Schweinehunde
Roman
In einer Turnhalle in Kopenhagen entdecken zwei Schulkinder fünf Leichen. Kommissar Simonsen und sein Team ermitteln: Schnell führt die Spur zu Missbrauchsfällen. Haben sich hier Opfer an ihren Peinigern gerächt? Die...
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Produktinformationen zu „Schweinehunde “
In einer Turnhalle in Kopenhagen entdecken zwei Schulkinder fünf Leichen. Kommissar Simonsen und sein Team ermitteln: Schnell führt die Spur zu Missbrauchsfällen. Haben sich hier Opfer an ihren Peinigern gerächt? Die Bevölkerung sympathisiert mit den Mördern und Simonsen muss Lynchjustiz verhindern.
Klappentext zu „Schweinehunde “
In einem Vorort von Kopenhagen entdecken zwei Schulkinder in der Turnhalle fünf grausam ermordete Männer. Die Toten wurden mit mathematischer Präzision an der Decke aufgehängt. Trotz der bestialischen Inszenierung finden sich keine Blutspuren auf dem Hallenboden.Kriminalhauptkommissar Konrad Simonsen und sein Team um Nathalie von Rosen verdächtigen den Hausmeister der Schule: Per Clausen, ein gescheitertes Mathegenie, das die Polizei mit kryptischen Falschaussagen irritiert. Aber kein Mann allein kann diese Tat vollbracht haben!
Die Identität der Toten scheint der Schlüssel zu den Tätern zu sein. Doch plötzlich wird in den Medien das Gerücht verbreitet, dass es sich bei den Mördern um Missbrauchsopfer handelt, die sich an ihren Peinigern von einst gerächt haben. Immer mehr Menschen aus der Bevölkerung sympathisieren mit dem angeblichen Racheakt. Konrad Simonsen muss die üblichen Ermittlungswege verlassen, bevor eine Lynchjustiz Dänemark regiert
Lese-Probe zu „Schweinehunde “
Schweinehunde von Lotte und Søren HammerProlog
... mehr
Der Mann auf dem Feld warf das letzte Spaltholz an seinen Platz. Danach richtete er sich auf, presste sich die
Handrücken ins Kreuz und beugte sich ein paarmal nach hinten, um seinen empfindlichen Rücken zu entlasten. Er war körperliche Arbeit gewohnt, so dass ihm die paar Stunden, die er gebraucht hatte, um die Grube zu füllen, nicht sonderlich viel ausgemacht hatten. Außerdem stand das leichte Ziehen der Muskeln in keinem Verhältnis zu dem, was er im Laufe dieses Tages vollbracht hatte. Es verwunderte ihn lediglich.
Etwas schwerfällig nahm er den letzten Kanister Petroleum und kippte den Inhalt über die Meterscheite, deren oberste Lage mit dem Erdboden abschloss. Ungefähr fünfzehn Raummeter trockenes Buchenholz, vermischt mit Ulme, Kastanie und Birke, samt einigen wenigen schweren Pflaumenholzstücken, die er an der rotbraunen Rinde erkannt hatte, die diese Bäume auf der Sonnenseite bekamen. Des Weiteren einunddreißig Sack Kohle, die Anzahl hatte er sich vor Beginn der Arbeit genau eingeprägt und Sack für Sack abgezählt, als er sie hierher getragen hatte. Auf diese Weise war ihm die Arbeit weniger monoton vorgekommen. Er blickte auf seine Uhr und bemerkte, dass das Zifferblatt mit Blut verklebt war und er keinen der Zeiger erkennen konnte. Wie beim letzten Mal, als er einen Blick darauf geworfen hatte. Irritiert nahm er sie ab und warf sie auf das Holz, bevor er seinen Blick auf den immer dunkler werdenden Himmel richtete. Die niedrige Wolkendecke im Westen wurde von der untergehenden Sonne dunkelrot angestrahlt, während der See, der unterhalb des Feldes lag, nur grau und undeutlich zu erkennen war. Ein Unwetter war im Anmarsch.
Er holte frische Kleider und eine Packung feuchte Tücher aus seinem Rucksack und entblößte seinen durchtrainierten Oberkörper. Obgleich ihm schnell kalt wurde, genoss er die Feuchtigkeit auf seiner Haut, als er sich methodisch zu waschen begann. Besonders gründlich war er mit dem Kopf und den Händen, auf denen der Kohlenstaub seine Spuren hinterlassen hatte, wodurch er in der Öffentlichkeit aufgefallen wäre. Ihm kam in den Sinn, dass er an einen Spiegel hätte denken sollen, bevor er lächelnd in die Dämmerung blickte. Normalerweise kümmerte er sich nicht um sein eigenes Spiegelbild, aber dieser Tag war kein normaler Tag. Vielleicht hätte er gerade heute, auf diesem gottverlassenen Acker auf Seeland, mit einem gewissen Stolz auf sich selbst schauen und möglicherweise sogar seinen bescheuerten Spitznamen ablegen können. Alle nannten ihn Kletterer. Nur wenige, wenn überhaupt jemand, kannten seinen richtigen Namen; ein Name, der noch aus einer Zeit stammte, in der sich Menschen um ihn gekümmert und er etwas für andere empfunden hatte. Bis ... bis es dann nicht mehr so gewesen war.
Der Gedanke an seine Kindheit blieb nicht ungestraft: Die Schmerzen in seinem Rücken strahlten plötzlich wie ein scharfes Ziehen in seine Hoden und über die Rückseite seiner Schenkel aus. Er ignorierte sie und konzentrierte sich darauf, die frischen Kleider anzuziehen, während er die alten aufs Holz warf. Als er fertig war, spürte er, wie ihn die Süße der Rache berauschte. Abgesehen von einer einzigen nicht vorhergesehenen Situation, die er für sich behalten hatte und später auf eigene Faust hatte lösen müssen, hatte er seinen Job ordnungsgemäß erledigt. Jetzt waren die anderen der Gruppe an der Reihe.
Er holte das Feuerzeug hervor, kniete sich hin und zündete das Holz an. Das Petroleum brannte sofort, und die Flammen schlugen ihm entgegen, so dass er erschrocken ein paar Schritte nach hinten zurückwich. Einen kurzen Moment lang wärmte er sich an den Flammen, doch die tiefe Abneigung, die er für Feuer empfand, gewann schnell die Oberhand.
Ein Blitz zerriss die Dämmerung, und er drehte sich ruhig um und betrachtete den Himmel. Das Unwetter war schneller gekommen, als er es erwartet hatte. Über den Hang links von ihm, dort wo der Wald steil zum Wasser hin abfiel, trieben zwei scharf umgrenzte schwarze Regenwände auf ihn zu, als hätte die Erde sich geöffnet und die dunklen Kräfte der Unterwelt freigegeben. Wieder ein Blitz, und eine dritte Wasserwand raste über den Hang auf ihn zu. Dann war der Regen da. Große, aggressive Tropfen, Tausende scharfer Pfeile, die vom Boden zurückgeworfen wurden und Erdpartikel bis über die steifen Stoppeln herausrissen. Machtvoll, reinigend, voller Gerechtigkeit.
Einen Augenblick lang sah er besorgt auf die Flammen, aber das Wasser konnte das Feuer nicht löschen, sondern nur in Schach halten. Dann drehte er sich um und ging entschlossen auf den Wald zu, ohne sich noch einmal umzudrehen. Bald darauf wurde er von der Dunkelheit verschluckt.
1
Am Montagmorgen wälzte sich der Nebel wie weiße Wattewellen über das Land. Die beiden Kinder sahen
kaum die Hand vor den Augen, als sie über den Schulhof gingen. Sie orientierten sich aus dem Gedächtnis, doch schon bald wurden ihre Schritte vorsichtig und tastend. Der Junge blieb ein Stück hinter dem Mädchen und hielt seine Tasche umklammert. Plötzlich blieb er stehen und sagte ängstlich: »Du darfst mir aber nicht weglaufen.«
Auch das Mädchen hielt inne. Der Nebel kondensierte in ihren Haaren, und sie wischte sich die Tropfen von der Stirn, während sie geduldig auf ihren Bruder wartete, der den Ranzen auf seinen Rücken zu setzen versuchte. Er hatte Türkisch gesprochen, was er nur selten tat und eigentlich nie mit ihr. Er rang mit den Schultergurten, und sie ging einen Schritt auf ihn zu, half ihm aber nicht. Als er endlich fertig war, nahm er ihre Hand. Sie blickte sich um und sah nichts außer Nebel und Dunkelheit. Sie sagte: »Jetzt guck doch, was du getan hast.«
»Was habe ich denn getan?«
Er umklammerte ihre Hand und hörte sich kleinlaut an.
Sie entschied sich aufs Geratewohl für eine Richtung, trat mutig ein paar Schritte ins Nichts und blieb wieder stehen. Der Junge drückte sich an sie.
»Sind wir verloren?«
»Idiot.«
»Bei Mama war es hell.«
»Gleich ist es auch hier hell.«
»Was bedeutet verloren?«
Sie antwortete ihm nicht, sondern versuchte sich selbst davon zu überzeugen, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Der Schulhof war nicht groß, sie mussten bloß weitergehen.
»Wir dürfen nicht mit Fremden mitgehen. Egal, was geschieht, wir dürfen nicht mit Fremden mitgehen, oder?«
Seine Stimme klang weinerlich, und sie zog ihn ein paar unentschlossene Schritte hinter sich her, bis sie plötzlich vor sich einen dunklen Umriss wahrnahm und darauf zuging.
Der Junge ließ ihre Hand los, als sie den Haupteingang erreichten, und stürmte vor ihr her ins Gebäude. Er hatte schon vergessen, dass er eben noch den Tränen nahe gewesen war.
Kurz darauf trafen sie sich auf dem Gang vor der Turnhalle. Das Mädchen saß lesend auf einer Bank, als der Junge mit einem Ball angerannt kam.
»Spielst du mit mir Fußball? Du kannst das so gut!«
»Hast du deine Sachen ordentlich aufgehängt und die Tasche an ihren Platz vor dem Klassenzimmer gestellt?«
Er riss die Augen weit auf und nickte bestätigend, wie die Glaubwürdigkeit selbst.
»Geh hoch und tu, was ich dir gesagt habe.«
Ohne Widerspruch zog er ab, kam aber gleich darauf wieder und brachte seine Bitte erneut vor.
»Ich muss erst noch etwas lesen. Geh schon mal rüber, ich komme dann.«
Skeptisch blickte er auf das Buch. Es war dick.
»Kommst du auch wirklich bald?«
»Wenn ich mit dem Kapitel fertig bin. Es dauert nicht lange.«
Er verschwand in der Halle. Kurz darauf hörte sie das Klatschen und Abprallen des Balles. Sie las weiter, ließ sich von der Lektüre forttragen, schloss mitunter die Augen und träumte, selbst eine Figur in dieser Geschichte zu sein.
Der Junge riss sie aus ihren Träumen.
»Es ist nicht genug Platz zum Spielen«, rief er ihr aus der Halle zu.
»Warum nicht?«
»Weil da Männer hängen.«
»Dann spiel um sie herum.«
Plötzlich stand er vor ihr. Sie hatte ihn nicht kommen gehört.
»Ich mag diese Männer nicht.«
Das Mädchen schnupperte prüfend in die Luft.
»Hast du gepupst?«
»Nein, aber ich mag keine toten Männer. Die sind aufgeschnitten.«
Sie stand verwirrt auf und ging zur Tür der Turnhalle. Ihr Bruder folgte ihr.
Fünf Männer hingen an Seilen von der Decke herab. Sie waren nackt und starrten sie an.
»Die sind doch eklig, oder? Das stimmt doch, oder?« »Ja«, antwortete sie und schloss die Tür.
Dann legte sie ihren Arm um den Jungen.
»Können wir jetzt Fußball spielen?«
»Nein, das können wir jetzt nicht. Wir müssen einen Erwachsenen finden.«
2
Kriminalhauptkommissar Konrad Simonsen genoss seine Ferien. Er saß oben im Panoramazimmer des Sommer-
häuschens, rauchte seine vierte Zigarette zu seiner vierten Tasse Kaffee, während er durch das überdimensionale Fenster auf die heraneilenden Stratuswolken schaute und an nichts dachte.
Die athletische junge Frau, die nach ihrer morgendlichen Joggingrunde ins Zimmer kam, hatte Schuhe und Strümpfe ausgezogen, so dass er sie nicht hörte und entsprechend erschrak, als sie ihn ansprach. Außerdem war er es gewohnt, allein zu sein.
»Puh, Papa, du könntest wenigstens ein bisschen lüften.«
Die heftige Äußerung bezog sich auf den Qualm der Zigaretten, der schwer im Raum hing. Sie riss die Terrassentür auf, und eine steife Meeresbrise wehte ins Zimmer und spielte wild mit ihren blonden Locken, bis sie das Gefühl hatte, dass der schlimmste Gestank verflogen war, und sie die Tür wieder schloss. Danach ließ sie sich ihm gegenüber auf den Sessel fallen, ohne sich darum zu kümmern, dass dabei die Zeitung, die aus dem Bund ihrer Jogginghose ragte, vollkommen zerknitterte.
Er sagte: »Guten Morgen, bist du bis nach Blokhus gelaufen? Das ist ganz schön weit!«
»Na ja, Morgen, es ist bald Mittag, du Langschläfer. Ja, ich war bis Blokhus, aber so weit ist das auch wieder nicht.«
Er zeigte neugierig auf die Zeitung.
»Ist die für mich?«
Sie antwortete ihm in einem ironischen Tonfall, klang aber dennoch freundlich: »Und danke, liebe Tochter, dass du Kaffee gekocht hast.«
»Und danke, liebe Anna Mia, dass du Kaffee für mich gekocht hast.«
Sie zog die Zeitung aus dem Hosenbund, erblickte dann aber den Aschenbecher, und ihr harter Blick verriet ihm, was jetzt kommen würde. Mit anklagender Miene deutete sie auf die Kippen, und plötzlich war auch ihr Bornholmer Dialekt wieder da.
»Vier Zigaretten vor dem Frühstück?«
»Also, ich habe schließlich Ferien, da ist doch alles ein bisschen anders als normal.«
Diese Lüge hätte er sich sparen können.
»Du rauchst viel zu viel, du trinkst zu viel, du isst ungesund, und dich übergewichtig zu nennen ist bald nur noch eine höfliche Untertreibung.«
Halbherzig versuchte er, sich zu verteidigen:
»Auf der Arbeit rauche ich fast gar nicht mehr und abends nur ganz wenig, dann darf ich in den Ferien die Zügel doch wohl ein bisschen schleifen lassen.«
»Tja, sieht man mal davon ab, dass du lügst, klingt das beinahe vernünftig.«
Er wusste nicht, was er sagen sollte, und blickte auf die Zeitung, die ihm plötzlich unerreichbar erschien. Der Ernst in ihrer Stimme nahm noch zu:
»Du weißt ganz genau, dass du mir fünfzehn Jahre schuldest, Papa?«
Die Zahl brannte ihm auf der Seele, und das wohlbekannte Gefühl, ein schlechter Vater zu sein, meldete sich sofort wieder. Es hatte sich jetzt drei Jahre still verhalten. Seit diesem friedlichen Maiabend, an dem sie plötzlich auf seiner Türschwelle gestanden und ihm erklärt hatte, dass sie eine Woche in Kopenhagen und es doch am praktischsten sei, wenn sie bei ihm wohne. Außerdem könne sie so Geld sparen. Aus ihrem Munde hatte das damals wie das Natürlichste der Welt geklungen. Und dann war sie in seine Wohnung marschiert und in sein Leben - ein unbekanntes, sechzehnjähriges Mädchen, süß, temperamentvoll und höchst lebendig ... seine Tochter.
Er hatte kaum eine andere Wahl, als den Rückzug anzutreten und auf Gnade zu hoffen, aber die Worte wollten einfach nicht über seine Lippen. Er hatte keine Lust, sich zu entschuldigen, das kam ihm dumm vor, und ihr Buße und Besserung zu geloben und ein gesünderes Leben in Aussicht zu stellen war leichter gesagt als getan. Außerdem war er von Natur aus zurückhaltend, wenn es darum ging, andere in seine Gefühle einzuweihen. Er versuchte sich an ein paar halbherzigen Versprechen, bis sie plötzlich den Ernst über Bord warf und das Thema wechselte.
»Lass uns ein anderes Mal darauf zurückkommen, Papa. Sag mir lieber, ob du dich inzwischen an das Ambiente hier gewöhnt hast? Das ist doch wirklich ein mondänes Ferienhaus, das Nathalie hier hochgezogen hat.«
Auch dieses Thema war brandheiß, wenngleich nicht so persönlich, und wüsste er es nicht besser, hätte er sie verdächtigt, es absichtlich jetzt anzusprechen, da er in der Defensive war. Aber so war sie nicht. Nur er sah in jedem Gespräch ein strategisches Spiel mit Siegern und Verlierern - eine schlechte Angewohnheit, die er etwas zu leicht als Berufskrankheit abtat, als eine Folge zu vieler Verhöre. Er versuchte, sich nicht provozieren zu lassen.
»Ja, es ist schön hier.«
»Und warum bist du dann vorgestern, als wir hierher gekommen sind, so ausgerastet?«
»Weil die Comtesse meine Untergebene ist, das Ganze hat mich einfach umgehauen.«
»Aber du wusstest doch, dass es ihres ist?«
»Ja, mein liebes Mädchen, das war mir klar, aber ich hatte doch keine Ahnung, was für eine noble Bude die hier hat. Noch die exklusivsten Ferienhausvermieter würden sich nach diesem Luxusding die Finger lecken, und das mit Dollar zeichen in den Augen. Dass wir dieses Haus für einen Appel und ein Ei gemietet haben, ist unethisch und bestimmt auch irgendwie illegal.«
»Sie ist reich, na und? Und das liebe Mädchen kannst du dir an den Hut stecken!«
»Außerdem quillt der Kühlschrank vor Essen nur so über, wir könnten hier überwintern.«
»Wir wollen aber nicht überwintern, sondern bloß vierzehn Tage hierbleiben, im Übrigen brauchst du ja nichts zu essen. Es schadet dir bestimmt nicht, ein bisschen von deinen Reserven zu leben.«
»Kein Essen, kein Trinken, keine Zigaretten. Was kommt als Nächstes?«
Sie überhörte ihn und stichelte weiter:
»Wusstest du, dass die italienischen Terrakottafliesen auf der Terrasse handgemalt sind und dass der Marmor im Eingangsbereich Ølandsbrud heißt?«
»Woher weißt du denn das?«
»Von Nathalie natürlich.«
Niemand sonst nannte die Comtesse Nathalie, und in seinen Ohren klang das höchst merkwürdig. Nathalie von Rosen war zwar ihr Geburtsname, aber jeder nannte sie nur Comtesse, sie selbst eingeschlossen.
»Bist du früher schon mal hier gewesen?«
»Ja, klar.«
»Das wird ja immer schlimmer.«
»Dann flippst du gleich bestimmt total aus, denn ich habe noch ein Geschenk für dich.«
»Ein Geschenk? Von wem?«
»Von Nathalie, aber ich dachte, dass ich damit lieber ein paar Tage warte.«
Sein verwirrter Gesichtsausdruck war keineswegs gespielt.
»Also, Papa, manchmal bist du einfach zu kompliziert. So schwer ist das doch nicht zu verstehen. Wenn du mich fragst, mag sie dich sehr gern, und wenn du nur ein wenig auf dich achten und fünfzehn bis zwanzig Kilo abnehmen würdest, wärst du vermutlich eine richtig gute Partie.«
Das schnelle Klatschen nackter Füße auf dem pommerschen Kiefernboden erfüllte den Raum, und sie war weg, bevor er ihren absurden Gedanken auch nur kommentieren konnte.
Das Geschenk der Comtesse war genial. Wie ein neugieriger Papagei saß Anna Mia auf der Lehne seines Sessels und verpasste keine Sekunde, als er es auspackte. Aron Nimzowitsch, Mein System, die Originalausgabe aus dem Jahr 1925, mit einer Widmung des Meisters persönlich - ein kostbarer Schatz, der ihn für einen Augenblick beinahe in Ekstase versetzte. Anna Mia gelang es, einen Blick über seine Schulter zu werfen.
»Was meint sie mit ›Danke für die Hilfe‹?«
Er drehte die Karte um, aber zu spät.
»Sag mal, hast du keine Erziehung genossen? Man liest doch keine Post von anderen Leuten!«
»Ich schon. Womit hast du ihr geholfen?«
»Das geht dich nichts an!«
Sie blieben einen Moment schweigend sitzen. Sie auf seiner Armlehne, er im Sessel.
»Wie gut kennt ihr beiden euch eigentlich?«
»Wer? Nathalie und ich?« Ihre gespielte Gleichgültigkeit war fast mit den Händen zu greifen.
»Ja, natürlich!«
»Das geht dich nichts an!«
Womit sie wieder am gleichen Punkt angelangt waren.
Wenig später wurde sie redseliger: »Ich kenne Nathalie nicht sonderlich gut, und wir haben nichts hinter deinem Rücken unternommen. Auf jeden Fall nicht viel, und dass ich schon mal hier war, ist einem absoluten Zufall zu verdanken. Wir haben uns im Sommer in Skagen zufällig getroffen, und sie hat mich zum Lunch einge laden. Außerdem weiß ich doch, wann du ihr geholfen hast. Das war während ihrer Scheidung, nicht wahr?«
Er schwieg.
»Wir haben uns ein wenig ausgetauscht.« Sie streichelte ihm zärtlich über die hohe Stirn bis zum Haaransatz. »Ich glaube, dass du dir dein Buch redlich verdient hast, Papa. Also tu mir ein für alle Mal den Gefallen und rede nicht mehr über den Preis, okay. Nathalie würde nie auf die Idee kommen, irgendwelche Gegenleistungen für ihre Geschenke zu verlangen. So ist sie nicht, und das weißt du ganz genau.«
»Nein, das würde sie nie tun. Aber es geht ums Prinzip.« »Vielleicht sind manche deiner Prinzipien einfach fehl am Platz.«
Sie stand auf und trat ans Fenster, während er vorsichtig, fast andächtig eine Seite im Buch umblätterte.
»Ich nehme ein Bad. In der Zwischenzeit kannst du dir ja überlegen, was wir heute mit dem Tag anfangen sollen.« »Ja, ja, ist in Ordnung.«
Er war so in sein Schachbuch versunken, dass sie ihn zweimal rufen musste, bevor er sie hörte, sich aufrichtete und zu ihr sah, und er bemerkte dabei nicht einmal, dass die Stimmung schon wieder umgeschlagen war.
»Ist dein Handy eingeschaltet?«
»Nein, wir hatten doch abgemacht, dass wir hier ganz für uns sein wollten, weißt du nicht mehr? Warum fragst du?« Er stand mit einem letzten langen Blick auf die Schachfiguren im Buch auf, trat ans Fenster und sah zum Horizont. Die wellige Küstenlandschaft entfaltete sich unter ihm in Form von unregelmäßigen, windgepeitschten Anhöhen, manche hell im Licht der Sonne, andere dunkelgrau mit fast schwarzen Rücken, überwuchert von Heckenrose oder festgehalten von Strandhafer. Ganz hinten konnte er das Meer mit seinen glitzernden, weißen Wellenkämmen sehen, und hoch oben am Himmel flog eine Schar Graugänse in Richtung Süden an der Küste entlang. Auf einmal spürte er Anna Mias Arme um sich. Ihr Kopf lehnte sich schwer an seinen Rücken. Ein plötzliches Gefühl von Scham übermannte ihn, als wäre ihre Jugend ein Tabu. Trotzdem blieb er stehen, und nach mehreren nicht enden wollenden Sekunden sagte sie leise: »Du wirst abgeholt, Papa.«
Erst in diesem Moment sah er es. Ein ekelerregender Fremdkörper kroch langsam den kurvigen Kliffweg empor: ein Polizeiwagen.
...
Übersetzung: Günther Frauenlob
Copyright © 2011 der deutschsprachigen Ausgabe bei Droemer Verlag.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Der Mann auf dem Feld warf das letzte Spaltholz an seinen Platz. Danach richtete er sich auf, presste sich die
Handrücken ins Kreuz und beugte sich ein paarmal nach hinten, um seinen empfindlichen Rücken zu entlasten. Er war körperliche Arbeit gewohnt, so dass ihm die paar Stunden, die er gebraucht hatte, um die Grube zu füllen, nicht sonderlich viel ausgemacht hatten. Außerdem stand das leichte Ziehen der Muskeln in keinem Verhältnis zu dem, was er im Laufe dieses Tages vollbracht hatte. Es verwunderte ihn lediglich.
Etwas schwerfällig nahm er den letzten Kanister Petroleum und kippte den Inhalt über die Meterscheite, deren oberste Lage mit dem Erdboden abschloss. Ungefähr fünfzehn Raummeter trockenes Buchenholz, vermischt mit Ulme, Kastanie und Birke, samt einigen wenigen schweren Pflaumenholzstücken, die er an der rotbraunen Rinde erkannt hatte, die diese Bäume auf der Sonnenseite bekamen. Des Weiteren einunddreißig Sack Kohle, die Anzahl hatte er sich vor Beginn der Arbeit genau eingeprägt und Sack für Sack abgezählt, als er sie hierher getragen hatte. Auf diese Weise war ihm die Arbeit weniger monoton vorgekommen. Er blickte auf seine Uhr und bemerkte, dass das Zifferblatt mit Blut verklebt war und er keinen der Zeiger erkennen konnte. Wie beim letzten Mal, als er einen Blick darauf geworfen hatte. Irritiert nahm er sie ab und warf sie auf das Holz, bevor er seinen Blick auf den immer dunkler werdenden Himmel richtete. Die niedrige Wolkendecke im Westen wurde von der untergehenden Sonne dunkelrot angestrahlt, während der See, der unterhalb des Feldes lag, nur grau und undeutlich zu erkennen war. Ein Unwetter war im Anmarsch.
Er holte frische Kleider und eine Packung feuchte Tücher aus seinem Rucksack und entblößte seinen durchtrainierten Oberkörper. Obgleich ihm schnell kalt wurde, genoss er die Feuchtigkeit auf seiner Haut, als er sich methodisch zu waschen begann. Besonders gründlich war er mit dem Kopf und den Händen, auf denen der Kohlenstaub seine Spuren hinterlassen hatte, wodurch er in der Öffentlichkeit aufgefallen wäre. Ihm kam in den Sinn, dass er an einen Spiegel hätte denken sollen, bevor er lächelnd in die Dämmerung blickte. Normalerweise kümmerte er sich nicht um sein eigenes Spiegelbild, aber dieser Tag war kein normaler Tag. Vielleicht hätte er gerade heute, auf diesem gottverlassenen Acker auf Seeland, mit einem gewissen Stolz auf sich selbst schauen und möglicherweise sogar seinen bescheuerten Spitznamen ablegen können. Alle nannten ihn Kletterer. Nur wenige, wenn überhaupt jemand, kannten seinen richtigen Namen; ein Name, der noch aus einer Zeit stammte, in der sich Menschen um ihn gekümmert und er etwas für andere empfunden hatte. Bis ... bis es dann nicht mehr so gewesen war.
Der Gedanke an seine Kindheit blieb nicht ungestraft: Die Schmerzen in seinem Rücken strahlten plötzlich wie ein scharfes Ziehen in seine Hoden und über die Rückseite seiner Schenkel aus. Er ignorierte sie und konzentrierte sich darauf, die frischen Kleider anzuziehen, während er die alten aufs Holz warf. Als er fertig war, spürte er, wie ihn die Süße der Rache berauschte. Abgesehen von einer einzigen nicht vorhergesehenen Situation, die er für sich behalten hatte und später auf eigene Faust hatte lösen müssen, hatte er seinen Job ordnungsgemäß erledigt. Jetzt waren die anderen der Gruppe an der Reihe.
Er holte das Feuerzeug hervor, kniete sich hin und zündete das Holz an. Das Petroleum brannte sofort, und die Flammen schlugen ihm entgegen, so dass er erschrocken ein paar Schritte nach hinten zurückwich. Einen kurzen Moment lang wärmte er sich an den Flammen, doch die tiefe Abneigung, die er für Feuer empfand, gewann schnell die Oberhand.
Ein Blitz zerriss die Dämmerung, und er drehte sich ruhig um und betrachtete den Himmel. Das Unwetter war schneller gekommen, als er es erwartet hatte. Über den Hang links von ihm, dort wo der Wald steil zum Wasser hin abfiel, trieben zwei scharf umgrenzte schwarze Regenwände auf ihn zu, als hätte die Erde sich geöffnet und die dunklen Kräfte der Unterwelt freigegeben. Wieder ein Blitz, und eine dritte Wasserwand raste über den Hang auf ihn zu. Dann war der Regen da. Große, aggressive Tropfen, Tausende scharfer Pfeile, die vom Boden zurückgeworfen wurden und Erdpartikel bis über die steifen Stoppeln herausrissen. Machtvoll, reinigend, voller Gerechtigkeit.
Einen Augenblick lang sah er besorgt auf die Flammen, aber das Wasser konnte das Feuer nicht löschen, sondern nur in Schach halten. Dann drehte er sich um und ging entschlossen auf den Wald zu, ohne sich noch einmal umzudrehen. Bald darauf wurde er von der Dunkelheit verschluckt.
1
Am Montagmorgen wälzte sich der Nebel wie weiße Wattewellen über das Land. Die beiden Kinder sahen
kaum die Hand vor den Augen, als sie über den Schulhof gingen. Sie orientierten sich aus dem Gedächtnis, doch schon bald wurden ihre Schritte vorsichtig und tastend. Der Junge blieb ein Stück hinter dem Mädchen und hielt seine Tasche umklammert. Plötzlich blieb er stehen und sagte ängstlich: »Du darfst mir aber nicht weglaufen.«
Auch das Mädchen hielt inne. Der Nebel kondensierte in ihren Haaren, und sie wischte sich die Tropfen von der Stirn, während sie geduldig auf ihren Bruder wartete, der den Ranzen auf seinen Rücken zu setzen versuchte. Er hatte Türkisch gesprochen, was er nur selten tat und eigentlich nie mit ihr. Er rang mit den Schultergurten, und sie ging einen Schritt auf ihn zu, half ihm aber nicht. Als er endlich fertig war, nahm er ihre Hand. Sie blickte sich um und sah nichts außer Nebel und Dunkelheit. Sie sagte: »Jetzt guck doch, was du getan hast.«
»Was habe ich denn getan?«
Er umklammerte ihre Hand und hörte sich kleinlaut an.
Sie entschied sich aufs Geratewohl für eine Richtung, trat mutig ein paar Schritte ins Nichts und blieb wieder stehen. Der Junge drückte sich an sie.
»Sind wir verloren?«
»Idiot.«
»Bei Mama war es hell.«
»Gleich ist es auch hier hell.«
»Was bedeutet verloren?«
Sie antwortete ihm nicht, sondern versuchte sich selbst davon zu überzeugen, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Der Schulhof war nicht groß, sie mussten bloß weitergehen.
»Wir dürfen nicht mit Fremden mitgehen. Egal, was geschieht, wir dürfen nicht mit Fremden mitgehen, oder?«
Seine Stimme klang weinerlich, und sie zog ihn ein paar unentschlossene Schritte hinter sich her, bis sie plötzlich vor sich einen dunklen Umriss wahrnahm und darauf zuging.
Der Junge ließ ihre Hand los, als sie den Haupteingang erreichten, und stürmte vor ihr her ins Gebäude. Er hatte schon vergessen, dass er eben noch den Tränen nahe gewesen war.
Kurz darauf trafen sie sich auf dem Gang vor der Turnhalle. Das Mädchen saß lesend auf einer Bank, als der Junge mit einem Ball angerannt kam.
»Spielst du mit mir Fußball? Du kannst das so gut!«
»Hast du deine Sachen ordentlich aufgehängt und die Tasche an ihren Platz vor dem Klassenzimmer gestellt?«
Er riss die Augen weit auf und nickte bestätigend, wie die Glaubwürdigkeit selbst.
»Geh hoch und tu, was ich dir gesagt habe.«
Ohne Widerspruch zog er ab, kam aber gleich darauf wieder und brachte seine Bitte erneut vor.
»Ich muss erst noch etwas lesen. Geh schon mal rüber, ich komme dann.«
Skeptisch blickte er auf das Buch. Es war dick.
»Kommst du auch wirklich bald?«
»Wenn ich mit dem Kapitel fertig bin. Es dauert nicht lange.«
Er verschwand in der Halle. Kurz darauf hörte sie das Klatschen und Abprallen des Balles. Sie las weiter, ließ sich von der Lektüre forttragen, schloss mitunter die Augen und träumte, selbst eine Figur in dieser Geschichte zu sein.
Der Junge riss sie aus ihren Träumen.
»Es ist nicht genug Platz zum Spielen«, rief er ihr aus der Halle zu.
»Warum nicht?«
»Weil da Männer hängen.«
»Dann spiel um sie herum.«
Plötzlich stand er vor ihr. Sie hatte ihn nicht kommen gehört.
»Ich mag diese Männer nicht.«
Das Mädchen schnupperte prüfend in die Luft.
»Hast du gepupst?«
»Nein, aber ich mag keine toten Männer. Die sind aufgeschnitten.«
Sie stand verwirrt auf und ging zur Tür der Turnhalle. Ihr Bruder folgte ihr.
Fünf Männer hingen an Seilen von der Decke herab. Sie waren nackt und starrten sie an.
»Die sind doch eklig, oder? Das stimmt doch, oder?« »Ja«, antwortete sie und schloss die Tür.
Dann legte sie ihren Arm um den Jungen.
»Können wir jetzt Fußball spielen?«
»Nein, das können wir jetzt nicht. Wir müssen einen Erwachsenen finden.«
2
Kriminalhauptkommissar Konrad Simonsen genoss seine Ferien. Er saß oben im Panoramazimmer des Sommer-
häuschens, rauchte seine vierte Zigarette zu seiner vierten Tasse Kaffee, während er durch das überdimensionale Fenster auf die heraneilenden Stratuswolken schaute und an nichts dachte.
Die athletische junge Frau, die nach ihrer morgendlichen Joggingrunde ins Zimmer kam, hatte Schuhe und Strümpfe ausgezogen, so dass er sie nicht hörte und entsprechend erschrak, als sie ihn ansprach. Außerdem war er es gewohnt, allein zu sein.
»Puh, Papa, du könntest wenigstens ein bisschen lüften.«
Die heftige Äußerung bezog sich auf den Qualm der Zigaretten, der schwer im Raum hing. Sie riss die Terrassentür auf, und eine steife Meeresbrise wehte ins Zimmer und spielte wild mit ihren blonden Locken, bis sie das Gefühl hatte, dass der schlimmste Gestank verflogen war, und sie die Tür wieder schloss. Danach ließ sie sich ihm gegenüber auf den Sessel fallen, ohne sich darum zu kümmern, dass dabei die Zeitung, die aus dem Bund ihrer Jogginghose ragte, vollkommen zerknitterte.
Er sagte: »Guten Morgen, bist du bis nach Blokhus gelaufen? Das ist ganz schön weit!«
»Na ja, Morgen, es ist bald Mittag, du Langschläfer. Ja, ich war bis Blokhus, aber so weit ist das auch wieder nicht.«
Er zeigte neugierig auf die Zeitung.
»Ist die für mich?«
Sie antwortete ihm in einem ironischen Tonfall, klang aber dennoch freundlich: »Und danke, liebe Tochter, dass du Kaffee gekocht hast.«
»Und danke, liebe Anna Mia, dass du Kaffee für mich gekocht hast.«
Sie zog die Zeitung aus dem Hosenbund, erblickte dann aber den Aschenbecher, und ihr harter Blick verriet ihm, was jetzt kommen würde. Mit anklagender Miene deutete sie auf die Kippen, und plötzlich war auch ihr Bornholmer Dialekt wieder da.
»Vier Zigaretten vor dem Frühstück?«
»Also, ich habe schließlich Ferien, da ist doch alles ein bisschen anders als normal.«
Diese Lüge hätte er sich sparen können.
»Du rauchst viel zu viel, du trinkst zu viel, du isst ungesund, und dich übergewichtig zu nennen ist bald nur noch eine höfliche Untertreibung.«
Halbherzig versuchte er, sich zu verteidigen:
»Auf der Arbeit rauche ich fast gar nicht mehr und abends nur ganz wenig, dann darf ich in den Ferien die Zügel doch wohl ein bisschen schleifen lassen.«
»Tja, sieht man mal davon ab, dass du lügst, klingt das beinahe vernünftig.«
Er wusste nicht, was er sagen sollte, und blickte auf die Zeitung, die ihm plötzlich unerreichbar erschien. Der Ernst in ihrer Stimme nahm noch zu:
»Du weißt ganz genau, dass du mir fünfzehn Jahre schuldest, Papa?«
Die Zahl brannte ihm auf der Seele, und das wohlbekannte Gefühl, ein schlechter Vater zu sein, meldete sich sofort wieder. Es hatte sich jetzt drei Jahre still verhalten. Seit diesem friedlichen Maiabend, an dem sie plötzlich auf seiner Türschwelle gestanden und ihm erklärt hatte, dass sie eine Woche in Kopenhagen und es doch am praktischsten sei, wenn sie bei ihm wohne. Außerdem könne sie so Geld sparen. Aus ihrem Munde hatte das damals wie das Natürlichste der Welt geklungen. Und dann war sie in seine Wohnung marschiert und in sein Leben - ein unbekanntes, sechzehnjähriges Mädchen, süß, temperamentvoll und höchst lebendig ... seine Tochter.
Er hatte kaum eine andere Wahl, als den Rückzug anzutreten und auf Gnade zu hoffen, aber die Worte wollten einfach nicht über seine Lippen. Er hatte keine Lust, sich zu entschuldigen, das kam ihm dumm vor, und ihr Buße und Besserung zu geloben und ein gesünderes Leben in Aussicht zu stellen war leichter gesagt als getan. Außerdem war er von Natur aus zurückhaltend, wenn es darum ging, andere in seine Gefühle einzuweihen. Er versuchte sich an ein paar halbherzigen Versprechen, bis sie plötzlich den Ernst über Bord warf und das Thema wechselte.
»Lass uns ein anderes Mal darauf zurückkommen, Papa. Sag mir lieber, ob du dich inzwischen an das Ambiente hier gewöhnt hast? Das ist doch wirklich ein mondänes Ferienhaus, das Nathalie hier hochgezogen hat.«
Auch dieses Thema war brandheiß, wenngleich nicht so persönlich, und wüsste er es nicht besser, hätte er sie verdächtigt, es absichtlich jetzt anzusprechen, da er in der Defensive war. Aber so war sie nicht. Nur er sah in jedem Gespräch ein strategisches Spiel mit Siegern und Verlierern - eine schlechte Angewohnheit, die er etwas zu leicht als Berufskrankheit abtat, als eine Folge zu vieler Verhöre. Er versuchte, sich nicht provozieren zu lassen.
»Ja, es ist schön hier.«
»Und warum bist du dann vorgestern, als wir hierher gekommen sind, so ausgerastet?«
»Weil die Comtesse meine Untergebene ist, das Ganze hat mich einfach umgehauen.«
»Aber du wusstest doch, dass es ihres ist?«
»Ja, mein liebes Mädchen, das war mir klar, aber ich hatte doch keine Ahnung, was für eine noble Bude die hier hat. Noch die exklusivsten Ferienhausvermieter würden sich nach diesem Luxusding die Finger lecken, und das mit Dollar zeichen in den Augen. Dass wir dieses Haus für einen Appel und ein Ei gemietet haben, ist unethisch und bestimmt auch irgendwie illegal.«
»Sie ist reich, na und? Und das liebe Mädchen kannst du dir an den Hut stecken!«
»Außerdem quillt der Kühlschrank vor Essen nur so über, wir könnten hier überwintern.«
»Wir wollen aber nicht überwintern, sondern bloß vierzehn Tage hierbleiben, im Übrigen brauchst du ja nichts zu essen. Es schadet dir bestimmt nicht, ein bisschen von deinen Reserven zu leben.«
»Kein Essen, kein Trinken, keine Zigaretten. Was kommt als Nächstes?«
Sie überhörte ihn und stichelte weiter:
»Wusstest du, dass die italienischen Terrakottafliesen auf der Terrasse handgemalt sind und dass der Marmor im Eingangsbereich Ølandsbrud heißt?«
»Woher weißt du denn das?«
»Von Nathalie natürlich.«
Niemand sonst nannte die Comtesse Nathalie, und in seinen Ohren klang das höchst merkwürdig. Nathalie von Rosen war zwar ihr Geburtsname, aber jeder nannte sie nur Comtesse, sie selbst eingeschlossen.
»Bist du früher schon mal hier gewesen?«
»Ja, klar.«
»Das wird ja immer schlimmer.«
»Dann flippst du gleich bestimmt total aus, denn ich habe noch ein Geschenk für dich.«
»Ein Geschenk? Von wem?«
»Von Nathalie, aber ich dachte, dass ich damit lieber ein paar Tage warte.«
Sein verwirrter Gesichtsausdruck war keineswegs gespielt.
»Also, Papa, manchmal bist du einfach zu kompliziert. So schwer ist das doch nicht zu verstehen. Wenn du mich fragst, mag sie dich sehr gern, und wenn du nur ein wenig auf dich achten und fünfzehn bis zwanzig Kilo abnehmen würdest, wärst du vermutlich eine richtig gute Partie.«
Das schnelle Klatschen nackter Füße auf dem pommerschen Kiefernboden erfüllte den Raum, und sie war weg, bevor er ihren absurden Gedanken auch nur kommentieren konnte.
Das Geschenk der Comtesse war genial. Wie ein neugieriger Papagei saß Anna Mia auf der Lehne seines Sessels und verpasste keine Sekunde, als er es auspackte. Aron Nimzowitsch, Mein System, die Originalausgabe aus dem Jahr 1925, mit einer Widmung des Meisters persönlich - ein kostbarer Schatz, der ihn für einen Augenblick beinahe in Ekstase versetzte. Anna Mia gelang es, einen Blick über seine Schulter zu werfen.
»Was meint sie mit ›Danke für die Hilfe‹?«
Er drehte die Karte um, aber zu spät.
»Sag mal, hast du keine Erziehung genossen? Man liest doch keine Post von anderen Leuten!«
»Ich schon. Womit hast du ihr geholfen?«
»Das geht dich nichts an!«
Sie blieben einen Moment schweigend sitzen. Sie auf seiner Armlehne, er im Sessel.
»Wie gut kennt ihr beiden euch eigentlich?«
»Wer? Nathalie und ich?« Ihre gespielte Gleichgültigkeit war fast mit den Händen zu greifen.
»Ja, natürlich!«
»Das geht dich nichts an!«
Womit sie wieder am gleichen Punkt angelangt waren.
Wenig später wurde sie redseliger: »Ich kenne Nathalie nicht sonderlich gut, und wir haben nichts hinter deinem Rücken unternommen. Auf jeden Fall nicht viel, und dass ich schon mal hier war, ist einem absoluten Zufall zu verdanken. Wir haben uns im Sommer in Skagen zufällig getroffen, und sie hat mich zum Lunch einge laden. Außerdem weiß ich doch, wann du ihr geholfen hast. Das war während ihrer Scheidung, nicht wahr?«
Er schwieg.
»Wir haben uns ein wenig ausgetauscht.« Sie streichelte ihm zärtlich über die hohe Stirn bis zum Haaransatz. »Ich glaube, dass du dir dein Buch redlich verdient hast, Papa. Also tu mir ein für alle Mal den Gefallen und rede nicht mehr über den Preis, okay. Nathalie würde nie auf die Idee kommen, irgendwelche Gegenleistungen für ihre Geschenke zu verlangen. So ist sie nicht, und das weißt du ganz genau.«
»Nein, das würde sie nie tun. Aber es geht ums Prinzip.« »Vielleicht sind manche deiner Prinzipien einfach fehl am Platz.«
Sie stand auf und trat ans Fenster, während er vorsichtig, fast andächtig eine Seite im Buch umblätterte.
»Ich nehme ein Bad. In der Zwischenzeit kannst du dir ja überlegen, was wir heute mit dem Tag anfangen sollen.« »Ja, ja, ist in Ordnung.«
Er war so in sein Schachbuch versunken, dass sie ihn zweimal rufen musste, bevor er sie hörte, sich aufrichtete und zu ihr sah, und er bemerkte dabei nicht einmal, dass die Stimmung schon wieder umgeschlagen war.
»Ist dein Handy eingeschaltet?«
»Nein, wir hatten doch abgemacht, dass wir hier ganz für uns sein wollten, weißt du nicht mehr? Warum fragst du?« Er stand mit einem letzten langen Blick auf die Schachfiguren im Buch auf, trat ans Fenster und sah zum Horizont. Die wellige Küstenlandschaft entfaltete sich unter ihm in Form von unregelmäßigen, windgepeitschten Anhöhen, manche hell im Licht der Sonne, andere dunkelgrau mit fast schwarzen Rücken, überwuchert von Heckenrose oder festgehalten von Strandhafer. Ganz hinten konnte er das Meer mit seinen glitzernden, weißen Wellenkämmen sehen, und hoch oben am Himmel flog eine Schar Graugänse in Richtung Süden an der Küste entlang. Auf einmal spürte er Anna Mias Arme um sich. Ihr Kopf lehnte sich schwer an seinen Rücken. Ein plötzliches Gefühl von Scham übermannte ihn, als wäre ihre Jugend ein Tabu. Trotzdem blieb er stehen, und nach mehreren nicht enden wollenden Sekunden sagte sie leise: »Du wirst abgeholt, Papa.«
Erst in diesem Moment sah er es. Ein ekelerregender Fremdkörper kroch langsam den kurvigen Kliffweg empor: ein Polizeiwagen.
...
Übersetzung: Günther Frauenlob
Copyright © 2011 der deutschsprachigen Ausgabe bei Droemer Verlag.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Lotte Hammer, Søren Hammer
Lotte Hammer lebt in Frederiksværk. Lotte ist ausgebildete OP-Krankenschwester. Bevor sie mit dem Schreiben anfing, arbeitete sie im Ausland u.a. auf einer Bohrinsel.Søren Hammer lebt in Frederiksværk. Søren ist Lehrer für Mathematik, Dänisch und Englisch.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Lotte Hammer , Søren Hammer
- 2011, 550 Seiten, Masse: 15 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzer: Günther Frauenlob
- Verlag: DROEMER KNAUR
- ISBN-10: 3426198940
- ISBN-13: 9783426198940
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