Valerie; Erbin von Cotton Fields
Valerie erfährt an ihrem 18. Geburtstag, dass die Fulhams nur ihre Pflegeeltern sind. Ihr richtiger Vater ist Plantagenbesitzer Henry Duvall, ihre Mutter die Sklavin Alisha. Der Beginn einer packenden Familiensaga.
- Kreditkarte, Paypal, Rechnungskauf
- 30 Tage Widerrufsrecht
Produktdetails
Produktinformationen zu „Valerie; Erbin von Cotton Fields “
Valerie erfährt an ihrem 18. Geburtstag, dass die Fulhams nur ihre Pflegeeltern sind. Ihr richtiger Vater ist Plantagenbesitzer Henry Duvall, ihre Mutter die Sklavin Alisha. Der Beginn einer packenden Familiensaga.
Lese-Probe zu „Valerie; Erbin von Cotton Fields “
Valerie, Erbin von Cotton Fields von Ashley CarringtonENGLAND 1860
1.
... mehr
Der Wind heulte um das einzelnstehende Wirtshaus an der Landstraße nach Bristol, rüttelte an den Fensterläden und tobte durch die ausladenden Kronen der drei Eichen, die das gedrungene Fachwerkhaus umstanden und der Taverne ihren Namen gegeben hatten: Three Oak Tavern. Wild schlug das Tavernenschild, dessen Aufschrift von Wind und Wetter verblichen war, an der Stange über der Eingangstür hin und her. Das Quietschen und Scheppern vermischte sich mit dem Toben des Märzunwetters, das sich am Abend über der Westküste Englands zusammengeballt hatte. Heftige Böen schleuderten die Regenfluten wie Peitschenhiebe gegen Dach und Mauerwerk. Der gelbliche Lichtschein, der durch die Türritze und einige Fensterläden in die Nacht hinausdrang, wurde schon nach wenigen Yards von der regendurchtränkten Dunkelheit verschluckt. »Wir müssen es ihr sagen, Ruth!« sagte Charles Fulham mit matter Stimme und richtete sich im Bett auf, das den größten Teil des oberen Eckzimmers der Taverne einnahm. Obwohl Charles Fulham ein massiger Mann von fünfundsechzig Jahren war, wirkte er in dem großen Bett mit seinen hohen geschnitzten Pfosten aus dunklem Holz wie verloren. Und die Blässe seines Gesichtes hob sich kaum von den blütenweißen Bezügen ab. Er fühlte sich sichtlich elend, und daran war nicht allein der plötzliche Schwächeanfall schuld, der sie knapp zwanzig Meilen vor Bristol gezwungen hatte, ihre Reise mit der Kutsche zu unterbrechen und sich in dieser Taverne einzuquartieren, bis er wieder bei Kräften war. »Es bleibt nicht mehr viel Zeit!«
»Der Herrgott wird dir nicht mehr viel Zeit lassen, wenn du nicht ruhig liegenbleibst, Charles!« erwiderte seine Frau energisch und reichte ihm den Tee, den die Tochter des Wirtes vor wenigen Augenblicken aufs Zimmer gebracht hatte. »Hier, trink das. Heißer Tee wird dir guttun. Er ist mit viel Zitrone. Das bringt die Farbe in dein Gesicht zurück. Du siehst schrecklich bleich aus.«
»Ein guter Brandy brächte mich schneller auf die Beine«, seufzte er, setzte die Tasse jedoch an die Lippen, weil er wußte, daß seine Frau nicht eher Ruhe geben würde, bis er getan hatte, was sie für richtig hielt. Nachdem er getrunken hatte, kam er wieder auf das zu sprechen, was ihm die letzten Stunden keine Ruhe gelassen und möglicherweise dazu beigetragen hatte, daß er in der Kutsche von Herzbeschwerden und einer drohenden Ohnmacht befallen worden war. »Es ist nicht richtig, daß wir Valerie so ahnungslos auf die Reise schicken. Sie ist neunzehn und längst kein Kind mehr. Noch haben wir die Chance, sie sanft darauf vorzubereiten. Sie wird es verkraften, wenn wir nur behutsam vorgehen. Ich habe lange darüber nachgedacht und ...«
»Ich auch, Charles«, unterbrach sie ihn ohne Schärfe und griff nach seiner Hand. »Und ich wünschte, wir könnten es Valerie zusammen sagen. Aber wir haben auf die heilige Bibel geschworen, nie ein Wort darüber zu verlieren. Das war die Voraussetzung gewesen, sonst hätten wir nie das Glück gehabt, sie wie unser eigenes leibliches Kind aufziehen zu dürfen.«
»Aber sie weiß doch schon längst, daß wir nicht ihre leiblichen Eltern sind!«
»Ja, aber mehr auch nicht. Und mehr ist uns auch nicht zu sagen erlaubt. Wir haben stets gewußt, daß dieser Tag einst kommen würde, und wir haben dies von Anfang an in Kauf genommen. Jetzt müssen wir dazu stehen und stark sein - wie auch Valerie stark sein muß, wenn sich für sie die Schleier ihrer Vergangenheit lüften. Doch wir haben nicht das Recht dazu, wie du sehr wohl weißt. Wenn auch vieles, was im Brief stand, vage formuliert war, in diesem Punkt war er klar und nachdrücklich«, erinnerte sie ihn.
»Ich weiß«, sagte Charles bedrückt. »Aber es erfüllt mich mit Sorge, daß wir sie so gehen lassen müssen. Wir mögen sie nicht gezeugt haben, aber dennoch bleibt sie stets unser Kind. Wie können wir sie da unvorbereitet auf eine so lange Reise ins Ungewisse schicken? « Ruth atmete tief durch. »Gerade weil sie unser Kind ist, müssen wir sie jetzt gehen lassen, Charles. Es ist ja nicht für immer. Valerie kehrt in ein paar Monaten wieder nach England zurück. Sie liebt uns, wie wir sie lieben, aber sie hat ein Recht darauf, alles über ihre Herkunft zu erfahren - doch nicht von uns.«
Charles sah Tränen in den Augen seiner Frau schimmern, und ihm wurde noch elender ums Herz. »Jetzt ist es uns noch nicht einmal vergönnt, sie bis aufs Schiff zu bringen.«
»Es ist egal, wo man Abschied voneinander nimmt. Wichtig ist nur, mit welchen Gefühlen man das tut - und da ist dieser Ort so gut wie jeder andere«, versuchte sie ihren Mann und sich zu trösten.
Es klopfte.
Charles vergewisserte sich, daß sein grauseidener Morgenmantel geschlossen war. Dann ging seine Frau zur Tür und öffnete.
Es war Valerie. Sie hatte sich in der Zwischenzeit darum gekümmert, daß Isaac, ihr in treuen Diensten ergrauter Kutscher, auch die richtigen Gepäckstücke abgeladen hatte. Eigentlich wäre das Fannys Aufgabe gewesen. Doch da es sich um eine sehr weite Reise handelte, hatte sie das lieber selber in die Hand genommen. Als Zofe war die mollige Fanny eine Perle, doch manchmal fehlte es ihr am Überblick, wenn es zu viele Dinge auf einmal zu bedenken gab.
»Wie geht es ihm, Mama?« fragte Valerie leise, und tiefe Sorge sprach aus ihrer angespannten Stimme. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, ihre Pflegeeltern anders als Mama und Papa zu bezeichnen, auch nicht, als sie ihr vor Jahren eröffnet hatten, daß sie nicht ihre richtigen Eltern waren. Und daran würde sich für sie auch nie etwas ändern. Niemand auf der Welt hätte ihr mehr Liebe schenken können als Ruth und Charles Fulham, davon war sie so felsenfest überzeugt wie von der Schönheit des herrschaftlichen Hauses in Bath, das immer ihr geliebtes Zuhause sein würde.
»Ich glaube, es geht ihm schon ein bißchen besser, mein Kind«, beruhigte Ruth sie und zwang sich zu einem Lächeln. Es war keinem damit gedient, wenn sie sich anmerken ließ, wie es in ihr aussah.
Ein schmerzlicher Stich durchfuhr Charles, als er Valerie an sein Bett eilen sah. Stolz und Liebe erfüllten ihn, und er schaute sie an, als wollte er ihr Bild für immer bis auf das kleinste Detail genau in seiner Erinnerung bewahren.
Valerie war eine Schönheit, bei Gott, das war sie! Schlank und doch nicht zu zierlich, um wie ein zerbrechliches Wesen zu wirken, entsprach sie dem europäischen Schönheitsideal auf fast perfekte Weise - auch was ihre fraulichen Formen betraf, wie er sich mit einiger Verlegenheit eingestehen mußte. Zwar trug sie ein hochgeschlossenes Reisekostüm aus currybraunem Gabardine, das dem unfreundlichen Märzwetter angemessen war, doch ihre schlanke Taille und ihre volle, hohe Brust waren nicht zu übersehen.
Valerie gehörte überhaupt in keiner Hinsicht zu denjenigen, die leicht übersehen wurden. Dafür sorgte schon ihr üppiges, schwarzes Haar, das je nach Lichteinfall einen warmen Blauschimmer zeigte. Ihre Haarpracht wurde von einem elfenbeinernen Kamm mit Schließe im Nacken zusammengehalten und fiel ihr von dort wie eine schwarze Flut bis auf die Schultern.
Ihre Augen, die unter sanft geschwungenen Brauen und dichten Wimpern lagen, waren von einem ungewöhnlichen Grau, in dem winzige Goldflocken zu glitzern schienen. Eine wohlgeformte Nase und ein hübscher Mund vervollständigten ihr Gesicht, das kein Mann so schnell vergaß - und das traf auch auf ihre Haut zu, die von leicht cremefarbener Tönung war, wie Milch mit einem Tropfen heißer Schokolade vermischt. Sie sah nicht wie eine typische Engländerin aus, sondern eher wie eine exotische Schönheit aus dem südländischen Raum.
Valerie setzte sich zu ihrem Vater ans Bett. »Aber blaß bist du immer noch, Papa«, sagte sie voller Sorge. »Du hättest gar nicht erst die Reise antreten dürfen. Es war leichtsinnig von dir.«
»Ach was! Unkraut vergeht nicht, schon gar nicht so ein gewichtiges«, gab sich Charles betont munter und verschloß seine quälenden Gedanken vor ihr. Nichts sollte die letzte halbe Stunde vor ihrem Abschied trüben. »Es war der Wetterumschwung, sonst nichts. Es wird Zeit, daß der Frühling kommt. Mach dir also wegen mir keine Sorgen. Ich bin schnell wieder auf den Beinen. Eigentlich gibt es gar keinen Grund, weshalb ich im Bett liege wie ein kranker Mann. Aber du kennst ja deine Mutter. Ein leichtes Hüsteln, und schon wähnt sie eine Lungenentzündung im Anmarsch.«
Ein schwaches Lächeln huschte über Valeries Gesicht. »Einer muß ja auf dich aufpassen.«
Charles Fulham machte eine ungeduldige Handbewegung. »Sprechen wir nicht von mir und meinem leichten Unwohlsein. Krankheiten kann man auch herbeireden. Also Schluß jetzt mit dem Thema.« »Hast du all dein Gepäck zusammen?« fragte Ruth, immer auf das Praktische bedacht. »Daß du bloß nichts vergißt.«
»Fanny hatte schon den Koffer mit meinen Hutschachteln zu euren Sachen gestellt. Wenn ich nicht dabeigewesen wäre, wäre es sicherlich nicht bei dieser einen Verwechslung geblieben. Statt meiner Kleider hätte ich auf dem Schiff dann Papas Anzüge vorgefunden «, berichtete Valerie mit einem Kopfschütteln und fügte nachsichtig hinzu: »Die ganze Aufregung der Reise und dein plötzlicher Schwächeanfall haben sie wohl ein bißchen überfordert. Ihr wißt, Fanny liebt mehr das ruhige Gleichmaß.«
»Du läßt ihr zuviel durchgehen, mein Kind. Es täte Fanny ganz gut, wenn du ihr gegenüber manchmal etwas mehr Strenge an den Tag legen würdest«, mahnte Ruth. »Du mußt dich auf sie verlassen können, ganz besonders jetzt, wo wir nicht bei dir sein können.«
Ein Schatten fiel über Valeries Gesicht. »Manchmal wünschte ich, der Brief aus Amerika wäre nie bei uns eingetroffen«, seufzte sie. »Dann bräuchte ich jetzt nicht von euch zu gehen, und alles würde so sein, wie es immer war.«
»Das Leben geht nun mal nicht immer den Weg, den man sich selbst am meisten wünscht«, erwiderte Charles.
»Was würde denn passieren, wenn ich das Schiff nach Amerika nicht bestiege?« wandte Valerie ein.
»Laß uns nicht wieder davon anfangen, mein Kind«, bat Ruth. »Du weißt, es führt zu nichts.«
»Ich werde dir sagen, was dann passieren wird«, antwortete Charles ihr. »Erst einmal wird gar nichts passieren, Valerie. Du wirst vielleicht erleichtert sein, daß du diese lange Reise nicht antreten mußt und dein Leben in Bath wie gewöhnlich gestalten kannst. Doch diese trügerische Erleichterung wird nicht ewig dauern. Früher oder später wirst du es bitter bereuen, daß du die Reise nicht angetreten hast. Du wirst dir den Kopf zermartern und dich fragen, was geschehen wäre, wenn du es getan hättest. Du wirst uns Vorwürfe machen, daß wir dich nicht stärker gedrängt haben ...«
»Das werde ich nie!« versicherte Valerie.
Er lächelte milde, doch in seinen Augen lag Schmerz. »O doch, das würdest du, und du hättest auch ein gutes Recht, es zu tun. Nein, mein Kind, du mußt diese Sache hinter dich bringen, sonst würdest du bis an dein Lebensende niemals das quälende Gefühl loswerden, etwas ganz Entscheidendes leichtfertig verspielt zu haben. «
Ruth nickte bekräftigend. »Es ist, wie Charles sagt. Du mußt es tun, Valerie, schon um deines Seelenfriedens willen.«
Valerie spielte gedankenverloren mit einer Haarsträhne, die sie um ihren Zeigefinger wickelte. »Es ist alles nur so merkwürdig, ja fast geheimnisvoll«, begann sie zögernd und bemerkte nicht den beunruhigten Blick, den Ruth und Charles sich zuwarfen. »Warum erfahre ich erst jetzt, daß mein ... mein leiblicher Vater nicht vor neunzehn Jahren an Gelbfieber gestorben ist, sondern all die Jahre gelebt hat?« Charles räusperte sich umständlich, um seine innere Unruhe zu verbergen, die der Zwang zur Lüge in ihm auslöste. »Das wissen wir auch nicht. Auch wir waren bisher der festen Überzeugung, daß dein Vater unter den zahlreichen Opfern war, die im Jahr deiner Geburt in New Orleans zu beklagen waren. Es ist in der Tat ein Geheimnis.« »Warum hat er in seinem Brief an mich darüber kein Wort verloren?« wollte Valerie wissen, einen gequälten Ausdruck auf dem Gesicht. Ruth legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. »Das hat Mister Duvall, wie du sehr wohl weißt. Er hat geschrieben, daß er dir auf all deine Fragen Antworten wird geben können, die alles erklären und dich überzeugen werden, daß er nicht anders hatte handeln können, als er es getan hat. Und daß du ihm vertrauen sollst.«
»Wie soll ich ihm vertrauen, wo ich ihn doch gar nicht kenne?« begehrte Valerie auf, und ihr hitziges Temperament, das manchmal mit ihr durchging, kam zum Vorschein. »Er ist ein Fremder für mich, nicht weniger fremd als Millionen anderer Amerikaner. Ich weiß nichts über ihn bis auf seinen Namen - Henry Duvall. Er kann tausendmal darauf pochen, daß er mein Vater sei. Ich werde ihn nie als solchen akzeptieren. Ihr seid meine Eltern und niemand sonst!« »Zügle dein Temperament! Das geziemt sich nicht für eine junge Dame!« tadelte Ruth sie, doch ein weicher Zug voll Zärtlichkeit lag um Mund und Augen. »Mister Duvall wird seine Gründe haben, und du bist zumindest dazu verpflichtet, sie dir anzuhören. Welche Schlüsse du aus seinen Erklärungen ziehst, das ist dann ganz dir überlassen.«
»Willst du denn nicht wissen, wer du wirklich bist und woher du kommst?« fragte Charles forschend und wünschte im selben Moment, er hätte diese Frage nicht gestellt.
Valerie zögerte und biß sich auf die Unterlippe. Wie oft hatte sie in den Nächten der letzten Woche seit Ankunft der beiden Briefe, von denen einer an sie gerichtet gewesen war, wach gelegen und sich gefragt, wer ihre wirklichen Eltern waren und was für ein Geheimnis sich um ihre Herkunft rankte. O ja, diese Frage beschäftigte sie sehr. Doch aus irgendeinem Grund hatte sie auch Angst, hinter dieses Geheimnis zu kommen. Und sie hatte in letzter Zeit den verwirrenden Eindruck bekommen, als gäbe es da etwas, was Charles und Ruth wußten, ihr aber vorenthielten. Gewiß, solch ein Gedanke war eigentlich absurd, aber dennoch konnte sie sich dessen nicht erwehren.
»Ich werde immer die bleiben, die ich bin«, erklärte Valerie, und aus ihrer Antwort sprachen Stolz, Trotz und die Naivität einer jungen Frau, die bisher eine wohlbehütete, sorgenfreie Jugend in der Sicherheit eines begüterten Elternhauses genossen hatte und noch nicht mit den vielfältigen Widrigkeiten und Schattenseiten des Lebens in Berührung gekommen war.
»Das hoffen wir auch«, sagte Ruth.
Valerie sah sie eindringlich an. »Gibt es vielleicht noch irgend etwas, das ich wissen sollte, Mama?«
Ruth Fulham spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, hatte sich jedoch ausgezeichnet in der Gewalt. Ihrer Miene war nicht das geringste anzusehen, bestenfalls perfekt gespielte Verwunderung über diese Frage. »Ich wüßte nichts, mein Kind.«
Charles girff nach seiner goldenen Taschenuhr, um dem Blick seiner Tochter nicht begegnen zu müssen. Er ließ den Deckel aufklappen und hielt die Uhr mit gefurchter Stirn an sein Ohr, als traute er dem gleichmäßigen Ticken nicht. »Es wird allerhöchste Zeit für dich«, sagte er dann und erstickte Abschiedsschmerz und Gewissensbisse in einer Flut von Worten. »Spätestens um Mitternacht mußt du an Bord der Alabama sein, Valerie. So steht es in der Nachricht von Captain Melville. Mitternacht und keine halbe Stunde später. Ein Segelschiff wartet mit dem Auslaufen nicht auf einen verspäteten Passagier, wenn die Gezeiten günstig stehen. Du mußt dich mit Fanny geschwind auf den Weg machen. Wer weiß, wie lange ihr bei diesem Wetter für den Rest der Strecke bis nach Bristol braucht. Und Isaacs Augen sind auch nicht mehr die besten.«
»Ja, du mußt aufbrechen«, drängte nun auch Ruth und erhob sich. Valerie blickte zögernd von einem zum andern, dann fiel sie Charles mit Tränen in den Augen um den Hals und drückte ihn ganz fest. »Ich bin so schnell es geht wieder zurück, das verspreche ich euch«, sagte sie mit erstickter Stimme.
»Wir erwarten auch nichts anderes, Valerie. Aber jetzt laß mir noch etwas Luft, sonst bin ich gleich wirklich krank«, brummte Charles und schneuzte in ein Tuch, um seine Rührung zu verbergen.
Auch Ruth war um Haltung bemüht. Sie umarmte Valerie und schloß die Augen, als diese es nicht sehen konnte. Als sie ihr Kind wieder freigab, war ihr Gesicht so beherrscht wie eh und je. »Ich wünsche dir eine gute Reise, und vergiß nicht, dich auf dem Schiff immer warm anzuziehen, damit du dir nichts holst! Und schreibe uns sofort, sowie du in New Orleans angekommen bist.«
»Ich werde euch schon vom Schiff schreiben«, versicherte Valerie. Es klopfte ungeduldig an die Tür.
»Ja?« rief Ruth Fulham schroff, ungehalten über die Störung gerade in diesem Moment. Wer wußte, wie viele Monate vergehen würden, bis sie sich wiedersahen.
Frances Marsh, von allen nur Fanny genannt, steckte ihren rotblonden Kopf zur Tür herein. Sie war sechs Jahre älter als ihre Mistress und hatte mit Valerie auch sonst nicht viel gemein. Sie war von eher kleiner, untersetzter Figur und so mollig, wie Valerie schlank war. Gebäck und Süßigkeiten aller Art waren neben Klatsch und hübschen Kleidern ihre Leidenschaft. Sie besaß ein sehr fröhliches, ansprechendes Gesicht, das jedoch jetzt ernste Besorgnis zeigte.
»Bitte vielmals um Entschuldigung, aber Isaac läßt fragen, wann es denn nun weitergehe«, sagte Fanny und warf schnell einen Blick auf Charles Fulham, der mit vor der Brust verschränkten Armen aufrecht im Bett saß und sich ein grimmiges Aussehen gab, als verstünde er den Rummel, der seinetwegen gemacht wurde, überhaupt nicht. Fanny war auch gleich erleichtert, als sie sah, daß er noch weit davon entfernt war, einem Leichenbestatter Freude zu machen - wie Isaac vorhin im Stall voller Kummer befürchtet hatte.
»Sag ihm, daß er sich bereithalten soll«, trug Ruth ihr auf. »Valerie kommt sofort.«
Valerie nickt ihrer Zofe zu, und Fanny eilte davon, nachdem sie einen kurzen Abschiedsgruß an ihre Herrschaft gerichtet hatte.
»Alle Segnungen des Lebens - und möge Gott stets seine schützende Hand über dir halten«, sagte Ruth leise zu Valerie und drückte ihr dann ihren Umhang in die Hand. »So, und nun mußt du gehen.«
Unschlüssig stand Valerie einen Augenblick in der Tür, dann gab sie sich einen Ruck und warf sich den warmen Umhang um.
»Ich komme so schnell es geht zurück«, sagte sie noch einmal, bevor sie den Gang hinunterlief, als hätte sie Angst, es sich doch noch anders zu überlegen. Hätte sie auch nur im geringsten geahnt, was sie erwartete, hätte sie sicher keine Macht der Welt dazu bringen können, die Three Oak Tavern in dieser stürmischen Nacht zu verlassen.
Genehmigte Lizenzausgabe für die Verlagsgruppe Weltbild GmbH
Der Wind heulte um das einzelnstehende Wirtshaus an der Landstraße nach Bristol, rüttelte an den Fensterläden und tobte durch die ausladenden Kronen der drei Eichen, die das gedrungene Fachwerkhaus umstanden und der Taverne ihren Namen gegeben hatten: Three Oak Tavern. Wild schlug das Tavernenschild, dessen Aufschrift von Wind und Wetter verblichen war, an der Stange über der Eingangstür hin und her. Das Quietschen und Scheppern vermischte sich mit dem Toben des Märzunwetters, das sich am Abend über der Westküste Englands zusammengeballt hatte. Heftige Böen schleuderten die Regenfluten wie Peitschenhiebe gegen Dach und Mauerwerk. Der gelbliche Lichtschein, der durch die Türritze und einige Fensterläden in die Nacht hinausdrang, wurde schon nach wenigen Yards von der regendurchtränkten Dunkelheit verschluckt. »Wir müssen es ihr sagen, Ruth!« sagte Charles Fulham mit matter Stimme und richtete sich im Bett auf, das den größten Teil des oberen Eckzimmers der Taverne einnahm. Obwohl Charles Fulham ein massiger Mann von fünfundsechzig Jahren war, wirkte er in dem großen Bett mit seinen hohen geschnitzten Pfosten aus dunklem Holz wie verloren. Und die Blässe seines Gesichtes hob sich kaum von den blütenweißen Bezügen ab. Er fühlte sich sichtlich elend, und daran war nicht allein der plötzliche Schwächeanfall schuld, der sie knapp zwanzig Meilen vor Bristol gezwungen hatte, ihre Reise mit der Kutsche zu unterbrechen und sich in dieser Taverne einzuquartieren, bis er wieder bei Kräften war. »Es bleibt nicht mehr viel Zeit!«
»Der Herrgott wird dir nicht mehr viel Zeit lassen, wenn du nicht ruhig liegenbleibst, Charles!« erwiderte seine Frau energisch und reichte ihm den Tee, den die Tochter des Wirtes vor wenigen Augenblicken aufs Zimmer gebracht hatte. »Hier, trink das. Heißer Tee wird dir guttun. Er ist mit viel Zitrone. Das bringt die Farbe in dein Gesicht zurück. Du siehst schrecklich bleich aus.«
»Ein guter Brandy brächte mich schneller auf die Beine«, seufzte er, setzte die Tasse jedoch an die Lippen, weil er wußte, daß seine Frau nicht eher Ruhe geben würde, bis er getan hatte, was sie für richtig hielt. Nachdem er getrunken hatte, kam er wieder auf das zu sprechen, was ihm die letzten Stunden keine Ruhe gelassen und möglicherweise dazu beigetragen hatte, daß er in der Kutsche von Herzbeschwerden und einer drohenden Ohnmacht befallen worden war. »Es ist nicht richtig, daß wir Valerie so ahnungslos auf die Reise schicken. Sie ist neunzehn und längst kein Kind mehr. Noch haben wir die Chance, sie sanft darauf vorzubereiten. Sie wird es verkraften, wenn wir nur behutsam vorgehen. Ich habe lange darüber nachgedacht und ...«
»Ich auch, Charles«, unterbrach sie ihn ohne Schärfe und griff nach seiner Hand. »Und ich wünschte, wir könnten es Valerie zusammen sagen. Aber wir haben auf die heilige Bibel geschworen, nie ein Wort darüber zu verlieren. Das war die Voraussetzung gewesen, sonst hätten wir nie das Glück gehabt, sie wie unser eigenes leibliches Kind aufziehen zu dürfen.«
»Aber sie weiß doch schon längst, daß wir nicht ihre leiblichen Eltern sind!«
»Ja, aber mehr auch nicht. Und mehr ist uns auch nicht zu sagen erlaubt. Wir haben stets gewußt, daß dieser Tag einst kommen würde, und wir haben dies von Anfang an in Kauf genommen. Jetzt müssen wir dazu stehen und stark sein - wie auch Valerie stark sein muß, wenn sich für sie die Schleier ihrer Vergangenheit lüften. Doch wir haben nicht das Recht dazu, wie du sehr wohl weißt. Wenn auch vieles, was im Brief stand, vage formuliert war, in diesem Punkt war er klar und nachdrücklich«, erinnerte sie ihn.
»Ich weiß«, sagte Charles bedrückt. »Aber es erfüllt mich mit Sorge, daß wir sie so gehen lassen müssen. Wir mögen sie nicht gezeugt haben, aber dennoch bleibt sie stets unser Kind. Wie können wir sie da unvorbereitet auf eine so lange Reise ins Ungewisse schicken? « Ruth atmete tief durch. »Gerade weil sie unser Kind ist, müssen wir sie jetzt gehen lassen, Charles. Es ist ja nicht für immer. Valerie kehrt in ein paar Monaten wieder nach England zurück. Sie liebt uns, wie wir sie lieben, aber sie hat ein Recht darauf, alles über ihre Herkunft zu erfahren - doch nicht von uns.«
Charles sah Tränen in den Augen seiner Frau schimmern, und ihm wurde noch elender ums Herz. »Jetzt ist es uns noch nicht einmal vergönnt, sie bis aufs Schiff zu bringen.«
»Es ist egal, wo man Abschied voneinander nimmt. Wichtig ist nur, mit welchen Gefühlen man das tut - und da ist dieser Ort so gut wie jeder andere«, versuchte sie ihren Mann und sich zu trösten.
Es klopfte.
Charles vergewisserte sich, daß sein grauseidener Morgenmantel geschlossen war. Dann ging seine Frau zur Tür und öffnete.
Es war Valerie. Sie hatte sich in der Zwischenzeit darum gekümmert, daß Isaac, ihr in treuen Diensten ergrauter Kutscher, auch die richtigen Gepäckstücke abgeladen hatte. Eigentlich wäre das Fannys Aufgabe gewesen. Doch da es sich um eine sehr weite Reise handelte, hatte sie das lieber selber in die Hand genommen. Als Zofe war die mollige Fanny eine Perle, doch manchmal fehlte es ihr am Überblick, wenn es zu viele Dinge auf einmal zu bedenken gab.
»Wie geht es ihm, Mama?« fragte Valerie leise, und tiefe Sorge sprach aus ihrer angespannten Stimme. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, ihre Pflegeeltern anders als Mama und Papa zu bezeichnen, auch nicht, als sie ihr vor Jahren eröffnet hatten, daß sie nicht ihre richtigen Eltern waren. Und daran würde sich für sie auch nie etwas ändern. Niemand auf der Welt hätte ihr mehr Liebe schenken können als Ruth und Charles Fulham, davon war sie so felsenfest überzeugt wie von der Schönheit des herrschaftlichen Hauses in Bath, das immer ihr geliebtes Zuhause sein würde.
»Ich glaube, es geht ihm schon ein bißchen besser, mein Kind«, beruhigte Ruth sie und zwang sich zu einem Lächeln. Es war keinem damit gedient, wenn sie sich anmerken ließ, wie es in ihr aussah.
Ein schmerzlicher Stich durchfuhr Charles, als er Valerie an sein Bett eilen sah. Stolz und Liebe erfüllten ihn, und er schaute sie an, als wollte er ihr Bild für immer bis auf das kleinste Detail genau in seiner Erinnerung bewahren.
Valerie war eine Schönheit, bei Gott, das war sie! Schlank und doch nicht zu zierlich, um wie ein zerbrechliches Wesen zu wirken, entsprach sie dem europäischen Schönheitsideal auf fast perfekte Weise - auch was ihre fraulichen Formen betraf, wie er sich mit einiger Verlegenheit eingestehen mußte. Zwar trug sie ein hochgeschlossenes Reisekostüm aus currybraunem Gabardine, das dem unfreundlichen Märzwetter angemessen war, doch ihre schlanke Taille und ihre volle, hohe Brust waren nicht zu übersehen.
Valerie gehörte überhaupt in keiner Hinsicht zu denjenigen, die leicht übersehen wurden. Dafür sorgte schon ihr üppiges, schwarzes Haar, das je nach Lichteinfall einen warmen Blauschimmer zeigte. Ihre Haarpracht wurde von einem elfenbeinernen Kamm mit Schließe im Nacken zusammengehalten und fiel ihr von dort wie eine schwarze Flut bis auf die Schultern.
Ihre Augen, die unter sanft geschwungenen Brauen und dichten Wimpern lagen, waren von einem ungewöhnlichen Grau, in dem winzige Goldflocken zu glitzern schienen. Eine wohlgeformte Nase und ein hübscher Mund vervollständigten ihr Gesicht, das kein Mann so schnell vergaß - und das traf auch auf ihre Haut zu, die von leicht cremefarbener Tönung war, wie Milch mit einem Tropfen heißer Schokolade vermischt. Sie sah nicht wie eine typische Engländerin aus, sondern eher wie eine exotische Schönheit aus dem südländischen Raum.
Valerie setzte sich zu ihrem Vater ans Bett. »Aber blaß bist du immer noch, Papa«, sagte sie voller Sorge. »Du hättest gar nicht erst die Reise antreten dürfen. Es war leichtsinnig von dir.«
»Ach was! Unkraut vergeht nicht, schon gar nicht so ein gewichtiges«, gab sich Charles betont munter und verschloß seine quälenden Gedanken vor ihr. Nichts sollte die letzte halbe Stunde vor ihrem Abschied trüben. »Es war der Wetterumschwung, sonst nichts. Es wird Zeit, daß der Frühling kommt. Mach dir also wegen mir keine Sorgen. Ich bin schnell wieder auf den Beinen. Eigentlich gibt es gar keinen Grund, weshalb ich im Bett liege wie ein kranker Mann. Aber du kennst ja deine Mutter. Ein leichtes Hüsteln, und schon wähnt sie eine Lungenentzündung im Anmarsch.«
Ein schwaches Lächeln huschte über Valeries Gesicht. »Einer muß ja auf dich aufpassen.«
Charles Fulham machte eine ungeduldige Handbewegung. »Sprechen wir nicht von mir und meinem leichten Unwohlsein. Krankheiten kann man auch herbeireden. Also Schluß jetzt mit dem Thema.« »Hast du all dein Gepäck zusammen?« fragte Ruth, immer auf das Praktische bedacht. »Daß du bloß nichts vergißt.«
»Fanny hatte schon den Koffer mit meinen Hutschachteln zu euren Sachen gestellt. Wenn ich nicht dabeigewesen wäre, wäre es sicherlich nicht bei dieser einen Verwechslung geblieben. Statt meiner Kleider hätte ich auf dem Schiff dann Papas Anzüge vorgefunden «, berichtete Valerie mit einem Kopfschütteln und fügte nachsichtig hinzu: »Die ganze Aufregung der Reise und dein plötzlicher Schwächeanfall haben sie wohl ein bißchen überfordert. Ihr wißt, Fanny liebt mehr das ruhige Gleichmaß.«
»Du läßt ihr zuviel durchgehen, mein Kind. Es täte Fanny ganz gut, wenn du ihr gegenüber manchmal etwas mehr Strenge an den Tag legen würdest«, mahnte Ruth. »Du mußt dich auf sie verlassen können, ganz besonders jetzt, wo wir nicht bei dir sein können.«
Ein Schatten fiel über Valeries Gesicht. »Manchmal wünschte ich, der Brief aus Amerika wäre nie bei uns eingetroffen«, seufzte sie. »Dann bräuchte ich jetzt nicht von euch zu gehen, und alles würde so sein, wie es immer war.«
»Das Leben geht nun mal nicht immer den Weg, den man sich selbst am meisten wünscht«, erwiderte Charles.
»Was würde denn passieren, wenn ich das Schiff nach Amerika nicht bestiege?« wandte Valerie ein.
»Laß uns nicht wieder davon anfangen, mein Kind«, bat Ruth. »Du weißt, es führt zu nichts.«
»Ich werde dir sagen, was dann passieren wird«, antwortete Charles ihr. »Erst einmal wird gar nichts passieren, Valerie. Du wirst vielleicht erleichtert sein, daß du diese lange Reise nicht antreten mußt und dein Leben in Bath wie gewöhnlich gestalten kannst. Doch diese trügerische Erleichterung wird nicht ewig dauern. Früher oder später wirst du es bitter bereuen, daß du die Reise nicht angetreten hast. Du wirst dir den Kopf zermartern und dich fragen, was geschehen wäre, wenn du es getan hättest. Du wirst uns Vorwürfe machen, daß wir dich nicht stärker gedrängt haben ...«
»Das werde ich nie!« versicherte Valerie.
Er lächelte milde, doch in seinen Augen lag Schmerz. »O doch, das würdest du, und du hättest auch ein gutes Recht, es zu tun. Nein, mein Kind, du mußt diese Sache hinter dich bringen, sonst würdest du bis an dein Lebensende niemals das quälende Gefühl loswerden, etwas ganz Entscheidendes leichtfertig verspielt zu haben. «
Ruth nickte bekräftigend. »Es ist, wie Charles sagt. Du mußt es tun, Valerie, schon um deines Seelenfriedens willen.«
Valerie spielte gedankenverloren mit einer Haarsträhne, die sie um ihren Zeigefinger wickelte. »Es ist alles nur so merkwürdig, ja fast geheimnisvoll«, begann sie zögernd und bemerkte nicht den beunruhigten Blick, den Ruth und Charles sich zuwarfen. »Warum erfahre ich erst jetzt, daß mein ... mein leiblicher Vater nicht vor neunzehn Jahren an Gelbfieber gestorben ist, sondern all die Jahre gelebt hat?« Charles räusperte sich umständlich, um seine innere Unruhe zu verbergen, die der Zwang zur Lüge in ihm auslöste. »Das wissen wir auch nicht. Auch wir waren bisher der festen Überzeugung, daß dein Vater unter den zahlreichen Opfern war, die im Jahr deiner Geburt in New Orleans zu beklagen waren. Es ist in der Tat ein Geheimnis.« »Warum hat er in seinem Brief an mich darüber kein Wort verloren?« wollte Valerie wissen, einen gequälten Ausdruck auf dem Gesicht. Ruth legte ihr beruhigend eine Hand auf den Arm. »Das hat Mister Duvall, wie du sehr wohl weißt. Er hat geschrieben, daß er dir auf all deine Fragen Antworten wird geben können, die alles erklären und dich überzeugen werden, daß er nicht anders hatte handeln können, als er es getan hat. Und daß du ihm vertrauen sollst.«
»Wie soll ich ihm vertrauen, wo ich ihn doch gar nicht kenne?« begehrte Valerie auf, und ihr hitziges Temperament, das manchmal mit ihr durchging, kam zum Vorschein. »Er ist ein Fremder für mich, nicht weniger fremd als Millionen anderer Amerikaner. Ich weiß nichts über ihn bis auf seinen Namen - Henry Duvall. Er kann tausendmal darauf pochen, daß er mein Vater sei. Ich werde ihn nie als solchen akzeptieren. Ihr seid meine Eltern und niemand sonst!« »Zügle dein Temperament! Das geziemt sich nicht für eine junge Dame!« tadelte Ruth sie, doch ein weicher Zug voll Zärtlichkeit lag um Mund und Augen. »Mister Duvall wird seine Gründe haben, und du bist zumindest dazu verpflichtet, sie dir anzuhören. Welche Schlüsse du aus seinen Erklärungen ziehst, das ist dann ganz dir überlassen.«
»Willst du denn nicht wissen, wer du wirklich bist und woher du kommst?« fragte Charles forschend und wünschte im selben Moment, er hätte diese Frage nicht gestellt.
Valerie zögerte und biß sich auf die Unterlippe. Wie oft hatte sie in den Nächten der letzten Woche seit Ankunft der beiden Briefe, von denen einer an sie gerichtet gewesen war, wach gelegen und sich gefragt, wer ihre wirklichen Eltern waren und was für ein Geheimnis sich um ihre Herkunft rankte. O ja, diese Frage beschäftigte sie sehr. Doch aus irgendeinem Grund hatte sie auch Angst, hinter dieses Geheimnis zu kommen. Und sie hatte in letzter Zeit den verwirrenden Eindruck bekommen, als gäbe es da etwas, was Charles und Ruth wußten, ihr aber vorenthielten. Gewiß, solch ein Gedanke war eigentlich absurd, aber dennoch konnte sie sich dessen nicht erwehren.
»Ich werde immer die bleiben, die ich bin«, erklärte Valerie, und aus ihrer Antwort sprachen Stolz, Trotz und die Naivität einer jungen Frau, die bisher eine wohlbehütete, sorgenfreie Jugend in der Sicherheit eines begüterten Elternhauses genossen hatte und noch nicht mit den vielfältigen Widrigkeiten und Schattenseiten des Lebens in Berührung gekommen war.
»Das hoffen wir auch«, sagte Ruth.
Valerie sah sie eindringlich an. »Gibt es vielleicht noch irgend etwas, das ich wissen sollte, Mama?«
Ruth Fulham spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog, hatte sich jedoch ausgezeichnet in der Gewalt. Ihrer Miene war nicht das geringste anzusehen, bestenfalls perfekt gespielte Verwunderung über diese Frage. »Ich wüßte nichts, mein Kind.«
Charles girff nach seiner goldenen Taschenuhr, um dem Blick seiner Tochter nicht begegnen zu müssen. Er ließ den Deckel aufklappen und hielt die Uhr mit gefurchter Stirn an sein Ohr, als traute er dem gleichmäßigen Ticken nicht. »Es wird allerhöchste Zeit für dich«, sagte er dann und erstickte Abschiedsschmerz und Gewissensbisse in einer Flut von Worten. »Spätestens um Mitternacht mußt du an Bord der Alabama sein, Valerie. So steht es in der Nachricht von Captain Melville. Mitternacht und keine halbe Stunde später. Ein Segelschiff wartet mit dem Auslaufen nicht auf einen verspäteten Passagier, wenn die Gezeiten günstig stehen. Du mußt dich mit Fanny geschwind auf den Weg machen. Wer weiß, wie lange ihr bei diesem Wetter für den Rest der Strecke bis nach Bristol braucht. Und Isaacs Augen sind auch nicht mehr die besten.«
»Ja, du mußt aufbrechen«, drängte nun auch Ruth und erhob sich. Valerie blickte zögernd von einem zum andern, dann fiel sie Charles mit Tränen in den Augen um den Hals und drückte ihn ganz fest. »Ich bin so schnell es geht wieder zurück, das verspreche ich euch«, sagte sie mit erstickter Stimme.
»Wir erwarten auch nichts anderes, Valerie. Aber jetzt laß mir noch etwas Luft, sonst bin ich gleich wirklich krank«, brummte Charles und schneuzte in ein Tuch, um seine Rührung zu verbergen.
Auch Ruth war um Haltung bemüht. Sie umarmte Valerie und schloß die Augen, als diese es nicht sehen konnte. Als sie ihr Kind wieder freigab, war ihr Gesicht so beherrscht wie eh und je. »Ich wünsche dir eine gute Reise, und vergiß nicht, dich auf dem Schiff immer warm anzuziehen, damit du dir nichts holst! Und schreibe uns sofort, sowie du in New Orleans angekommen bist.«
»Ich werde euch schon vom Schiff schreiben«, versicherte Valerie. Es klopfte ungeduldig an die Tür.
»Ja?« rief Ruth Fulham schroff, ungehalten über die Störung gerade in diesem Moment. Wer wußte, wie viele Monate vergehen würden, bis sie sich wiedersahen.
Frances Marsh, von allen nur Fanny genannt, steckte ihren rotblonden Kopf zur Tür herein. Sie war sechs Jahre älter als ihre Mistress und hatte mit Valerie auch sonst nicht viel gemein. Sie war von eher kleiner, untersetzter Figur und so mollig, wie Valerie schlank war. Gebäck und Süßigkeiten aller Art waren neben Klatsch und hübschen Kleidern ihre Leidenschaft. Sie besaß ein sehr fröhliches, ansprechendes Gesicht, das jedoch jetzt ernste Besorgnis zeigte.
»Bitte vielmals um Entschuldigung, aber Isaac läßt fragen, wann es denn nun weitergehe«, sagte Fanny und warf schnell einen Blick auf Charles Fulham, der mit vor der Brust verschränkten Armen aufrecht im Bett saß und sich ein grimmiges Aussehen gab, als verstünde er den Rummel, der seinetwegen gemacht wurde, überhaupt nicht. Fanny war auch gleich erleichtert, als sie sah, daß er noch weit davon entfernt war, einem Leichenbestatter Freude zu machen - wie Isaac vorhin im Stall voller Kummer befürchtet hatte.
»Sag ihm, daß er sich bereithalten soll«, trug Ruth ihr auf. »Valerie kommt sofort.«
Valerie nickt ihrer Zofe zu, und Fanny eilte davon, nachdem sie einen kurzen Abschiedsgruß an ihre Herrschaft gerichtet hatte.
»Alle Segnungen des Lebens - und möge Gott stets seine schützende Hand über dir halten«, sagte Ruth leise zu Valerie und drückte ihr dann ihren Umhang in die Hand. »So, und nun mußt du gehen.«
Unschlüssig stand Valerie einen Augenblick in der Tür, dann gab sie sich einen Ruck und warf sich den warmen Umhang um.
»Ich komme so schnell es geht zurück«, sagte sie noch einmal, bevor sie den Gang hinunterlief, als hätte sie Angst, es sich doch noch anders zu überlegen. Hätte sie auch nur im geringsten geahnt, was sie erwartete, hätte sie sicher keine Macht der Welt dazu bringen können, die Three Oak Tavern in dieser stürmischen Nacht zu verlassen.
Genehmigte Lizenzausgabe für die Verlagsgruppe Weltbild GmbH
... weniger
Autoren-Porträt von Ashley Carrington
Mit einer Gesamtauflage in Deutschland von fast 6 Millionen zählt Rainer M. Schröder, alias Ashley Carrington, zu den erfolgreichsten deutschsprachigen Schriftstellern von Jugendbüchern sowie historischen Gesellschaftsromanen für Erwachsene. Letztere erscheinen seit 1984 unter seinem zweiten, im Pass eingetragenen Namen Ashley Carrington.Rainer M. Schröder lebt Atlanta in den USA.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ashley Carrington
- 432 Seiten, Masse: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3955693007
- ISBN-13: 9783955693008
Kommentare zu "Valerie; Erbin von Cotton Fields"
0 Gebrauchte Artikel zu „Valerie; Erbin von Cotton Fields“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 9Schreiben Sie einen Kommentar zu "Valerie; Erbin von Cotton Fields".
Kommentar verfassen