Sirius
Walter Kempowskis Tagebuchaufzeichnungen des Jahres 1983, des Jahres seiner ''Hundstage''. Durchsetzt mit Kommentaren aus der Sicht von 1990, dem Jahr der Veröffentlichung. Schon zu dieser Zeit wendet er die ''Echolot-Technik'' an, ein Stimmungs- und...
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Walter Kempowskis Tagebuchaufzeichnungen des Jahres 1983, des Jahres seiner ''Hundstage''. Durchsetzt mit Kommentaren aus der Sicht von 1990, dem Jahr der Veröffentlichung. Schon zu dieser Zeit wendet er die ''Echolot-Technik'' an, ein Stimmungs- und Zeitbild aus den alltäglichen, kleinen, scheinbar banalen Gegebenheiten zu gewinnen.
Walter Kempowski ist 1929 geboren. Für sein literarisches Schaffen wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. mit der Corine und dem Thomas-Mann-Preis.
Sirius von Walter Kempowski
LESEPROBE
Januar 1983
NartumSo 2. Jan.1983 trüb, stürmisch
Wir begingen denAltjahrsabend diesmal ganz traditionell, mit Kappen, Berliner Pfannkuchen undScherzartikeln, wobei uns das fur dieses Brauchtumnötige Brockhauswisscn stets zur Seite stand: Bleigicssen und Knallbonbons zur Zukunftserforschung,Raketen zur Austreibung von Dämonen. Zum Kotzen! Aber: ohne Folklo-ristischeskann ich so was überhaupt nicht mehr ertragen.
Wie macht man daseigentlich, "feiern"? Das heisst doch wohl "saufen", oder?
Wir empfingen die Gästemit Hallo. Jeder setzte einen Papphut auf, und danngaben wir uns in der Halle hei Kerzenlicht einem "Prasnik"hin, wie wir das im Zuchthaus nannten. In Bautzen bestand der Prasnik aus einer doppelten Portion Brot, in Nartuin gab es Räucher-fisch ,Pfeffermakrelen und natürlich Lachs, mit scharf-süsser Meerrettichsahne, einenherrlichen Obstsalat, mit Rum angemacht, Ginsehrustund die berühmte Fleischbrühe von Hildegard, mit der man Tote wieder fitkriegt. So was sollten sie in Krankenhäusern austeilen.
Den Tischwein (zweiKisten) hatte ich von Knaus zu Weihnachten bekommen. Ich verstehe ja nichts vonWein, und ich hin immer neugierig, was die Gäste zu meinem "Keller"sagen. Das Urteil fiel günstig aus. Auf seinen Verleger lässtman nicht gern was kommen. - Ich selbst rühre das Arsen-Zeug nicht an, ichtrinke solides Bier und Steinhäger. Das Bier hat leider keine'"Blume", weil wir unsere Glässer mit Pril spülen, schmeckt also absolut widerlich. Ausserdemheisst es, dass der Hopfen ebenfalls mit Arsenbehandelt wird. Die Reklame mit den blankgeputztenKupferbehältern und den drei "Königstreuen", und das Wort"Reinheitsgebot" halten mich hei der Stange. Dassdie EG-Beamten das Reinheitsgebot aufheben wollen, erbittert mich.
1990: Hildegard sagt, dass sie kein Spülmittel benutzt. Merkwürdigerweise fälltder Schaum aber trotzdem zusammen.
Zum Essen wurdenBalladen aufgesagt.
Das Wasser rauscht',das Wasser schwoll,
Ein Fischer sass daran,
Sah nach der Angelruhevoll,
Kühl bis ans Herzhinan.
Uni entsprechendeVorbereitung hatte ich die Gäste gebeten. Herr vonRibbeck, die Timotheus-Angelegenheit, der Erlkönigusw. Im Grunde alles recht unerträglich. Aber im Bewusstseinder historischen Distanz eben doch unterhaltlich.
Ich erinnere mich nochgenau, wie der Student Peter in Bautzen den "Heideknaben" aufsagteoder besser aufschrie, das hat uns damals sehr beeindruckt.
"Er zog einMesser!" - "War das, wie dies?"
"Ach ja, achja!" - "Er zog's?" - "Undstiess"
Als pervers aber muss ich es bezeichnen, dass derDeutschlehrer uns noch im Stalingradjahr die "Bürgschaft" auswendiglernen liess.
Zwischen Räucherfischund Bleigiessen las ich aus dem "Neuling" ein paar Seiten. Leiderschwiegen die Gäste sich - obwohl hochqualifiziert - hinterher aus. Die Uhr tickte, und ichschwieg ebenfalls, leicht aufkochend. Vielleicht dachten sie: Er ist sowiesoschon so erregt, bloss nicht noch reizen. Es wurde also peinlich, was mich nochmehr "reizte". Ich kenne dieses Schweigen vom Familienkreis her. Daheisst es auch immer nur: Sehr schön! wenn ich mich mal produziere.
MeineSilvestergereiztheit wurde diesmal ohne weiteres hingenommen. Man hat sich wohldaran gewöhnt: So ist er nun mal. Ich hab' schon gedacht, ob die Wut, die sichjeden Altjahrsabend bei mir einstellt, vielleicht on den Gewürzen im Glühweinherrührt, von dem ich dann leider doch das eine oder andre Glas trinke! - Esspielt gewiss auch der Gedanke eine Rolle, bisMitternacht feiern zu
müssen, das empfindeich als eine Art Freiheitsberaubung. Spät am Abend sorgte der senfgefüllteBerliner für jene Stimmung, die jede lustige Gesellschaft zu Silvestererwartet, obwohl ein senfgefüllter Berliner in einem Kreis wie dem unsrigen, grünbewegt und sozialbewusst, alsSünde empfunden wird, "wo doch in Indien Millionen von Kindernhungern!".
Die herumgereichtePolaroidkamera machte ebenfalls Laune. Wie man sich ausnimmt, kann man ja nichtoft genug zu sehen kriegen. Die Standuhr schlug zwölf, die Atomuhr im Fernsehn ebenfalls, die Raketen wurden vom Wind verweht,die Hunde verkrochen sich vor der Knallerei, und ich ging zu Bett und hörte inmeinem Recorder, auf dem Rücken liegend, die Hände wie auf dem Sterbebettgefaltet, den "Heiligen Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit".
Die andern feiertennoch bis vier Uhr früh, ihr Lärm drang zu mir herauf. Sie waren wohl von Herzenfroh, dass sie mich los waren. Unsere Eltern pflegtenzu weinen, wenn es zwölf schlug, unsereiner atmet auf.
Als Tischdame hatte ichmir die kleine Stephanie ausgesucht. Das gab dem Altjahrsabend einen gewissenSchmelz. Ich bekam von ihr ganz unvermutet einen trocknen, ja rissigen Kuss, von ihrer vollblütigen Mutter einen feuchten.
© Albrecht Knaus Verlag
Walter Kempowski verstarb am 5. Oktober 2007 im Kreise seiner Familie. Er gehört zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Seit 30 Jahren erscheint sein umfangreiches Werk im Knaus Verlag.
- Autor: Walter Kempowski
- 2006, 636 Seiten, 50 Schwarz-Weiss-Abbildungen, mit zahlreichen Abbildungen, Masse: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442734193
- ISBN-13: 9783442734191
- Erscheinungsdatum: 12.12.2005
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