Totentanz / Proteo Laurenti Bd.5
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Totentanz von Veit Heinichen
LESEPROBE
Bombenstimmung
»In Triest verschläft diePolizei sogar einen Bombenanschlag.« Die Spötter hatten leider recht, und esblieb nichts anderes übrig, als ihre Kommentare so souverän wie möglich zuübergehen und statt dessen von Spuren und Ermittlungen zu sprechen, selbst wennman einiges hinzudichten musste. Auch Proteo Laurenti hatte den Knall gehört,eineinhalb Stunden nach Mitternacht.
Sein Mobiltelefonklingelte, kaum dass er am Morgen unausgeschlafen in seinen Wagen gestiegen war.»Also, was ist passiert?« Laurenti brauchte einen Moment, bis er die Stimmeerkannte. Die alte Freundin, Triestinerin und Journalistin bei der RAI in Rom,von der er schon lange nichts mehr gehört hatte, kam stets ohne lange Vorredezur Sache.
Seit er sie kannte,erschreckte sie ihn mit ihren direkten, bohrenden Fragen. Vermutlich war siedeshalb so erfolgreich in ihrem Beruf, weil sie anderen keine Möglichkeit liess,sich elegant um eine konkrete Antwort zu drücken.
»Wovon redest du?«stammelte Laurenti, auf einmal schlagwach. »Eine Bombe? Wo? Quatsch, bei unsdoch nicht. Da hat dich jemand auf den Arm genommen.«
»Proteo, verarsch michbitte nicht. Sag einfach in aller Klarheit, dass ihr eine Informationssperreverhängt habt. Die Sache gibt schliesslich zu denken.«
»Wer? Was?«
»Komm schon, Laurenti.Raus mit der Sprache: Bei uns lag es schon vor einer Stunde auf dem Ticker, undwenn es wahr ist, was da steht, dann muss bei euch kein Bombenleger Angst haben,weil die Polizei den Anschlag ohnehin erst fünf Stunden später bemerkt. Ihrseid wirklich von der ganz besonders schnellen Truppe.« Sie las ihm die Meldungder staatlichen Nachrichtenagentur vor, die keine zehn Zeilen lang war.
»Blödsinn, deine Kollegenübertreiben wieder einmal. Wenn da was Ernstes dran wäre, dann hätten sie michnoch in der Nacht aus den Federn geholt. Ich bin auf dem Weg ins Büro. Sobaldich etwas weiss, rufe ich dich zurück.« Er mochte diese Journalistin wirklichgern, doch warum musste sie ihn mit solch einem Kram aufschrecken, noch bevor eran seinem Schreibtisch sass?
*
Bedrückt und verärgertwar er am vorigen Nachmittag von Hrastovlje nach Triest zurückgefahren. Weshalbhatte Zˇiva ihn so schnöde abblitzen lassen? Gute Freunde! Er war dochkeine sechzehn mehr. Und schliesslich hatte sie immer darauf bestanden, keineengere Bindung eingehen zu wollen. So lautete ihre Abmachung, denn seine Frauhätte Laurenti nie verlassen. Er liebte Laura, und die Affäre mit Zˇivahatte absolut nichts mit seiner Ehe zu tun. Er war glücklich verheiratet, die kleineKrise vor ein paar Jahren war längst überwunden. Proteo hatte seiner Frauumgehend den widerlichen Versicherungsmakler, mit dem sie geflirtet hatte,verziehen. Ein Ausrutscher. Damals begann aber auch seine Affäre mit derkroatischen Staatsanwältin. Doch es war von Anfang an klar gewesen, dass es eineAffäre bleiben sollte. Zˇiva selbst hatte darauf bestanden. Und heutehatte sie genau aus diesem Grund mit ihm Schluss gemacht. Laurenti hieb vorÄrger mit der Faust auf das Lenkrad von Lauras neuem Fiat.
Diesmal war an demkleinen Übergang der Schlagbaum auf der italienischen Seite zu. Er wartete undhupte verärgert, als sich kein Grenzbeamter blicken liess. »Die sind überallgleich«, fluchte er vor sich hin. »Egal an welcher Grenze der Welt. Überallterrorisieren sie die Reisenden mit ihrer Unfreundlichkeit. Und wehe, man machtdas Maul auf. Scheisszöllner.« Er hupte länger. In seinem Dienstwagen hätte erdie Sirene aufheulen lassen, dann wäre rasch Bewegung in die Sache gekommen.Aber hier passierte gar nichts. Er fragte sich, wie lange es wohl dauern würde,bis die Herren ihren Mittagsschlaf beendet hatten. Vielleicht wollten siegeweckt werden! Diesmal liess er die Hand lange auf der Hupe. Endlich öffnetesich die Tür des kleinen Gebäudes zu seiner Rechten, und zwei Uniformiertetraten heraus. Der eine hielt eine Maschinenpistole im Anschlag und baute sichvor dem rechten Kotflügel auf, während der andere Beamte langsam um den Wagenherumging, einen kleinen Moment am Heck verharrte und dann zu Laurenti kam, dermit geöffnetem Seitenfenster wartete.
»Ihren Ausweis«, sagteder Grenzpolizist.
»Ihren Ausweis, bitte«,äffte ihn Laurenti nach und reichte ihm das Dokument. »Es wurde auch langsamZeit. Der kalte Krieg ist vorbei.«
Ohne Mimik studierte derMann Laurentis Identitätskarte, als gäbe es da eine spannende Lebensgeschichtezu lesen. Das Dokument war gültig, das Foto so eindeutig, dass es selbst einenAnalphabeten überzeugen musste. Doch dieser Kerl mit Leseschwäche brauchte eineEwigkeit, um die Angaben seiner Personalien auf dreizehn Zeilen, seineUnterschrift und den Stempel samt Ausstellungsdatum zu dechiffrieren.
»Was?« fragte erschliesslich, ohne das Dokument aus der Hand zu geben.
»Was was?« fragteLaurenti genervt zurück.
»Was langsam Zeit wurde?«
»Sie lassen IhreKundschaft verdammt lange warten. Vor zwei Stunden war niemand von euch zusehen, und jetzt ist der Schlagbaum zu, aber es kommt niemand, wenn man ihnbraucht. Finden Sie das in Ordnung?«
»Öffnen Sie denKofferraum.«
»Man sagt: Bitte. Ein bisschenHöflichkeit schadet nie. Und ausserdem gibt es keine Beschränkungen desWarenverkehrs mehr, seit Slowenien in der Europäischen Union ist.«
»Öffnen Sie.« Der Beamtebeharrte mit steinernem Gesichtsausdruck auf seiner Forderung.
»Das geht hier zu wie amEisernen Vorhang, mein Herr.« Laurenti drückte den Knopf am Armaturenbrett undmachte keine Anstalten auszusteigen. »Schauen Sie selbst. Aber vergessen Sienicht, dass ich nicht die geringste Lust habe, den ganzen Nachmittag in Ihrergesprächigen Gesellschaft zu verbringen.«
»Sie sollten auf IhreWorte achten, Signore.« Der Grenzpolizist, der sein Sohn hätte sein können,schaute ihn trotzig an. »Das Gesetz sagt, dass wir im Verdachtsfall nachschauenmüssen.«
»Und welchen Verdachthaben Sie, Herr Innenminister?«
Ein Wagen fuhr heran, derandere Mann öffnete den Schlagbaum und winkte ihn durch. Dann kam er langsamherüber, hielt aber wie bisher zwei Meter Distanz, die Maschinenpistole stur imAnschlag. Offensichtlich wollte er dem Gespräch als Zeuge folgen.
»Und den lassen Sieeinfach durchfahren? Sagen Sie dem Pistolero wenigstens, er soll seine Waffeeinstecken.« Laurenti zeigte auf ihn. »Ich tu euch schon nichts.«
»Das Gesetz regelt auchdie Punkte Beamtenbeleidigung und Widerstand gegen die Staatsgewalt.«
»Ich weiss«, sagteLaurenti. »Und es regelt auch den Umgang der Beamten mit Zivilpersonen. Siehaben inzwischen mehrfach dagegen verstossen.«
Der Mann zuckte nichteinmal mit der Wimper, sondern ging langsam zum Heck des Wagens und öffnete dieKofferraumklappe. Er warf einen kurzen Blick hinein, Laurenti hörte, wie er dieMatte über dem Reserverad anhob und anschliessend die Heckklappe wieder schloss.Laurenti war froh, dass Laura noch nichts in ihrem neuen Wagen deponiert hatte.Als sie ihn vor ein paar Tagen beim Händler abgeholt hatten, waren sie langedamit beschäftigt gewesen, den ganzen Kram aus dem alten Auto hinüberzupacken,und hatten sogar einen kleinen Streit, als Laurenti fragte, ob sie einenZweitwohnsitz im Kofferraum eingerichtet habe. Aber ganz offensichtlich hieltsie den neuen Punto in Ehren und hatte den Krempel zu Hause wieder ausgeladen.
Jetzt kamen zwei Wagenaus der Gegenrichtung und wurden wieder ohne Kontrolle durchgewinkt.
»Steigen Sie aus«, sagteder Grenzer.
»Das geht jetzt schoneine Viertelstunde so, plus die zehn Minuten, die ich auf euch warten musste.Beamtenwillkür.«
»Steigen Sie aus, habeich gesagt.«
»Was suchen Sieeigentlich?«
Keine Antwort.Widerwillig folgte er der Anordnung.
»Was machen Sie übrigens,wenn die Grenze endgültig fällt? Gastronomie? Betriebsberater fürServiceverbesserung?« fragte Laurenti.
Der Grenzpolizist beugtesich in den Wagen und schaute unter die Sitze, dann ins Handschuhfach, undschliesslich zog er den Hebel für die Motorhaube.
»Es ist doch eindeutig,dass Sie mich schikanieren wollen.« Laurenti war nun endgültig bedient. »ZeigenSie mir Ihren Dienstausweis.«
Keine Reaktion.
»Name und Dienstgrad,Dienstnummer.«
Der Kerl beachtete ihneinfach nicht. Laurenti nahm sich vor, seinen Kollegen von der Grenzpolizeinach den Ausbildungsrichtlinien zu fragen. Darin musste ganz sicher eineAnweisung zu finden sein, die den Beamten jegliche Freundlichkeit untersagte.Noch nie in seinem ganzen Leben hatte er je einen von ihnen lächeln gesehen oderein freundliches Wort von ihnen gehört. Danke und Bitte waren gewiss striktverboten, und die typische Geste war ein Zeichen mit dem Kinn, mit dem dieWeiterfahrt befohlen wurde. Internationaler Standard.
»Fahrzeugpapiere«, sagteder Beamte und schnippte mit dem Finger.
»Es heisst: Bitte. Ichhabe es Ihnen schon einmal gesagt.« Laurenti wusste nicht, wo Laura die Papierehatte. Er schaute hinter der Sonnenblende nach und dann im Handschuhfach.Nichts.
»Das ist der Wagen meinerFrau«, sagte er. »Ich weiss nicht, wo sie sind.« Er griff zu seinem Mobiltelefonund wollte ihre Nummer wählen.
»Wie heisst ihre Frau?«
Er nannte ihren Namen.
»Anschrift?«
»Bitte!«
»Anschrift?«
»Schauen Sie in meinenPersonalausweis, verdammt noch mal. Ich habe doch gesagt, dass sie meine Frauist.«
Der Beamte schlendertenach vorne und öffnete die Motorhaube. Es schien, als studierte er jedeeinzelne Schraube. Schliesslich notierte er die Fahrgestellnummer und verschwandgemächlich in dem kleinen Grenzgebäude. Offensichtlich wollte er ihm wirklichdas Leben schwermachen und würde jetzt in aller Gemütsruhe und mit zwei Fingerndie Daten in den Computer eingeben.
Diesmal passierten fünfAutos, ohne dass der andere Grenzer auch nur einen Blick auf die Insassen warf.
Laurenti liess sich wiederauf den Fahrersitz fallen und rief schliesslich Laura an. Natürlich hatte siedie Wagenpapiere in ihrer Handtasche. Laurenti schnaubte wütend. Warum konntesie sie nicht, wie jeder normale Mensch, im Auto deponieren? Jetzt hatte dieserKleinkrämer von Grenzpolizist wirklich seinen Triumph. Und dann fragte Laura,wann er zurückkäme. Sie wartete im Büro ihres Versteigerungshauses auf ihn undbrauchte den Wagen, um nach Hause zu fahren. Sie wollte sich noch umziehen,bevor sie zum Abendessen gingen. Laurenti erinnerte sich nicht, dass sie etwasvorhatten, aber jetzt wollte er sie nicht danach fragen. Er verabschiedete sichund wählte hastig die Nummer seines Büros. Marietta antwortete erst nach demachten Klingeln. Hektisch gab er ihr die Anweisung, sofort am kleinenGrenzübergang von Prebenico anzurufen und zu intervenieren.
»Was machst du eigentlichauf der anderen Seite der Grenze?« fragte seine Assistentin. Ihre Stimme klangschnippisch.
Es war zum Heulen. Erhätte es wissen müssen. Um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, hatte er ihn ineine andere gesteckt. Dass Marietta sich diese Chance nicht entgehen lassenwürde, war klar. Wenn nicht heute, dann würde sie in den nächsten Tagennachbohren. Obgleich sie trotz aller Bemühungen nie nachweisen konnte, dass erein Verhältnis mit Zˇiva hatte, war sie sich dessen sicher und stellteununterbrochen Fallen, die Laurenti sorgsam zu umgehen wusste. Aber damit war esjetzt ohnehin vorbei. Seit einer Stunde. Seit Zˇiva ihm den Laufpassgegeben hatte.
Der Grenzpolizist kamwieder zurück. Zu allem anderen schien er auch Rekordhalter im Langsamgehen zusein. Auf halbem Weg hielt er inne, das Telefon im Büro schrillte bis auf dieStrasse hinaus. Schliesslich machte er kehrt, beschleunigte aber trotz desKlingelns nicht. Laurenti sah, wie die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.
Diesmal passierten siebenFahrzeuge, ohne kontrolliert zu werden. Und dann geschah das Wunder vom Karst:Der Grenzer rannte beinah. Laurenti fürchtete, dass er mit den Absätzen eineBremsspur auf den Asphalt legen würde, ehe er die Hacken zusammenschlug undsalutierte.
»Warum haben Sie es nichtgesagt, Commissario?« Artig reichte er ihm den Personalausweis. »EntschuldigenSie. Ich wollte Ihnen keine Umstände machen.« Er warf seinem Kollegen einen verlegenenBlick zu, worauf dieser die Maschinenpistole umschnallte und den Schlagbaumöffnete.
»Anordnung aus Rom. Esist die Woche der Selbstkontrolle«, log Laurenti. »Wir überprüfen alleBeamten.«
»Ich habe mich lediglichan die Vorschriften gehalten, Commissario.« Der Kerl stand stramm wie eineStrassenlaterne.
»Kennen Sie den Vorteildes Schengener Abkommens?« fragte Laurenti, während der Mann ihn erwartungsvollanschaute und den Kopf schüttelte. »Einer von uns beiden wird seinen Jobwechseln müssen, wenn die Grenzkontrollen fallen.« Er startete den Motor undwollte die Tür schliessen.
»Entschuldigung,Commissario.«
»Bitte«, sagte Laurenti.
»Danke, Commissario.«
»Es heisst: Bitte! Dassollten Sie sich umgehend angewöhnen, Agente.«
»Danke, Commissario. Aberwenn Sie gestatten, dann würde ich gerne empfehlen, dass Sie gleich dasRücklicht reparieren lassen, Commissario.« Wieder salutierte der Mann.
»Welches Rücklicht?«
»Es ist kaputt. Schade umden neuen Wagen. Bitte.«
Laurenti fuhr grusslos undmit quietschenden Reifen davon. Er war spät dran und musste Laura das Autozurückbringen. Ins Büro würde er an diesem Nachmittag nicht mehr gehen.Marietta hatte gesagt, dass nichts Besonderes vorlag. »Triest schläft amhellichten Tag«, meinte sie. »Es hat sich nichts verändert. Ich hoffe, dasswenigstens du dein Vergnügen hattest.«
*
Er spürte die Aufregungbereits vor der Questura, als er aus dem Wagen stieg. Mehr Uniformierte alsgewöhnlich standen vor ihren Einsatzfahrzeugen oder fuhren gerade weg. Selbstdie Möwen, die stets in der Nähe der Müllcontainer auf Beute lauerten und mitihrem spöttischen Geschrei den dichten Verkehr übertönten, hatten sich insicherer Entfernung auf den Stufen des Teatro Romano niedergelassen wiezahlende Gäste bei der Aufzeichnung einer Soap opera. Laurenti war schnell aufdem laufenden und eilte die drei Treppen hoch in sein Büro. Pina Cardareto, dieehrgeizigste Inspektorin in seiner Abteilung, hatte die Sache in die Handgenommen, war bereits vom Tatort zurück und telefonierte mit den Spezialistenvom Erkennungsdienst, als er hereinstürmte. Sie machte ein Zeichen, dass sie insein Büro käme, sobald sie aufgelegt hätte. Die Kleine war eifrig, das gefielLaurenti. Warum sollte eigentlich er sich immer mit allem herumschlagen, wo esdoch Kollegen gab, die nach oben strebten? Ein bisschen erinnerte sie in ihremEngagement an seine Anfänge, als er, nach weiss der Teufel wie vielenVersetzungen, in Triest gelandet war und sich in seinem ersten grossen Fallgleich eine blutige Nase geholt hatte. Aber das war lange her.
Wie jeden Morgen brachteMarietta ihm mit einer Tasse Espresso gleich die Liste der zu erledigendenDinge sowie den Bericht des Streifendienstes von der letzten Nachtschicht. DerBombenanschlag dominierte alle Aufzeichnungen, doch über ihn würde er sich vonPina aus erster Hand berichten lassen. Laurenti überflog die restlichenMeldungen, aber abgesehen von drei Anrufen wegen Lärmbelästigung vor der»Malabar« auf der Piazza San Giovanni, die ihm gleich ins Auge fielen, warnichts Erwähnenswertes verzeichnet. Warum litten die Spiesser eigentlich immerund überall an Schlaflosigkeit? Die Konjunktur war im Keller, dasWirtschaftswachstum stagnierte, die Arbeitslosigkeit stieg - doch dass in Triestjemand vor Sorgen keinen Schlaf fand, hielt Laurenti für unmöglich. Die Stadtwar wohlgenährt und erst vor kurzem von der wichtigsten Finanzzeitung auf Platzeins in Sachen Lebensqualität gewählt worden. Worüber regten sich die Leutealso auf?
Am vergangenen Abend warer mit seiner Frau auf der Piazza San Giovanni gewesen, wo unter dem Motto»Haute Cuisine auf der Piazza« bewiesen werden sollte, dass auch gutes Esseneinfach zuzubereiten war. Ihr Sohn Marco ging bei der Veranstaltung Ami Scabarzur Hand, die eine der vier international renommierten Küchenchefs war: Ausserder Triestinerin hatten noch der Spanier Antonio Gras aus Murcia, die KatalaninMontsé Estruch aus Barcelona und Tomaz Kavcˇicˇ aus dem Vippachtalihr Können unter Beweis gestellt. Marco hatte gerade das erste Ausbildungsjahrhinter sich und war nach wie vor von seiner Berufsentscheidung begeistert.Seinen Eltern hatte er seit Wochen voller Stolz die Idee des Abendsvorgetragen, bei dem er assistieren durfte, sowie Freikarten für sie besorgt.Selbst der Himmel riss auf, und die schweren Wolken, die am Nachmittag noch überder Stadt gehangen hatten, entluden sich nur über dem Hinterland. AbMitternacht leerte sich die Piazza allmählich, endlich kamen auch die Köche zumEssen, und Walter, der Wirt der »Malabar«, entkorkte die besonderen Flaschen,die er für die Kollegen reserviert hatte. Als etwas später die dumpfeDetonation aus nicht allzu grosser Entfernung zu hören war, schauten alle nurkurz auf und wandten sich rasch wieder ihren Gläsern und Gesprächen zu. Mit demersten Licht der Morgendämmerung fuhren die Laurentis stadtauswärts nach Hause.Mit Verkehrskontrollen war um diese Zeit kaum mehr zu rechnen.
»Der Questore hat eineSitzung für zehn Uhr anberaumt, der Präfekt um Mittag«, sagte Marietta, »ichnehme an, der Chef will euch einstimmen, bevor es zum Oberchef geht. Sonstgibts nichts, ausser dass ich gerne den Nachmittag freinehmen würde, wenn einmalin dieser Saison die Sonne scheint.« Marietta nahm seine Tasse und stand auf.
»Wird das Sonnenbaden amNudistenstrand mit den Jahren nicht ein bisschen unästhetisch?« murmelteLaurenti, warf Marietta einen hämischen Blick zu und griff nach den Akten aufseinem Tisch. »Ich meine, ihr kennt euch alle doch seit einer Ewigkeit.« SeitJahren zog er sie mit ihrer Leidenschaft nach nahtloser Tiefenbräunung auf, undseit Jahren war sie davon überzeugt, dass er nur eifersüchtig war.
»Das hängt ganz von derBegleitung ab, Chef.« Marietta setzte eines ihrer charmantesten Lächeln auf undschloss die Tür hinter sich.
»Hast du schon wiedereinen Neuen?« rief Laurenti hinter ihr her.
Die Tür öffnete sichwieder, Marietta lächelte verwegen. »Einen guten alten und einen wilden neuen.Wer zu spät kommt, der hat keine Geschichten. Und warum sollt eigentlich nurihr Männer Spass am Leben haben? Ich habe viel von dir gelernt, Proteo.«
Dann war die Türendgültig zu. Laurenti kannte seine Assistentin länger als seine Frau. Und erhatte sich auch damit abgefunden, von ihr durchschaut zu werden. Sie wusstealles über ihn, auch wenn er sorgfältig darauf achtete, sich nicht zu verraten.Und beizeiten meinte sie sogar, seine Geheimnisse schon von seiner Launeableiten zu können. Es hatte keinen Sinn, sich dagegen zu wehren. Doch diesmalkonnte sie noch nicht auf dem laufenden sein. Es war ihm schon immer leichtergefallen, die schlechten Nachrichten besser zu verheimlichen als die guten.Laurenti sah Zˇiva vor sich, wie sie ihm gestern in dem leeren Gasthausbei Hrastovlje charmant lächelnd den Laufpass gegeben hatte.
Er schüttelte heftig denKopf, als könnte er sich damit von diesem Gedanken befreien, und überfloglustlos die Seiten über die Bombenexplosion der letzten Nacht, als Pinahereinstürmte. Wach, ausgeschlafen, unverkatert und ehrgeizig. Sie würde sichereine steile Karriere machen, an Laurenti vorbeifliegen wie ein Ferrari an einemCinquecento, und hoffentlich nie so rasant befördert werden, wie sie esanstrebte, solange Laurenti noch nicht pensioniert war. Kleingewachsene Chefswaren überall unerträglich. Aber die Inspektorin hatte in ihrer persönlichenKarriereplanung gewiss das Innenministerium als unterste Karrierestufe im Kopf,wenn sie nicht gar Päpstin werden wollte oder Chefin einer Weltbehörde zurAusrottung alles Bösen.
Pina legte ungefragt los.Laurenti wusste, dass sie kein Detail auslassen würde. Er gab seinem Stuhl einenStoss, rollte einen Meter zurück, legte die Füsse auf die Schreibtischplatte undverschränkte die Arme hinter seinem Kopf.
»Die M75 ist ein Reliktder Doppelmonarchie, bereits 1909 wurden Granaten dieser Bezeichnung hergestelltund in den Folgejahren weiterentwickelt. Hier handelt es sich um eineSplittergranate, die im ehemaligen Jugoslawien produziert wurde, in Bugojno inZentralbosnien. Sie hat einen Kunststoffmantel, aus dem bei der Explosionzweitausendfünfhundert Kugeln schiessen. Sie ist nicht so wahnsinnig laut, aberdie Detonationskraft enorm. Gegen ein Uhr dreissig wurde sie von der Scala deiGiganti oberhalb der Einfahrt der Galleria Sandrinelli gezündet und, derEntfernung nach zu schliessen, von einem vermutlich guttrainierten Mann auf dieVia Pellico hinuntergeworfen. Man kann von Glück sagen, dass in diesem Momentkein Wagen aus dem Tunnel kam. So wurden lediglich drei geparkte Autosdemoliert und die Haustür des Palazzo, vor dem sie losging.«
»Und warum hat man daserst fünf Stunden später bemerkt? Das Ding explodierte schliesslich nicht in derPeripherie, sondern in der Stadtmitte.«
Pina versuchte erst garnicht ihr Grinsen zu verstecken. »Ausserhalb wäre es sofort gemeldet worden.Aber hier? Nicht nur, dass es gerade vierhundert Meter zur Questura sind, in demHaus wohnt auch noch ein hochrangiger Kollege. Selbst er hat nichts bemerkt.Das kann auch nur in Triest passieren, wo jedem alles scheissegal ist, solangees nicht ihn selbst betrifft.« Pina, die aus einer kleinen kalabrischenLandgemeinde stammte, hatte die Vorzüge der Stadt noch immer nicht zu schätzengelernt.
»Da explodiert mitten imZentrum eine Granate, und niemand kriegt das mit?« Laurenti schüttelteungläubig den Kopf. »Haben Sie mit den Streifenbeamten gesprochen? Dem Leiterdes Schichtdienstes?«
»Die schlafen jetzt. Dasgenügt am Nachmittag.« Pina hatte im Gegensatz zu ihrem Chef Mitgefühl für dierangniedrigeren Kollegen. Ihre Mundwinkel zuckten leicht, sie hielt einenAugenblick inne, bevor sie fortfuhr. »Übrigens war das höchstens zweihundertMeter von der Gran Malabar entfernt, in der Sie zu der Zeit noch gesehenwurden, Chef.«
Laurenti nahm abrupt dieFüsse vom Tisch, stützte die Ellbogen auf und beugte sich zu Pina hinüber. Esgefiel ihm nicht, wie sie das Wort »Chef« ausgesprochen hatte. »Und was wollenSie damit sagen?« fragte er.
»Dass nicht einmal Sie dieExplosion gehört haben«, sagte Pina leicht errötend.
Laurenti winkte ab.»Also, fahren Sie fort, der Questore hat für zehn Uhr eine Sitzung anberaumt.Gibt es einen Zusammenhang mit den Schiessereien der letzten Wochen?«
Pina hob die Achseln.»Nicht auszuschliessen.«
»Hat nicht dieserKollege, vor dessen Haustür das Ding explodiert ist, in der serbischen Gemeindeermittelt?«
»Ich würde nichtbehaupten wollen, dass es ihm gegolten hat, nur weil die Granate aus demehemaligen Jugoslawien stammt. Bis vor ein paar Jahren war es nun wirklich einleichtes, an deren ehemalige Armeebestände zu kommen.«
»Aber ausschliessen könnenSie das auch nicht.«
»Die Kollegen vomStreifendienst sind übrigens nicht glücklich darüber, dass ihnen dieErmittlungen entzogen und uns übertragen wurden.«
»Ich wette, dass auch IhreKollegen nicht darüber glücklich sind«, sagte Laurenti. »Fahren Sie fort.«
Pina fasste zusammen, waser ohnehin schon wusste. Doch Laurenti liess sie reden. Vor kurzem war in der ViaVecellio auf einen Wagen geschossen worden, wobei zwei der fünf Insassenverletzt wurden. In Triest lebende Serben, die bereits vor Jahren in eineErmittlung wegen Drogenschmuggels aus Bulgarien verwickelt waren. Beidebefanden sich inzwischen ausser Lebensgefahr, doch reden wollten sie nicht.Sieben Tage später dann Schüsse auf das Wohnungsfenster eines Sizilianers, derebenfalls die Klappe hielt. Nach anfänglichen Spekulationen der Tagespressedarüber, was in »Balkantown«, dem Viertel nahe dem Ospedale Maggiore, vor sichging, wobei von Vendetta, Schutzgeld, Mafia und Camorra zu lesen war, gab esnur eine Gewissheit. Sowohl der Serbe als auch der Sizilianer waren imBaugewerbe tätig. Wahrscheinlich handelte es sich um den Anschlag einesunzufriedenen Kunden.
Natürlich fiel zunächsteinmal ein schlechtes Licht auf alle Serben. Die Presse sprach von offiziellsechstausend Mitgliedern dieser Gemeinde in der Stadt, die seit dem Balkankriegaber mindestens fünfzehntausend Köpfe zählte, die alle verzweifelt versuchten,in Westeuropa ein besseres Auskommen zu erwirtschaften. Morgens standen oftHunderte Männer an der Piazza Garibaldi, in der Hoffnung, sich für Hungerlöhneverdingen zu können, und sogar von fremdenfeindlichen Hetzern angeheuertwurden, wenn es nur darum ging, Geld zu sparen.
Laurenti hörte sich PinasBericht zu Ende an. Für die Sitzung wusste er genug. Es war absehbar, dass derChef sich mit leerem Gesicht informieren lassen und anschliessend die Anordnunggeben würde, in den nächsten Wochen wiederholt Razzien in Balkantowndurchzuführen, eventuell sogar in Zusammenarbeit mit Spezialeinheiten, die ervon aussen rufen würde. Es war klar, dass dabei nichts herauskommen würde, ausserder Ausweisung einer Handvoll verzweifelter Menschen, die keine offizielleAufenthaltsgenehmigung hatten. Die, um die es wirklich ging, würden mitSicherheit nicht ins Netz gehen. Wer wusste schon, wer sie waren? Sie wurdenmeist rechtzeitig gewarnt und waren nicht so blöde, bei einer normalen Razziaaufzufliegen. Da erwischte es immer nur jene, für die der ganze Aufwand nichtlohnte und für die sich unter normalen Umständen ohnehin niemand interessierte,ausser als Billigarbeiter. Das alte Lied.
Obwohl alles gesagt war,machte Pina keine Anstalten, sein Büro zu verlassen. Die Inspektorin bliebeinfach sitzen, nur ihr Blick hatte sich verändert. Die ganze Lebhaftigkeit wareiner unübersehbaren Bedrücktheit gewichen. Sie hielt sich mit verkrampftenHänden an der Sitzfläche ihres Stuhls fest, als hätte sie Angst abzuheben. DieSehnen zeichneten sich deutlich auf ihren kräftigen Armen ab.
»Ist noch was?« fragteLaurenti misstrauisch.
»Ich brauche Ihren Rat«,sagte Pina leise. »Ganz privat.«
© Zsolnay Verlag
- Autor: Veit Heinichen
- 5. Auflage, 320 Seiten, Masse: 13,6 x 21,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Paul Zsolnay Verlag
- ISBN-10: 3552054146
- ISBN-13: 9783552054141
- Erscheinungsdatum: 04.08.2007
Ingeborg Sperl, Der Standard, 28.07.2007
"Heinichen hat sich eine Lesergemeinde erschrieben, die seine Italien-Krimis für raffinierter hält als die von Donna Leon." Volker Hage u.a., Der Spiegel, 20.08.07
"Atmosphärisch dicht - und ein Finale der Extraklasse gibt's obendrauf." Brigitte, 10.10.07
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