Tel Aviv
Eine Stadterzählung
Eine junge Frau aus Deutschland in Tel Aviv, einer Stadt, wo Menschen unterschiedlichster Herkunft um eine neue Heimat und neue Lebensentwürfe ringen. Aber die Erzählerin belässt es nicht bei feiner Beobachtung und kluger Analyse oder beiläufigen...
Jetzt vorbestellen
versandkostenfrei
Taschenbuch
Fr. 11.90
inkl. MwSt.
- Kreditkarte, Paypal, Rechnungskauf
- 30 Tage Widerrufsrecht
Produktdetails
Produktinformationen zu „Tel Aviv “
Klappentext zu „Tel Aviv “
Eine junge Frau aus Deutschland in Tel Aviv, einer Stadt, wo Menschen unterschiedlichster Herkunft um eine neue Heimat und neue Lebensentwürfe ringen. Aber die Erzählerin belässt es nicht bei feiner Beobachtung und kluger Analyse oder beiläufigen Momentaufnahmen des Alltags. Ihre Phantasie, ihre surrealen Ausflüge machen die Stadt Tel Aviv zu einem magischen, zu einem poetischen Ort - fragil, flüchtig, schwebend -, der einzig gangbare Weg, um wirklich dort anzukommen.Katharina Hackers erstes Buch ist »eine Geschichte, die unbedingt zu erzählen ist und nicht für sich selbst, sondern um der Stadt willen«.
Lese-Probe zu „Tel Aviv “
Tel Aviv von Katharina Hacker Will man von einer Stadt sprechen, so kann man ihr Sätze anprobieren. Es gibt zappelige Städte, die immer schon woanders zu sein scheinen, während man doch den Satz noch gar nicht beendet hat. Vielleicht auch Städte, die immer größer werden, während man spricht, ausufern und mit einem Sprung vom Satz noch nie gehört haben. Ebenso indignierte Städte, denen man es nicht recht machen kann. Und wenn es all diese nicht gibt, so muss man doch ausprobieren, wie es wäre, wenn es sie gäbe, um vielleicht einen richtigen Satz zu finden.
Von einem richtigen Satz hängt alles ab. Das ist eine Überzeugung, der man unbedingt anhängen muss.
Da geht einer durch die Stadt und hält Leute an. Manchmal kommt es mir so vor, als gäbe es zu jeder Gegebenheit eine imaginierte, die am genauesten ausdrückt, was es mit dieser ersten auf sich hat. Er geht durch die Stadt, hält Leute an und erzählt ihnen eine ihrer imaginierten Gegebenheiten. Er kann das, obwohl er sie nicht kennt. Er sieht es, wie andere sehen, dass einer hinkt oder Ringe unter den Augen hat oder Blumen in der Hand.
... mehr
Wer das nicht kann, muss sich damit abfinden. Also sage ich: einige Ereignisse haben sich zugetragen. Und ich sage, es geht wirklich nicht darum, ob sie sich so oder anders zugetragen haben. Ähnlichkeiten dagegen sind unbedingt beabsichtigt. Ähnlichkeiten sind hübsch. Aber die Ähnlichkeiten sind viel erfundener als alles andere. Gerade dann, wenn sie nicht zufällig sind. Die Personen von Anfang an und einzeln vorstellen vermag ich nicht. Es ist manchmal schwer zu wissen, wer ist wer. Wie erst bei denen, die erfunden sind! Jederzeit können sie sich auf dem Absatz umdrehen und weggehen. Ich würde ihnen das keineswegs übelnehmen, aber entsprechend gering ist meine eigene Verpflichtung ihnen gegenüber. Ein Vorteil ist, dass diese Regel auch auf mich selbst zutrifft.
Viel von dem, was über Tel Aviv zu wissen ist, weiß ich nicht. Es gibt verschiedene Arten, etwas nicht zu wissen über die Stadt, in der man lebt. Wenn ich an all das denke, was ich nicht weiß über Tel Aviv, ruft es Trauer hervor. So viel verloren, denke ich, als sei man Zuschauer. Die utopischen Schichten blättern ab, wie das Meer sich in jedem Moment in die äußeren Schichten der Hauswände frisst, das Haus zerfrisst, ehe man es sich versieht. Vieles hat so kurz existiert, ist schon vorbei. Man sieht es, dieses: Ist-schon-Vorbei. Dann kann man erleichtert aufatmen, oder man möchte, was gerade jetzt ist, berühren und etwas Belangloses, Beschwichtigendes murmeln, jaja, da bist du. Trost? Die Stadt braucht ihn nicht.
Dass ich gerade in Tel Aviv lebe, ist Zufall. Es gab eine Zeit, da hätte ich nicht eingewilligt, hier zu leben.
Die wechselnden Behausungen, in denen ich wohne, sind ebenfalls willkürlich. Mit der Zeit lernt man, worauf es bei einer neuen Wohnung ankommt. Die Stadt ist mir nicht fremd. Gibt es warmes Wasser? Regnet es hinein? Kann man gleichzeitig einen Kühlschrank, den Boiler und den Heizofen einschalten? Gibt es Kakerlaken? Welcher Art und wie viele?
Ich lerne auch, dass es auf diese Fragen nicht ankommt. Die Antworten sind vielfältig und werden häufig auf die rücksichtsloseste Weise widerlegt. Man muss umziehen. Schon bin ich geübt, trage einen kleinen Zettel bei mir, auf dem ich die jeweilige Hausnummer, die Telefonnummer, die Postleitzahl notiere. Fragt mich einer, so weiß ich, wo ich wohne. Das Taxi vom Flughafen fährt mich, wohin ich will. Dort packe ich meine Taschen aus, laufe auf die Straße hinunter und durch die Nachbarschaft. Diejenigen, die ich nicht treffe, stelle ich mir vor: Wladimir. Idith. Den Bäcker Chaim. David und Ilana. Ruth und Avner und Schirah. Ich gehe ins Café Tamar. Sarah ist da. Ich frage mich, wo Hannah ist, die mich vom Flughafen hätte abholen sollen. Sie hat mich nicht abgeholt. Sarah gibt mir ein Rogalach. Und wenn nicht Hannah, dann Jaron. Sarah hat sie heute noch nicht gesehen. Sie kommen nicht mehr zusammen, sagt sie. Sie haben sich getrennt. Ich schaue Sarah an. Sie gibt mir noch ein Rogalach und schaut mich nicht an. Sie hat keine Zeit. Die Schokolade verklebt mir die Hände. Aber sie waren doch glücklich. Ich war nur fünf Wochen fort, gehe hinaus und zum Shuk, kaufe Apfelsinen und Datteln und laufe weiter zum Meer. Alles kann sich schon geändert haben. Tomaten sind teuer. Aber hier ist das Meer. Der Wind ist lau, nach Mitternacht. Streichelt unter schiedslos Haut, Gesicht, Sätze. Fische steigen an die Meeresoberfläche. Umarmte Paare, die sich küssen. All dies fehlt jetzt. Tel Aviv, Winter.
Wie eine Schafherde setzen sich meine Gedanken in Bewegung. Dann erschreckt ein Schaf links außen und eines ganz hinten, sie machen sich auf und davon, stecken alle anderen Schafe an und laufen hierhin und dorthin. Manche aus purer Freude. Einige aus Bosheit. Plötzlich ist alles in Bewegung und stiftet Unordnung. Ich muss mich noch einmal genau umsehen.
Ich stelle mir vor, wie die Alte, die in der Unterführung zum Shuk sitzt, sehr große Büstenhalter verkauft, einschläft, und als sie aufwacht, fehlt ihr ein Schuh. Aber es waren Schuhe mit Schnürsenkel - wie kann ihr jemand einen Schuh ausgezogen haben im Schlaf? Hat keiner der Vorübergehenden etwas gesagt? Sie sitzt eine lange Weile stumm und schaut auf ihren Fuß in einem schwarzen Strumpf.
Mit Abschieden tauchen andere Gesetze auf. Dinge zeigen die Unterseiten ihrer Panzer. Alles birgt einen Schrecken oder scheint etwas zu rufen. Alles Mögliche ist möglich, und wenn es sich schon nicht mehr ändern lässt, dann wird vieles komisch und traurig. Man muss etwas beiseitestehen und entdeckt, wie es sich mit Gegebenheiten verhält, wenn man sie aus diesen oder jenen Gründen nicht benutzt und nichts mit ihnen anzufangen weiß: kein Anfang, ein Ende. Unbeaufsichtigt, vorweg schon unbeachtet, setzt sich alles in Bewegung und versteint zu dünnen Bildtafeln. Als ich in Hannahs und Jarons Wohnung komme, stehen sie nebeneinander vor den Bücherregalen, die aus der Wand geschraubt sind, und vor den wie zerschlagen aussehenden Büchern. Also haben sie sich doch nicht getrennt? Schau, sagt Hannah und zeigt auf die Bücher, als wäre damit alles gesagt.
Es betrübt mich, ihre Hände so zu sehen. Ihre Hände liegen auf Gegenständen, und man merkt ihnen an, sie bemühen sich, unauffällig zu bleiben. Die Gegenstände sind schwer, weil es heiß ist, und selbst das, was sich nicht von alleine bewegen kann, zeigt, es will sich nicht bewegen. Wüsste Hannah, dass ihr etwas entzogen wird, dann könnte sie vielleicht zeitweilig Verzicht leisten. Jetzt sind die Gegenstände schwerer, als es gut sein kann.
Weil es warm ist wie im Sommer, zu warm für den Monat Oktober, hat das Meer noch zwanzig Grad. Aber da es schon einmal geregnet hat, muss Winter sein, auf der Straße ist es viel ruhiger als sonst, viel weniger Menschen gehen vorbei, der Strand liegt beinahe verlassen.
Die fliegenden Kakerlaken sieht man schon von weitem. Sie fliegen kleinere Entfernungen, von einer Hauswand auf einen Ast und weiter zu einem Abwasserrohr, kleine Strecken, aber nichtsdestotrotz kommen sie immer näher, unbeirrt und zähe, und ein Spalt zwischen Fenster und Fensterrahmen reizt sie zu ungeahnten Anstrengungen - mach dir nichts vor, sie werden hereinkommen. Du kannst einstweilen im Zimmer stehen, einen festen Schuh hast du schon zur Hand; jetzt musst du nur warten, bis die Kakerlake mit einem harten, knappen Geräusch auf den Kacheln landet, dann hebst du den Arm und lässt ihn niedersausen, nicht zu laut, um das Knacken des Panzers zu hören, nicht zu fest, um noch ein letztes Zappeln zu sehen, und wenn du nicht schon die nächste Kakerlake im Anflug sähest, könntest du dir erlauben, glücklich zu sein.
Wenn sie sich getrennt haben, ist das ihre Angelegenheit, sagt Sarah. Viele trennen sich. Aber man weiß nicht genau, wozu, fügt sie hinzu.
Die Zeit bewegt sich manchmal unsinnig schnell, und manchmal ist sie so groß und träge, dass man ganz sicher sein kann: fett und bewegungslos sitzt sie in irgendeinem schmierigen Sessel auf der Straße, wahrscheinlich bei den Vetteln im Cerem ha-Teimanim, und rührt sich nicht. Sowieso steckt sie uns alle in die kleinste ihrer Taschen, dort purzeln wir aufeinander, schlagen uns gegenseitig die Köpfe an und holen uns blaue Flecken. Viel zu eng. Missgelaunt. Ständig aufgeregt.
Hannah übernachtet bei mir, und wie sie schläft, hat sie etwas von einem sehr leisen Tierchen, richtet sich schlafend auf, greift nach dem Kopfkissen und zieht es von allen Seiten über den Kopf. Dabei macht sie ein ernstes Gesicht. Rutscht das Kissen weg, versucht sie, den Kopf zur Wand zu drehen, als könne sie mit dem Zwischenraum das Licht vermindern. Lange wird sie so nicht mehr schlafen, der Lärm zerrt an ihrem Schlaf, klingt ab, kehrt zurück, ein kleines Flugzeug, der Straßenfeger, dann wieder ein schweres Motorrad oder ein Lastwagen, das Rufen des Alte-Sachen-Händlers. Es sieht so aus, als versuche sie, ihre Lautlosigkeit dem Lärmen der Straße entgegenzusetzen.
Ein paar Tage später ist es mit einem Mal ganz still. Für Minuten hört man nur die Radios. Die Stadt verstummt, sie hört nichts mehr und will nichts mehr hören, wischt sich das Blut ab. Später sitzen und stehen Leute vor den Fernsehern in den Cafés. In jedem Gespräch immer wieder Brocken. Die Toten. Die Verletzten. Die Palästinenser. Die Verletzten. Die Toten. Fallen in Gespräche und Tätigkeiten wie fremde Stimmen. Ohne Namen. Sich selbst ist die Stadt fremd, will sich nicht kennen und nicht amüsieren. In das Verstummen und die Interviews fallen Tote ohne Namen und ihre Angst. Sieben Stunden später räumen Müllautos die Straße. Überreste des Autobusses. Glassplitter. Der zweite Autobus. Der Abfall der Ersten Hilfe. Blutflecken. Orthodoxe sammeln Fleischstücke, Hautreste von der Straße, den Hauswänden. Dann die ersten Namen. Immer mehr Namen.
Nachts, es ist schon nach Mitternacht, krächzt eine Krähe. Wie merkwürdig zu denken, dass ein Vogel plötzlich aufwachen kann oder vielleicht nicht einschlafen.
Bei uns ist alles gut, sagen sie. Falls sie sich sorgen, dann lieber heimlich. Und Avner war schon immer mager. Manchmal träumt er von Abrechnungen und Bestellungen und Ladenkosten, und sie von einer Vase und einem Krug und springenden Glasuren und klirrenden Öfen. Ruth war auf der Kunsthochschule. Avner verkauft Geschenke.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Wer das nicht kann, muss sich damit abfinden. Also sage ich: einige Ereignisse haben sich zugetragen. Und ich sage, es geht wirklich nicht darum, ob sie sich so oder anders zugetragen haben. Ähnlichkeiten dagegen sind unbedingt beabsichtigt. Ähnlichkeiten sind hübsch. Aber die Ähnlichkeiten sind viel erfundener als alles andere. Gerade dann, wenn sie nicht zufällig sind. Die Personen von Anfang an und einzeln vorstellen vermag ich nicht. Es ist manchmal schwer zu wissen, wer ist wer. Wie erst bei denen, die erfunden sind! Jederzeit können sie sich auf dem Absatz umdrehen und weggehen. Ich würde ihnen das keineswegs übelnehmen, aber entsprechend gering ist meine eigene Verpflichtung ihnen gegenüber. Ein Vorteil ist, dass diese Regel auch auf mich selbst zutrifft.
Viel von dem, was über Tel Aviv zu wissen ist, weiß ich nicht. Es gibt verschiedene Arten, etwas nicht zu wissen über die Stadt, in der man lebt. Wenn ich an all das denke, was ich nicht weiß über Tel Aviv, ruft es Trauer hervor. So viel verloren, denke ich, als sei man Zuschauer. Die utopischen Schichten blättern ab, wie das Meer sich in jedem Moment in die äußeren Schichten der Hauswände frisst, das Haus zerfrisst, ehe man es sich versieht. Vieles hat so kurz existiert, ist schon vorbei. Man sieht es, dieses: Ist-schon-Vorbei. Dann kann man erleichtert aufatmen, oder man möchte, was gerade jetzt ist, berühren und etwas Belangloses, Beschwichtigendes murmeln, jaja, da bist du. Trost? Die Stadt braucht ihn nicht.
Dass ich gerade in Tel Aviv lebe, ist Zufall. Es gab eine Zeit, da hätte ich nicht eingewilligt, hier zu leben.
Die wechselnden Behausungen, in denen ich wohne, sind ebenfalls willkürlich. Mit der Zeit lernt man, worauf es bei einer neuen Wohnung ankommt. Die Stadt ist mir nicht fremd. Gibt es warmes Wasser? Regnet es hinein? Kann man gleichzeitig einen Kühlschrank, den Boiler und den Heizofen einschalten? Gibt es Kakerlaken? Welcher Art und wie viele?
Ich lerne auch, dass es auf diese Fragen nicht ankommt. Die Antworten sind vielfältig und werden häufig auf die rücksichtsloseste Weise widerlegt. Man muss umziehen. Schon bin ich geübt, trage einen kleinen Zettel bei mir, auf dem ich die jeweilige Hausnummer, die Telefonnummer, die Postleitzahl notiere. Fragt mich einer, so weiß ich, wo ich wohne. Das Taxi vom Flughafen fährt mich, wohin ich will. Dort packe ich meine Taschen aus, laufe auf die Straße hinunter und durch die Nachbarschaft. Diejenigen, die ich nicht treffe, stelle ich mir vor: Wladimir. Idith. Den Bäcker Chaim. David und Ilana. Ruth und Avner und Schirah. Ich gehe ins Café Tamar. Sarah ist da. Ich frage mich, wo Hannah ist, die mich vom Flughafen hätte abholen sollen. Sie hat mich nicht abgeholt. Sarah gibt mir ein Rogalach. Und wenn nicht Hannah, dann Jaron. Sarah hat sie heute noch nicht gesehen. Sie kommen nicht mehr zusammen, sagt sie. Sie haben sich getrennt. Ich schaue Sarah an. Sie gibt mir noch ein Rogalach und schaut mich nicht an. Sie hat keine Zeit. Die Schokolade verklebt mir die Hände. Aber sie waren doch glücklich. Ich war nur fünf Wochen fort, gehe hinaus und zum Shuk, kaufe Apfelsinen und Datteln und laufe weiter zum Meer. Alles kann sich schon geändert haben. Tomaten sind teuer. Aber hier ist das Meer. Der Wind ist lau, nach Mitternacht. Streichelt unter schiedslos Haut, Gesicht, Sätze. Fische steigen an die Meeresoberfläche. Umarmte Paare, die sich küssen. All dies fehlt jetzt. Tel Aviv, Winter.
Wie eine Schafherde setzen sich meine Gedanken in Bewegung. Dann erschreckt ein Schaf links außen und eines ganz hinten, sie machen sich auf und davon, stecken alle anderen Schafe an und laufen hierhin und dorthin. Manche aus purer Freude. Einige aus Bosheit. Plötzlich ist alles in Bewegung und stiftet Unordnung. Ich muss mich noch einmal genau umsehen.
Ich stelle mir vor, wie die Alte, die in der Unterführung zum Shuk sitzt, sehr große Büstenhalter verkauft, einschläft, und als sie aufwacht, fehlt ihr ein Schuh. Aber es waren Schuhe mit Schnürsenkel - wie kann ihr jemand einen Schuh ausgezogen haben im Schlaf? Hat keiner der Vorübergehenden etwas gesagt? Sie sitzt eine lange Weile stumm und schaut auf ihren Fuß in einem schwarzen Strumpf.
Mit Abschieden tauchen andere Gesetze auf. Dinge zeigen die Unterseiten ihrer Panzer. Alles birgt einen Schrecken oder scheint etwas zu rufen. Alles Mögliche ist möglich, und wenn es sich schon nicht mehr ändern lässt, dann wird vieles komisch und traurig. Man muss etwas beiseitestehen und entdeckt, wie es sich mit Gegebenheiten verhält, wenn man sie aus diesen oder jenen Gründen nicht benutzt und nichts mit ihnen anzufangen weiß: kein Anfang, ein Ende. Unbeaufsichtigt, vorweg schon unbeachtet, setzt sich alles in Bewegung und versteint zu dünnen Bildtafeln. Als ich in Hannahs und Jarons Wohnung komme, stehen sie nebeneinander vor den Bücherregalen, die aus der Wand geschraubt sind, und vor den wie zerschlagen aussehenden Büchern. Also haben sie sich doch nicht getrennt? Schau, sagt Hannah und zeigt auf die Bücher, als wäre damit alles gesagt.
Es betrübt mich, ihre Hände so zu sehen. Ihre Hände liegen auf Gegenständen, und man merkt ihnen an, sie bemühen sich, unauffällig zu bleiben. Die Gegenstände sind schwer, weil es heiß ist, und selbst das, was sich nicht von alleine bewegen kann, zeigt, es will sich nicht bewegen. Wüsste Hannah, dass ihr etwas entzogen wird, dann könnte sie vielleicht zeitweilig Verzicht leisten. Jetzt sind die Gegenstände schwerer, als es gut sein kann.
Weil es warm ist wie im Sommer, zu warm für den Monat Oktober, hat das Meer noch zwanzig Grad. Aber da es schon einmal geregnet hat, muss Winter sein, auf der Straße ist es viel ruhiger als sonst, viel weniger Menschen gehen vorbei, der Strand liegt beinahe verlassen.
Die fliegenden Kakerlaken sieht man schon von weitem. Sie fliegen kleinere Entfernungen, von einer Hauswand auf einen Ast und weiter zu einem Abwasserrohr, kleine Strecken, aber nichtsdestotrotz kommen sie immer näher, unbeirrt und zähe, und ein Spalt zwischen Fenster und Fensterrahmen reizt sie zu ungeahnten Anstrengungen - mach dir nichts vor, sie werden hereinkommen. Du kannst einstweilen im Zimmer stehen, einen festen Schuh hast du schon zur Hand; jetzt musst du nur warten, bis die Kakerlake mit einem harten, knappen Geräusch auf den Kacheln landet, dann hebst du den Arm und lässt ihn niedersausen, nicht zu laut, um das Knacken des Panzers zu hören, nicht zu fest, um noch ein letztes Zappeln zu sehen, und wenn du nicht schon die nächste Kakerlake im Anflug sähest, könntest du dir erlauben, glücklich zu sein.
Wenn sie sich getrennt haben, ist das ihre Angelegenheit, sagt Sarah. Viele trennen sich. Aber man weiß nicht genau, wozu, fügt sie hinzu.
Die Zeit bewegt sich manchmal unsinnig schnell, und manchmal ist sie so groß und träge, dass man ganz sicher sein kann: fett und bewegungslos sitzt sie in irgendeinem schmierigen Sessel auf der Straße, wahrscheinlich bei den Vetteln im Cerem ha-Teimanim, und rührt sich nicht. Sowieso steckt sie uns alle in die kleinste ihrer Taschen, dort purzeln wir aufeinander, schlagen uns gegenseitig die Köpfe an und holen uns blaue Flecken. Viel zu eng. Missgelaunt. Ständig aufgeregt.
Hannah übernachtet bei mir, und wie sie schläft, hat sie etwas von einem sehr leisen Tierchen, richtet sich schlafend auf, greift nach dem Kopfkissen und zieht es von allen Seiten über den Kopf. Dabei macht sie ein ernstes Gesicht. Rutscht das Kissen weg, versucht sie, den Kopf zur Wand zu drehen, als könne sie mit dem Zwischenraum das Licht vermindern. Lange wird sie so nicht mehr schlafen, der Lärm zerrt an ihrem Schlaf, klingt ab, kehrt zurück, ein kleines Flugzeug, der Straßenfeger, dann wieder ein schweres Motorrad oder ein Lastwagen, das Rufen des Alte-Sachen-Händlers. Es sieht so aus, als versuche sie, ihre Lautlosigkeit dem Lärmen der Straße entgegenzusetzen.
Ein paar Tage später ist es mit einem Mal ganz still. Für Minuten hört man nur die Radios. Die Stadt verstummt, sie hört nichts mehr und will nichts mehr hören, wischt sich das Blut ab. Später sitzen und stehen Leute vor den Fernsehern in den Cafés. In jedem Gespräch immer wieder Brocken. Die Toten. Die Verletzten. Die Palästinenser. Die Verletzten. Die Toten. Fallen in Gespräche und Tätigkeiten wie fremde Stimmen. Ohne Namen. Sich selbst ist die Stadt fremd, will sich nicht kennen und nicht amüsieren. In das Verstummen und die Interviews fallen Tote ohne Namen und ihre Angst. Sieben Stunden später räumen Müllautos die Straße. Überreste des Autobusses. Glassplitter. Der zweite Autobus. Der Abfall der Ersten Hilfe. Blutflecken. Orthodoxe sammeln Fleischstücke, Hautreste von der Straße, den Hauswänden. Dann die ersten Namen. Immer mehr Namen.
Nachts, es ist schon nach Mitternacht, krächzt eine Krähe. Wie merkwürdig zu denken, dass ein Vogel plötzlich aufwachen kann oder vielleicht nicht einschlafen.
Bei uns ist alles gut, sagen sie. Falls sie sich sorgen, dann lieber heimlich. Und Avner war schon immer mager. Manchmal träumt er von Abrechnungen und Bestellungen und Ladenkosten, und sie von einer Vase und einem Krug und springenden Glasuren und klirrenden Öfen. Ruth war auf der Kunsthochschule. Avner verkauft Geschenke.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
... weniger
Autoren-Porträt von Katharina Hacker
Katharina Hacker, geboren 1967 in Frankfurt am Main, lebt nach mehrjährigem Aufenthalt in Israel als freie Autorin mit ihrer Familie in Berlin und Brandenburg. 2006 erhielt sie den Deutschen Buchpreis für »Die Habenichtse«, zuletzt erschienen der Roman »Skip« (2015) und das Jugendbuch »Alles, was passieren wird« (2021).
Bibliographische Angaben
- Autor: Katharina Hacker
- 2013, 1. Auflage, 160 Seiten, Masse: 12,3 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596189675
- ISBN-13: 9783596189670
- Erscheinungsdatum: 23.07.2013
Kommentar zu "Tel Aviv"
0 Gebrauchte Artikel zu „Tel Aviv“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Tel Aviv".
Kommentar verfassen