigten Fluss des denkens, der zuweilen außer Blick gerät und so groß erscheint wie ein See oder Meer, in dem kein Fluss mehr zu erkennen ist. Dann wieder verengt sich der Fluss des denkens zu einem kleinen, versiegenden Rinnsal. Am Ende fließt das Wasser ins Meer, bevor es von dort aufsteigt und weit entfernt über dem Land wieder abregnet. Man könnte, um im Bild zu bleiben, von einem Meer des Wissens sprechen, das in einen großen Kreislauf eingebunden ist. Oder moderner gesprochen von einem Netzwerk, das sich aus allunseren Überlieferungen, Erkenntnissen und Einsichten gebildet hat. Das Internet wäre dabei nur ein Teil, sozusagen der elektronisch sichtbare Aspekt dieses Netzwerkes.
Ich sprach eben von den bleibenden, nicht nur durch Wissenschaft aufzulösenden Fragen. Diese eignen sich gut, um das Feld desphilosophierenswenigstensskizzenhaftzuumschreiben.StreichenSieeinfachvonallenFragen, die Sie im Leben haben, diejenigen, die sich (früher oder später zumindest) durch reine Information, durch Wissen, Fakten oder Tatsachen beantworten lassen. Streichen Sie weiter die Fragen, die Sie mit Hilfe eines Wikipedia- Eintrages oder einer Google-Suche lösen können. Dann werden Sie feststellen, dass dennoch einige Fragen übrig bleiben, die sich nicht durch Prozeduren des Nachschlagens beantworten lassen. Auch mehr Informationen helfen nicht. Sie werden nicht durch mehr Fakten herausbekommen, was schön ist und wie sich Schönheit anfühlt. Diese Fragen sind die eigentlich philosophischen Fragen. In gewisser Weise handelt es sich dabei natürlich um sehr persönliche, private Fragen - was es umso erstaunlicher macht, dass es eine Art von »öffentlichem« philosophieren gibt. Diese Fragen beunruhigen uns, treiben uns immer wieder an, Lösungen, Antworten zu finden, auch wenn wir oft nicht weiter fragen oder suchen wollen, weil dieser Prozess etwas Quälendes an sich haben kann. Und auch weil die Aussicht darauf, das Fragen beenden zu können, nicht besonders groß erscheint. Dennoch werden Sie versuchen - ich würde behaupten: als wacher, aufmerksamer Mensch sogar versuchen müssen-, solche Fragen zu beantworten. Vermutlich werden Sie im Laufe dieses Antwort-Prozesses von Ihrer ersten Ausgangsfrageabrücken und zu anderen, neuen Fragen übergehen. Vielleicht liegt in dieser Veränderung der Fragen sogar der entscheidende Fortschritt der Erkenntnis in diesen seltsam feinen, sich leicht entziehenden »Dingen«.
In jedem Fall ist das, was Sie dann machen, wenn Sie den nicht auflösbaren Fragen nachgehen, denken. Ein Denken, das philosophieren ist. All den Philosophien unserer Welt ist, so unterschiedlich sie auch sein mögen, eines gemeinsam: diese Tätigkeit des denkens und die damit verbundene Erfahrung, die ein hoch komplexes, buntes und oftmals bis zum Zerreißen gespanntes Muster bildet, ein Netz, das sich in uns formt, und, wenn es passt, über uns und unserer Welt liegt. Wir alle gehen bewaffnet mit einer Fülle von philosophischen Ideen und Vorstellungen durch unser Leben, sagt der kalifornische Neurolinguist George Lakoff, mit dem ich mich vor zwei Jahren am Berliner Wissenschaftskolleg darüber unterhalten konnte. Wir haben Vorstellungen von allem: Moral, Politik, Gott, Wissen, Wissenschaft, dem Menschen, anderen Menschen, der menschlichen Natur, Ästhetik und so fort. All das haben wir von anderen Menschen übernommen, haben es durch unsere Kultur gelernt. Leider sind wir uns selten dessen bewusst, was diese philosophischen Ideen eigentlich sind. Wo sie herkommen, wie sie sich vermehren, wie sie sich begründen lassen. Indem wir philosophieren, entwickeln wir darüber bewusste Theorien und versuchen, unsere Vorstellungen über die Welt auf eine systematische, einigermaßen kohärente, meist von uns als rational bezeichnete Art und Weise zu ordnen. Philosophieren hilft uns deshalb vor allem, unsere Erfahrungen, unser Leben zu verstehen: »philosophical theories help us understand our experience«. Und sie machen es möglich, über all das kritisch nachzudenken und zu überlegen, ob und an welcher Stelle unsere Vorstellungen von uns, anderen und der Welt korrigiert werden sollten.4
Wenn Sie die beiden Ziele des Buches zusammen nehmen, werden Sie bereits ahnen, was dieses Buch nicht ist. Dieses Buch ist keine klassische Einführung in die Philosophie(n). Und auch kein Philosophie-Lehrbuch oder gar eine Philosophie-Geschichte. Warum auch? Es gibt bereits eine Reihe hervorragender Lehrbücher der Philosophie und einige hervorragend zu lesende, sehr genaue und spannende Einführungen in Philosophie und Ideengeschichte. Wenn ich bei mir zu Hause arbeite, steht meist in Reichweite ein inzwischen leicht vergilbtes, vor Jahrzehnten aber in schönes rotes Leinengebundenes Buch, dessen Titel mit Goldlettern gefertigt wurde: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, geschrieben von Hans Joachim Störig im Jahre 1950. Dieses Buch hat nach Angaben vom Börsenblatt, dem Wochenmagazin für den Deutschen Buchhandel, inzwischen eine Auflage von mehr als einer Million Exemplaren erreicht. Ich muss etwa 14 Jahre alt gewesen sein, als mir mein Vater sein Exemplar schenkte - ein Geschenk mit großer Wirkung. Denn das Buch wollte sich ja nicht an Fachphilosophen wenden -ihnen würde es nichts Neues sagen -, wohl aber an die Menschen, die »inmitten der Arbeit und Sorge des Alltags und im Anblick der großen geschichtlichen Umwälzungen und Katastrophen unserer Zeit den Versuch nicht aufgeben, sich im Wege selbstständigen Nachdenkens mit den Rätseln der Welt und den ewigen Fragendes Menschseins auseinanderzusetzen, und die die Annahmen nicht von vorneherein zurückweisen, daß die Gedanken und Werke der großen Denker aller Zeiten dabei Rat und Hilfe geben können«.5 Was für ein Ansporn! Selber nachzudenken - statt vorgefertigten Mustern zu folgen.
Was mir damals sofort ins Auge fiel, war, dass etwas anders, grundsätzlich anders war als im Latein-oder Geschichtsunterricht, anders auch als im Philosophie-und Religionsunterricht. Störigs Buch begann weder mit den Griechen noch mit den Römern. Seine Geschichte der Philosophie begann im »alten Indien «, das »geographisch betrachtet und ebenso in geistiger Beziehung, eine ganze Welt für sich« sei. Indien folgte China. Und China der Buddhismus. Dann erst, nach hundert Seiten, setzte der zweite Teil ein: die griechische Philosophie, auf die Mittelalter, der Ausgang des Mittelalters bis Kant und schließlich die Philosophie des 19.und20. Jahrhunderts folgten. Das Buch führte dazu, dass ich intensiv las und dabei nicht nur auf jeder Seite faszinierende neue Gedanken entdeckte, sondern auch vieles bekannte, das zu meinem Erstaunen oft Jahrtausende alt war. Und noch einen Effekt hatte das Buch: verstärkten Streit mit meinem damaligen Religionslehrer. Vermutlich war ich damals für Lehrer wie ihn eine Pest. Aber als es mal wieder darum ging, wie wir doch Gott und andere Bewohner des Himmelreiches kennen und erkennen können, meldete ich mich und sagte, dass Kant das doch etwas anders sehen würde. Wir seien nämlich nicht in der Lage, das Ding an sich zu erkennen. Worauf mein Religionslehrer etwas höhnisch bemerkte, ob ich mir in meinem Alter wohl anmaßen würde, Kant zu verstehen? Worauf ich antwortete, dass ich nicht sicher sei, Kant zu verstehen, weil Kant schwer zu lesen sei. Aber immerhin sei ich sicher, was den Gedankengang angeht. Denn der sei so schwer nicht zu verstehen. Ehrlicherweise hätte ich zugeben müssen, dass ich das Kant-Kapitel in Störigs Buch nicht nur einmal, sondern vermutlich zwanzigmal gelesen hatte, wobei ich versuchte, mir Kants Kategorienlehre aufzuzeichnen. Erst Jahrzehnte später habe ich gefunden, dass es im Internet so etwas (nur viel besser) gibt. Geblieben ist von all dem eine große Vorliebe für Kant, bis heute; eine Abneigung gegen Menschen, die sagen, jemand sei zu klein oder dumm, um etwas zu wissen; undeingewissesMisstrauengegenüberMenschen,diesichoffensichtlichin himmlischen und moralischen Dingen so gutauskennen, als seien sie jede Nacht dort zu Gast. Ich bin meinem Vater für das Buch bis heute dankbar, muss allerdings zugeben, dass es Kapitel gibt, die ich überschlagen und bis heute nicht gelesen habe; aber es muss ja auch noch etwas übrigbleiben für die Zeit nach dem Fernsehen.
Es gibt eine Fülle guter, zuweilen hervorragender Werke über die Geschichte der Philosophie und der Ideen, was nicht ganz, aber doch weitgehend dasselbe ist. Es handelt sich um kluge, umfassende, klare Bücher, die zu lesen sich lohnt. Da wir gerade dabei sind, und Sie sich vielleicht fragen, welche Bücher ich meine - hier eine kleine Liste. Zu den guten Einführungen gehören Thomas Nagel, Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie, Jens Soentgen, Selbstdenken!: 20 Praktiken der Philosophie, Jay F. Rosenberg, Philosophieren. Ein Handbuch für Anfänger, Stephen Law, Philosophie. Eine Einführung (von ihm stammt auch der grandiose Klassiker The Philosophy Gym. 25 short adventures in thinking), Ben Dupré, 50 Schlüsselideen Philosophie sowie das Philosophie-Buch: Große Ideen und ihre Denker aus dem Dorling Kindersley Verlag. Etwas schwerer zu lesen, aber in meinen Augen ein Klassiker ist Holm Tetens, Philosophisches Argumentieren. Eine Einführung sowie das von Jörg Sandkühler herausgegebene Buch Philosophie, wozu?, ein Buch mit hohem Überblickswert. Bislang nicht übersetzt, aber ähnlich übersichtsmächtig ist das von Havi Carel und David Gamez herausgegebene Buch What Philosophy is. Contemporary Philosophy in Action mit einem Vorwort von Simon Blackburn. Die vielleicht derzeit beste - weil kluge, genaue, ausgewogene und kenntnisreiche - Beantwortung der Frage, was Philosophie ist (gerade im Vergleich zu anderen Disziplinen), stammt von Dietmar von der Pfordten und hat den Titel Suche nach Einsicht. Über Aufgabe und Wert der Philosophie. Wie gesagt: eine sehr subjektive Auswahl, die ich je nach Temperament, Alter und Lebenslage empfehlen würde. Leider nicht übersetzt ist das grandiose Buch des englischen Philosophen Colin McGinn, der es von ganz unten aus einer Arbeiterfamilie zum Philosophieprofessor (und mehr) geschafft hat - ein wunderbares Buch mit dem Titel The Making of a Philosopher. My Journey through Twentieth-Century-Philosophy (New York 2002).Ebenfalls in Form einer intellektuellen Biographie geschrieben ist das Buch des britischen Philosophen, Politikers, Fernsehmoderators und Kunstkritikers Bryan Magee mit dem Titel Bekenntnisse eines Philosophen.
Dann gibt es noch etwas umfangreichere, in gewissem Sinn etwas speziellere Werke, auf die ich gerne zurückgreife. Dazu gehört vor allem Weltgeschichte des Denkens. Die geistigen Traditionen der Menschheit von Ninian Smart, einem der bedeutendsten Religionswissenschaftler, der sein Buch ähnlich wie Störig beginnen lässt mit den südasiatischen Philosophien, auf die die chinesischen, koreanischen und japanischen Philosophien folgen, ehe er sich auf Seite 180 dann den Griechen und Rom zuwendet; ein sehr sympathischer Beginn einer Weltgeschichte des Denkens, wie ich finde. Weiter zu nennen wären Kurt Flasch, Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire, Bertrand Russells Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung sowie von Peter Watson(der zu meinem großen Erstaunen nicht nur über Kunst- raub geschrieben hat, sondern auch Autor mehrerer Krimis ist) die beiden brillanten Bücher Das Lächeln der Medusa - die Geschichte des modernen Wissens und Ideen: Eine Kulturgeschichte von der Entdeckung des Feuers bis zur Moderne. Wer interessiert ist, die Geschichte des Denkens anhand der Veröffentlichungen nachzuverfolgen - denn öffentlich und damit zugänglich wurden Gedanken über einen kleinen Kreis von Eingeweihten hinaus ja erst durch den Buchdruck -, sei auf das meisterhafte, von Arnim Regenbogen erarbeitete Buch Chronik der Philosophischen Werke. Von der Erfindung des Buchdrucks bis ins 20. Jahrhundert verwiesen. Ehrlich gesagt hätte ich jetzt Lust, die Liste noch um einige Bücher zu vergrößern (etwa, was die moderne Philosophie angeht, um die grandiosen vier Bände der Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie von Wolfgang Stegmüller).Aber das würde vom Thema wegführen: von der Frage, was denken und philosophieren eigentlich sind, und wie philosophieren und die Erfahrung des denkens zusammenhängen. Dass beides keineswegs an akademische Formund Strenge gebunden ist, jedenfalls nicht immer, können Sie leicht an der folgenden, sehr bekannten Geschichte vom Schmetterlingstraum sehen, die sich in Das wahre Buch vom südlichen Blütenland findet. Dschuang Dsi, der Autor dieses Buches, war ein chinesischer Philosoph und Dichter, der sich zeitlebens allen Ämtern verweigerte. Er berief sich auf Konfuzius (551-479v.Chr) und wurde um 365 vor Christus geboren, starb 290, war verheiratet und pflegte, wie es scheint, ausgiebig Kontakt zu anderen Philosophen und Philosophie-Schulen.
»Einst träumte Dschuang Dschou, dass er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wusste von Dschuang Dschou. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang Dschou. Nun weiß ich nicht, ob Dschuang Dschou geträumt hat, dass er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, dass er Dschuang Dschou sei, obwohl doch zwischen Dschuang Dschou und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge.«6
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
In diesem Buch geht es um die bewusste Tätigkeit des denkens, das ein in den Körper tief eingebundenes Geschehen ist. Deshalb ist denken, und das wird Sie womöglich überraschen, vor allem eine Erfahrung. Vielleicht ist Ihnen beigebracht worden, dass das sogenannte »rationale denken« die höchste, verlässlichste, ultimative und beste Form des denkens ist. Doch woher haben wir diese Rationalität? Gibt es so etwas wie eine Rationalität oder Vernunft außerhalb von uns, auf die wir uns zur Not berufen könnten so wie auf ein Gesetz, dessen Wortlaut ich in einem Buch finden kann, das ich aus dem Schrank nehme und aufschlage, um mich davon zu überzeugen, dass es genau so da steht? Wo aber steht dieses Buch der Vernunft? In Wahrheit existiert keine Vernunft ohne Körper. Man muss kein Neurowissenschaftler, Arzt oder Psychologe sein, um das zu erkennen. Wenn denken aber eine körperliche Erfahrung ist - wie kann sich das denken dann auf die Dinge außerhalb unseres Körpers beziehen, auf Ideen, Abstraktionen, die noch niemand gesehen hat: und schließlich auch auf die eigene Rationalität? Wie denken wir, wenn wir denken, das, was wir da tun? Wie denken wir denken? Und worauf beziehen wir uns dann? Zumal das hoch komplexe Geschehen, das wir auf bewusste Weise im denken erfahren, mit vielen anderen, ebenfalls hoch komplexen Vorgängen in uns und unserem Körper zusammenhängt, die uns nicht bewusst sind? Hängt nicht unser denken auch von Emotionen, Gefühlen, Stimmungen und Launen ab? Und auch von dem, was andere sagen oder geschrieben haben, also von Dingen, die gar nicht in unserem Kopf stattfinden? Sind wir in diesem Sinn also gar nicht richtig im Kopf, wenn wir denken? Wo aber sind wir dann - beispielsweise in einem intensiven Gedanken- Austausch? Vieles von dem, was wir von Moment zu Moment erfahren, geschieht unbewusst. Wir haben weder Kontrolle darüber, noch sind wir uns dessen, was ist, voll bewusst. Aber selbst wenn wir nicht bewusst denken, streifen noch Vorstellungen, Fetzen von Gedanken und Inhalten, unser Bewusstsein. Jeder, der Auto fährt, kennt das. Haben wir nun völlige Kontrolle über das denken oder nicht? Und wenn wir völlige Kontrolle erreichen könnten - gäbe es dann überhaupt noch einen Gedanken, der uns überraschen könnte? Oder einen neuen Gedanken?
Ein Teil unserer Erziehung zielt darauf ab, besser und genauer denken zu lernen. Wir verbringen einen nicht unwesentlichen Teil unserer Lebenszeit damit, mehr und mehr Kontrolle über diese Tätigkeit des denkens zu erlangen - und sei es auch nur, um in der Schule und später im Leben richtig rechnen zu können. Wir verwenden viel Zeit darauf: in der Kindheit bereits, in der Ausbildung und bei vielen anderen Gelegenheiten bis ins hohe Alter. Wann haben wir das denken, das wir üben, perfektioniert? Steht nicht immer wieder die Frage vor uns, nicht nur mit zunehmendem Alter, wohin uns das denken eigentlich führt? Und ob es das viele Nachdenken wert ist? Einstweilen machen wir weiter. Wir wollen Probleme lösen - und denken über sie nach. Denken ist ein Teil der Problemlösung, fast immer - beispielsweiseweil wir versuchen, eine wichtige Lebensentscheidung richtig zu treffen. Wissen wir, wann etwas richtig und falsch ist? Wissen wir es durch das denken?
Das erste Ziel meines Buches besteht darin, die seltsame Erfahrung und Tätigkeit des denkens besser zu verstehen. Ich schreibe denken meistens lieber klein als groß, weil es »das« Denken nicht gibt. Was es gibt, ist denken als Vorgang, als Tätigkeit, als Erfahrung, die sich in der Zeit entwickelt. Seltsam ist die Erfahrung des denkens deshalb, weil wir oft nicht genau sagen können, was wir machen, wenn wir denken. Der bloße Vollzug einer Tätigkeit, dieunssobekanntundgewohnt,soalltäglichundselbstverständlicherscheint, dass wir nur selten über sie nachdenken, garantiert keineswegs, dass wir auch wirklich wissen, was wir da tun. Was also ist das uns Selbstverständliche eigentlich? Was tun wir genau, wenn wir denken? Was erfahren wir dann? Und wo sind wir, wenn wir denken?
Ziel Nummer eins: zu klären, was die seltsame Erfahrung des denkens ausmacht.2
Mein Buch verfolgt jedoch, gleichsam nebenbei, noch ein zweites Ziel, das mit dem ersten zusammen hängt. Obwohl das Buch keine thematisch umfassende oder gar chronologisch vorgehende Einführung in die Philosophie sein will und auch keine Philosophiegeschichte, so bietet es dennoch eine gute Möglichkeit, ins Herz der Philosophie zugeraten. Allerdings sage ich gleich, dass es »die« Philosophie nicht gibt. Philosophie existiert wie das denken auch nur als Erfahrung im Akt des philosophierens, der sich dann in seinen vielen Formen niederschlägt und zuweilen in Philosophien verfestigt. Aber worum handelt es sich dabei? Was ist philosophieren genau, und wozu brauchen wir es? Brauchen wir es überhaupt? Hilft philosophieren beispielsweise, besser durch das Leben zukommen? Oder glücklicher zu werden? Sieht man die Welt klarer oder genauer, wenn man sie mit den Augen der Philosophie betrachtet? Und falls philosophieren tatsächlich hilft - in welcher Hinsicht hilft sie? Gibt es in diesem Fall nur eine richtige, hilfreiche, aber viele falsche Philosophien? Was macht die Falschheit aus? Und wenn es viele (richtige) Philosophien gibt: Wie kann man dann überhaupt von einem Fortschritt des philosophierens, ja von einem Fortschritt des denkens sprechen? Was bedeutet es, im philosophischen Denken einen Fortschritt zu erzielen?
Das zweite Ziel des Buches besteht darin, einige dieser Fragen zu beantworten und zu klären, was Philosophie als Disziplin genau ist, warum wir philosophieren - und vor allem: warum wir philosophieren müssen. Ich bin davon überzeugt, dass wir Philosophie brauchen. Wir müssen unser philosophieren kultivieren, auch wenn es gegenwärtig (und ich vermute: immer schon) in der »normalen« Hektik des Lebens, im Lärm, Getriebe und Geschäft wenig Zeit dafür zu geben scheint und Philosophie nicht wirklich gefragt ist. Für einen Wirtschaftler, einen Politiker, einen Manager, Techniker oder Wissenschaftler gilt in der Regel, dass zu philosophieren etwas ist, das mehr mit Freizeit, mit Muße und Luxus zu tun hat als mit Notwendigkeit, mit der eigenen Arbeit oder dem eigenen »In-der-Welt-Sein«. Dabei hängt vom philosophieren ein entscheidender Teil, oder besser eine entscheidende Dimension dessen ab, was wir als Menschen sind und wer wir in Zukunft sein wollen.
Ziel Nummer zwei: zu klären, was Philosophie ist und wozu wir sie brauchen.
Was soll so entscheidend sein am philosophieren? Oder am denken? Jetzt, in diesem Moment, in dem Siegerade lesen, aber auch in fast allen Alltagssituationen ist Ihnen denken so allgegenwärtig, so alltäglich, dass es das normalste von der Welt zu sein scheint. Ist nicht der Mensch das denkende Wesen? Doch ganz so einfach ist es mit dem denken nicht. Unser Denken fließt, das stimmt. Aber zuweilen scheint es auch still zu stehen, einzuschlafen, weil es gleichsam hart geworden ist und wir darauf warten, dass es sich wieder verflüssigt. Über das Denken nachzudenken erfordert gewissermaßen eine andere Art der Betrachtung, einen anderen Umgang mit dem denken als den alltäglichen. Philosophieren besteht daher nicht selten in nichts anderem als einer Umkehr der sonst üblichen Blickrichtung - damit das, was man tut, besser in den Blick geraten kann. Bildhaft gesprochen denken wir normalerweise gleichsam immer in die Richtung weiter, in die uns das Denken trägt. Wir denken, wie wir sehen: nach vorne. Wir folgen den Gedanken nach. Nur selten aber kehren wir diese Blickrichtung um und denken über das Denken nach und über das, was unser denken bewegt und treibt.
Dabei ist denken seit Jahrtausendenden da; es reicht weit zurück in unsere Geschichte und sogar in die Vergangenheit der Erde bis an jenen heiklen, vielleicht singulären Punkt, an dem sich die Ursprünge des Menschen endgültig verlieren, weil sich in allem, was über diesen Punkt zurückgeht, unsere Geschichte bis zur Unkenntlichkeit mit der Geschichte der Natur verbindet. Denken ist weitaus älter als alle abendländischen Überlieferungen aus den griechischen Stadtstaaten, älter als die Zeugnisse des ägyptischen Reiches, älter als die Weisheitstraditionen Indiens und sogar älter als die Höhlenzeichnungen von Lascaux oder die immer noch ins Herz treffenden Wandbilder und symbolischen Darstellungen der Chauvet-Höhle, in der sich neben den beeindruckenden Artefakten auch menschliche Fußspuren finden, die sich über mehr als 25000 Jahre im feuchten Lehm erhalten haben und vermutlich die ältesten datierbaren Abdrücke eines modernen Menschen sind. Es zeigt sich in all dem, an den Zeichnungen an der Wand, an den Schrifttafeln und Bauwerken - und ist doch selbst nirgendwo zu finden.
Irgendwann hat die Bewusstseinsdämmerung eingesetzt. Das denken begann, irgendwann, vielleicht schon beim Übergang vom tierischen zum vormenschlichen Leben. Sicher aber begann es zu der Zeit, die Paläoanthropologen meinen, wenn sie vom »modernen« Menschen sprechen. Irgendetwas ist in unseren Vorfahren erwacht und erwacht noch heute immer wieder und immer weiter in uns. Mit dem geistigen Augenaufschlag setzt die Entwicklung des Verstehens ein, dessen Ergebnisse nicht nur Poesie und Literatur, Musik und Bilder und vieles andere sind, sondern auch Wissenschaft, Technik und all das, was uns heute umgibt. Der Computer, an dem ich gerade sitze, das Buch, das Sie Wochen und Monate später in der Hand halten; all die Vorgänge davor und dazwischen - all das hat mit denken zu tun. Mit dem sich entwickelnden Denken entstand etwas, ein Fragen und Antworten, das eng mit der Menschwerdung verbunden war und bis heute verbunden geblieben ist. Vielleicht war und ist es einfach das: Wir suchen in einer überraschenden, zuweilen fremden, sich schnell verändernden Welt, die uns zum Leben gebracht hat, aber uns auch sterben lässt, nach Mustern. Nach Mustern in uns, in anderen Menschen, in der Natur, in dem, was wir tun - und denken. Wissenschaft und Poesie sind sich ähnlicher, als beide oft wahrhaben wollen. Beide knüpfen an einem Teppich, von dem wir hoffen, dass sein Muster uns unser wahres Bild zeigen wird.
Viele Jahrtausende nach der Bewusstseinsdämmerung bekam der Prozess des fragenden Verstehens der inneren und äußeren Welt einen Namen und wurde, je nach Zeit und kultureller Vorliebe, Kunst, Philosophie oder Wissenschaft, zuweilen auch Religion genannt. Heute ist »die« Wissenschaft in eine Vielzahl von Disziplinen aufgesplittert, die sich alle mit Teilaspekten der Wirklichkeit befassen, ohne sie im Gesamten zufriedenstellend beschreiben zu können. In einem Prozess, der oft langsam und stetig, zuweilen aber auch sprunghaft und revolutionär verlief, haben die Wissenschaften es verstanden, immer mehr Informationen, immer umfassenderes Wissen anzuhäufen und bestimmte Fragen, die uns früher quälten, klar und ein für alle Mal zu beantworten.
Doch einige der quälendsten Fragen sind geblieben - Fragen, die durch keine wissenschaftliche Antwort zum Schweigen gebracht werden können. Dies sind die philosophischen Fragen. Gleich wie man es nehmen will, so oder so: Die Evolution des Menschen ist untrennbar verbunden mit der Geschichte des denkens - die bis heute die Geschichte unseres denkens, eines denkens der gesamten Menschheit ist. Die Erfahrung des denkens ist etwas, das alle Menschen verbindet. Wissen wir nicht alle zumindest ungefähr, insoweit, dass es für den Anfang zumindest reicht, was wir meinen, wenn wir davon sprechen, dass wir alle denken? Darauf können wir uns beziehen und verlassen, diesseits aller Sprachen und Kulturen, jenseits aller Unterschiede.
Vielleicht klingt Ihnen der Ton ein wenig zu sehr nach Märchen. Tatsächlich haben viele Kulturen Mythen und Erzählungen, Märchen und später Theorien entwickelt, um ihren Ausgangsund Bezugspunkt zu markieren: Skizzen der Welt, der Natur und des Menschen, die vom Versuch genau zu denken zeugen und doch in erster Linie noch nicht als philosophieren begriffen werden, weildiese besondere Tätigkeit »der jeweils reflektierten Periode einer jeden Gesellschaftsentwicklung« angehört.3 Tatsächlich sind die Philosophien der verschiedenen Zeiten und Kulturen, soweit sie erhalten geblieben sind, keineswegs allein Form akademischer Abhandlungen überliefert worden. Das philosophische denken in seiner heutigen akademischen Form markiert erst einen der letzten Schritte der Entwicklungen und liegt höchstens zwei, vielleicht drei Jahrtausende zurück (und manche kritischen Zeitgenossen würden sogar noch strenger datieren und sagen, dass es höchstens zwei, drei Jahrhunderte her sei). Jedenfalls ist die Geschichte des denkens, die all dem voraus liegt, untrennbar verbunden mit so unterschiedlichen Formen wie Erzählungen oder Mythen, Geschichten jedweder Form, Gleichnissen, Dialogen und Abhandlungen, Argumenten und Theorien oder anderen Formen des Sprechens und Schreibens und zuweilen auch Zeichnens, die heute eher der Literatur oder Kunst zugeordnet werden würden. Und doch bilden all diese Formen wie der Amazonas einen großen, weit verzweigten Fluss des denkens, der zuweilen außer Blick gerät und so groß erscheint wie ein See oder Meer, in dem kein Fluss mehr zu erkennen ist. Dann wieder verengt sich der Fluss des denkens zu einem kleinen, versiegenden Rinnsal. Am Ende fließt das Wasser ins Meer, bevor es von dort aufsteigt und weit entfernt über dem Land wieder abregnet. Man könnte, um im Bild zu bleiben, von einem Meer des Wissens sprechen, das in einen großen Kreislauf eingebunden ist. Oder moderner gesprochen von einem Netzwerk, das sich aus allunseren Überlieferungen, Erkenntnissen und Einsichten gebildet hat. Das Internet wäre dabei nur ein Teil, sozusagen der elektronisch sichtbare Aspekt dieses Netzwerkes.
Ich sprach eben von den bleibenden, nicht nur durch Wissenschaft aufzulösenden Fragen. Diese eignen sich gut, um das Feld desphilosophierenswenigstensskizzenhaftzuumschreiben.StreichenSieeinfachvonallenFragen, die Sie im Leben haben, diejenigen, die sich (früher oder später zumindest) durch reine Information, durch Wissen, Fakten oder Tatsachen beantworten lassen. Streichen Sie weiter die Fragen, die Sie mit Hilfe eines Wikipedia- Eintrages oder einer Google-Suche lösen können. Dann werden Sie feststellen, dass dennoch einige Fragen übrig bleiben, die sich nicht durch Prozeduren des Nachschlagens beantworten lassen. Auch mehr Informationen helfen nicht. Sie werden nicht durch mehr Fakten herausbekommen, was schön ist und wie sich Schönheit anfühlt. Diese Fragen sind die eigentlich philosophischen Fragen. In gewisser Weise handelt es sich dabei natürlich um sehr persönliche, private Fragen - was es umso erstaunlicher macht, dass es eine Art von »öffentlichem« philosophieren gibt. Diese Fragen beunruhigen uns, treiben uns immer wieder an, Lösungen, Antworten zu finden, auch wenn wir oft nicht weiter fragen oder suchen wollen, weil dieser Prozess etwas Quälendes an sich haben kann. Und auch weil die Aussicht darauf, das Fragen beenden zu können, nicht besonders groß erscheint. Dennoch werden Sie versuchen - ich würde behaupten: als wacher, aufmerksamer Mensch sogar versuchen müssen-, solche Fragen zu beantworten. Vermutlich werden Sie im Laufe dieses Antwort-Prozesses von Ihrer ersten Ausgangsfrageabrücken und zu anderen, neuen Fragen übergehen. Vielleicht liegt in dieser Veränderung der Fragen sogar der entscheidende Fortschritt der Erkenntnis in diesen seltsam feinen, sich leicht entziehenden »Dingen«.
In jedem Fall ist das, was Sie dann machen, wenn Sie den nicht auflösbaren Fragen nachgehen, denken. Ein Denken, das philosophieren ist. All den Philosophien unserer Welt ist, so unterschiedlich sie auch sein mögen, eines gemeinsam: diese Tätigkeit des denkens und die damit verbundene Erfahrung, die ein hoch komplexes, buntes und oftmals bis zum Zerreißen gespanntes Muster bildet, ein Netz, das sich in uns formt, und, wenn es passt, über uns und unserer Welt liegt. Wir alle gehen bewaffnet mit einer Fülle von philosophischen Ideen und Vorstellungen durch unser Leben, sagt der kalifornische Neurolinguist George Lakoff, mit dem ich mich vor zwei Jahren am Berliner Wissenschaftskolleg darüber unterhalten konnte. Wir haben Vorstellungen von allem: Moral, Politik, Gott, Wissen, Wissenschaft, dem Menschen, anderen Menschen, der menschlichen Natur, Ästhetik und so fort. All das haben wir von anderen Menschen übernommen, haben es durch unsere Kultur gelernt. Leider sind wir uns selten dessen bewusst, was diese philosophischen Ideen eigentlich sind. Wo sie herkommen, wie sie sich vermehren, wie sie sich begründen lassen. Indem wir philosophieren, entwickeln wir darüber bewusste Theorien und versuchen, unsere Vorstellungen über die Welt auf eine systematische, einigermaßen kohärente, meist von uns als rational bezeichnete Art und Weise zu ordnen. Philosophieren hilft uns deshalb vor allem, unsere Erfahrungen, unser Leben zu verstehen: »philosophical theories help us understand our experience«. Und sie machen es möglich, über all das kritisch nachzudenken und zu überlegen, ob und an welcher Stelle unsere Vorstellungen von uns, anderen und der Welt korrigiert werden sollten.4
Wenn Sie die beiden Ziele des Buches zusammen nehmen, werden Sie bereits ahnen, was dieses Buch nicht ist. Dieses Buch ist keine klassische Einführung in die Philosophie(n). Und auch kein Philosophie-Lehrbuch oder gar eine Philosophie-Geschichte. Warum auch? Es gibt bereits eine Reihe hervorragender Lehrbücher der Philosophie und einige hervorragend zu lesende, sehr genaue und spannende Einführungen in Philosophie und Ideengeschichte. Wenn ich bei mir zu Hause arbeite, steht meist in Reichweite ein inzwischen leicht vergilbtes, vor Jahrzehnten aber in schönes rotes Leinengebundenes Buch, dessen Titel mit Goldlettern gefertigt wurde: Kleine Weltgeschichte der Philosophie, geschrieben von Hans Joachim Störig im Jahre 1950. Dieses Buch hat nach Angaben vom Börsenblatt, dem Wochenmagazin für den Deutschen Buchhandel, inzwischen eine Auflage von mehr als einer Million Exemplaren erreicht. Ich muss etwa 14 Jahre alt gewesen sein, als mir mein Vater sein Exemplar schenkte - ein Geschenk mit großer Wirkung. Denn das Buch wollte sich ja nicht an Fachphilosophen wenden -ihnen würde es nichts Neues sagen -, wohl aber an die Menschen, die »inmitten der Arbeit und Sorge des Alltags und im Anblick der großen geschichtlichen Umwälzungen und Katastrophen unserer Zeit den Versuch nicht aufgeben, sich im Wege selbstständigen Nachdenkens mit den Rätseln der Welt und den ewigen Fragendes Menschseins auseinanderzusetzen, und die die Annahmen nicht von vorneherein zurückweisen, daß die Gedanken und Werke der großen Denker aller Zeiten dabei Rat und Hilfe geben können«.5 Was für ein Ansporn! Selber nachzudenken - statt vorgefertigten Mustern zu folgen.
Was mir damals sofort ins Auge fiel, war, dass etwas anders, grundsätzlich anders war als im Latein-oder Geschichtsunterricht, anders auch als im Philosophie-und Religionsunterricht. Störigs Buch begann weder mit den Griechen noch mit den Römern. Seine Geschichte der Philosophie begann im »alten Indien «, das »geographisch betrachtet und ebenso in geistiger Beziehung, eine ganze Welt für sich« sei. Indien folgte China. Und China der Buddhismus. Dann erst, nach hundert Seiten, setzte der zweite Teil ein: die griechische Philosophie, auf die Mittelalter, der Ausgang des Mittelalters bis Kant und schließlich die Philosophie des 19.und20. Jahrhunderts folgten. Das Buch führte dazu, dass ich intensiv las und dabei nicht nur auf jeder Seite faszinierende neue Gedanken entdeckte, sondern auch vieles bekannte, das zu meinem Erstaunen oft Jahrtausende alt war. Und noch einen Effekt hatte das Buch: verstärkten Streit mit meinem damaligen Religionslehrer. Vermutlich war ich damals für Lehrer wie ihn eine Pest. Aber als es mal wieder darum ging, wie wir doch Gott und andere Bewohner des Himmelreiches kennen und erkennen können, meldete ich mich und sagte, dass Kant das doch etwas anders sehen würde. Wir seien nämlich nicht in der Lage, das Ding an sich zu erkennen. Worauf mein Religionslehrer etwas höhnisch bemerkte, ob ich mir in meinem Alter wohl anmaßen würde, Kant zu verstehen? Worauf ich antwortete, dass ich nicht sicher sei, Kant zu verstehen, weil Kant schwer zu lesen sei. Aber immerhin sei ich sicher, was den Gedankengang angeht. Denn der sei so schwer nicht zu verstehen. Ehrlicherweise hätte ich zugeben müssen, dass ich das Kant-Kapitel in Störigs Buch nicht nur einmal, sondern vermutlich zwanzigmal gelesen hatte, wobei ich versuchte, mir Kants Kategorienlehre aufzuzeichnen. Erst Jahrzehnte später habe ich gefunden, dass es im Internet so etwas (nur viel besser) gibt. Geblieben ist von all dem eine große Vorliebe für Kant, bis heute; eine Abneigung gegen Menschen, die sagen, jemand sei zu klein oder dumm, um etwas zu wissen; undeingewissesMisstrauengegenüberMenschen,diesichoffensichtlichin himmlischen und moralischen Dingen so gutauskennen, als seien sie jede Nacht dort zu Gast. Ich bin meinem Vater für das Buch bis heute dankbar, muss allerdings zugeben, dass es Kapitel gibt, die ich überschlagen und bis heute nicht gelesen habe; aber es muss ja auch noch etwas übrigbleiben für die Zeit nach dem Fernsehen.
Es gibt eine Fülle guter, zuweilen hervorragender Werke über die Geschichte der Philosophie und der Ideen, was nicht ganz, aber doch weitgehend dasselbe ist. Es handelt sich um kluge, umfassende, klare Bücher, die zu lesen sich lohnt. Da wir gerade dabei sind, und Sie sich vielleicht fragen, welche Bücher ich meine - hier eine kleine Liste. Zu den guten Einführungen gehören Thomas Nagel, Was bedeutet das alles? Eine ganz kurze Einführung in die Philosophie, Jens Soentgen, Selbstdenken!: 20 Praktiken der Philosophie, Jay F. Rosenberg, Philosophieren. Ein Handbuch für Anfänger, Stephen Law, Philosophie. Eine Einführung (von ihm stammt auch der grandiose Klassiker The Philosophy Gym. 25 short adventures in thinking), Ben Dupré, 50 Schlüsselideen Philosophie sowie das Philosophie-Buch: Große Ideen und ihre Denker aus dem Dorling Kindersley Verlag. Etwas schwerer zu lesen, aber in meinen Augen ein Klassiker ist Holm Tetens, Philosophisches Argumentieren. Eine Einführung sowie das von Jörg Sandkühler herausgegebene Buch Philosophie, wozu?, ein Buch mit hohem Überblickswert. Bislang nicht übersetzt, aber ähnlich übersichtsmächtig ist das von Havi Carel und David Gamez herausgegebene Buch What Philosophy is. Contemporary Philosophy in Action mit einem Vorwort von Simon Blackburn. Die vielleicht derzeit beste - weil kluge, genaue, ausgewogene und kenntnisreiche - Beantwortung der Frage, was Philosophie ist (gerade im Vergleich zu anderen Disziplinen), stammt von Dietmar von der Pfordten und hat den Titel Suche nach Einsicht. Über Aufgabe und Wert der Philosophie. Wie gesagt: eine sehr subjektive Auswahl, die ich je nach Temperament, Alter und Lebenslage empfehlen würde. Leider nicht übersetzt ist das grandiose Buch des englischen Philosophen Colin McGinn, der es von ganz unten aus einer Arbeiterfamilie zum Philosophieprofessor (und mehr) geschafft hat - ein wunderbares Buch mit dem Titel The Making of a Philosopher. My Journey through Twentieth-Century-Philosophy (New York 2002).Ebenfalls in Form einer intellektuellen Biographie geschrieben ist das Buch des britischen Philosophen, Politikers, Fernsehmoderators und Kunstkritikers Bryan Magee mit dem Titel Bekenntnisse eines Philosophen.
Dann gibt es noch etwas umfangreichere, in gewissem Sinn etwas speziellere Werke, auf die ich gerne zurückgreife. Dazu gehört vor allem Weltgeschichte des Denkens. Die geistigen Traditionen der Menschheit von Ninian Smart, einem der bedeutendsten Religionswissenschaftler, der sein Buch ähnlich wie Störig beginnen lässt mit den südasiatischen Philosophien, auf die die chinesischen, koreanischen und japanischen Philosophien folgen, ehe er sich auf Seite 180 dann den Griechen und Rom zuwendet; ein sehr sympathischer Beginn einer Weltgeschichte des Denkens, wie ich finde. Weiter zu nennen wären Kurt Flasch, Kampfplätze der Philosophie. Große Kontroversen von Augustin bis Voltaire, Bertrand Russells Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung sowie von Peter Watson(der zu meinem großen Erstaunen nicht nur über Kunst- raub geschrieben hat, sondern auch Autor mehrerer Krimis ist) die beiden brillanten Bücher Das Lächeln der Medusa - die Geschichte des modernen Wissens und Ideen: Eine Kulturgeschichte von der Entdeckung des Feuers bis zur Moderne. Wer interessiert ist, die Geschichte des Denkens anhand der Veröffentlichungen nachzuverfolgen - denn öffentlich und damit zugänglich wurden Gedanken über einen kleinen Kreis von Eingeweihten hinaus ja erst durch den Buchdruck -, sei auf das meisterhafte, von Arnim Regenbogen erarbeitete Buch Chronik der Philosophischen Werke. Von der Erfindung des Buchdrucks bis ins 20. Jahrhundert verwiesen. Ehrlich gesagt hätte ich jetzt Lust, die Liste noch um einige Bücher zu vergrößern (etwa, was die moderne Philosophie angeht, um die grandiosen vier Bände der Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie von Wolfgang Stegmüller).Aber das würde vom Thema wegführen: von der Frage, was denken und philosophieren eigentlich sind, und wie philosophieren und die Erfahrung des denkens zusammenhängen. Dass beides keineswegs an akademische Formund Strenge gebunden ist, jedenfalls nicht immer, können Sie leicht an der folgenden, sehr bekannten Geschichte vom Schmetterlingstraum sehen, die sich in Das wahre Buch vom südlichen Blütenland findet. Dschuang Dsi, der Autor dieses Buches, war ein chinesischer Philosoph und Dichter, der sich zeitlebens allen Ämtern verweigerte. Er berief sich auf Konfuzius (551-479v.Chr) und wurde um 365 vor Christus geboren, starb 290, war verheiratet und pflegte, wie es scheint, ausgiebig Kontakt zu anderen Philosophen und Philosophie-Schulen.
»Einst träumte Dschuang Dschou, dass er ein Schmetterling sei, ein flatternder Schmetterling, der sich wohl und glücklich fühlte und nichts wusste von Dschuang Dschou. Plötzlich wachte er auf: da war er wieder wirklich und wahrhaftig Dschuang Dschou. Nun weiß ich nicht, ob Dschuang Dschou geträumt hat, dass er ein Schmetterling sei, oder ob der Schmetterling geträumt hat, dass er Dschuang Dschou sei, obwohl doch zwischen Dschuang Dschou und dem Schmetterling sicher ein Unterschied ist. So ist es mit der Wandlung der Dinge.«6
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Autoren-Porträt von Gert Scobel
Gert Scobel, 1959 geboren, studierte Philosophie und Theologie an der Jesuiten-Hochschule St. Georgen in Frankfurt am Main und an der University of California in Berkeley. Er hatte mehrfach Lehraufträge, u.a. an der University of San Francisco. Zweimal erhielt er das EICOS-Stipendium, u.a. am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in München. Von 1995 bis 2007 moderierte er die 3sat-Sendung »Kulturzeit«. Von 2001 bis 2003 war er zudem Anchorman des ARD-Morgenmagazins. Von 2003 bis 2014 moderiert er die ZDF-Sendung »Sonntags - TV für's Leben«. 2004 bis 2008 leitete und moderierte Gert Scobel das Magazin »delta«, das im April 2008 von der Sendung »scobel« abgelöst wurde. Seitdem ist er verantwortlich für das Wissensmagazin »scobel«. Seit 2016 ist Gert Scobel zudem Professor für »Philosophie und Interdisziplinarität« an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Gert Scobel
- 2012, 1. Auflage, 592 Seiten, Masse: 14 x 21,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100702158
- ISBN-13: 9783100702159
- Erscheinungsdatum: 23.10.2012
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