Sterbenskalt
Niemand lotet Charaktere gnadenloser aus, niemand zieht die Leser tiefer in die Atmosphäre: der neue Top-Thriller von Tana French.
Frank Mackey, Undercover-Ermittler, wollte vor 22 Jahren der Perspektivlosigkeit seines Viertels...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Sterbenskalt “
Niemand lotet Charaktere gnadenloser aus, niemand zieht die Leser tiefer in die Atmosphäre: der neue Top-Thriller von Tana French.
Frank Mackey, Undercover-Ermittler, wollte vor 22 Jahren der Perspektivlosigkeit seines Viertels für immer entfliehen - mit seiner ersten großen Liebe Rosie. Doch die hatte ihn versetzt und war allein nach England aufgebrochen, so hat Frank jedenfalls immer gedacht. Bis man in einem Abbruchhaus Rosies Koffer findet. Was ist damals wirklich passiert? Frank muss zurück nach Faithful Place und feststellen, dass er diesen dunklen Ort immer in sich getragen hat.
"'Sterbenskalt' nimmt uns mit nach Dublin und in ganz große Erzählkunst, die immer spannend ist."
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Lese-Probe zu „Sterbenskalt “
Sterbenskalt von Tana FrenchProlog
im gesamten leben zählen nur einige wenige Augenblicke. Meistens merkt man das erst im Nachhinein, wenn sie längst an einem vorbeigezischt sind: der Augenblick, in dem du beschlossen hast, das Mädchen anzusprechen, vor der unübersichtlichen Kurve abzubremsen, doch noch das Kondom hervorzuholen. Ich hatte Glück, könnte man wohl sagen. Ich bekam einen meiner entscheidenden Augenblicke voll und ganz mit und erkannte ihn als solchen. Ja, ich spürte den reißenden Sog meines Lebens um mich herumwirbeln, als ich in einer dunklen Winternacht oben am Faithful Place stand und wartete.
Ich war neunzehn, alt genug, um es mit der Welt aufzunehmen, und jung genug, um zig Dummheiten auf einmal zu machen, und sobald meine Brüder in jener Nacht fest eingeschlafen waren, schnallte ich meinen Rucksack um und schlich mit meinen Doc-Martens-Schuhen in der Hand aus unserem Zimmer. Ein Dielenbrett knarrte, und im Mädchenzimmer murmelte eine meiner Schwestern im Schlaf, doch ich war in jener Nacht unbesiegbar, ritt hoch auf der wogenden Brandung, nicht mehr aufzuhalten. Meine Eltern drehten sich auf der Ausziehcouch im Wohnzimmer nicht mal um, als ich so nah an ihnen vorbeischlich, dass ich sie hätte berühren können. Das Feuer im Ofen war zu einer säuselnden roten Glut heruntergebrannt. Im Rucksack befand sich alles Wichtige, was ich besaß: Jeans, T-Shirts, ein Transistorradio, das ich gebraucht gekauft hatte, hundert Pfund und meine Geburtsurkunde. Mehr brauchte man damals nicht, um rüber nach England zu fahren. Rosie hatte die Fahrkarten für die Fähre.
... mehr
Ich wartete im Schatten oben an der Straße auf sie, am Rande des matten gelben Lichtkreises unter der Straßenlampe. Die Luft war kalt wie Glas, mit einem würzig rauchigen Hopfenduft von der Guinness-Brauerei. Ich trug drei Paar Socken in den Docs, und ich stopfte die Hände tief in die Taschen meines deutschen Armeeparkas und lauschte ein letztes Mal meiner Straße, die lebendig in der langsamen Strömung der Nacht trieb. Eine Frau lachte, Na, na, das hättest du wohl gern, ein Fenster wurde zugeknallt. Eine Ratte huschte an einer Mauer entlang, ein Mann hustete, ein Fahrrad zischte um die Ecke. Mad Johnny Malone redete in der Kellerwohnung von Nummer 14 mit einem tiefen zornigen Grollen im Schlaf. Ein Liebespaar irgendwo, gedämpftes Wimmern, Bumsgeräusche, und ich dachte an den Geruch von Rosies Hals und grinste zum Himmel hinauf. Ich hörte die Glocken der Stadt Mitternacht schlagen, Christ Church, St Pat, St Michan, wuchtige, runde Klänge, die vom Himmel herabfielen wie eine Feier, unser eigenes geheimes Neujahr einläuteten.
Als sie eins schlugen, hatte ich Angst. Eine Spur aus leisem Rascheln und Stampfen durch die Gärten, und ich machte mich bereit, doch sie kam nicht über die letzte Mauer geklettert. Wahrscheinlich schlich da jemand mit schlechtem Gewissen zu spät nach Hause, stieg durch ein Fenster. In Nummer 7 brüllte Sallie Hearnes jüngster Nachwuchs los, ein dünnes, hoffnungsloses Heulen, bis sie sich aus dem Schlaf quälte und ihm etwas vorsang. I know where I'm going ... Painted rooms are bonny ...
Als die Glocken zwei schlugen, wurde mir das Missverständnis schlagartig klar, traf mich wie eine Ohrfeige. Sie katapultierte mich geradewegs über die Mauer in den Garten von Nummer 16, schon vor meiner Geburt verwahrlost und von uns Kindern trotz der schrecklichen Warnungen in Beschlag genommen, übersät mit Bierdosen und Zigarettenkippen und so mancher verlorenen Unschuld. Ich sprang die morsche Treppe hoch, immer vier Stufen auf einmal, ohne mich drum zu scheren, wer es hörte. Ich war mir so sicher, ich sah sie schon vor mir, zornige kupferrote Locken und Fäuste in die Hüften gestemmt, Verdammt nochmal, wo bleibst du denn?
Geborstene Dielenbretter, Löcher im Putz, Schutt und kalte dunkle Zugluft und keine Menschenseele. Im oberen Wohnzimmer fand ich den Brief, bloß ein Blatt, aus einem Schulheft gerissen. Es lag auf dem nackten Fußboden, flatterte in dem bleichen Rechteck aus Licht, das durch das zerbrochene Fenster fiel, und sah aus, als hätte es dort schon seit hundert Jahren gelegen. In diesem Moment spürte ich, wie sich der reißende Sog veränderte, blitzschnell eine tödliche Wendung vollzog, viel zu stark, um dagegen anzukämpfen, und nicht mehr auf meiner Seite.
Ich nahm den Brief nicht mit. Als ich Nummer 16 wieder verließ, kannte ich ihn auswendig und würde den Rest meines Lebens versuchen zu glauben, was drinstand. Ich ließ ihn liegen und ging zurück ans Ende der Straße. Ich wartete dort im Schatten, beobachtete die Dampfwolken, die mein Atem im Laternenlicht aufsteigen ließ, während die Glocken drei und vier und fünf schlugen. Die Nacht verblasste zu einem dünnen, traurigen Grau, und ein Milchkarren kam um die Ecke, rumpelte übers Kopfsteinpflaster in Richtung Molkerei, und ich wartete noch immer auf Rosie Daly oben am Faithful Place.
1
MeinVvater hat mir mal gesagt, jeder Mann sollte wissen, wofür er bereit wäre zu sterben, das wäre das Wichtigste. Wenn du das nicht weißt, sagte er, was bist du dann wert? Nichts. Dann bist du kein richtiger Mann. Ich war dreizehn, und er hatte schon eine Dreiviertelflasche Gordon-Whiskey intus, aber trotzdem, ein guter Spruch. Wenn ich mich recht entsinne, war er bereit, für Folgendes zu sterben: a) Irland, b) seine Mutter, die da schon zehn Jahre tot war, und c) um das Miststück Maggie Thatcher zu erledigen.
Dennoch, seit damals hätte ich in jedem Augenblick meines Lebens wie aus der Pistole geschossen sagen können, wofür ich bereit wäre zu sterben. Zuerst war das ganz leicht: meine Familie, meine Freundin, mein Zuhause. Später wurde es eine Zeitlang komplizierter. Heutzutage bleibt es stabil, und das gefällt mir. Es kommt mir vor wie etwas, worauf ein Mann stolz sein kann. Ich wäre bereit, für meine Stadt zu sterben, meinen Job und mein Kind, vielleicht nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.
Das Kind ist bislang ganz gut geraten, die Stadt ist Dublin, und der Job ist in der Undercoverabteilung, daher scheint offensichtlich, wofür ich am ehesten sterben könnte, aber es ist ein Weilchen her, seit die Arbeit mir etwas Beängstigenderes beschert hat als einen Riesenhaufen Papierkram. Die Größe des Landes hat zur Folge, dass ein Undercovercop ein kurzes Verfallsdatum hat; zwei Einsätze, vielleicht vier, dann wird das Risiko aufzufliegen einfach zu groß. Ich hab meine neun Leben schon vor langer Zeit aufgebraucht. Ich bleibe vorläufig hinter den Kulissen und leite eigene Operationen.
Das eigentliche Risiko bei der Undercoverarbeit, ob im Einsatz oder nicht, ist Folgendes: Du erzeugst so lange Illusionen, dass du schließlich glaubst, alles im Griff zu haben. Es ist leicht, dem Glauben zu verfallen, du wärst der Hypnotiseur, der Meister der Illusion, der helle Kopf, der weiß, was real ist und wie alle Zaubertricks funktionieren. Tatsache ist, auch du bist und bleibst bloß eine staunende Zielscheibe im Publikum. Ganz gleich, wie gut du bist, die Welt wird in diesem Spiel immer besser sein. Sie ist gerissener als du, sie ist schneller, und sie ist um einiges skrupelloser. Du kannst lediglich versuchen mitzuhalten, deine Schwachstellen zu kennen und niemals aufzuhören, mit dem Schlag unter die Gürtellinie zu rechnen.
An einem Freitagnachmittag Anfang Dezember holte mein Leben das zweite Mal für den Schlag unter die Gürtellinie aus. Tagsüber war ich mit Wartungsarbeiten an einigen meiner laufenden Illusionsmaschinen beschäftigt gewesen - einer von meinen Jungs, der dieses Jahr Weihnachten keine Süßigkeiten von Onkel Frank bekommen würde, hatte sich in eine Situation manövriert, in der er aus komplizierten Gründen eine ältere Frau brauchte, die er etlichen kleinen Drogendealern als seine Großmutter vorstellen konnte -, und ich war auf dem Weg zu meiner Exfrau, um meine Tochter fürs Wochenende abzuholen. Olivia und Holly wohnen in einer sagenhaft geschmackvollen Doppelhaushälfte in einer gepflegten Sackgasse in Dalkey. Olivias Daddy hatte uns das Haus zur Hochzeit geschenkt. Als wir einzogen, hatte es einen Namen statt einer Nummer. Ich ließ den Namen schnell verschwinden, aber trotzdem, schon damals hätte ich kapieren müssen, dass diese Ehe zum Scheitern verurteilt war. Wenn meine Eltern von meinen Heiratsabsichten gewusst hätten, hätte meine Ma sich bei der Genossenschaftsbank mit einem Kredit hoch verschuldet, um uns eine hübsche geblümte Couchgarnitur zu kaufen, und wäre entrüstet gewesen, wenn wir die Plastikhüllen von den Polstern entfernt hätten.
Olivia postierte sich mitten in der Tür, für den Fall, dass ich auf die Idee käme, reinkommen zu wollen. »Holly ist gleich fertig«, sagte sie.
Olivia, und das sage ich, Hand aufs Herz, mit zu gleichen Teilen Selbstgefälligkeit und Bedauern, sieht toll aus: groß gewachsen, ovales, elegantes Gesicht, jede Menge weiches, aschblondes Haar und die Art von unaufdringlichen Rundungen, die du zunächst gar nicht bemerkst und dann nicht mehr aufhören kannst zu bemerken. An dem Abend war sie in ein teures, schwarzes Kleid und hauchdünne Nylons gehüllt, und sie trug die Brillantkette ihrer Großmutter, die nur zu ganz besonderen Anlässen hervorgeholt wird. Der Papst höchstselbst hätte sein Käppchen vom Kopf gerissen, um sich die Stirn zu wischen. Ich, der ich nicht so viel Klasse habe wie der Papst, stieß einen Pfiff aus. »Großes Rendezvous?«
»Wir gehen essen.«
»Heißt ›wir‹ schon wieder du und Dermo?«
Olivia ist viel zu clever, um sich von mir so leicht provozieren zu lassen. »Sein Name ist Dermot, und ja, das heißt es.«
Ich tat beeindruckt. »Das sind ja dann schon vier Wochenenden hintereinander, stimmt's? Ist heute Abend der große Abend, wenn ich fragen darf?«
Olivia rief die Treppe hoch: »Holly! Dein Vater ist da!« Während sie mir den Rücken zudrehte, schlüpfte ich an ihr vorbei in die Diele. Sie hatte Chanel No5 aufgelegt, wie immer.
Von oben: »Daddy! Ich komm gleich, ich komm gleich, ich komm gleich, ich muss bloß noch ...«, und dann langes aufgeregtes Geplapper, mit dem Holly erklärte, was in ihrem komplizierten kleinen Kopf vorging, ohne darüber nachzudenken, ob irgendwer sie hören konnte. Ich brüllte: »Lass dir ruhig Zeit, Schätzchen!«, auf dem Weg in die Küche.
Olivia folgte mir. »Dermot müsste jede Minute hier sein«, erklärte sie. Mir war nicht klar, ob das eine Drohung oder eine Bitte war.
Ich öffnete den Kühlschrank und warf einen Blick hinein. »Der Bursche gefällt mir nicht. Er hat kein Kinn. Männern ohne Kinn trau ich nicht über den Weg.«
»Tja, zum Glück ist dein Männergeschmack hier nicht von Belang.«
»Ist er doch, falls du dich ernsthaft auf ihn einlässt und er auch mit Holly zu tun hat. Wie heißt er noch mal mit Nachnamen? «
Einmal, als wir schon auf die Trennung zusteuerten, hat mir Olivia die Kühlschranktür gegen den Kopf geknallt. Ich spürte, dass sie drauf und dran war, es wieder zu tun. Ich blieb vorgebeugt stehen, um ihr reichlich Gelegenheit zu bieten, doch sie bewahrte ruhig Blut. »Wieso willst du das wissen?«
»Ich muss ihn unbedingt durch den Computer laufen lassen. « Ich nahm eine Packung Orangensaft heraus und schüttelte sie. »Was ist das denn für ein Mist? Seit wann kaufst du keine guten Sachen mehr?«
Olivias Mund - ein Hauch Lipgloss - wurde allmählich schmallippig. »Du wirst Dermot nicht durch irgendeinen Computer laufen lassen, Frank.«
»Geht nicht anders«, erwiderte ich munter. »Ich muss schließlich auf Nummer sicher gehen, dass er nicht auf kleine Mädchen steht, oder?«
»Herrgott, Frank! Er steht nicht -«
»Vielleicht nicht«, räumte ich ein. »Wahrscheinlich nicht. Aber wie kannst du dir da ganz sicher sein, Liv? Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, meinst du nicht auch?« Ich schraubte die Kappe vom Saft und trank einen Schluck.
»Holly!«, rief Olivia, lauter. »Beeil dich!«
»Ich kann mein Pferd nicht finden!« Dumpfes Gepolter über uns.
Ich sagte zu Olivia: »Die nehmen alleinstehende Mummys mit hübschen kleinen Kindern ins Visier. Und es ist erstaunlich, wie viele von denen kein Kinn haben. Ist dir das schon mal aufgefallen?«
»Nein, Frank, ist es nicht. Und untersteh dich, deinen Job auszunutzen, um unbescholtene -«
»Sieh das nächste Mal genau hin, wenn wieder über irgendeinen Pädophilen im Fernsehen berichtet wird. Weißer Van und kein Kinn, garantiert. Was fährt Dermo für ein Auto?«
»Holly!«
Ich trank noch einen großen Schluck Saft, wischte die Tülle mit dem Ärmel ab und stellte die Packung zurück in den Kühlschrank. »Das Zeug schmeckt wie Katzenpisse. Wenn ich den Unterhalt erhöhe, kaufst du dann anständigen Saft?«
»Und wenn du ihn verdreifachen würdest«, sagte Olivia süßlich und unterkühlt zugleich mit einem Blick auf ihre Uhr, »was du nicht kannst, würde es höchstens für eine Packung pro Woche reichen.« Das Kätzchen fährt die Krallen aus, wenn man es nur lange genug am Schwanz zieht.
In diesem Moment rettete Holly uns vor uns selbst, indem sie aus ihrem Zimmer geschossen kam und aus vollem Halse »Daddydaddydaddy!« rief. Ich schaffte es rechtzeitig zur Treppe, so dass sie einen Hechtsprung auf mich drauf machen konnte wie ein kleiner kreiselnder Feuerwerkskörper aus fliegendem goldblonden Haar und rosa Flitterkram, um die Beine um meine Taille zu schlingen und mich mit ihrer Schultasche und einem struppigen Pony namens Clara, das schon bessere Zeiten gesehen hatte, auf den Rücken zu hauen. »Hallo, Klammeräffchen «, sagte ich und gab ihr einen Kuss oben auf den Kopf. Sie war leicht wie eine Fee. »Wie war deine Woche?«
»Ganz schön anstrengend, und ich bin kein Klammeräffchen «, sagte sie ernst zu mir, Nase an Nase. »Was ist ein Klammeräffchen? «
Holly ist neun und schlägt, feingliedrig und zierlich, wie sie ist, ganz nach der Seite ihrer Mutter - wir Mackeys sind robust und dickhäutig und drahthaarig, wie geschaffen für schwere Arbeit in Dubliner Wetter. Nur Hollys Augen sind anders. Als ich sie das allererste Mal sah, schaute sie mich mit meinen eigenen Augen an, große, strahlendblaue Augen, die mich trafen wie ein Stromstoß und bei deren Anblick mein Herz noch heute einen Purzelbaum schlägt. Olivia kann meinen Nachnamen von mir aus wegkratzen wie einen alten Adressaufkleber, den Kühlschrank vollpacken mit Saft, den ich nicht mag, und mit Dermo dem Pädo meine Seite des Bettes füllen, aber gegen diese Augen kann sie nichts ausrichten.
Ich sagte zu Holly: »Das ist ein Märchenaffe, der in einem Zauberwald lebt.« Sie bedachte mich mit einem Blick, der perfekt austariert war zwischen Echt? und Ja, ja, schon klar. »Was war denn so anstrengend?«
Sie rutschte von mir runter und plumpste auf den Boden. »Chloe und Sarah und ich wollen eine Band gründen. Ich hab für dich ein Bild gemalt, weil wir uns einen Tanz ausgedacht haben, und kann ich weiße Stiefel haben? Und Sarah hat einen Song geschrieben und ...« Einen winzigen Moment lang lächelten Olivia und ich uns beinahe an, über Hollys Kopf hinweg, ehe Olivia sich fing und wieder auf die Uhr sah.
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Ich wartete im Schatten oben an der Straße auf sie, am Rande des matten gelben Lichtkreises unter der Straßenlampe. Die Luft war kalt wie Glas, mit einem würzig rauchigen Hopfenduft von der Guinness-Brauerei. Ich trug drei Paar Socken in den Docs, und ich stopfte die Hände tief in die Taschen meines deutschen Armeeparkas und lauschte ein letztes Mal meiner Straße, die lebendig in der langsamen Strömung der Nacht trieb. Eine Frau lachte, Na, na, das hättest du wohl gern, ein Fenster wurde zugeknallt. Eine Ratte huschte an einer Mauer entlang, ein Mann hustete, ein Fahrrad zischte um die Ecke. Mad Johnny Malone redete in der Kellerwohnung von Nummer 14 mit einem tiefen zornigen Grollen im Schlaf. Ein Liebespaar irgendwo, gedämpftes Wimmern, Bumsgeräusche, und ich dachte an den Geruch von Rosies Hals und grinste zum Himmel hinauf. Ich hörte die Glocken der Stadt Mitternacht schlagen, Christ Church, St Pat, St Michan, wuchtige, runde Klänge, die vom Himmel herabfielen wie eine Feier, unser eigenes geheimes Neujahr einläuteten.
Als sie eins schlugen, hatte ich Angst. Eine Spur aus leisem Rascheln und Stampfen durch die Gärten, und ich machte mich bereit, doch sie kam nicht über die letzte Mauer geklettert. Wahrscheinlich schlich da jemand mit schlechtem Gewissen zu spät nach Hause, stieg durch ein Fenster. In Nummer 7 brüllte Sallie Hearnes jüngster Nachwuchs los, ein dünnes, hoffnungsloses Heulen, bis sie sich aus dem Schlaf quälte und ihm etwas vorsang. I know where I'm going ... Painted rooms are bonny ...
Als die Glocken zwei schlugen, wurde mir das Missverständnis schlagartig klar, traf mich wie eine Ohrfeige. Sie katapultierte mich geradewegs über die Mauer in den Garten von Nummer 16, schon vor meiner Geburt verwahrlost und von uns Kindern trotz der schrecklichen Warnungen in Beschlag genommen, übersät mit Bierdosen und Zigarettenkippen und so mancher verlorenen Unschuld. Ich sprang die morsche Treppe hoch, immer vier Stufen auf einmal, ohne mich drum zu scheren, wer es hörte. Ich war mir so sicher, ich sah sie schon vor mir, zornige kupferrote Locken und Fäuste in die Hüften gestemmt, Verdammt nochmal, wo bleibst du denn?
Geborstene Dielenbretter, Löcher im Putz, Schutt und kalte dunkle Zugluft und keine Menschenseele. Im oberen Wohnzimmer fand ich den Brief, bloß ein Blatt, aus einem Schulheft gerissen. Es lag auf dem nackten Fußboden, flatterte in dem bleichen Rechteck aus Licht, das durch das zerbrochene Fenster fiel, und sah aus, als hätte es dort schon seit hundert Jahren gelegen. In diesem Moment spürte ich, wie sich der reißende Sog veränderte, blitzschnell eine tödliche Wendung vollzog, viel zu stark, um dagegen anzukämpfen, und nicht mehr auf meiner Seite.
Ich nahm den Brief nicht mit. Als ich Nummer 16 wieder verließ, kannte ich ihn auswendig und würde den Rest meines Lebens versuchen zu glauben, was drinstand. Ich ließ ihn liegen und ging zurück ans Ende der Straße. Ich wartete dort im Schatten, beobachtete die Dampfwolken, die mein Atem im Laternenlicht aufsteigen ließ, während die Glocken drei und vier und fünf schlugen. Die Nacht verblasste zu einem dünnen, traurigen Grau, und ein Milchkarren kam um die Ecke, rumpelte übers Kopfsteinpflaster in Richtung Molkerei, und ich wartete noch immer auf Rosie Daly oben am Faithful Place.
1
MeinVvater hat mir mal gesagt, jeder Mann sollte wissen, wofür er bereit wäre zu sterben, das wäre das Wichtigste. Wenn du das nicht weißt, sagte er, was bist du dann wert? Nichts. Dann bist du kein richtiger Mann. Ich war dreizehn, und er hatte schon eine Dreiviertelflasche Gordon-Whiskey intus, aber trotzdem, ein guter Spruch. Wenn ich mich recht entsinne, war er bereit, für Folgendes zu sterben: a) Irland, b) seine Mutter, die da schon zehn Jahre tot war, und c) um das Miststück Maggie Thatcher zu erledigen.
Dennoch, seit damals hätte ich in jedem Augenblick meines Lebens wie aus der Pistole geschossen sagen können, wofür ich bereit wäre zu sterben. Zuerst war das ganz leicht: meine Familie, meine Freundin, mein Zuhause. Später wurde es eine Zeitlang komplizierter. Heutzutage bleibt es stabil, und das gefällt mir. Es kommt mir vor wie etwas, worauf ein Mann stolz sein kann. Ich wäre bereit, für meine Stadt zu sterben, meinen Job und mein Kind, vielleicht nicht unbedingt in dieser Reihenfolge.
Das Kind ist bislang ganz gut geraten, die Stadt ist Dublin, und der Job ist in der Undercoverabteilung, daher scheint offensichtlich, wofür ich am ehesten sterben könnte, aber es ist ein Weilchen her, seit die Arbeit mir etwas Beängstigenderes beschert hat als einen Riesenhaufen Papierkram. Die Größe des Landes hat zur Folge, dass ein Undercovercop ein kurzes Verfallsdatum hat; zwei Einsätze, vielleicht vier, dann wird das Risiko aufzufliegen einfach zu groß. Ich hab meine neun Leben schon vor langer Zeit aufgebraucht. Ich bleibe vorläufig hinter den Kulissen und leite eigene Operationen.
Das eigentliche Risiko bei der Undercoverarbeit, ob im Einsatz oder nicht, ist Folgendes: Du erzeugst so lange Illusionen, dass du schließlich glaubst, alles im Griff zu haben. Es ist leicht, dem Glauben zu verfallen, du wärst der Hypnotiseur, der Meister der Illusion, der helle Kopf, der weiß, was real ist und wie alle Zaubertricks funktionieren. Tatsache ist, auch du bist und bleibst bloß eine staunende Zielscheibe im Publikum. Ganz gleich, wie gut du bist, die Welt wird in diesem Spiel immer besser sein. Sie ist gerissener als du, sie ist schneller, und sie ist um einiges skrupelloser. Du kannst lediglich versuchen mitzuhalten, deine Schwachstellen zu kennen und niemals aufzuhören, mit dem Schlag unter die Gürtellinie zu rechnen.
An einem Freitagnachmittag Anfang Dezember holte mein Leben das zweite Mal für den Schlag unter die Gürtellinie aus. Tagsüber war ich mit Wartungsarbeiten an einigen meiner laufenden Illusionsmaschinen beschäftigt gewesen - einer von meinen Jungs, der dieses Jahr Weihnachten keine Süßigkeiten von Onkel Frank bekommen würde, hatte sich in eine Situation manövriert, in der er aus komplizierten Gründen eine ältere Frau brauchte, die er etlichen kleinen Drogendealern als seine Großmutter vorstellen konnte -, und ich war auf dem Weg zu meiner Exfrau, um meine Tochter fürs Wochenende abzuholen. Olivia und Holly wohnen in einer sagenhaft geschmackvollen Doppelhaushälfte in einer gepflegten Sackgasse in Dalkey. Olivias Daddy hatte uns das Haus zur Hochzeit geschenkt. Als wir einzogen, hatte es einen Namen statt einer Nummer. Ich ließ den Namen schnell verschwinden, aber trotzdem, schon damals hätte ich kapieren müssen, dass diese Ehe zum Scheitern verurteilt war. Wenn meine Eltern von meinen Heiratsabsichten gewusst hätten, hätte meine Ma sich bei der Genossenschaftsbank mit einem Kredit hoch verschuldet, um uns eine hübsche geblümte Couchgarnitur zu kaufen, und wäre entrüstet gewesen, wenn wir die Plastikhüllen von den Polstern entfernt hätten.
Olivia postierte sich mitten in der Tür, für den Fall, dass ich auf die Idee käme, reinkommen zu wollen. »Holly ist gleich fertig«, sagte sie.
Olivia, und das sage ich, Hand aufs Herz, mit zu gleichen Teilen Selbstgefälligkeit und Bedauern, sieht toll aus: groß gewachsen, ovales, elegantes Gesicht, jede Menge weiches, aschblondes Haar und die Art von unaufdringlichen Rundungen, die du zunächst gar nicht bemerkst und dann nicht mehr aufhören kannst zu bemerken. An dem Abend war sie in ein teures, schwarzes Kleid und hauchdünne Nylons gehüllt, und sie trug die Brillantkette ihrer Großmutter, die nur zu ganz besonderen Anlässen hervorgeholt wird. Der Papst höchstselbst hätte sein Käppchen vom Kopf gerissen, um sich die Stirn zu wischen. Ich, der ich nicht so viel Klasse habe wie der Papst, stieß einen Pfiff aus. »Großes Rendezvous?«
»Wir gehen essen.«
»Heißt ›wir‹ schon wieder du und Dermo?«
Olivia ist viel zu clever, um sich von mir so leicht provozieren zu lassen. »Sein Name ist Dermot, und ja, das heißt es.«
Ich tat beeindruckt. »Das sind ja dann schon vier Wochenenden hintereinander, stimmt's? Ist heute Abend der große Abend, wenn ich fragen darf?«
Olivia rief die Treppe hoch: »Holly! Dein Vater ist da!« Während sie mir den Rücken zudrehte, schlüpfte ich an ihr vorbei in die Diele. Sie hatte Chanel No5 aufgelegt, wie immer.
Von oben: »Daddy! Ich komm gleich, ich komm gleich, ich komm gleich, ich muss bloß noch ...«, und dann langes aufgeregtes Geplapper, mit dem Holly erklärte, was in ihrem komplizierten kleinen Kopf vorging, ohne darüber nachzudenken, ob irgendwer sie hören konnte. Ich brüllte: »Lass dir ruhig Zeit, Schätzchen!«, auf dem Weg in die Küche.
Olivia folgte mir. »Dermot müsste jede Minute hier sein«, erklärte sie. Mir war nicht klar, ob das eine Drohung oder eine Bitte war.
Ich öffnete den Kühlschrank und warf einen Blick hinein. »Der Bursche gefällt mir nicht. Er hat kein Kinn. Männern ohne Kinn trau ich nicht über den Weg.«
»Tja, zum Glück ist dein Männergeschmack hier nicht von Belang.«
»Ist er doch, falls du dich ernsthaft auf ihn einlässt und er auch mit Holly zu tun hat. Wie heißt er noch mal mit Nachnamen? «
Einmal, als wir schon auf die Trennung zusteuerten, hat mir Olivia die Kühlschranktür gegen den Kopf geknallt. Ich spürte, dass sie drauf und dran war, es wieder zu tun. Ich blieb vorgebeugt stehen, um ihr reichlich Gelegenheit zu bieten, doch sie bewahrte ruhig Blut. »Wieso willst du das wissen?«
»Ich muss ihn unbedingt durch den Computer laufen lassen. « Ich nahm eine Packung Orangensaft heraus und schüttelte sie. »Was ist das denn für ein Mist? Seit wann kaufst du keine guten Sachen mehr?«
Olivias Mund - ein Hauch Lipgloss - wurde allmählich schmallippig. »Du wirst Dermot nicht durch irgendeinen Computer laufen lassen, Frank.«
»Geht nicht anders«, erwiderte ich munter. »Ich muss schließlich auf Nummer sicher gehen, dass er nicht auf kleine Mädchen steht, oder?«
»Herrgott, Frank! Er steht nicht -«
»Vielleicht nicht«, räumte ich ein. »Wahrscheinlich nicht. Aber wie kannst du dir da ganz sicher sein, Liv? Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, meinst du nicht auch?« Ich schraubte die Kappe vom Saft und trank einen Schluck.
»Holly!«, rief Olivia, lauter. »Beeil dich!«
»Ich kann mein Pferd nicht finden!« Dumpfes Gepolter über uns.
Ich sagte zu Olivia: »Die nehmen alleinstehende Mummys mit hübschen kleinen Kindern ins Visier. Und es ist erstaunlich, wie viele von denen kein Kinn haben. Ist dir das schon mal aufgefallen?«
»Nein, Frank, ist es nicht. Und untersteh dich, deinen Job auszunutzen, um unbescholtene -«
»Sieh das nächste Mal genau hin, wenn wieder über irgendeinen Pädophilen im Fernsehen berichtet wird. Weißer Van und kein Kinn, garantiert. Was fährt Dermo für ein Auto?«
»Holly!«
Ich trank noch einen großen Schluck Saft, wischte die Tülle mit dem Ärmel ab und stellte die Packung zurück in den Kühlschrank. »Das Zeug schmeckt wie Katzenpisse. Wenn ich den Unterhalt erhöhe, kaufst du dann anständigen Saft?«
»Und wenn du ihn verdreifachen würdest«, sagte Olivia süßlich und unterkühlt zugleich mit einem Blick auf ihre Uhr, »was du nicht kannst, würde es höchstens für eine Packung pro Woche reichen.« Das Kätzchen fährt die Krallen aus, wenn man es nur lange genug am Schwanz zieht.
In diesem Moment rettete Holly uns vor uns selbst, indem sie aus ihrem Zimmer geschossen kam und aus vollem Halse »Daddydaddydaddy!« rief. Ich schaffte es rechtzeitig zur Treppe, so dass sie einen Hechtsprung auf mich drauf machen konnte wie ein kleiner kreiselnder Feuerwerkskörper aus fliegendem goldblonden Haar und rosa Flitterkram, um die Beine um meine Taille zu schlingen und mich mit ihrer Schultasche und einem struppigen Pony namens Clara, das schon bessere Zeiten gesehen hatte, auf den Rücken zu hauen. »Hallo, Klammeräffchen «, sagte ich und gab ihr einen Kuss oben auf den Kopf. Sie war leicht wie eine Fee. »Wie war deine Woche?«
»Ganz schön anstrengend, und ich bin kein Klammeräffchen «, sagte sie ernst zu mir, Nase an Nase. »Was ist ein Klammeräffchen? «
Holly ist neun und schlägt, feingliedrig und zierlich, wie sie ist, ganz nach der Seite ihrer Mutter - wir Mackeys sind robust und dickhäutig und drahthaarig, wie geschaffen für schwere Arbeit in Dubliner Wetter. Nur Hollys Augen sind anders. Als ich sie das allererste Mal sah, schaute sie mich mit meinen eigenen Augen an, große, strahlendblaue Augen, die mich trafen wie ein Stromstoß und bei deren Anblick mein Herz noch heute einen Purzelbaum schlägt. Olivia kann meinen Nachnamen von mir aus wegkratzen wie einen alten Adressaufkleber, den Kühlschrank vollpacken mit Saft, den ich nicht mag, und mit Dermo dem Pädo meine Seite des Bettes füllen, aber gegen diese Augen kann sie nichts ausrichten.
Ich sagte zu Holly: »Das ist ein Märchenaffe, der in einem Zauberwald lebt.« Sie bedachte mich mit einem Blick, der perfekt austariert war zwischen Echt? und Ja, ja, schon klar. »Was war denn so anstrengend?«
Sie rutschte von mir runter und plumpste auf den Boden. »Chloe und Sarah und ich wollen eine Band gründen. Ich hab für dich ein Bild gemalt, weil wir uns einen Tanz ausgedacht haben, und kann ich weiße Stiefel haben? Und Sarah hat einen Song geschrieben und ...« Einen winzigen Moment lang lächelten Olivia und ich uns beinahe an, über Hollys Kopf hinweg, ehe Olivia sich fing und wieder auf die Uhr sah.
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Tana French
Mit der jungen irischen Autorin Tana French betritt ein außergewöhnliches Erzähltalent den Tatort. Sie wuchs in Irland, Italien und Malawi auf und lebt seit 1990 in Dublin. Tana French machte eine Schauspielausbildung am Trinity College und arbeitet für Theater, Film und Fernsehen.Ulrike Wasel, geboren 1955, arbeitet als Übersetzerin angloamerikanischer Literatur.Klaus Timmermann, geboren 1955, arbeitet als Übersetzer angloamerikanischer Literatur in Düsseldorf.
Bibliographische Angaben
- Autor: Tana French
- 2011, 1, 592 Seiten, Masse: 13,7 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009175
- ISBN-13: 9783868009170
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