Unheil
- Kreditkarte, Paypal, Rechnungskauf
- 30 Tage Widerrufsrecht
Unheil von Wolfgang Hohlbein 1
Ohne den Leichenwagen mit dem Sarg auf dem Dach hätte sie den Laden vermutlich nicht einmal gefunden. Ihr sündhaft teures GPS-System hatte ihr den Stinkefinger gezeigt und sie gleich dreimal an der entscheidenden Abzweigung vorbeigelotst, um sie fünfzig Meter weiter mit einer enervierend freundlichen Stimme zum Wenden aufzufordern, und wäre sie dem (eigentlich unübersehbaren) Hinweisschild gefolgt, dann hätte der betagte Toyota jetzt wahrscheinlich bis zu den Achsen im Schlamm gesteckt, wenn sie sich nicht gleich auf dem Dach liegend und fünf Meter tiefer auf den Bahngleisen wiedergefunden hätte. Conny fragte sich nicht zum ersten Mal – und nicht zum ersten Mal vergeblich – warum die Betreiber des Trash sich eigentlich solche Mühe machten, ihr Etablissement zu verstecken.
Sie fragte sich auch nicht zum ersten Mal, was das Trash eigentlich war.
Natürlich wusste sie es. Sie war nicht ganz so blauäugig, wie manche ihrer sogenannten Kollegen es gerne darstellten, und hatte ein paar Erkundigungen eingezogen und im Internet recherchiert: ein ehemaliges Fabrikgelände, das nun eine Mischung aus Diskothek und Veranstaltungsort beherbergte und sich in den letzten Jahren zu einem Insider-Tipp der Gothic-Szene entwickelt hatte.
Conny schnippte den Stummel ihrer Zigarette aus dem Fenster, ohne auch nur einen Anflug schlechten Gewissens dabei zu verspüren, zündete sich praktisch noch in der gleichen Bewegung eine weitere West an und ließ ihren Blick zum wiederholten Male über den nur zur Hälfte belegten, schlammigen Parkplatz schweifen. Für die meisten wäre dieser Parkplatz nichts anderes gewesen als eben ein Parkplatz, aber ihr kundiger Blick verriet ihr auch noch eine Menge mehr. Der offenbar mit einer Rolle lackierte ehemalige Leichenwagen mit dem Pappsarg auf dem Dach, dem sie es letztendlich verdankte, das Trash überhaupt gefunden zu haben (sie war ihm kurzerhand gefolgt), war sicher nicht typisch für das, was sie sah; ein Unikum eben. Immerhin stimmte die Richtung.
Kaum einer der Wagen, die sie sah, schien vor weniger als sieben oder acht Jahren gebaut worden zu sein. Es gab ein paar Ausnahmen: Nicht einmal weit entfernt parkte ein silbernes BMW-Cabriolet, und direkt am Anfang des Parkplatzes, weit genug von den anderen Wagen entfernt, um nicht ganz aus Versehen mit dem Schlamm bespritzt zu werden, in dem ihr eigener klappriger Celica allmählich zu versinken schien, ein offensichtlich nagelneuer Hummer. Die meisten Wagen hier waren alt, nicht besonders gut gepflegt, und vor allem billig. Conny hatte nichts gegen billige Autos (sie fuhr selbst eines), aber es war eben eine ganz besondere Art von billig. Sie sah nur sehr wenige Fahrzeuge, deren Zustand ihre Besitzer als Autofreaks outete; um nicht zu sagen, so gut wie gar keines. Das, was sie hier sah, waren schlichte Beförderungsmittel.
Was ihr im Prinzip allerdings eher sympathisch war.
Sie kam zu dem Schluss, nun wirklich lange genug auf ihrem selbst ernannten Beobachtungsposten ausgeharrt zu haben, stieg aus und steuerte mit energischen Schritten den im Vergleich zur Größe des Gebäudes eher winzigen Eingang an, vor dem ein knappes Dutzend typischer Gothic-Fans (schwarz auf schwarz, und das Ganze geschickt zur Geltung gebracht mit ein paar schwarzen Accessoires) herumlungerte und rauchte. Die überraschten Blicke und hochgezogenen Augenbrauen tapfer ignorierend, versuchte Conny irgendwie an ihnen vorbeizukommen und dabei zumindest noch ein Mindestmaß an Würde zu wahren; ein Vorhaben, das aber von ihren hochhackigen Pumps gründlich torpediert wurde, auf denen sie beständig im Schlamm zu versinken drohte. Welcher Teufel hatte sie eigentlich geritten, in diesem Aufzug hierherzukommen?
Conny formulierte ihre eigene Frage in Gedanken um, als sie die Raucherfraktion passiert hatte und den ungefähr drei Meter großen Muskelprotz ansteuerte, der mit verschränkten Armen vor der Tür stand und darauf wartete, dass jedermann seine entblößten Ober- und Unterarmmuskeln bewunderte. Welcher Teufel hatte sie eigentlich geritten, überhaupt hierherzukommen?
Ihre wildesten Befürchtungen schienen sich zu bestätigen, als sie dem missbilligenden Stirnrunzeln des Fleischbergs begegnete. Sie war weder passend für diesen Anlass gekleidet, noch hatte sie das passende Alter…aber gut, wenn er ihr krummkam, hatte sie immerhin den passenden Dienstausweis, der ihn aus dem Weg scheuchen würde.Hoffentlich.
Dann wurde ihr klar, dass sein grimmiger Blick weder ihrem bordeauxroten Kostüm noch den zwanzig Jahren zu viel galt, die sie auf dem Buckel trug, sondern der brennenden Zigarette in ihrer Hand. Sie nahm noch einen abschließenden tiefen Zug, schnippte den Rest in hohem Bogen davon und wurde mit einem zufriedenen Grinsen und einem mittleren Erdbeben belohnt, als sich der Koloss zur Seite schob und den Weg freigab.
Allerdings entblödete er sich nicht, ihr die Tür aufzuhalten; auf eine Art, die sie das Wort Muttchen beinahe hören ließ.
Sie wusste selbst nicht genau, was sie erwartet hatte – dröhnende Musik, vibrierende Fußböden, verräucherte Luft und blitzendes Laserlicht – aber sie gelangte zunächst lediglich in einen schmalen Gang, der von einem schweren Vorhang begrenzt wurde. Zur Linken gab es etwas, das sie an einen vergitterten Bankschalter aus dem vorvorletzten Jahrhundert erinnerte. Eine misstrauisch dreinschauende junge Frau reichte ihr eine kleine Pappkarte, mit der sie nicht wirklich etwas anzufangen wusste, und forderte sie mit einer so ruppigen Kopfbewegung zum Weitergehen auf, dass sie ganz instinktiv gehorchte.
Hinter dem Vorhang wurde die Musik lauter – Rammstein, Oomph!, irgendetwas in dieser Richtung –, wenn auch nicht annähernd so laut, wie sie befürchtet hatte. Trotzdem – und obwohl sie ein paar Fotos gesehen hatte und eigentlich wissen sollte, was sie erwartete – blieb sie einen Moment stehen und sah sich staunend um. Der Raum war riesig und konnte allein aufgrund seiner Größe und der hohen Decke seine ursprüngliche Bestimmung nicht leugnen, brodelte aber jetzt vor Leben, wie es in seiner Zeit als Maschinenhalle vermutlich niemals der Fall gewesen war. Conny versuchte erst gar nicht zu schätzen, wie viele Gäste sich augenblicklich hier drinnen aufhalten mochten. Vielleicht hundert, vielleicht auch drei- oder vierhundert, oder noch mehr. Jeder Versuch, sie zu zählen, wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Die vorherrschende Farbe war Schwarz (was sich nicht nur auf die Kleidung der Gäste beschränkte), und es gab nur einige wenige Ausnahmen: hier und da ein weißes Hemd oder ein totenbleich geschminktes Gesicht, ein Tupfer von Rot oder Violett, aber im Grunde war alles schwarz. Selbst das Licht.
Zumindest das kam ihr allerdings zugute, als sie die lang gestreckte Theke auf der anderen Seite des Raumes ansteuerte. Das im Rhythmus der Musik flackernde Schwarzlicht löschte die unpassende Farbe ihres Kostüms aus und ließ es weit dunkler als zuvor erscheinen…was natürlich nichts daran änderte, dass sie die erstaunten und zum Teil abfälligen Blicke fast körperlich spüren konnte, die ihr auf dem Weg quer über die nur spärlich frequentierte Tanzfläche folgten. Sie gehörte nicht hierher, das spürte sie deutlich.
Aber war sie etwa freiwillig hier?
Genau genommen ja, gestand sie sich widerwillig ein. Ganz genau genommen war sie sogar hier, obwohl ihr sehr deutlich gesagt worden war, dass sie nicht hierherkommen sollte…
Sie verscheuchte den Gedanken, drängelte sich zur Theke durch und bestellte eine Cola, wozu sie sich anstrengen musste, um die Musik zu überbrüllen, die auf dieser Seite der Halle sonderbarerweise viel lauter zu sein schien. Als sie in ihrer Handtasche nach Kleingeld kramte, schüttelte die Bedienung heftig den Kopf und begann noch heftiger zu gestikulieren. Conny sah sie verständnislos an.
»Sie müssen ihre Karte abgeben«, sagte eine Stimme hinter ihr.
Conny drehte sich um und blickte mindestens genauso verständnislos in ein Gesicht, das (allerhöchstens) halb so alt war wie ihr eigenes, aber so bleich, als wäre sein Besitzer seit mindestens der doppelten Anzahl von Jahren tot. »Wie?«
Der Junge (sie nahm zumindest an, dass es einer war) begann ebenfalls heftig zu gestikulieren. Er musste schreien, um die Musik zu übertönen, was ihn noch deutlich jünger erschienen ließ, als er vermutlich war.
»Ihre Karte! Haben Sie keine bekommen, am Eingang?« Als Conny ihn nur weiter verwirrt ansah, zog er seine eigene bedruckte Pappe aus der Hemdtasche und hielt sie der Bedienung hin. Sie stempelte sie mit einer verärgert wirkenden Geste ab, und endlich durfte Conny auch ihre mit einer Unmenge von Eis verpanschte Cola an sich nehmen, während der Junge seine Karte wieder verschwinden ließ.
»Man zahlt hier, wenn man rausgeht!«, erklärte er, immer noch beinahe schreiend. »Bist du das erste Mal hier?«
Conny nickte zwar ganz automatisch, aber sie konnte nur hoffen, dass ihre Gesichtszüge nicht allzu sehr entgleisten. Hoffentlich war dieses Bübchen nicht der, der sie herbestellt hatte. Wenn doch, dann… nun ja, dann hätte sie wenigstens das Gelächter des gesamten Kommissariats auf ihrer Seite.
»Setzen wir uns?«, brüllte Junior. »Im Nebenraum ist es ein bisschen leiser. Da können wir reden!«
Reden?, dachte Conny verwirrt. Mit dir? Worüber wohl? Aber sie nickte nur und bedeutete ihm mit einer entsprechenden Kopfbewegung, vorauszugehen. (…)
© Piper Verlag
- Autor: Wolfgang Hohlbein
- 2008, 2. Auflage, 638 Seiten, Masse: 11,9 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492266819
- ISBN-13: 9783492266819
- Erscheinungsdatum: 01.12.2008
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
3.5 von 5 Sternen
5 Sterne 3Schreiben Sie einen Kommentar zu "Unheil".
Kommentar verfassen