Vergiftet
Ein Henning-Juul-Roman
"Wenn du herausfindest, wer mich verraten hat, sage ich dir, was an dem Tag passierte als dein Sohn starb". Mit diesem Angebot ködert Tore Pulli den Reporter Hennning Juul. Tore sitzt in Haft unschuldig, wie er behauptet. Und er will, dass Henning...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Vergiftet “
"Wenn du herausfindest, wer mich verraten hat, sage ich dir, was an dem Tag passierte als dein Sohn starb". Mit diesem Angebot ködert Tore Pulli den Reporter Hennning Juul. Tore sitzt in Haft unschuldig, wie er behauptet. Und er will, dass Henning die Wahrheit herausfindet. Doch dann wird Tore ermordet.
Klappentext zu „Vergiftet “
Vergiftet - der 2. Fall für Henning Juul"Wenn du herausfindest, wer mich verraten hat, sage ich dir, was an dem Tag passierte, als dein Sohn starb", lautet die knappe Nachricht des inhaftierten Kleinkriminellen Tore Pulli, der für einen Mord verurteilt wurde, den er nicht begangen hat. Zumindest behauptet er das, und er will, dass Reporter Henning Juul die Wahrheit herausfindet. Die Wahrheit war für Henning nie wichtiger als in diesem Zusammenhang. Doch noch vor dem entscheidenden Treffen wird Tore Pulli im Gefängnis vor laufenden Kameras umgebracht. Für Henning bricht eine Welt zusammen. Wäre Tore wirklich in der Lage gewesen, den schrecklichen Unfall aufzuklären? Oder gibt es noch weitere Zeugen?
Lese-Probe zu „Vergiftet “
Vergiftet von Thomas Enger ... mehr
PROLOG
Jockes Harley steht bereits da.
Tore Pulli parkt und nimmt den Motorradhelm ab. Der Kies knirscht, als er den Fuß auf den Boden stellt. Die Fenster der stillgelegten Fabrik starren blind ins Dunkel. Die Stille ist dicht und unangenehm.
Pulli hängt den Helm an den Lenker und geht zur Tür. Die Scharniere kreischen, als er sie öffnet. Pulli geht hinein, zögert.
»Jocke?«
Seine Stimme wird von den Wänden zurückgeworfen. Die Sohlen seiner Stiefel klatschen laut auf den Boden. Langsam gewöhnen seine Augen sich an das Dunkel, aber vor sich sieht er nur nackten Boden und kahle Wände, Holzbalken und mit Spinnweben behangene Säulen. Der Oktoberwind pfeift durch die zerbrochenen Scheiben. Man sieht seinen Atem.
Fast wie in alten Tagen, denkt Pulli, geht weiter in den Raum hinein und spürt die Anspannung vor der Konfrontation. Das Adrenalin pumpt durch seinen Körper, ein Gefühl, das er nicht mag.
Sein Blick wird von etwas angezogen, das weiter hinten in den Schatten auf dem Boden liegt. Vorsichtig nähert er sich. Der stechende Geruch von Urin und Metall schlägt ihm entgegen. Er tritt auf etwas Glitschiges und muss einen Ausfallschritt zur Seite machen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er holt das Handy heraus und leuchtet damit auf den Boden.
Dann sieht er, in was er getreten ist.
Vor ihm liegt ein Mensch. Der Rücken der blutigen Lederjacke ist übersät von Einstichen. Über dem Kragen der Jacke leuchtet das Weiß des kahl rasierten Schädels mit den Tätowierungen.
Er kennt diese Tätowierungen. Nur Joachim Brolenius hat sich Go to hell auf den Hinterkopf tätowieren lassen.
Sein Handy geht aus.
Pulli blickt sich rasch um, lauscht, hört aber nur die Stille. Die Fabrik wirkt verlassen, abgesehen von Jocke, dem Mann, den Pulli aus ganzem Herzen hasst, den er aber trotzdem um keinen Preis der Welt tot sehen wollte.
Jedenfalls noch nicht.
Er beugt sich nach unten, packt die Lederjacke und dreht den schweren Körper um. Das Gesicht ist verzerrt und blutverschmiert, der Mund steht offen. Pulli legt zwei Finger an die Halsschlagader, zieht die Hand jedoch sofort wieder zurück. Der Hals ist warm, aber weich und irgendwie locker, wie ein nasser, aufgeschnittener Schwamm.
Dann sieht er etwas am Boden liegen. Einen Schlagring.
Seinen eigenen Schlagring?
Wie zum Henker ist der hierhergekommen?
Eine grausame Erkenntnis kommt ihm. Das anberaumte Treffen war weithin bekannt, und viele haben ihn losfahren sehen. Sie alle wussten, dass sein Schlagring an der Wand in seinem Büro hing. Er blickt nach unten und sieht das Blut an seinen Händen, an Kleidern und Schuhen.
Jemand hat ihn in eine Falle gelockt, und er ist wie ein Trottel hineingetappt.
Pulli will den Schlagring aufheben und weglaufen, bleibt dann aber stehen. Du hast die Leiche berührt, denkt er. Deine Fingerabdrücke sind auf Jockes Lederjacke. Mach die Sache nicht noch schlimmer, als sie ohnehin schon ist.
Er holt wieder sein Handy hervor. Wählt mit blutigen Fingern die Nummer des Notrufs. Du kennst die Wahrheit, sagt er zu sich selbst. Sag die Wahrheit, dann geht alles gut.
Du hast nichts zu befürchten.
1
22 Monate später
Der Schrei ist immer derselbe.
Henning Juul tastet sich blinzelnd zum Lichtschalter vor. Das Laken unter ihm ist nass, die Luft flimmert vor Hitze. Mit feuchten Fingerkuppen fährt er über die Narben an Hals und Gesicht. In seinem Kopf dröhnt der Bass, der aus einem offenen Fenster in der Steenstrups gate kommt. Etwas entfernt fährt ein Motorrad brüllend davon, ehe es wieder still wird. Wie ein Crescendo vor einem plötzlichen Tod.
Henning holt tief Luft und versucht, den Traum abzuwürgen, der noch immer wie ein gestochen scharfer Film in ihm abläuft. Aber er lässt sich nicht verscheuchen.
Dabei hatte der Traum so harmonisch begonnen. Sie wollten einfach nur nach draußen zum Schlittenfahren. Jonas und er. Es hatte über Nacht geschneit, stark geschneit, sodass die Straßenbahnschienen sich wie zwei glänzende schnurgerade Silberstränge über den Hügel nach oben zogen. Die dicken Schneeflocken, die noch immer dicht an dicht durch die Luft tanzten, schmolzen auf Hennings Wangen, ehe sie sich festbeißen konnten.
Er zog Jonas auf seinem Schlitten über die Toftes gate nach unten zum Sofienbergpark, in dem sich die Kinder auf dem gegenüberliegenden Hang unterhalb der Kirche wie schwarze Striche abzeichneten. Jonas lenkte energisch hin und her, sodass Henning ganz außer Atem war, als sie endlich ankamen. Er wollte sich hinten auf den Schlitten setzen, aber Jonas hielt ihn zurück.
»Du nicht, Papa! Nur ich.«
»Okay, dann musst du den Schlitten anschließend aber auch allein nach Hause ziehen.«
»Mach ich.«
»Versprichst du das?«
»Jaaaaa!«
Henning wusste, dass die nassen Schneeflocken eine längere Lebensdauer hatten als das Versprechen, das Jonas ihm gerade gegeben hatte. Aber was machte das schon?
»Schiebst du mich an, damit ich richtig, richtig schnell bin?«
»Okay, aber halt dich fest. Auf drei!«
Dann zählten sie zusammen: »EINS, ZWEI! Uuuuund DRRRRREI!«
Henning gab Jonas einen kräftigen Stoß und hörte den Jungen vor Freude juchzen, als er losfuhr. Er registrierte auch die Blicke der anderen Kinder, ihnen gefiel der Anblick des kleinen Kerls mit der hellblauen Mütze, der auf die kleine Schanze zufuhr, die jemand am Hang gebaut hatte. Er traf sie wirklich, bekam etwas Höhe, landete aber gleich wieder und schrie fröhlich auf, während er das Lenkrad zur Seite drehte, um nicht mit einem Mädchen zusammenzustoßen, das ihm entgegenkam. Es drehte sich um und sah Jonas nach, der immer mehr nach links kurvte.
Genau auf einen Baum zu.
Auch Henning sah, welchen Weg der Junge eingeschlagen hatte, die kleinen Hände fest um das Lenkrad gelegt.
Henning begann, über den Hang nach unten zu stürmen, aber seine Füße fanden keinen Halt, sodass er ausrutschte und sich ein paarmal um sich selbst drehte, ehe er sich wieder fing.
Die Schneeflocken, das Stimmengewirr und der Lärm um ihn herum verloren an Stärke, als Henning seine Lippen zu einem Ruf formte. Aber es kam kein Laut. Verzweifelt starrte er auf diverse Eltern, die wie erstarrt dastanden und einfach zusahen. Dann schloss er die Augen. Er wollte nicht sehen, was geschah. Wollte seinen Sohn nicht sterben sehen. Nicht noch einmal.
Dann war Jonas weg. Ebenso der Hang, der Schnee, die Bäume und die Menschen. Um ihn herum nichts als Dunkelheit. In seiner Nase hängt der unverkennbare Geruch von Rauch. Und obgleich er Jonas nicht sehen kann, hört er seine Rufe nur allzu deutlich. Panisch wedelt Henning mit den Armen durch die Luft, um ein Loch in die Dunkelheit zu schlagen, die vor ihm aufwirbelt, aber es nützt nichts. Unglaubliche Hitze schlägt ihm entgegen. Er kann kaum noch atmen und beginnt zu husten.
Durch den Rauch sieht er schließlich einen Streifen Licht. Henning kneift die Augen zusammen und fokussiert die immer größer werdende Öffnung. Etwas weiter hinten erkennt er eine Tür, eine Tür, die langsam, aber sicher ein Opfer der Flammen wird. Er hustet noch einmal. Dann wird der Streifen wieder schmaler, bis der Rauch sich erneut wie ein dichter Teppich vor ihn schiebt. Es ist glühend heiß. Um ihn herum ist alles schwarz. Dann hört er ihn. Wieder. Jonas' Schrei.
Ein rotes Blinken lässt Henning ausatmen. Seine Augen gleiten zu dem anderen Rauchmelder unter der Decke. Er wartet darauf, dass auch dieser sein zyklisches Blinken von sich gibt. Aber es vergeht Zeit, Sekunden, eine, zwei, mehrere, der Klumpen in seiner Brust schwillt wieder an, und seine Schultern und sein Nacken verkrampfen sich, bis es plötzlich da ist, das schnelle rote Blinken.
Er lässt sich in das Kissen sinken und atmet tief durch. Bleibt liegen und wartet darauf, dass sich das Untier in seiner Brust beruhigt. Bald bewegt es sich wieder ganz regelmäßig, und er betastet noch einmal die Narben an Hals und Gesicht. Sie brennen noch immer. Innen wie außen. Und sie werden nicht aufhören zu brennen, solange er nicht herausgefunden hat, wer bei ihm das Feuer gelegt hat. Wer hat dafür gesorgt, dass der tollste Junge der Welt nicht mehr lebt?
Henning dreht sich zum Nachtschränkchen. Es ist noch nicht einmal halb elf. Die Kopfschmerzen, mit denen er vor anderthalb Stunden ins Bett gegangen ist, pulsieren noch immer. Er massiert sich die Schläfen, während er in die Küche schlurft und die letzte Dose Cola aus dem Kühlschrank nimmt. Er räumt die Kleider und Zeitungen vom Sofa im Wohnzimmer, ehe er Platz nimmt und die Dose öffnet. Das Geräusch der Blasen, die an die Oberfläche steigen, lässt ihn schläfrig werden. Dann schließt er die Augen und wünscht sich einen Traum ohne Schneeflocken.
2
»Seid ihr bald fertig? Ich will nach Hause.«
Gunhild Dokken beugt sich über den Tresen und blickt in den Raum. Ein Song von Jokke & Valentinerne strömt aus den Lautsprechern. Auf einer Bank etwas weiter hinten liegt Geir Grønningen und stemmt stöhnend hundertfünfunddreißig Kilo. Vor dem Spiegel hinter ihm steht ein kleiner, gedrungener Mann und folgt den Bewegungen der Stange mit seinen Händen.
»Wir sind gleich so weit«, sagt Petter Holte, ohne seinen konzentrierten Blick zu heben.
Dokken dreht sich um und schaut auf die Uhr an der Wand. Es ist bald 22.45 Uhr.
»Es ist Freitag, Jungs. Freitagabend, und es ist bald elf. Habt ihr wirklich nichts Besseres vor?«
Keiner der beiden antwortet ihr.
»Komm schon«, sagt Per Ola Heggelund, der Mann, der mit verschränkten Armen vor der Bank steht. Grønningen ist dabei, die Stange nach oben zu drücken. Holte hebt vorsichtig mit an und hilft Grønningens zitternden Armen.
»Einen noch«, sagt er. »Einen schaffst du noch.«
Grønningen atmet tief durch, lässt die Stange auf seine Brust herab und presst sie mit all seiner Kraft wieder nach oben. Seine Muskeln vibrieren, Holte lässt ihn gewähren, Millimeter für Millimeter, bis Grønningen die Stange brüllend ins Stativ schiebt. Er schneidet eine Grimasse, spannt die Brustmuskeln an, kratzt sich seinen struppigen Bart und schüttelt sich eine Strähne der langen, dünnen Haare aus dem Gesicht.
»Gut gemacht«, sagt Heggelund und nickt beeindruckt.
Grønningen sieht zu ihm hinüber. »Gut? Das war scheiße, Mann, sonst schaffe ich viel mehr.«
Heggelund sieht Holte nervös an, erntet aber nur einen säuerlichen Blick.
Holte löst den Bauchriemen, während er sich selbst im Spiegel betrachtet. Der rasierte Schädel glänzt wie der Rest seines Körpers solariumbraun. Er zupft die schwarzen Handschuhe zurecht und studiert die Muskeln unter seinem eng sitzenden weißen Muskelshirt. Zufrieden spannt er sie an, begutachtet seinen Bizeps und justiert seine Better-Bodies- Shorts, ehe er zum Tresen geht, an dem Gunhild Dokken gelangweilt durch ein Magazin blättert. Ihre Haare hängen ihr in die Augen.
»Hast du anschließend schon was vor?«, fragt Holte und bleibt vor ihr stehen. Seine Stimme ist weich und erwartungsvoll.
»Ich will nach Hause«, antwortet sie, ohne den Kopf zu heben.
Holte nickt langsam und mustert sie. »Hast du Lust auf Gesellschaft?«
»Nein«, antwortet sie trocken.
Holtes Nasenlöcher weiten sich. »Oder kriegst du Besuch von jemand anderem?«
»Das geht dich nichts an.« Dokken schnaubt hörbar.
Nach einem kurzen Zögern dreht Holte sich um und geht zu Grønningen, der ihm aufmunternd zunickt.
»Es sind ja nur noch wir hier«, sagt Holte. »Ich kann gerne für dich abschließen, wenn du willst.«
Dokken klappt das Magazin mit einer raschen Handbewegung zu. »Hättest du das nicht eher sagen können? Als von dem Abend noch irgendetwas übrig war ...«
»Schon, aber ...« Ein Schatten huscht über Holtes Gesicht, als er den Kopf senkt.
»Okay«, seufzt sie verärgert. »Du weißt ja, wo die Schlüssel liegen.«
Sie geht zur Garderobe hinüber und nimmt sich eine dünne schwarze Jacke, steckt ihr Handy in die Tasche und hängt sie sich über die Schulter. »Powert euch aber nicht zu sehr aus.«
»Wir können erst am Sonntag wieder trainieren.«
»Wow«, sagt sie ironisch. »Einen Tag frei.«
Holte lächelt kurz und blickt ihr nach, als sie nach draußen marschiert. Eine Glocke läutet, ehe die Tür mit Schwung ins Schloss fällt. Dann ist sie in der Nacht verschwunden.
Holte schüttelt kaum sichtbar den Kopf, ehe er hinter den Tresen tritt, die Musik ausschaltet und die Metallica-CD And Justice For All aus dem Regal nimmt. Er wählt den achten Song »To Live Is To Die« und spult etwa bis zur Mitte des Liedes vor.
»Wieder keinen Erfolg gehabt«, sagt Heggelund und grinst, als Holte zurückkommt.
Holte sieht ihn wütend an, antwortet aber nicht. Stattdessen fragt er, wer jetzt an der Reihe ist.
»Heggi«, antwortet Grønningen und sieht zu Heggelund hinüber.
»Ja, richtig«, erwidert der, tritt an die Stange und nimmt auf beiden Seiten fünfzehn Kilo herunter. Dann setzt er sich hin und atmet ein paarmal tief durch, ehe er sich hinlegt und seine Lunge noch einmal mit Luft füllt. Hinter ihm ist Holte erneut in Position gegangen, während James Hetfields Stimme aus den Lautsprechern dröhnt: »When a man lies, he murders some part of the world.«
Heggelund nimmt die Stange klirrend aus dem Stativ, lässt sie auf seinen Brustkorb hinab und stemmt sie wieder nach oben. Der erste Durchgang geht gut, er versucht, einen ruhigen Rhythmus zu finden, und auch die nächste Wiederholung klappt. Zwei Durchgänge später klingt sein Grunzen bereits aggressiver.
Holte hält seinen Rücken gerade und sorgt für einen sicheren Stand, ehe er seine Hände unter die Stange legt, jederzeit bereit, ihm zur Seite zu stehen. Er sieht zu Grønningen, der nickt und einen Schritt näher kommt. Aus der Anlage hämmert jetzt der harte Anfangsriff von »Dyers Eve«.
Heggelund schließt die Augen und mobilisiert seine Kräfte für den nächsten Durchgang, aber die Stange bewegt sich nicht. Er öffnet die Augen.
Holtes Hände sind plötzlich nicht mehr unter, sondern über der Stange, und auch Grønningen steht mit einem Mal dicht neben der Bank und setzt sich dann schwer auf Heggelunds Bauch. Ein tiefes Stöhnen kommt aus dem Hals des Mannes. Holte drückt die Stange über Heggelunds Adamsapfel. Blanke Panik spricht aus seinen Augen.
»Was ... was?«
»Wie lange bist du schon hier?«, fragt Grønningen. »Zwei Monate? Zweieinhalb, vielleicht?«
Heggelund versucht, etwas zu sagen, doch er braucht all seine Kräfte, um die Stange von seinem Hals fernzuhalten.
»Hältst du uns eigentlich für blöd?«, fragt Holte und starrt ihn kalt an. »Glaubst du wirklich, wir lassen jedes Arschloch mit uns trainieren, ohne vorher abzuchecken, was das für ein Kerl ist?«
Heggelund bringt nur noch ein Gurgeln über seine Lippen.
»Du hast uns verarscht«, sagt Holte durch zusammengebissene Zähne. »Hast versucht, uns zu verarschen. Glaubst du, wir wissen nicht, dass du im Herbst auf der Polizeischule anfangen willst?«
Heggelund reißt seine Augen noch weiter auf.
»Was hast du eigentlich vor? He?«, fragt Grønningen. »Du hast wohl zu viel ferngesehen? Wolltest du deine Karriere mit einem Undercover-Knaller starten?«
»Aber daraus wird nichts«, übernimmt Holte. »Das gelingt niemandem!«
»Bitte!«, fleht Heggelund mit zitternden Armen.
Holte drückt die Stange nach unten, bis sie Hautkontakt bekommt. Aus seinen Augen sprühen Funken.
»Du lässt dich hier nicht noch einmal blicken, verstanden? «, kommandiert Grønningen.
Heggelund kneift die Augen zusammen und versucht zu nicken. Auf seinem Gesicht mischen sich Tränen in den Schweiß.
»Und du erzählst niemandem davon!«, faucht Holte.
Wieder versucht Heggelund, den Kopf zu bewegen.
Grønningen mustert ihn ein paar Sekunden, ehe er von dessen Körper steigt und Holte zunickt.
Heggelund schafft es durchzuatmen, aber Holte nimmt die Stange noch nicht weg.
»Das reicht«, sagt Grønningen.
Holte antwortet nicht.
»Petter!«
Widerwillig hebt Holte die Stange an, unterstützt von Heggelunds letzten Kräften. Die Stange knallt metallisch auf das Stativ. Holte dreht sich um, schnappt sich das Handtuch und schnaubt verächtlich.
Grønningen nimmt ihn auf die Seite. »Mann, du hättest ihn fast umgebracht«, flüstert er.
Holte antwortet nicht, sondern starrt nur auf Heggelund, der keuchend Luft zu holen versucht. Tränen laufen über seine Wangen, und seine Augenlider wirken angeschwollen.
»Genug ist genug«, sagt Grønningen. »Hast du alles verlernt, was wir von Tore gelernt haben?«
Holte antwortet nicht, sondern tritt ein paar Schritte zurück.
Heggelund setzt sich langsam auf, während James Hetfields Stimme immer noch aus der Anlage dröhnt.
Grønningen dreht sich um, geht einen Schritt auf Heggelund zu, der seine Hände noch immer um seinen Hals gelegt hat. Grønningen wartet, bis er Augenkontakt hat, ehe er mit dem Kopf in Richtung Tür deutet.
Heggelund rappelt sich auf und taumelt zur Tür, von der ihm der Name des Studios in blutroten Buchstaben entgegenleuchtet: Kraft & Respekt.
Übersetzung: Günther Frauenlob und Maike Dörries
1. Auflage Copyright © der Originalausgabe 2011 by Gyldendal Norsk Forlag AS Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
PROLOG
Jockes Harley steht bereits da.
Tore Pulli parkt und nimmt den Motorradhelm ab. Der Kies knirscht, als er den Fuß auf den Boden stellt. Die Fenster der stillgelegten Fabrik starren blind ins Dunkel. Die Stille ist dicht und unangenehm.
Pulli hängt den Helm an den Lenker und geht zur Tür. Die Scharniere kreischen, als er sie öffnet. Pulli geht hinein, zögert.
»Jocke?«
Seine Stimme wird von den Wänden zurückgeworfen. Die Sohlen seiner Stiefel klatschen laut auf den Boden. Langsam gewöhnen seine Augen sich an das Dunkel, aber vor sich sieht er nur nackten Boden und kahle Wände, Holzbalken und mit Spinnweben behangene Säulen. Der Oktoberwind pfeift durch die zerbrochenen Scheiben. Man sieht seinen Atem.
Fast wie in alten Tagen, denkt Pulli, geht weiter in den Raum hinein und spürt die Anspannung vor der Konfrontation. Das Adrenalin pumpt durch seinen Körper, ein Gefühl, das er nicht mag.
Sein Blick wird von etwas angezogen, das weiter hinten in den Schatten auf dem Boden liegt. Vorsichtig nähert er sich. Der stechende Geruch von Urin und Metall schlägt ihm entgegen. Er tritt auf etwas Glitschiges und muss einen Ausfallschritt zur Seite machen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Er holt das Handy heraus und leuchtet damit auf den Boden.
Dann sieht er, in was er getreten ist.
Vor ihm liegt ein Mensch. Der Rücken der blutigen Lederjacke ist übersät von Einstichen. Über dem Kragen der Jacke leuchtet das Weiß des kahl rasierten Schädels mit den Tätowierungen.
Er kennt diese Tätowierungen. Nur Joachim Brolenius hat sich Go to hell auf den Hinterkopf tätowieren lassen.
Sein Handy geht aus.
Pulli blickt sich rasch um, lauscht, hört aber nur die Stille. Die Fabrik wirkt verlassen, abgesehen von Jocke, dem Mann, den Pulli aus ganzem Herzen hasst, den er aber trotzdem um keinen Preis der Welt tot sehen wollte.
Jedenfalls noch nicht.
Er beugt sich nach unten, packt die Lederjacke und dreht den schweren Körper um. Das Gesicht ist verzerrt und blutverschmiert, der Mund steht offen. Pulli legt zwei Finger an die Halsschlagader, zieht die Hand jedoch sofort wieder zurück. Der Hals ist warm, aber weich und irgendwie locker, wie ein nasser, aufgeschnittener Schwamm.
Dann sieht er etwas am Boden liegen. Einen Schlagring.
Seinen eigenen Schlagring?
Wie zum Henker ist der hierhergekommen?
Eine grausame Erkenntnis kommt ihm. Das anberaumte Treffen war weithin bekannt, und viele haben ihn losfahren sehen. Sie alle wussten, dass sein Schlagring an der Wand in seinem Büro hing. Er blickt nach unten und sieht das Blut an seinen Händen, an Kleidern und Schuhen.
Jemand hat ihn in eine Falle gelockt, und er ist wie ein Trottel hineingetappt.
Pulli will den Schlagring aufheben und weglaufen, bleibt dann aber stehen. Du hast die Leiche berührt, denkt er. Deine Fingerabdrücke sind auf Jockes Lederjacke. Mach die Sache nicht noch schlimmer, als sie ohnehin schon ist.
Er holt wieder sein Handy hervor. Wählt mit blutigen Fingern die Nummer des Notrufs. Du kennst die Wahrheit, sagt er zu sich selbst. Sag die Wahrheit, dann geht alles gut.
Du hast nichts zu befürchten.
1
22 Monate später
Der Schrei ist immer derselbe.
Henning Juul tastet sich blinzelnd zum Lichtschalter vor. Das Laken unter ihm ist nass, die Luft flimmert vor Hitze. Mit feuchten Fingerkuppen fährt er über die Narben an Hals und Gesicht. In seinem Kopf dröhnt der Bass, der aus einem offenen Fenster in der Steenstrups gate kommt. Etwas entfernt fährt ein Motorrad brüllend davon, ehe es wieder still wird. Wie ein Crescendo vor einem plötzlichen Tod.
Henning holt tief Luft und versucht, den Traum abzuwürgen, der noch immer wie ein gestochen scharfer Film in ihm abläuft. Aber er lässt sich nicht verscheuchen.
Dabei hatte der Traum so harmonisch begonnen. Sie wollten einfach nur nach draußen zum Schlittenfahren. Jonas und er. Es hatte über Nacht geschneit, stark geschneit, sodass die Straßenbahnschienen sich wie zwei glänzende schnurgerade Silberstränge über den Hügel nach oben zogen. Die dicken Schneeflocken, die noch immer dicht an dicht durch die Luft tanzten, schmolzen auf Hennings Wangen, ehe sie sich festbeißen konnten.
Er zog Jonas auf seinem Schlitten über die Toftes gate nach unten zum Sofienbergpark, in dem sich die Kinder auf dem gegenüberliegenden Hang unterhalb der Kirche wie schwarze Striche abzeichneten. Jonas lenkte energisch hin und her, sodass Henning ganz außer Atem war, als sie endlich ankamen. Er wollte sich hinten auf den Schlitten setzen, aber Jonas hielt ihn zurück.
»Du nicht, Papa! Nur ich.«
»Okay, dann musst du den Schlitten anschließend aber auch allein nach Hause ziehen.«
»Mach ich.«
»Versprichst du das?«
»Jaaaaa!«
Henning wusste, dass die nassen Schneeflocken eine längere Lebensdauer hatten als das Versprechen, das Jonas ihm gerade gegeben hatte. Aber was machte das schon?
»Schiebst du mich an, damit ich richtig, richtig schnell bin?«
»Okay, aber halt dich fest. Auf drei!«
Dann zählten sie zusammen: »EINS, ZWEI! Uuuuund DRRRRREI!«
Henning gab Jonas einen kräftigen Stoß und hörte den Jungen vor Freude juchzen, als er losfuhr. Er registrierte auch die Blicke der anderen Kinder, ihnen gefiel der Anblick des kleinen Kerls mit der hellblauen Mütze, der auf die kleine Schanze zufuhr, die jemand am Hang gebaut hatte. Er traf sie wirklich, bekam etwas Höhe, landete aber gleich wieder und schrie fröhlich auf, während er das Lenkrad zur Seite drehte, um nicht mit einem Mädchen zusammenzustoßen, das ihm entgegenkam. Es drehte sich um und sah Jonas nach, der immer mehr nach links kurvte.
Genau auf einen Baum zu.
Auch Henning sah, welchen Weg der Junge eingeschlagen hatte, die kleinen Hände fest um das Lenkrad gelegt.
Henning begann, über den Hang nach unten zu stürmen, aber seine Füße fanden keinen Halt, sodass er ausrutschte und sich ein paarmal um sich selbst drehte, ehe er sich wieder fing.
Die Schneeflocken, das Stimmengewirr und der Lärm um ihn herum verloren an Stärke, als Henning seine Lippen zu einem Ruf formte. Aber es kam kein Laut. Verzweifelt starrte er auf diverse Eltern, die wie erstarrt dastanden und einfach zusahen. Dann schloss er die Augen. Er wollte nicht sehen, was geschah. Wollte seinen Sohn nicht sterben sehen. Nicht noch einmal.
Dann war Jonas weg. Ebenso der Hang, der Schnee, die Bäume und die Menschen. Um ihn herum nichts als Dunkelheit. In seiner Nase hängt der unverkennbare Geruch von Rauch. Und obgleich er Jonas nicht sehen kann, hört er seine Rufe nur allzu deutlich. Panisch wedelt Henning mit den Armen durch die Luft, um ein Loch in die Dunkelheit zu schlagen, die vor ihm aufwirbelt, aber es nützt nichts. Unglaubliche Hitze schlägt ihm entgegen. Er kann kaum noch atmen und beginnt zu husten.
Durch den Rauch sieht er schließlich einen Streifen Licht. Henning kneift die Augen zusammen und fokussiert die immer größer werdende Öffnung. Etwas weiter hinten erkennt er eine Tür, eine Tür, die langsam, aber sicher ein Opfer der Flammen wird. Er hustet noch einmal. Dann wird der Streifen wieder schmaler, bis der Rauch sich erneut wie ein dichter Teppich vor ihn schiebt. Es ist glühend heiß. Um ihn herum ist alles schwarz. Dann hört er ihn. Wieder. Jonas' Schrei.
Ein rotes Blinken lässt Henning ausatmen. Seine Augen gleiten zu dem anderen Rauchmelder unter der Decke. Er wartet darauf, dass auch dieser sein zyklisches Blinken von sich gibt. Aber es vergeht Zeit, Sekunden, eine, zwei, mehrere, der Klumpen in seiner Brust schwillt wieder an, und seine Schultern und sein Nacken verkrampfen sich, bis es plötzlich da ist, das schnelle rote Blinken.
Er lässt sich in das Kissen sinken und atmet tief durch. Bleibt liegen und wartet darauf, dass sich das Untier in seiner Brust beruhigt. Bald bewegt es sich wieder ganz regelmäßig, und er betastet noch einmal die Narben an Hals und Gesicht. Sie brennen noch immer. Innen wie außen. Und sie werden nicht aufhören zu brennen, solange er nicht herausgefunden hat, wer bei ihm das Feuer gelegt hat. Wer hat dafür gesorgt, dass der tollste Junge der Welt nicht mehr lebt?
Henning dreht sich zum Nachtschränkchen. Es ist noch nicht einmal halb elf. Die Kopfschmerzen, mit denen er vor anderthalb Stunden ins Bett gegangen ist, pulsieren noch immer. Er massiert sich die Schläfen, während er in die Küche schlurft und die letzte Dose Cola aus dem Kühlschrank nimmt. Er räumt die Kleider und Zeitungen vom Sofa im Wohnzimmer, ehe er Platz nimmt und die Dose öffnet. Das Geräusch der Blasen, die an die Oberfläche steigen, lässt ihn schläfrig werden. Dann schließt er die Augen und wünscht sich einen Traum ohne Schneeflocken.
2
»Seid ihr bald fertig? Ich will nach Hause.«
Gunhild Dokken beugt sich über den Tresen und blickt in den Raum. Ein Song von Jokke & Valentinerne strömt aus den Lautsprechern. Auf einer Bank etwas weiter hinten liegt Geir Grønningen und stemmt stöhnend hundertfünfunddreißig Kilo. Vor dem Spiegel hinter ihm steht ein kleiner, gedrungener Mann und folgt den Bewegungen der Stange mit seinen Händen.
»Wir sind gleich so weit«, sagt Petter Holte, ohne seinen konzentrierten Blick zu heben.
Dokken dreht sich um und schaut auf die Uhr an der Wand. Es ist bald 22.45 Uhr.
»Es ist Freitag, Jungs. Freitagabend, und es ist bald elf. Habt ihr wirklich nichts Besseres vor?«
Keiner der beiden antwortet ihr.
»Komm schon«, sagt Per Ola Heggelund, der Mann, der mit verschränkten Armen vor der Bank steht. Grønningen ist dabei, die Stange nach oben zu drücken. Holte hebt vorsichtig mit an und hilft Grønningens zitternden Armen.
»Einen noch«, sagt er. »Einen schaffst du noch.«
Grønningen atmet tief durch, lässt die Stange auf seine Brust herab und presst sie mit all seiner Kraft wieder nach oben. Seine Muskeln vibrieren, Holte lässt ihn gewähren, Millimeter für Millimeter, bis Grønningen die Stange brüllend ins Stativ schiebt. Er schneidet eine Grimasse, spannt die Brustmuskeln an, kratzt sich seinen struppigen Bart und schüttelt sich eine Strähne der langen, dünnen Haare aus dem Gesicht.
»Gut gemacht«, sagt Heggelund und nickt beeindruckt.
Grønningen sieht zu ihm hinüber. »Gut? Das war scheiße, Mann, sonst schaffe ich viel mehr.«
Heggelund sieht Holte nervös an, erntet aber nur einen säuerlichen Blick.
Holte löst den Bauchriemen, während er sich selbst im Spiegel betrachtet. Der rasierte Schädel glänzt wie der Rest seines Körpers solariumbraun. Er zupft die schwarzen Handschuhe zurecht und studiert die Muskeln unter seinem eng sitzenden weißen Muskelshirt. Zufrieden spannt er sie an, begutachtet seinen Bizeps und justiert seine Better-Bodies- Shorts, ehe er zum Tresen geht, an dem Gunhild Dokken gelangweilt durch ein Magazin blättert. Ihre Haare hängen ihr in die Augen.
»Hast du anschließend schon was vor?«, fragt Holte und bleibt vor ihr stehen. Seine Stimme ist weich und erwartungsvoll.
»Ich will nach Hause«, antwortet sie, ohne den Kopf zu heben.
Holte nickt langsam und mustert sie. »Hast du Lust auf Gesellschaft?«
»Nein«, antwortet sie trocken.
Holtes Nasenlöcher weiten sich. »Oder kriegst du Besuch von jemand anderem?«
»Das geht dich nichts an.« Dokken schnaubt hörbar.
Nach einem kurzen Zögern dreht Holte sich um und geht zu Grønningen, der ihm aufmunternd zunickt.
»Es sind ja nur noch wir hier«, sagt Holte. »Ich kann gerne für dich abschließen, wenn du willst.«
Dokken klappt das Magazin mit einer raschen Handbewegung zu. »Hättest du das nicht eher sagen können? Als von dem Abend noch irgendetwas übrig war ...«
»Schon, aber ...« Ein Schatten huscht über Holtes Gesicht, als er den Kopf senkt.
»Okay«, seufzt sie verärgert. »Du weißt ja, wo die Schlüssel liegen.«
Sie geht zur Garderobe hinüber und nimmt sich eine dünne schwarze Jacke, steckt ihr Handy in die Tasche und hängt sie sich über die Schulter. »Powert euch aber nicht zu sehr aus.«
»Wir können erst am Sonntag wieder trainieren.«
»Wow«, sagt sie ironisch. »Einen Tag frei.«
Holte lächelt kurz und blickt ihr nach, als sie nach draußen marschiert. Eine Glocke läutet, ehe die Tür mit Schwung ins Schloss fällt. Dann ist sie in der Nacht verschwunden.
Holte schüttelt kaum sichtbar den Kopf, ehe er hinter den Tresen tritt, die Musik ausschaltet und die Metallica-CD And Justice For All aus dem Regal nimmt. Er wählt den achten Song »To Live Is To Die« und spult etwa bis zur Mitte des Liedes vor.
»Wieder keinen Erfolg gehabt«, sagt Heggelund und grinst, als Holte zurückkommt.
Holte sieht ihn wütend an, antwortet aber nicht. Stattdessen fragt er, wer jetzt an der Reihe ist.
»Heggi«, antwortet Grønningen und sieht zu Heggelund hinüber.
»Ja, richtig«, erwidert der, tritt an die Stange und nimmt auf beiden Seiten fünfzehn Kilo herunter. Dann setzt er sich hin und atmet ein paarmal tief durch, ehe er sich hinlegt und seine Lunge noch einmal mit Luft füllt. Hinter ihm ist Holte erneut in Position gegangen, während James Hetfields Stimme aus den Lautsprechern dröhnt: »When a man lies, he murders some part of the world.«
Heggelund nimmt die Stange klirrend aus dem Stativ, lässt sie auf seinen Brustkorb hinab und stemmt sie wieder nach oben. Der erste Durchgang geht gut, er versucht, einen ruhigen Rhythmus zu finden, und auch die nächste Wiederholung klappt. Zwei Durchgänge später klingt sein Grunzen bereits aggressiver.
Holte hält seinen Rücken gerade und sorgt für einen sicheren Stand, ehe er seine Hände unter die Stange legt, jederzeit bereit, ihm zur Seite zu stehen. Er sieht zu Grønningen, der nickt und einen Schritt näher kommt. Aus der Anlage hämmert jetzt der harte Anfangsriff von »Dyers Eve«.
Heggelund schließt die Augen und mobilisiert seine Kräfte für den nächsten Durchgang, aber die Stange bewegt sich nicht. Er öffnet die Augen.
Holtes Hände sind plötzlich nicht mehr unter, sondern über der Stange, und auch Grønningen steht mit einem Mal dicht neben der Bank und setzt sich dann schwer auf Heggelunds Bauch. Ein tiefes Stöhnen kommt aus dem Hals des Mannes. Holte drückt die Stange über Heggelunds Adamsapfel. Blanke Panik spricht aus seinen Augen.
»Was ... was?«
»Wie lange bist du schon hier?«, fragt Grønningen. »Zwei Monate? Zweieinhalb, vielleicht?«
Heggelund versucht, etwas zu sagen, doch er braucht all seine Kräfte, um die Stange von seinem Hals fernzuhalten.
»Hältst du uns eigentlich für blöd?«, fragt Holte und starrt ihn kalt an. »Glaubst du wirklich, wir lassen jedes Arschloch mit uns trainieren, ohne vorher abzuchecken, was das für ein Kerl ist?«
Heggelund bringt nur noch ein Gurgeln über seine Lippen.
»Du hast uns verarscht«, sagt Holte durch zusammengebissene Zähne. »Hast versucht, uns zu verarschen. Glaubst du, wir wissen nicht, dass du im Herbst auf der Polizeischule anfangen willst?«
Heggelund reißt seine Augen noch weiter auf.
»Was hast du eigentlich vor? He?«, fragt Grønningen. »Du hast wohl zu viel ferngesehen? Wolltest du deine Karriere mit einem Undercover-Knaller starten?«
»Aber daraus wird nichts«, übernimmt Holte. »Das gelingt niemandem!«
»Bitte!«, fleht Heggelund mit zitternden Armen.
Holte drückt die Stange nach unten, bis sie Hautkontakt bekommt. Aus seinen Augen sprühen Funken.
»Du lässt dich hier nicht noch einmal blicken, verstanden? «, kommandiert Grønningen.
Heggelund kneift die Augen zusammen und versucht zu nicken. Auf seinem Gesicht mischen sich Tränen in den Schweiß.
»Und du erzählst niemandem davon!«, faucht Holte.
Wieder versucht Heggelund, den Kopf zu bewegen.
Grønningen mustert ihn ein paar Sekunden, ehe er von dessen Körper steigt und Holte zunickt.
Heggelund schafft es durchzuatmen, aber Holte nimmt die Stange noch nicht weg.
»Das reicht«, sagt Grønningen.
Holte antwortet nicht.
»Petter!«
Widerwillig hebt Holte die Stange an, unterstützt von Heggelunds letzten Kräften. Die Stange knallt metallisch auf das Stativ. Holte dreht sich um, schnappt sich das Handtuch und schnaubt verächtlich.
Grønningen nimmt ihn auf die Seite. »Mann, du hättest ihn fast umgebracht«, flüstert er.
Holte antwortet nicht, sondern starrt nur auf Heggelund, der keuchend Luft zu holen versucht. Tränen laufen über seine Wangen, und seine Augenlider wirken angeschwollen.
»Genug ist genug«, sagt Grønningen. »Hast du alles verlernt, was wir von Tore gelernt haben?«
Holte antwortet nicht, sondern tritt ein paar Schritte zurück.
Heggelund setzt sich langsam auf, während James Hetfields Stimme immer noch aus der Anlage dröhnt.
Grønningen dreht sich um, geht einen Schritt auf Heggelund zu, der seine Hände noch immer um seinen Hals gelegt hat. Grønningen wartet, bis er Augenkontakt hat, ehe er mit dem Kopf in Richtung Tür deutet.
Heggelund rappelt sich auf und taumelt zur Tür, von der ihm der Name des Studios in blutroten Buchstaben entgegenleuchtet: Kraft & Respekt.
Übersetzung: Günther Frauenlob und Maike Dörries
1. Auflage Copyright © der Originalausgabe 2011 by Gyldendal Norsk Forlag AS Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Thomas Enger
Thomas Enger, geb. 1973 in Oslo, wuchs in Jessheim auf. Er studierte Publizistik, Sport und Geschichte und arbeitete nach dem Studium in einer Onlineredaktion. Nebenbei schrieb er seine ersten Romane und war an verschiedenen Musical-Produktionen beteiligt. Inzwischen lebt er zusammen mit seiner Freundin und zwei Kindern wieder in Oslo.
Bibliographische Angaben
- Autor: Thomas Enger
- 2012, 1, 457 Seiten, Klappenbroschur, Deutsch
- Übersetzer: Günther Frauenlob, Maike Dörries
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3764503947
- ISBN-13: 9783764503949
- Erscheinungsdatum: 22.10.2012
Rezension zu „Vergiftet “
"Obwohl ich kein Krimi-Fan bin, habe ich Thomas Engers erstes Werk, Sterblich, verschlungen. Vergiftet ist der ebenso spannende Nachfolger."
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