Vor aller Augen / Alex Cross Bd.9
Alle Spuren führen zu einem Mann, dessen Kaltblütigkeit selbst hart gesottene...
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Alle Spuren führen zu einem Mann, dessen Kaltblütigkeit selbst hart gesottene Verbrecher fürchten. Man nennt ihn ''den Wolf''.
Vor aller Augen von James Patterson
LESEPROBE
Prolog
Die Paten
Man erzählte von einer völlig unglaublichen Mordgeschichte, durch welche der Wolf Eingang in die Polizeimythen gefunden und die sich schnell von Washington nach New York, London und Moskau ausgebreitet hatte. Niemand wusste mit Sicherheit, ob es tatsächlich der Wolf gewesen war. Doch erfolgte nie ein offizielles Dementi, und die Geschichte fügte sich nahtlos in andere ungeheuerliche Vorkommnisse im Leben dieses russischen Gangsters ein.
Laut dieser Geschichte hatte sich der Wolf an einem Sonntagabend im Frühsommer Zutritt in das Hochsicherheitsgefängnis in Florence, Colorado, verschafft. Er hatte sich den Zugang erkauft, um drinnen den italienischen Mafioso Don Augustino »Little Gus« Palumbo zu treffen. Vor diesem Besuch stand der Wolf in dem Ruf, impulsiv und zuweilen äusserst ungeduldig zu sein. Doch diese Zusammenkunft mit Little Gus Palumbo hatte er nahezu zwei Jahre lang sorgfältig geplant.
Er traf sich mit Palumbo im Sicherheitstrakt des Gefängnisses, wo der New Yorker Gangster seit sieben Jahren einsass. Ziel des Treffens war, ein Arrangement zu erreichen, wonach sich die Palumbo-Familie der Ostküste mit der Russischen Mafia verbünden sollte, um eines der mächtigsten und skrupellosesten Verbrechersyndikate der Welt zu bilden. So etwas war noch nie zuvor versucht worden. Palumbo wurde nachgesagt, extrem skeptisch zu sein. Aber er stimmte dem Treffen mit dem Wolf zu, nur um zu sehen, ob der Russe es schaffen würde, in das Gefängnis in Florence hineinzukommen - und auch wieder hinaus.
Von Anfang an benahm sich der Russe dem sechsundsechzigjährigen Don gegenüber äusserst respektvoll. Er neigte den Kopf, als sie sich die Hände schüttelten, und machte einen beinahe schüchternen Eindruck - ganz im Gegensatz zu seinem Ruf.
»Jeglicher Körperkontakt ist strikt verboten«, sagte der Captain der Wachen durch die Sprechanlage. Er hiess Larry Ladove und er hatte 75 000 Dollar kassiert, um das Treffen zu ermöglichen.
Der Wolf ignorierte Captain Ladove. »In Anbetracht der Umstände sehen Sie recht gut aus«, sagte er zu Little Gus. »Sogar sehr gut.«
Der Italiener lächelte verkniffen. Er war klein, aber sein Körper war hart und muskulös. »Ich mache dreimal täglich Gymnastik - jeden Tag. Ausserdem trinke ich fast nie Alkohol - allerdings nicht ganz freiwillig. Ich ernähre mich gesund, ebenfalls nicht ganz freiwillig.«
Der Wolf lächelte und sagte: »Das klingt ja, als rechneten Sie damit, nicht die gesamte Strafe abzusitzen.«
Palumbo lachte kurz und trocken. »Darauf können Sie einen lassen. Dreimal lebenslänglich gleichzeitig? Aber ich bin von Natur aus diszipliniert. Die Zukunft? Wer weiss schon genau, wie sich die Dinge entwickeln?«
»Ja, wer weiss das schon. Ich bin mal aus einem Gulag unterhalb des Polarkreises geflohen. In Moskau habe ich einem Bullen erklärt: Ich war in einem Gulag, glaubst du, dass du mir Angst einjagen kannst? Womit beschäftigen Sie sich ansonsten hier drinnen? Abgesehen von körperlicher Ertüchtigung und gesundem Essen?«
»Ich versuche mich um meine Geschäfte in New York zu kümmern. Manchmal spiele ich mit einem kranken Irren Schach. Er war früher beim FBI.«
»Kyle Craig«, sagte der Wolf. »Halten Sie ihn für so verrückt, wie man behauptet?«
»Ja, absolut. Aber jetzt erklären Sie mir mal, pakhan mein Freund, wie kann diese Allianz, die Sie vorschlagen, funktionieren? Ich bin ein disziplinierter Mensch und pflege alles sorgfältig zu planen - auch hier, trotz der gegenwärtig erniedrigenden Umstände. Soweit ich gehört habe, sind Sie ein Hitzkopf. Den Finger schnell am Abzug. Ein Macher. Sie kümmern sich selbst um die kleinsten Operationen. Schutzgeld, Prostitution. Gestohlene Autos? Wie kann das mit uns beiden funktionieren?«
Der Wolf lächelte und schüttelte dann den Kopf. »Ich habe den Finger schnell am Abzug, aber ich bin kein Hitzkopf. Und schon gar nicht, wenns um viel Geld geht. Ich werde Ihnen ein Geheimnis verraten, das niemand sonst kennt. Es wird Sie überraschen und vielleicht meinen Standpunkt untermauern.«
Der Wolf beugte sich vor. Er flüsterte dem Italiener sein Geheimnis ins Ohr. Dessen Augen weiteten sich vor Furcht. Mit verblüffender Schnelligkeit packte der Wolf den Kopf von Little Gus. Er drehte ihn kraftvoll und mit einem lauten Knacken brach das Genick des Gangsters.
»Vielleicht bin ich zuweilen doch ein Hitzkopf«, sagte der Wolf. Dann blickte er in die Überwachungskamera und sagte zu Captain Ladove: »Oh, hatte ich ja ganz vergessen - keinerlei Körperkontakt.«
Am nächsten Morgen wurde Augustino Palumbo in seiner Zelle tot aufgefunden. Nahezu jeder Knochen in seinem Leib war gebrochen. In der Moskauer Unterwelt war diese symbolträchtige Art von Mord als zamochit bekannt. Man hatte den Gegner »durch die Mangel gedreht«, ihm sämtliche Knochen gebrochen und damit die totale Dominanz des Angreifers bewiesen. Der Wolf hatte überdeutlich klar gemacht, dass er jetzt der Pate war.
Eins
Der Fall »Weisses Mädchen«
Das Phipps-Plaza-Einkaufszentrum in Atlanta war eine aufwendige Komposition aus rosa Granitböden, ausladenden Treppen mit Bronzegeländern, vergoldeten Napoleonsymbolen und einer Beleuchtung, die wie Halogen-Spotlights strahlte. Ein Mann und eine Frau beobachteten ihre Zielperson - »Mom« -, als diese Niketown verliess. Laufschuhe und sonstigen Kram für ihre drei Töchter hatte sie sich unter einen Arm geklemmt.
»Sie ist sehr hübsch. Ich verstehe, warum der Wolf sie mag. Sie erinnert mich an Claudia Schiffer«, sagte der männliche Beobachter. »Siehst du die Ähnlichkeit?«
»Dich erinnert jede an Claudia Schiffer, Slava. Verlier sie nicht. Denn wenn du deine kleine hübsche Claudia aus den Augen verlierst, frisst der Wolf dich zum Frühstück.«
Das Entführungs-Team trug edle Kleidung, wodurch es für die beiden leicht war, in der Phipps Plaza im Buckhead-Distrikt von Atlanta nicht aufzufallen. Um elf Uhr vormittags war im Einkaufszentrum nicht viel los. Das könnte ein Problem werden.
Es half, dass die Zielperson in ihrer eigenen Welt, in einem engen Kokon aus sinnloser Aktivität, umherschwirrte. Rein und wieder raus bei Gucci, Caswell-Massey, Niketown, dann Gapkids und Parisian (wo sie ihre eigene Einkaufsberaterin namens Gina hatte). Dabei achtete sie in keinem Geschäft auch nur im Geringsten darauf, wer sich in ihrer Nähe befand. Sie arbeitete strikt nach den Eintragungen in ihrem in teures Leder gebundenen Kalender und bewältigte ihre Runde schnell, effizient und routiniert. Sie kaufte verwaschene Jeans für Gwynne, ein Lederetui für Brendan, Nike-Tauchbrillen für Meredith und Brigid. Sie vereinbarte sogar noch einen Friseurtermin bei Carter-Barnes.
Die Zielperson hatte Stil und immer ein freundliches Lächeln für das Verkaufspersonal, welches sie in den eleganten Geschäften bediente. Sie hielt sogar für Männer die Tür hinter sich offen, die sich dann überschlugen, der attraktiven Blondine zu danken. »Mom« war sexy, und sie ähnelte tatsächlich dem Supermodel Claudia Schiffer. Doch das sollte ihr zum Verhängnis werden.
Laut der Personenbeschreibung dieses Jobs war Mrs. Elizabeth Connolly Mutter von drei Mädchen, hatte in Vassar Kunstgeschichte studiert und 1987 erfolgreich mit einem Diplom abgeschlossen, das - laut ihrer eigenen Aussage - »in der realen Welt - was auch immer das sein mag - völlig wertlos, doch für mich unschätzbar wertvoll ist«. Sie hatte vor ihrer Ehe als Reporterin für die Washington Post und die Atlanta Journal-Constitution gearbeitet. Sie war siebenunddreissig, sah jedoch wie dreissig aus. Ihr Haar wurde an diesem Tag von einer Samtspange zurückgehalten. Sie trug einen ärmellosen Rollkragenpullover, darüber eine gehäkelte Jacke und enge lange Hosen. Sie war blitzgescheit und religiös - allerdings mit gesundem Menschenverstand - und - wenn nötig - knallhart und zäh. So stand es in ihrem Dossier.
Nun, schon bald würde sie zäh sein müssen.
Mrs. Elizabeth Connolly würde in Kürze entführt werden.
Sie war gekauft worden, und sie war an diesem Vormittag wahrscheinlich das teuerste Verkaufsobjekt der Phipps Plaza.
Ihr Preis: 150 000 Dollar.
Lizzie Connolly war es ein bisschen schwindlig. Sie fragte sich, ob ihr Blutzucker wieder verrückt spielte.
Sie notierte im Geiste, dass sie Trudie Stylers Kochbuch kaufen sollte - sie bewunderte Trudie in gewisser Weise, die Gründungsmitglied der Regenwald-Stiftung und ausserdem Stings Ehefrau war. Lizzie bezweifelte ernsthaft, am Ende dieses Tages den Kopf noch gerade auf dem Hals zu haben, und musste an dieses bedauernswerte Mädchen in Der Exorzist denken. Hiess die Schauspielerin nicht Linda Blair? Lizzie war sich ziemlich sicher. Aber - wen scherte das? Welchen Unterschied machten derartige Trivialitäten?
Der heutige Tag glich einem Karussel. Erst Gwynnets Geburtstag: Die Party für einundzwanzig ihrer engsten Schulfreunde, elf Mädchen, zehn Jungs, war für ein Uhr bei ihr im Haus angesetzt. Lizzie hatte eine Sprungburg gemietet und bereits den Lunch für die Kinder vorbereitet, ebenso natürlich für deren Mütter und Kinderfrauen. Sie hatte sogar für drei Stunden einen Mister-Softee-Eiswagen gemietet. Aber man wusste ja nie, wie diese Geburtstagsattraktionen einschlugen - sicher waren nur jede Menge Gelächter, Tränen, Aufregungen und Schmutzflecken.
Nach der Geburtstagsorgie musste sie Brigid zum Schwimmunterricht fahren und Merry hatte einen Termin beim Zahnarzt. Brendan, seit vierzehn Jahren ihr Ehemann, hatte ihr eine »kurze Liste« mit dringenden Erledigungen auf den Tisch gelegt. Selbstverständlich brauchte er alles S.S.W.M.L., im Klartext: So Schnell Wie Möglich, Liebling.
Nachdem sie bei Gapkids ein T-Shirt mit Strass für Gwynnie gekauft hatte, musste sie nur noch für Brendan ein Lederetui besorgen. Ach ja, und ihr Friseurtermin. Und zehn Minuten mit ihrer Retterin Gina Sabellico bei Parisian.
Während der Endphasen blieb sie äusserlich ganz ruhig - lass niemals jemanden sehen, dass du schwitzt. Dann eilte sie zu ihrem neuen Mercedes 320 Kombi, der sicher in einer Ecke der Phipps-Tiefgarage stand. Keine Zeit für ihren Lieblingstee im Teavana.
An einem Montagvormittag war kaum jemand in der Tiefgarage, aber dennoch stiess sie beinahe mit einem Mann mit langen dunklen Haaren zusammen. Automatisch lächelte Lizzie ihn an und zeigte dabei ihre perfekten, vor kurzem gebleichten und polierten Zähne. Sie strahlte Wärme und Weiblichkeit aus - auch wenn sie das gar nicht beabsichtigte.
Sie achtete nicht wirklich auf ihre Umgebung. In Gedanken war sie schon bei der immer näher rückenden Geburtstagsparty, als eine Frau, an der sie vorbeigegangen war, plötzlich die Arme um Lizzies Brust schlang, als sei sie ein Stürmer für das Footballteam der Atlanta Falcons und wolle gerade über die »Spinatlinie« rennen, wie ihre Tochter Gwynne es mal genannt hatte. Der Griff der Frau war wie ein Schraubstock - sie war verdammt stark.
»Was wollen Sie? Sind Sie wahnsinnig?«, schrie Lizzie und liess die Einkaufstüten fallen. Sie hörte, wie etwas zerbrach. »Hallo! Hilfe! Lassen Sie mich los!«
Dann packte ein zweiter Angreifer, der Kerl mit dem BMW-Sweatshirt, ihre Beine. Er war grob und tat ihr weh, als er sie samt der Frau auf den harten, mit Öl verschmierten Betonboden der Garage stiess. »Tritt mich ja nicht, du Miststück!«, brüllte er sie an. »Wage ja nicht, mich zu treten!«
Aber Lizzie hörte nicht auf, um sich zu treten, und schrie aus Leibeskräften. »Hilfe! Hilfe! Hilfe!«
Dann hoben die beiden Verbrecher sie hoch, als sei sie eine Feder. Der Mann raunte der Frau etwas zu. Nicht auf Englisch. Möglicherweise eine osteuropäische Sprache. Lizzie hatte eine Haushälterin aus der Slowakei. Bestand da eine Verbindung?
Die Angreiferin drückte sie mit einem Arm nach unten und schob mit der freien Hand Tennis- und Golfsachen auf der Ladefläche des Kofferraums ihres Kombis beiseite, um Platz zu schaffen.
Dann verstauten die beiden Lizzie in ihrem eigenen Wagen. Ein stinkender Lappen wurde ihr so kräftig auf Mund und Nase gepresst, dass ihr die Zähne wehtaten. Sie schmeckte Blut. Blut? Mein Blut!, dachte sie. Ein Adrenalinstoss durchfuhr ihren Körper. Sie wehrte sich mit aller Kraft. Sie schlug und trat wie wild um sich. Dabei fühlte sie sich wie ein gefangenes Tier, das sich zu befreien versucht.
»Ruhig«, sagte der Mann. »Still, still, ruhig jetzt Elizabeth Connolly.«
Elizabeth Connolly? Sie kennen mich. Wie? Warum? Was ist hier los?
»Du bist wirklich sehr sexy, Mom«, sagte der Mann. »Ich verstehe, warum der Wolf dich mag.«
Wolf? Wer ist der Wolf? Was geschah mit ihr? Wen kannte sie, der Wolf hiess?
Dann überwältigte Lizzie der beissende Geruch aus dem Lappen und sie verlor das Bewusstsein. Man fuhr sie in ihrem eigenen Wagen davon.
Doch nur über die Strasse zur Lenox-Square-Einkaufspassage. Dort wurde Lizzie Connolly in einen blauen Dodge-Kombi umgeladen, der sofort davonbrauste.
Der Kauf war abgeschlossen.
Es war Montagmorgen und noch sehr früh. Den Rest der Welt und ihre Probleme hatte ich vergessen. So sollte das Leben sein, doch leider erwies sich diese Hoffnung häufig als trügerisch. Jedenfalls meiner Erfahrung nach, welche allerdings in Bezug auf das, was man ein »gutes Leben« nannte, ziemlich begrenzt war.
Ich marschierte an diesem Morgen mit Jannie und Damon zur Sojourner-Truth-Highschool. Klein Alex watschelte fröhlich neben mir. Ich nannte ihn »Puppy«.
Der Himmel über Washington, D. C., war teilweise bewölkt, aber ab und zu schickte die Sonne einen Strahl hindurch und wärmte unsere Köpfe und Nacken. Ich hatte bereits Klavier gespielt - Gershwin - fünfundvierzig Minuten lang. Und mit Nana Mama gefrühstückt. Ich musste erst um neun Uhr zu meinem Orientierungsunterricht in Quantico erscheinen. Das liess mir Zeit, um halb acht mit zur Schule zu gehen. Und genau danach hatte ich mich in letzter Zeit gesehnt: Zeit mit meinen Kindern zu verbringen.
Zeit, mich mit einem Dichter zu beschäftigen, den ich erst kürzlich entdeckt hatte: Billy Collins. Als Erstes hatte ich seine Nine Horses gelesen und jetzt war es Sailing Alone Around the Room. Billy Collins liess das Unmögliche so leicht erscheinen - und so möglich.
Zeit, mit Jamilla Hughes täglich zu telefonieren, oft stundenlang. Und wenn das nicht möglich war, dann E-Mails und zuweilen lange liebevolle Briefe. Sie arbeitete immer noch im Morddezernat von San Francisco, aber ich fühlte, dass die Entfernung zwischen uns schrumpfte. Ich wollte das und hoffte, dass es bei ihr ebenso war.
Inzwischen veränderten sich die Kinder in Schwindel erregendem Tempo; besonders Klein Alex schien direkt vor meinen Augen zu wachsen. Ich musste mehr bei ihm sein - und das konnte ich jetzt. Das war mein Entschluss. Deshalb war ich zum FBI gegangen, zumindest zum Teil.
Klein Alex war schon achtundachtzig Zentimeter gross und wog dreizehneinhalb Kilo. Heute Morgen trug er einen Overall mit Nadelstreifen und eine Kappe der Orioles. Er bewegte sich, als triebe ihn ein Wind von Lee vorwärts. Sein Plüschtier - eine Kuh namens Muh -, das er überallhin mitschleppte, wirkte wie Ballast, so dass er ständig eine leichte Linkskrängung hatte.
Damon lief voraus. Er folgte einem schnelleren und zwingenderen Rhythmus. Mann, ich liebte diesen Jungen. Abgesehen von seinen Modevorstellungen. An diesem Morgen trug er abgeschnittene Jeans, Uptowns, ein graues T-Shirt und darüber einen Alan-Iverson-Pullover. Auf seinen dünnen Beinen spross pfirsichfarbener Flaum. Es sah so aus, als würde sein Körper sich aus den Füssen heraus entwickeln. Grosse Füsse, lange Beine, ein jugendlicher Körper.
An diesem Morgen bemerkte ich alles. Ich hatte Zeit dazu.
Jannie trug typischerweise ein graues T-Shirt mit dem Aufdruck »Aero Athletics 1987« in grossen roten Buchstaben, dazu eine knöchellange Jogginghose mit einem roten Streifen an den Seiten und weisse Adidas-Turnschuhe mit roten Streifen.
Was mich betraf - ich fühlte mich rundum wohl. Ab und zu sagte mir jemand, dass ich wie der junge Muhammad Ali aussähe. Ich wies das Kompliment stets weit von mir, hörte es aber eigentlich nicht ungern.
»Heute Morgen bist du furchtbar still, Dad.« Jannie hängte sich bei mir ein und sagte: »Hast du Ärger in der Schule? Bei deiner Orientierung? Bist du gern ein FBI-Agent?«
»Bis jetzt gefällts mir«, erwiderte ich. »Die nächsten zwei Jahre sind Probezeit. Die Orientierung ist gut, aber für mich ist vieles Wiederholung, besonders das, was sie Praxis nennen. Schiessstand, Waffenreinigen, Übungen, wie man Verbrecher fängt. Deshalb kann ich an manchen Tagen später hingehen.«
»Aha, du bist also schon Lehrers Liebling«, meinte sie und zwinkerte mir zu.
Ich lachte. »Ich glaube kaum, dass die Lehrer von mir oder irgendeinem anderen Cop besonders beeindruckt sind. Wie läufts denn bei Damon und dir so dieses Jahr? Sind nicht bald Zeugnisse fällig?«
Damon zuckte mit den Schultern. »Wir haben nur Einser. Warum wechselst du immer das Thema, wenns für dich peinlich werden könnte?«
Ich nickte. »Du hast Recht. Also, meine Leistungen in der Schule sind in Ordnung. In Quantico ist man mit achtzig Punkten durchgefallen. Ich erwarte für die meisten Tests hundert.«
»Für die meisten?« Jannie zog eine Braue hoch und schaute mich mit einem von Nana Mamas »verstörten« Blicken an. »Wieso die meisten? Wir erwarten, dass du in allen Tests hundert Punkte schaffst.«
»Es ist schon ein Weilchen her, seit ich die Schulbank gedrückt habe.«
»Keine Ausreden.«
Ich schlug mit einem ihrer eigenen Zitate zurück. »Ich gebe mein Bestes und mehr kannst du von niemandem verlangen.«
Sie lächelte. »Na ja, schon gut, Dad. Solange du, wenn du dein Bestes gibst, auf deinem Zeugnis lauter Einser stehen hast.«
Ich umarmte Jannie und Damon, wie üblich einen Block vor der Schule entfernt, um sie ja nicht vor ihren - ach so coolen - Freunden zu blamieren. Auch sie umarmten mich und gaben ihrem kleinen Bruder einen Kuss. Dann rannten sie los. »Niedersehn«, sagte Klein Alex. Jannie und Damon drehten sich um und riefen ihrem Bruder ebenfalls ein »Niedersehn« zu.
Ich nahm Klein Alex auf den Arm und wir gingen heim. Ich, der zukünftige Agent Cross des FBI, musste zur Arbeit fahren.
© der deutschsprachigen Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Random House, München
Übersetzung: Edda Petri
Interview mit James Patterson
Bevor Sieanfingen, Krimis zu schreiben, haben Sie in einer PR-Agentur gearbeitet. Wiewurde aus Ihnen ein Schriftsteller?
Ichhabe schon vorher geschrieben, und es war eigentlich eine Werbeagentur undkeine PR-Agentur, für die ich gearbeitet hatte - J. Walter Thompson in NewYork. Einige Jahre lang habe ich beides gemacht - schreiben und werben. Eswaren schon Bücher von mir erschienen, und ich schrieb an neuen Geschichtenganz früh morgens. Den Rest des Tages verbrachte ich dann im Büro. Schliesslichaber beschloss ich, mich von der Werbung abzuwenden und das Schreiben zumVollzeit-Job zu machen. Ausserdem habe ich eine Familie gegründet.
Ihre Storyssind unglaublich spannend. Und es gibt immer wieder überraschende Wendungen.Wie entsteht bei Ihnen ein Plot?
Ich habeda so ein Plot-Programm auf meinem Super-Computer installiert. Das habe ich vomVerteidigungsministerium bekommen... Na ja, das stimmt natürlich nicht. Ichbenutze nicht einmal einen Computer. Denn ich schreibe immer noch per Hand.Aber natürlich bin ich lange mit der Planung und Entwicklung eines guten Plotsbeschäftigt. Man muss seinen Figuren zuhören, ihnen dabei aber nicht einfachziellos folgen. Man muss diszipliniert eine Geschichte entwickeln, die dannauch wirklich aufgeht.
Die Atmosphäre in denUSA hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Wie würden Sie die neuenVerhältnisse beschreiben? Wird ihre Arbeit davon beeinflusst?
Esgab doch überall grosse Veränderungen, oder? In Bezug auf meine Arbeit habe icheine grosse Hoffnung: Ich wünsche mir, dass die Leute ein wenig mehr Zeit mitLesen verbringen. Ich kann mich daran erinnern, dass kurz nach dem 11.September viel darüber gesprochen wurde, dass die Leute mehr Zeit zu Hauseverbringen würden. Sie verzichteten auf tolle Reisen und auf Luxusgüter. Siegingen nicht mal mehr ins Kino und verbrachten ein wenig mehr Zeit zu Hause,mit der Familie. Sie wollten lesen, sie wollten miteinander reden und einfachzusammen sein. Dabei können Bücher eine sehr wichtige Rolle spielen. Die Leutelassen sich fesseln von Büchern. Sie verbringen eine interessante Zeit mitBüchern, die viel besser für solch einen Zeitvertreib geeignet sind als jedesandere Medium. Bücher sind gut für den Kopf.
Wie sieht eigentlich einperfekter Tag für Sie aus?Am besten sind dieseTage, an denen die Leute von der Pulitzer-Jury anrufen. Und dann spiele ich TomClancy-Videospiele und dann... In Wirklichkeit ist ein perfekter Tag einruhiger Tag, den ich mit meiner Familie verbringe. Ein Tag, an dem ich morgensein bisschen schreibe. An dem ich einen Spaziergang mache und ein bisschen Golfdanach spiele. Ein Tag, an dem ich ein gutes Lunch habe. Und an dem ich mitmeinem sechsjährigen Sohn spielen und mich mit meiner Frau unterhalten kann.Und schliesslich gehört dazu auch, dass ich ein wenig zum Lesen komme. Das istein Tag mit Qualität für mich.
Die Fragenstellte Mathias Voigt, Literaturtest.
- Autor: James Patterson
- 2005, Deutsche Erstausgabe, 319 Seiten, Masse: 11,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Edda Petri
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3442361672
- ISBN-13: 9783442361670
- Erscheinungsdatum: 01.02.2005
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