Tote Stille
New Orleans: Bei den Aufräumarbeiten nach einem Hurrikan macht die Polizei einen grausigen Fund: In einem alten Kühlschrank werden sechs abgehackte Frauenhände gefunden. Ermittlerin Captain Patti O'Shay gerät schon bald auf die Spur eines gefährlichen Serienmörders.
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Produktinformationen zu „Tote Stille “
New Orleans: Bei den Aufräumarbeiten nach einem Hurrikan macht die Polizei einen grausigen Fund: In einem alten Kühlschrank werden sechs abgehackte Frauenhände gefunden. Ermittlerin Captain Patti O'Shay gerät schon bald auf die Spur eines gefährlichen Serienmörders.
Gerade erst hat der Hurrikan die Stadt verwüstet, da macht die Polizei von New Orleans eine grausige Entdeckung: In einem alten Kühlschrank liegen sechs rechte Frauenhände. Wer hat die kranke Tat begangen? Alles weist auf den 'Handyman' hin: ein Serienkiller, der auch Captain Patti O'Shays Ehemann auf dem Gewissen hat. Ein dramatischer Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Patti muss dem Wahnsinnigen das Handwerk legen, ehe sie sein nächstes Opfer wird ...
Lese-Probe zu „Tote Stille “
Tote Stille von Erica Spindler Kapitel 1 New Orleans, Louisiana Sonntag, 28. August 16:00 Uhr
Die Götter hielten ihre schützende Hand über New Orleans. Jedenfalls sah es so aus. Wie sonst hätte diese traditionsreiche Stadt unterhalb des Meeresspiegels, dieses Juwel mitten im Sumpf, überleben können?
Überleben der Arten. Der Stärkeren. Des eigenen Ichs. Der instinktive Wille, um sein Leben zu kämpfen. Sich zur Wehr zu setzen.
Würde sie sich zur Wehr setzen? Geh zur Tür. Öffne sie.
Dort war sie. Sie lag auf dem Bett. Schlafend.
Miststück. Billige, treulose Hure!
Sie hat es verdient. Sie hat dich verraten. Dein Herz gebrochen.
Sie bewegte sich. Seufzte. Ihre Augenlider flatterten. Schnell. Geh zum Bett hinüber. Leg deine Hände um ihren Hals und drück zu.
Sie riss die Augen auf. Nackte Angst im tiefen Blau. Sie bäumte sich auf und krallte sich fest.
Fester! Fester! Ihre Schuld. Ganz allein ihre. Miststück! Verräterin!
Rote Flecken breiteten sich auf ihrer cremefarbenen Haut aus, verfärbten sich blau. Ihre Augen traten hervor wie bei einer Zeichentrickfigur.
... mehr
Bloß kein Mitleid. Nicht lange überlegen. Sie hat es sich selbst zuzuschreiben. Sie verdient es nicht besser.
Ihre Hand fiel schlaff herab. Ein Zittern ging durch ihren Körper. Dann regte sie sich nicht mehr.
Fast geschafft. Atme tief durch. Beruhige dich. Bring zu Ende, was du tun musstest.
Ein Schrei durchdrang die Stille. Ein lautes Krachen, wie ein Gewehrschuss, erschütterte das Haus.
Das ist nur der Wind. Katrinas ungezügelte Wut. Mach, dass du wegkommst. Schnell! Jetzt kontrollier deine Ausrüstung. Schau nach, ob du alles hast, was du brauchst.
Reißfeste Müllbeutel. Gummihandschuhe und Stiefel. Einen wasserdichten Overall. Eine glänzende, neue Kettensäge. Eine sehr schöne Kettensäge.
Plastiktüte mit Reißverschluss.
Niemand kann dich hören. Keiner wird kommen. Alle sind gegangen.
Das hier ist eine menschenleere Stadt. Kapitel 2
Mittwoch, 31. August 15:00 Uhr
Das hier ist eine verdammte Geisterstadt, dachte Captain Patti O'Shay. Oder eine Szene aus einem Katastrophenfilm. Das Leben nach der Apokalypse.
Es gab weder Wagen noch Omnibusse. Kein Mensch lief mehr durch die Straßen; niemand saß mehr auf den Stufen vor seinem Haus. Es herrschte unheilvolle Stille.
Langsam fuhr Patti mit ihrem Wagen stadteinwärts über die Tchoupitoulas Street, wich umgestürzten Strommasten, abgerissenen Äste und umgeknickten Baumstämmen aus. Während sie sich krampfhaft auf die Straße konzentrierte, versuchte sie, ihre Erschöpfung und Verzweiflung zu ignorieren.
Katrina hatte zugeschlagen, und alle düsteren Prophezeiungen waren Realität geworden: Die Deiche waren gebrochen, und das Becken, in dem New Orleans lag, war vollgelaufen. Randvoll.
Neunzig Prozent der Innenstadt inklusive des Polizeipräsidiums standen unter Wasser. Nur die höher gelegenen Gebiete waren unbeschadet davongekommen: das French Quarter, Teile des Garden Districts und die Außenbezirke. Und diese Straße hier, die parallel zum Mississippi verlief.
Es gab keine Elektrizität mehr in der Stadt. Kein fließendes Wasser. Grundnahrungsmittel wurden langsam, aber sicher knapp. Und auch an geregelte Polizeiarbeit war schon längst nicht mehr zu denken. Ein großer Teil der Einsatzfahrzeuge lag völlig zerstört inmitten der Fluten.
All jene Einwohner, die nicht rechtzeitig ihre Häuser verlassen hatten, saßen jetzt in der Falle. Auf Hausdächern und in Dachwohnungen. Auf Highways und Brücken. Ohne Nahrung, Wasser oder medizinische Versorgung waren sie der mörderischen Hitze hilflos ausgeliefert.
Doch das war nicht die einzige Gefahr. Denn inzwischen wurden die Straßen von Plünderern, Junkies und Ganoven beherrscht.
Um überhaupt noch arbeiten zu können, hatte das New Orleans Police Department Harrah's Casino zur Einsatzzentrale umfunktioniert. Und das Royal Sonesta, eines der feinsten Hotels im French Quarter, diente vorübergehend als neues Polizeipräsidium.
Patti umklammerte das Lenkrad. Auch die gesamte Kommunikation war zusammengebrochen. Die Beamten des NOPD behalfen sich mit einer Handvoll Walkie-Talkies und einem provisorischen Funkkanal. Diesen Kanal mussten sie sich allerdings mit allen anderen Verwaltungsbehörden und der Bundespolizei teilen.
Leider verfügte das System über eine Konferenzschaltung, die seine Reichweite erheblich einschränkte. Fünf Meilen, dann war Schluss. Die Koordination von Einsätzen war auf diese Weise natürlich völlig unmöglich geworden.
Zu allem Überfluss redeten die Beamten oft gleichzeitig miteinander und sorgten so für das endlose Stimmengewirr, das auch in diesem Moment an Pattis Ohr drang - ein unaufhörlicher Strom von unzusammenhängenden Dienstgesprächen, Nachrichten und Alarmrufen.
Und dennoch: Irgendwie beruhigte Patti das Geräusch. Alles war besser als diese schreckliche Stille. Irgendwo da draußen gab es Überlebende, Menschen, die sich darum bemühten, die Normalität wiederherzustellen. Ein hörbarer Beweis, dass die Welt nicht untergegangen war.
Noch nicht. Denn Pattis Befürchtungen wurden mit jeder Sekunde größer.
Captain Sammy O'Shay, ihr Ehemann, wurde vermisst. Seit dem Sonntag vor dem Sturm hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Er schien spurlos verschwunden zu sein. Alle Polizisten waren angewiesen worden, während des Hurrikans im Dienst zu bleiben. Patti und Sammy hatten ge
meinsam meinsam die Frühmesse in der St. Louis Cathedral besucht. Anschließend waren sie getrennt auf Streife gegangen.
Sie erinnerte sich an die Vorahnung eines entsetzlichen Verlustes, die sie beim Verlassen der Kirche plötzlich überfallen hatte. Eine unbestimmte Furcht. Die Empfindung war so überwältigend, dass es ihr fast den Atem verschlug.
Sammy schaute sie an. „Was ist los, Darling?"
Sie schüttelte den Kopf. „Nichts."
Aber so einfach war Sammy nicht zu täuschen. Liebevoll ergriff er ihre Hand.
Er war immer ihr Fels in der Brandung gewesen, ihr Schutz vor allen Stürmen des Lebens.
„Wird schon nicht so schlimm werden, Patti. Spätestens ab Mittwoch läuft alles wieder normal."
Zum Abschied hatten sie sich umarmt. Und dann war die Hölle losgebrochen.
Heute ist Mittwoch, überlegte Patti. Und gar nichts läuft wieder normal. Ganz im Gegenteil.
Wo ist Sammy?
Trotz der schwülwarmen Luft, die durch die heruntergelassenen Scheiben des Streifenwagens drang, fröstelte Patti. Entschlossen schüttelte sie den Kopf, als könnte sie damit ihre Furcht und die Vorahnung verdrängen.
Sammy ging es gut. Er war nach Hause gegangen, um nach dem Rechten zu sehen, und dabei hatte ihm eine Flutwelle den Weg abgeschnitten. Oder er saß in der Falle, weil er versucht hatte, anderen Bewohnern bei der Flucht zu helfen. Typisch Sammy eben.
Schließlich war er ja Polizist und auch sonst nicht auf den Kopf gefallen. Wenn er tatsächlich verletzt war und Hilfe brauchte, wusste er, wo er sie bekommen konnte. Nein - Sammy ging es gut. Sammy war am Leben. Aber so viele wurden vermisst. So viele waren tot.
Das Walkie-Talkie knackte und rauschte. In der Innenstadt standen viele Gebäude noch immer in Flammen, und das Feuer drohte, völlig außer Kontrolle zu geraten. Hunderte von Flüchtlingen drängten sich in öffentlichen Einrichtungen. Einige Superreiche hatten sich private Sicherheitskräfte mit dem Hubschrauber einfliegen lassen. Kurz darauf waren-angeblich die ersten Schüsse in der Nähe des Stadions gefallen.
Aber das waren alles nur Gerüchte. Alles nur unbestätigte Vermutungen, da die Kommunikation zusammengebrochen war.
Doch Patti brauchte Sicherheit. Wo ist Sammy?
Plötzlich wurde das Stimmengewirr von einem lang anhaltenden Kreischen unterbrochen. Das Geräusch ging ihr durch Mark und Bein. Wenn man den Notrufknopf des Radios gedrückt hielt, konnte man auf diese vorsintflutliche Weise die Frequenz für einen Hilferuf freischalten. Das durchdringende Geräusch signalisierte den anderen Benutzern, dass es sich um einen Notfall handelte. Mit viel Glück unterbrachen sie ihr jeweiliges Gespräch dann so lange, bis die entsprechende Meldung durch war.
„Polizist niedergeschossen. Wiederhole: Polizist niedergeschossen. Audubon Place. "
Mühsam unterdrückte Patti das Zittern ihrer Hände und griff nach dem Walkie-Talkie. „Hier Captain Patti O'Shay. Ich bin auf der Tchoupitoulas Street Richtung Jefferson Avenue. Wie komme ich am schnellsten zum Audubon Place? Bitte melden!"
Sofort ertönten von allen Seiten Ratschläge zu den passierbaren Straßen: Sowohl auf der Louisiana als auch auf der Jefferson Avenue war eine Fahrspur freigeräumt worden. Auf der St. Charles Avenue war es dann möglich, den Straßenbahngleisen zu folgen, die die Bagger erst kürzlich wieder freigeschaufelt hatten.
Audubon Place war einer der beeindruckendsten Orte von New Orleans, vielleicht sogar des ganzen Südens. An dem von hohen Zäunen und schmiedeeisernen Toren umgebenen Platz lagen achtundzwanzig Herrenhäuser. Hier residierten die wohlhabendsten und ältesten Familien von New Orleans - Industriebarone oder auch der Präsident der Tulane University.
Aufgrund ihrer leicht erhöhten Lage hatte die Gegend den Sturm nahezu unbeschadet überstanden. Ganz im Gegensatz zu jenen Gebieten, in denen die weniger begüterten Bewohner von New Orleans hausten.
Doch nun waren die Bewohner des Audubon Place in weniger gefährliche Gefilde geflohen, und die vornehmen Häuser standen verlassen da. Eine leichte Beute für Plünderer - und eine sehr ergiebige noch dazu.
Auf dem Weg dorthin überstürzten sich Pattis Gedanken. Vielleicht erwies sich die Durchsage als falsch - wie so viele in den vergangenen Tagen. Und wenn nicht - wer war der Officer? War er tot? Oder nur verletzt? Wie gravierend waren seine Verletzungen - und wie zum Teufel sollte sie einen Notfallwagen herbeirufen?
Endlich erreichte sie ihr Ziel. Ein anderer Streifenwagen war vor ihr eingetroffen. Und die Berichte über die Privatarmeen waren wohl doch keine Gerüchte gewesen.
Vier schwer bewaffnete Männer in Tarnanzügen standen auf dem Nachbargrundstück unter einer prachtvoll geschwungenen Toreinfahrt. Um sie herum befand sich eine Ansammlung von Geländewagen und ein Bulldozer.
Patti kletterte aus dem Wagen. Die Beifahrertür des anderen Streifenwagens wurde geöffnet. Detective Tony Sciame, einer der Männer aus ihrem Team, stieg aus. Während seiner fast dreißig Jahre im Polizeidienst hatte er praktisch alles schon erlebt.
Langsam kam er auf sie zu. Seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, schien er um zehn Jahre gealtert.
Sie erwähnte es mit keinem Wort, denn ihr war klar, dass sie auf ihn genauso wirkte.
„Wie ist die Lage?", erkundigte sie sich.
„Keine Ahnung. Ich bin auch gerade erst eingetroffen. Sie wollen mich nicht näher heranlassen." „Wie bitte?"
„Sie sagen, dass sie das Viertel bewachen. Aus Angst um ihre Häuser haben die Anwohner einen privaten Sicherheitsdienst engagiert."
Mit Geld konnte man sich zwar keine Liebe kaufen, aber alles andere war zu haben - zu einem bestimmten Preis.
Auf dem Weg zu den Wächtern fiel Pattis Blick auf einen dritten Streifenwagen. Er stand ein paar Häuser weiter hinter dem Tor. Unvermittelt wurde ihr Herz schwer wie Blei.
„Wer ist hier verantwortlich?", fragte sie die Männer.„Ich. Major Stephens. Blackwater, USA."
„Captain Patti O'Shay, New Orleans Police Department." Sie zeigte ihre Dienstmarke. „Wir haben gehört, dass ein Polizist angeschossen wurde."
Sorgfältig prüfte Major Stephens ihren Ausweis, ehe er sie hineinwinkte. „Folgen Sie mir."
Er begleitete Patti zu dem dritten Streifenwagen auf der anderen Seite des Tors. Das Summen der Generatoren, die die Villen mit Strom versorgten, drang an ihr Ohr. So war es immer im Leben: Die Armen traf eine Katastrophe ungleich heftiger als die Reichen.
Und für die Superreichen war Katrina offenbar kaum mehr als eine kleine Unannehmlichkeit.
Das Opfer lag ein paar Meter vor dem Wagen - mit dem Gesicht nach unten im Schlamm.
„Keine Dienstmarke", erklärte Major Stephens. „Die Waffe ist auch verschwunden."
Während sie sich der Leiche näherten, wurde der Verwesungsgeruch intensiver. Trotz der Hitze hatte Patti eiskalte Hände.
„Es sieht so aus, als hätte man ihm mit einem schweren Gegenstand auf den Hinterkopf geschlagen", fuhr der Major fort. „Dann wurde auf ihn geschossen. Zwei Mal. In den Rücken."
Sie standen vor dem zusammengesunkenen Körper. Patti schaute auf den Toten hinunter. Ihr war schwindlig, und das Blut raste durch ihre Adern.
„Ist wahrscheinlich schon vor dem Sturm passiert. Die Verwesung ist schon ziemlich weit fortgeschritten", sagte Tony nach kurzem Zögern.
Patti öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, brachte aber keinen Ton heraus.
Sie kannte diesen Officer. Kannte ihn sehr gut. Lange hatten sie ihre Probleme, Hoffnungen und Träume geteilt. Fast dreißig Jahre waren sie miteinander verheiratet gewesen.
Das konnte nicht wahr sein.
Aber es war die Wahrheit.
Ihr Ehemann war tot.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2009 Cora Verlag GmbH & Co. KG
Ihre Hand fiel schlaff herab. Ein Zittern ging durch ihren Körper. Dann regte sie sich nicht mehr.
Fast geschafft. Atme tief durch. Beruhige dich. Bring zu Ende, was du tun musstest.
Ein Schrei durchdrang die Stille. Ein lautes Krachen, wie ein Gewehrschuss, erschütterte das Haus.
Das ist nur der Wind. Katrinas ungezügelte Wut. Mach, dass du wegkommst. Schnell! Jetzt kontrollier deine Ausrüstung. Schau nach, ob du alles hast, was du brauchst.
Reißfeste Müllbeutel. Gummihandschuhe und Stiefel. Einen wasserdichten Overall. Eine glänzende, neue Kettensäge. Eine sehr schöne Kettensäge.
Plastiktüte mit Reißverschluss.
Niemand kann dich hören. Keiner wird kommen. Alle sind gegangen.
Das hier ist eine menschenleere Stadt. Kapitel 2
Mittwoch, 31. August 15:00 Uhr
Das hier ist eine verdammte Geisterstadt, dachte Captain Patti O'Shay. Oder eine Szene aus einem Katastrophenfilm. Das Leben nach der Apokalypse.
Es gab weder Wagen noch Omnibusse. Kein Mensch lief mehr durch die Straßen; niemand saß mehr auf den Stufen vor seinem Haus. Es herrschte unheilvolle Stille.
Langsam fuhr Patti mit ihrem Wagen stadteinwärts über die Tchoupitoulas Street, wich umgestürzten Strommasten, abgerissenen Äste und umgeknickten Baumstämmen aus. Während sie sich krampfhaft auf die Straße konzentrierte, versuchte sie, ihre Erschöpfung und Verzweiflung zu ignorieren.
Katrina hatte zugeschlagen, und alle düsteren Prophezeiungen waren Realität geworden: Die Deiche waren gebrochen, und das Becken, in dem New Orleans lag, war vollgelaufen. Randvoll.
Neunzig Prozent der Innenstadt inklusive des Polizeipräsidiums standen unter Wasser. Nur die höher gelegenen Gebiete waren unbeschadet davongekommen: das French Quarter, Teile des Garden Districts und die Außenbezirke. Und diese Straße hier, die parallel zum Mississippi verlief.
Es gab keine Elektrizität mehr in der Stadt. Kein fließendes Wasser. Grundnahrungsmittel wurden langsam, aber sicher knapp. Und auch an geregelte Polizeiarbeit war schon längst nicht mehr zu denken. Ein großer Teil der Einsatzfahrzeuge lag völlig zerstört inmitten der Fluten.
All jene Einwohner, die nicht rechtzeitig ihre Häuser verlassen hatten, saßen jetzt in der Falle. Auf Hausdächern und in Dachwohnungen. Auf Highways und Brücken. Ohne Nahrung, Wasser oder medizinische Versorgung waren sie der mörderischen Hitze hilflos ausgeliefert.
Doch das war nicht die einzige Gefahr. Denn inzwischen wurden die Straßen von Plünderern, Junkies und Ganoven beherrscht.
Um überhaupt noch arbeiten zu können, hatte das New Orleans Police Department Harrah's Casino zur Einsatzzentrale umfunktioniert. Und das Royal Sonesta, eines der feinsten Hotels im French Quarter, diente vorübergehend als neues Polizeipräsidium.
Patti umklammerte das Lenkrad. Auch die gesamte Kommunikation war zusammengebrochen. Die Beamten des NOPD behalfen sich mit einer Handvoll Walkie-Talkies und einem provisorischen Funkkanal. Diesen Kanal mussten sie sich allerdings mit allen anderen Verwaltungsbehörden und der Bundespolizei teilen.
Leider verfügte das System über eine Konferenzschaltung, die seine Reichweite erheblich einschränkte. Fünf Meilen, dann war Schluss. Die Koordination von Einsätzen war auf diese Weise natürlich völlig unmöglich geworden.
Zu allem Überfluss redeten die Beamten oft gleichzeitig miteinander und sorgten so für das endlose Stimmengewirr, das auch in diesem Moment an Pattis Ohr drang - ein unaufhörlicher Strom von unzusammenhängenden Dienstgesprächen, Nachrichten und Alarmrufen.
Und dennoch: Irgendwie beruhigte Patti das Geräusch. Alles war besser als diese schreckliche Stille. Irgendwo da draußen gab es Überlebende, Menschen, die sich darum bemühten, die Normalität wiederherzustellen. Ein hörbarer Beweis, dass die Welt nicht untergegangen war.
Noch nicht. Denn Pattis Befürchtungen wurden mit jeder Sekunde größer.
Captain Sammy O'Shay, ihr Ehemann, wurde vermisst. Seit dem Sonntag vor dem Sturm hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Er schien spurlos verschwunden zu sein. Alle Polizisten waren angewiesen worden, während des Hurrikans im Dienst zu bleiben. Patti und Sammy hatten ge
meinsam meinsam die Frühmesse in der St. Louis Cathedral besucht. Anschließend waren sie getrennt auf Streife gegangen.
Sie erinnerte sich an die Vorahnung eines entsetzlichen Verlustes, die sie beim Verlassen der Kirche plötzlich überfallen hatte. Eine unbestimmte Furcht. Die Empfindung war so überwältigend, dass es ihr fast den Atem verschlug.
Sammy schaute sie an. „Was ist los, Darling?"
Sie schüttelte den Kopf. „Nichts."
Aber so einfach war Sammy nicht zu täuschen. Liebevoll ergriff er ihre Hand.
Er war immer ihr Fels in der Brandung gewesen, ihr Schutz vor allen Stürmen des Lebens.
„Wird schon nicht so schlimm werden, Patti. Spätestens ab Mittwoch läuft alles wieder normal."
Zum Abschied hatten sie sich umarmt. Und dann war die Hölle losgebrochen.
Heute ist Mittwoch, überlegte Patti. Und gar nichts läuft wieder normal. Ganz im Gegenteil.
Wo ist Sammy?
Trotz der schwülwarmen Luft, die durch die heruntergelassenen Scheiben des Streifenwagens drang, fröstelte Patti. Entschlossen schüttelte sie den Kopf, als könnte sie damit ihre Furcht und die Vorahnung verdrängen.
Sammy ging es gut. Er war nach Hause gegangen, um nach dem Rechten zu sehen, und dabei hatte ihm eine Flutwelle den Weg abgeschnitten. Oder er saß in der Falle, weil er versucht hatte, anderen Bewohnern bei der Flucht zu helfen. Typisch Sammy eben.
Schließlich war er ja Polizist und auch sonst nicht auf den Kopf gefallen. Wenn er tatsächlich verletzt war und Hilfe brauchte, wusste er, wo er sie bekommen konnte. Nein - Sammy ging es gut. Sammy war am Leben. Aber so viele wurden vermisst. So viele waren tot.
Das Walkie-Talkie knackte und rauschte. In der Innenstadt standen viele Gebäude noch immer in Flammen, und das Feuer drohte, völlig außer Kontrolle zu geraten. Hunderte von Flüchtlingen drängten sich in öffentlichen Einrichtungen. Einige Superreiche hatten sich private Sicherheitskräfte mit dem Hubschrauber einfliegen lassen. Kurz darauf waren-angeblich die ersten Schüsse in der Nähe des Stadions gefallen.
Aber das waren alles nur Gerüchte. Alles nur unbestätigte Vermutungen, da die Kommunikation zusammengebrochen war.
Doch Patti brauchte Sicherheit. Wo ist Sammy?
Plötzlich wurde das Stimmengewirr von einem lang anhaltenden Kreischen unterbrochen. Das Geräusch ging ihr durch Mark und Bein. Wenn man den Notrufknopf des Radios gedrückt hielt, konnte man auf diese vorsintflutliche Weise die Frequenz für einen Hilferuf freischalten. Das durchdringende Geräusch signalisierte den anderen Benutzern, dass es sich um einen Notfall handelte. Mit viel Glück unterbrachen sie ihr jeweiliges Gespräch dann so lange, bis die entsprechende Meldung durch war.
„Polizist niedergeschossen. Wiederhole: Polizist niedergeschossen. Audubon Place. "
Mühsam unterdrückte Patti das Zittern ihrer Hände und griff nach dem Walkie-Talkie. „Hier Captain Patti O'Shay. Ich bin auf der Tchoupitoulas Street Richtung Jefferson Avenue. Wie komme ich am schnellsten zum Audubon Place? Bitte melden!"
Sofort ertönten von allen Seiten Ratschläge zu den passierbaren Straßen: Sowohl auf der Louisiana als auch auf der Jefferson Avenue war eine Fahrspur freigeräumt worden. Auf der St. Charles Avenue war es dann möglich, den Straßenbahngleisen zu folgen, die die Bagger erst kürzlich wieder freigeschaufelt hatten.
Audubon Place war einer der beeindruckendsten Orte von New Orleans, vielleicht sogar des ganzen Südens. An dem von hohen Zäunen und schmiedeeisernen Toren umgebenen Platz lagen achtundzwanzig Herrenhäuser. Hier residierten die wohlhabendsten und ältesten Familien von New Orleans - Industriebarone oder auch der Präsident der Tulane University.
Aufgrund ihrer leicht erhöhten Lage hatte die Gegend den Sturm nahezu unbeschadet überstanden. Ganz im Gegensatz zu jenen Gebieten, in denen die weniger begüterten Bewohner von New Orleans hausten.
Doch nun waren die Bewohner des Audubon Place in weniger gefährliche Gefilde geflohen, und die vornehmen Häuser standen verlassen da. Eine leichte Beute für Plünderer - und eine sehr ergiebige noch dazu.
Auf dem Weg dorthin überstürzten sich Pattis Gedanken. Vielleicht erwies sich die Durchsage als falsch - wie so viele in den vergangenen Tagen. Und wenn nicht - wer war der Officer? War er tot? Oder nur verletzt? Wie gravierend waren seine Verletzungen - und wie zum Teufel sollte sie einen Notfallwagen herbeirufen?
Endlich erreichte sie ihr Ziel. Ein anderer Streifenwagen war vor ihr eingetroffen. Und die Berichte über die Privatarmeen waren wohl doch keine Gerüchte gewesen.
Vier schwer bewaffnete Männer in Tarnanzügen standen auf dem Nachbargrundstück unter einer prachtvoll geschwungenen Toreinfahrt. Um sie herum befand sich eine Ansammlung von Geländewagen und ein Bulldozer.
Patti kletterte aus dem Wagen. Die Beifahrertür des anderen Streifenwagens wurde geöffnet. Detective Tony Sciame, einer der Männer aus ihrem Team, stieg aus. Während seiner fast dreißig Jahre im Polizeidienst hatte er praktisch alles schon erlebt.
Langsam kam er auf sie zu. Seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, schien er um zehn Jahre gealtert.
Sie erwähnte es mit keinem Wort, denn ihr war klar, dass sie auf ihn genauso wirkte.
„Wie ist die Lage?", erkundigte sie sich.
„Keine Ahnung. Ich bin auch gerade erst eingetroffen. Sie wollen mich nicht näher heranlassen." „Wie bitte?"
„Sie sagen, dass sie das Viertel bewachen. Aus Angst um ihre Häuser haben die Anwohner einen privaten Sicherheitsdienst engagiert."
Mit Geld konnte man sich zwar keine Liebe kaufen, aber alles andere war zu haben - zu einem bestimmten Preis.
Auf dem Weg zu den Wächtern fiel Pattis Blick auf einen dritten Streifenwagen. Er stand ein paar Häuser weiter hinter dem Tor. Unvermittelt wurde ihr Herz schwer wie Blei.
„Wer ist hier verantwortlich?", fragte sie die Männer.„Ich. Major Stephens. Blackwater, USA."
„Captain Patti O'Shay, New Orleans Police Department." Sie zeigte ihre Dienstmarke. „Wir haben gehört, dass ein Polizist angeschossen wurde."
Sorgfältig prüfte Major Stephens ihren Ausweis, ehe er sie hineinwinkte. „Folgen Sie mir."
Er begleitete Patti zu dem dritten Streifenwagen auf der anderen Seite des Tors. Das Summen der Generatoren, die die Villen mit Strom versorgten, drang an ihr Ohr. So war es immer im Leben: Die Armen traf eine Katastrophe ungleich heftiger als die Reichen.
Und für die Superreichen war Katrina offenbar kaum mehr als eine kleine Unannehmlichkeit.
Das Opfer lag ein paar Meter vor dem Wagen - mit dem Gesicht nach unten im Schlamm.
„Keine Dienstmarke", erklärte Major Stephens. „Die Waffe ist auch verschwunden."
Während sie sich der Leiche näherten, wurde der Verwesungsgeruch intensiver. Trotz der Hitze hatte Patti eiskalte Hände.
„Es sieht so aus, als hätte man ihm mit einem schweren Gegenstand auf den Hinterkopf geschlagen", fuhr der Major fort. „Dann wurde auf ihn geschossen. Zwei Mal. In den Rücken."
Sie standen vor dem zusammengesunkenen Körper. Patti schaute auf den Toten hinunter. Ihr war schwindlig, und das Blut raste durch ihre Adern.
„Ist wahrscheinlich schon vor dem Sturm passiert. Die Verwesung ist schon ziemlich weit fortgeschritten", sagte Tony nach kurzem Zögern.
Patti öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, brachte aber keinen Ton heraus.
Sie kannte diesen Officer. Kannte ihn sehr gut. Lange hatten sie ihre Probleme, Hoffnungen und Träume geteilt. Fast dreißig Jahre waren sie miteinander verheiratet gewesen.
Das konnte nicht wahr sein.
Aber es war die Wahrheit.
Ihr Ehemann war tot.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2009 Cora Verlag GmbH & Co. KG
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Autoren-Porträt von Erica Spindler
Raised in Rockford, Illinois, New York Times bestselling author Erica Spindler went to university in New Orleans, where she now lives with her husband and two sons. She has won several awards for her fiction in the US and her books have been turned into graphic novels and a daytime drama in Japan.
Bibliographische Angaben
- Autor: Erica Spindler
- 2010, 464 Seiten, Masse: 12,6 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Rainer Nolden
- Verlag: MIRA Taschenbuch
- ISBN-10: 3899416759
- ISBN-13: 9783899416756
- Erscheinungsdatum: 22.12.2009
Rezension zu „Tote Stille “
"Eine faszinierende Geschichte voller überraschender Wendungen. Atemlos spannendes Lesevergnügen bis zur letzten Seite." www.romantictimes.com
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