Schattennacht / Odd Thomas Bd.3
Roman
"Mit Odd Thomas hat Dean Koontz seine faszinierendste Figur geschaffen."
New York Times
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Schattennacht / Odd Thomas Bd.3 “
"Mit Odd Thomas hat Dean Koontz seine faszinierendste Figur geschaffen."
New York Times
Klappentext zu „Schattennacht / Odd Thomas Bd.3 “
Das Böse lauert in einem einsamen KlosterEine windumtoste Abtei, verlassen in den Bergen der Sierra Nevada: Dies scheint Odd Thomas nach dem gewaltsamen Tod seiner Freundin der ideale Zufluchtsort zu sein. Hier will er Ruhe finden. Doch dann verschwindet ein Mönch spurlos. Und Bodachs tauchen auf, bösartige Schattenwesen und Vorboten blutiger Katastrophen.
Lese-Probe zu „Schattennacht / Odd Thomas Bd.3 “
Schattennacht von Dean Koonitz 1 Umgeben von Gemäuer und in Schweigen gehüllt, saß ich an meinem hohen Fenster, während der dritte Tag der Woche in den vierten überging. Der Fluss der Nacht strömte weiter, ohne sich um den Kalender zu kümmern.
Ich hoffte, jenen magischen Augenblick zu erleben, in dem richtig Schnee zu fallen beginnt. Vor einer Weile hatte der Himmel schon einige Flocken verloren, dann war jedoch nichts mehr gekommen. Der nahende Sturm ließ sich nicht hetzen.
Das Zimmer war nur von einer dicken Kerze erleuchtet, die in einem bernsteinfarbenen Glas auf dem Ecktisch stand. Jedes Mal, wenn ein Luftzug die Flamme fand, übergoss das schmelzende Licht die Kalksteinwände mit einem buttergelben Schein, während Wellen aus flüssigen Schatten in die Ecken strömten.
In den meisten Nächten ist Lampenlicht mir zu hell. Wenn ich schreibe, leuchtet nur der Bildschirm, den ich so schwach eingestellt habe, dass graue Buchstaben auf einem marineblauen Untergrund erscheinen.
Da das Fenster nicht von Licht versilbert wurde, sah ich kein Spiegelbild meines Gesichts. Ich hatte einen klaren Blick auf die Nacht jenseits der Scheiben.
... mehr
Lebt man in einem Kloster, so hat man mehr Möglichkeiten als anderswo, die Welt so zu sehen, wie sie ist, statt durch den Schatten hindurch, den man auf sie wirft. Das gilt selbst, wenn man Gast ist und kein Mönch. Die Abtei St. Bartholomew lag mitten in der weiten Berglandschaft der Sierra Nevada, auf der kalifornischen Seite der Grenze. Der Wald, der die Hänge bedeckte, war in Dunkelheit gehüllt.
Von meinem Fenster im zweiten Stock aus konnte ich nur einen Teil des breiten Vorhofs und die Asphaltstraße erkennen, die ihn durchschnitt. Vier glockenförmige Lampen auf niedrigen Pfosten warfen einen bleichen, kreisförmigen Schein.
Das Gästehaus ist im nordwestlichen Flügel des Klosters untergebracht. Im Erdgeschoss befinden sich Gemeinschaftsräume, in den beiden oberen Stockwerken die Gästezimmer.
Während ich auf das Unwetter wartete, glitt etwas Weißes, das kein Schnee war, über den Hof aus der Dunkelheit ins Lampenlicht.
Die Abtei besitzt einen Hund, einen etwa fünfzig Kilo schweren Schäferhundmischling, zu dessen Vorfahren möglicherweise ein Labrador gehört. Er ist vollständig weiß und bewegt sich mit der Anmut eines Nebelstreifs. Sein Name ist Boo.
Mein Name ist Odd Thomas. Meine geschiedenen Eltern behaupten, bei der Ausstellung der Geburtsurkunde sei ein Fehler unterlaufen, denn ich hätte eigentlich Todd heißen sollen. Dennoch haben sie mich kein einziges Mal so gerufen. In meinen einundzwanzig Lebensjahren habe ich nie in Betracht gezogen, meinen Namen in Todd umzuändern. Der bizarre Lauf meines Lebens deutet darauf hin, dass ein entschieden merkwürdiger Name wie Odd besser zu mir passt, egal, ob meine Eltern ihn mir absichtlich gegeben haben oder ob das Schicksal daran schuld ist.
Unter mir blieb Boo mitten auf dem Asphalt stehen und blickte den abschüssigen Fahrweg entlang, der schmaler werdend in der Dunkelheit verschwand. Berge bestehen nicht vollständig aus Abhängen; gelegentlich macht die ansteigende Landschaft eine Pause. So steht auch die Abtei auf einer hoch gelegenen Wiese. Sie ist nach Norden ausgerichtet.
Da Boo die Ohren aufgestellt und den Kopf gehoben hatte, witterte er offenbar einen nahenden Besucher. Den Schwanz hatte er gesenkt.
Den Zustand seines Nackenfells konnte ich nicht beurteilen, doch seine angespannte Haltung wies darauf hin, dass es sich sträubte. Die Lampen entlang des Fahrwegs brennen von der Dämmerung bis zum Morgengrauen. Die Mönche von St. Bart sind nämlich der Ansicht, man müsse nächtliche Besucher mit Licht willkommen heißen, auch wenn nur selten welche kommen. Eine Weile stand der Hund reglos da, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Rasen rechts vom Fahrweg. Sein Kopf war nun gesenkt, die Ohren lagen eng an.
Zuerst sah ich nicht, was Boo derart beunruhigte. Dann kam eine Gestalt in den Blick, die so flüchtig war wie ein über schwarzes Wasser schwebender Schatten. Sie strich nahe genug an einem der Laternenpfähle vorbei, um kurz erkennbar zu sein. Selbst bei Tageslicht wäre dies ein Besucher gewesen, den nur der Hund und ich wahrgenommen hätten. Ich sehe tote Menschen. Es sind die Geister der Verstorbenen, die aus ihrem jeweils ureigenen Grund nicht bereit sind, diese Welt zu verlassen. Manche zieht es zu mir hin, weil sie Gerechtigkeit suchen, zum Beispiel, weil sie ermordet wurden, manche suchen Trost oder einfach nur Gesellschaft. Andere wenden sich aus Motiven an mich, die ich nicht immer begreifen kann. Das macht mein Leben ganz schön kompliziert.
Ich bitte nicht um euer Mitgefühl. Wir haben alle unsere Probleme, und eure kommen euch genauso wichtig vor wie meine mir. Vielleicht müsst ihr jeden Morgen eineinhalb Stunden lang zur Arbeit fahren, auf verstopften Autobahnen, auf denen ihr von ungeduldigen und unfähigen Leidensgenossen behindert werdet, von denen manche so wütend sind, dass ihr Mittelfinger von der häufigen Verwendung äußerst muskulös geworden ist. Stellt euch jedoch einmal vor, wie viel stressiger euer Morgen wäre, wenn auf dem Beifahrersitz ein junger Mann mit einer grausigen Axtwunde im Kopf säße und auf dem Rücksitz eine alte Frau, deren hervorquellende Augen und dunkelrotes Gesicht darauf hinweisen, dass ihr Mann sie erwürgt hat.
Die Toten sprechen nicht. Ich weiß auch nicht, warum. Außerdem blutet ein von einer Axt getroffener Geist nicht aufs Polster. Nichtsdestoweniger ist ein Gefolge aus kürzlich Verstorbenen nicht nur beunruhigend, es hebt auch nicht gerade die Stimmung.
Der Besucher auf dem Rasen war kein gewöhnlicher Geist, ja vielleicht gar kein Geist. Zusätzlich zu den auf der Erde verweilenden Geistern der Toten sehe ich noch eine andere Sorte übernatürlicher Wesen. Ich nenne sie Bodachs.
Sie sind pechschwarz, von fließender Gestalt und besitzen nicht mehr Substanz als Schatten. Obwohl sie so groß sind wie ein durchschnittlicher Mensch, schleichen sie häufig nah am Boden dahin wie Katzen. Dabei verhalten sie sich völlig geräuschlos. Der auf dem Rasen der Abtei bewegte sich aufgerichtet fort. Er war schwarz und hatte keine erkennbaren Merkmale, und doch sah er aus wie etwas, das halb Mensch und halb Wolf war. Geschmeidig war er, glatt und finster.
Das Gras, über das er kam, regte sich nicht. Hätte er eine Wasserfläche überquert, so wäre nicht die kleinste Welle entstanden. In der Sagenwelt der Britischen Inseln ist der Bodach ein abscheuliches Ungeheuer, das nachts durch den Schornstein ins Haus gleitet, um unartige Kinder mit sich fortzuschleifen. Man könnte fast meinen, er würde fürs Finanzamt arbeiten. Was ich sehe, sind weder Bodachs noch Steuereintreiber. Diese Wesen schleppen auch weder unartige Kinder noch säumige Erwachsene mit sich fort. Aber ich habe gesehen, wie sie durch den Schornstein oder auch durch Schlüssellöcher und den Spalt von Fensterrahmen in Häuser eingedrungen sind, so anpassungsfähig wie Rauch, und ich weiß keinen besseren Namen für sie.
Ihr seltenes Erscheinen ist immer ein Grund zur Sorge. Sie scheinen eine Art übersinnliche Vampire zu sein, die sich von menschlichem Leiden nähren und in die Zukunft blicken können. Deshalb werden sie von Orten angezogen, an denen bald Gewalttaten oder schlimme Katastrophen geschehen werden.
Obwohl Boo ein tapferer Hund war, wofür er gute Gründe hatte, schreckte er vor der an ihm vorüberstreichenden Erscheinung zurück. Seine schwarzen Lippen öffneten sich und entblößten spitze weiße Zähne.
Das Phantom hielt inne, als wollte es den Hund verhöhnen. Offenbar wissen die Bodachs, dass manche Tiere sie sehen können. Ich weiß nicht, ob sie wissen, dass auch ich sie sehen kann. Wenn sie es wüssten, würden sie wohl weniger Erbarmen mit mir haben als gewisse religiöse Fanatiker, wenn sie gerade in übler Laune sind.
Beim Anblick der Erscheinung war mein erster Impuls, vom Fenster zurückzutreten und mich zu den Staubflocken unter meinem Bett zu gesellen. Mein zweiter Impuls bestand darin, pinkeln zu gehen. Statt der Feigheit oder dem Ruf meiner Blase nachzugeben, rannte ich aus meinem Zimmer auf den Flur. Hier, im zweiten Stock des Gästehauses, befanden sich zwei kleine Zimmerfluchten. Die andere war momentan unbewohnt.
Der Russe im ersten Stock, der immer finster blickte, tat das zweifellos gerade auch im Schlaf. Da das Kloster äußerst solide gebaut war, drangen meine Schritte sicherlich nicht in seine Träume ein.
Das Gästehaus besitzt eine Wendeltreppe aus Granitstufen, die von Steinwänden umschlossen sind. Da die Stufen abwechselnd schwarz und weiß sind, muss ich dort immer an Harlekine, Klaviertasten und einen kitschigen alten Song von Paul McCartney und Stevie Wonder denken.
Obwohl Steinstufen ziemlich hart sind und das schwarz-weiße Muster desorientierend wirken kann, rannte ich blindlings ins Erdgeschoss und nahm dabei in Kauf, den Granit zu beschädigen, falls ich stürzte und mit dem Schädel darauf aufschlug.
Vor sechzehn Monaten habe ich das verloren, was mir am meisten wert war. Seither liegt meine Welt in Trümmern, aber rücksichtslos verhalte ich mich sonst trotzdem nicht. Ich habe zwar weniger, wofür ich leben kann, als früher, doch mein Leben hat noch immer einen Zweck, und ich bemühe mich, in jedem einzelnen Tag Sinn zu finden.
Ich hinterließ die Treppenstufen in dem Zustand, in dem ich sie vorgefunden hatte, und eilte durch den großen Aufenthaltsraum, wo nur eine Nachtlampe mit perlenverziertem Schirm das Dunkel milderte. Dann stieß ich eine schwere Eichentür mit einem bunten Glasfenster auf und sah, wie mein Atem in der Winternacht eine Wolke bildete.
Der Kreuzgang des Gästehauses umgibt einen Hof mit einem spiegelnden Wasserbecken und einer weißen Marmorstatue des heiligen Bartholomäus. Der ist wahrscheinlich der am wenigsten bekannte unter den zwölf Aposteln. Ernst steht der Heilige hier auf seinem Sockel, die rechte Hand auf dem Herzen, den linken Arm ausgestreckt. In der nach oben gewandten Handfläche dieses Arms liegt etwas, das aussieht wie ein Kürbis.
Welche symbolische Bedeutung der Kürbis hat, ist mir völlig schleierhaft.
Angesichts der Jahreszeit war das Wasserbecken leer. Auch der Duft von nassem Kalkstein, der in wärmeren Tagen von ihm aufsteigt, war nicht wahrzunehmen. Stattdessen roch ich eine Spur von Ozon, wie sie nach einem Blitzschlag im Frühlingsregen auftritt. Obwohl ich mich darüber wunderte, ging ich unbeirrt weiter.
Durch den Säulengang erreichte ich die Tür des Empfangszimmers, durchquerte den dunklen Raum und trat durch die Vordertür des Klosters wieder in die Dezembernacht.
Unser weißer Schäferhundmischling Boo stand noch genau so auf dem Fahrweg, wie ich ihn von meinem Fenster im zweiten Stock aus gesehen hatte. Während ich die breite Vordertreppe herunterkam, drehte er mir den Kopf zu, um mich anzublicken. Seine Augen waren klar, blau und ohne jede Spur des gespenstischen Glänzens, das nachts im Blick von Tieren liegt.
Da weder Mond noch Sterne schienen, verschwand der weite Hof großteils im Dunkel. Falls dort irgendwo ein Bodach lauerte, konnte ich ihn nicht sehen.
»Boo, wo ist er hin?«, flüsterte ich.
Der Hund gab keine Antwort. Mein Leben ist zwar seltsam, aber doch nicht so seltsam, dass ich mit Tieren sprechen könnte. Allerdings trat der Hund vorsichtig vom Asphalt auf den Rasen. Dort ging er nach Osten, vorbei an dem mächtigen Bau der Abtei, die fast so aussah, als wäre sie aus einer einzigen Felsmasse gemeißelt, so eng sind die Fugen zwischen den Steinen. Kein Windhauch zauste die Nacht, und die Dunkelheit hing mit gefalteten Flügeln da.
Copyright 2006 by Dean Koontz
Copyright 2008 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
Übersetzung:»Bernhard Kleinschmidt«
Von meinem Fenster im zweiten Stock aus konnte ich nur einen Teil des breiten Vorhofs und die Asphaltstraße erkennen, die ihn durchschnitt. Vier glockenförmige Lampen auf niedrigen Pfosten warfen einen bleichen, kreisförmigen Schein.
Das Gästehaus ist im nordwestlichen Flügel des Klosters untergebracht. Im Erdgeschoss befinden sich Gemeinschaftsräume, in den beiden oberen Stockwerken die Gästezimmer.
Während ich auf das Unwetter wartete, glitt etwas Weißes, das kein Schnee war, über den Hof aus der Dunkelheit ins Lampenlicht.
Die Abtei besitzt einen Hund, einen etwa fünfzig Kilo schweren Schäferhundmischling, zu dessen Vorfahren möglicherweise ein Labrador gehört. Er ist vollständig weiß und bewegt sich mit der Anmut eines Nebelstreifs. Sein Name ist Boo.
Mein Name ist Odd Thomas. Meine geschiedenen Eltern behaupten, bei der Ausstellung der Geburtsurkunde sei ein Fehler unterlaufen, denn ich hätte eigentlich Todd heißen sollen. Dennoch haben sie mich kein einziges Mal so gerufen. In meinen einundzwanzig Lebensjahren habe ich nie in Betracht gezogen, meinen Namen in Todd umzuändern. Der bizarre Lauf meines Lebens deutet darauf hin, dass ein entschieden merkwürdiger Name wie Odd besser zu mir passt, egal, ob meine Eltern ihn mir absichtlich gegeben haben oder ob das Schicksal daran schuld ist.
Unter mir blieb Boo mitten auf dem Asphalt stehen und blickte den abschüssigen Fahrweg entlang, der schmaler werdend in der Dunkelheit verschwand. Berge bestehen nicht vollständig aus Abhängen; gelegentlich macht die ansteigende Landschaft eine Pause. So steht auch die Abtei auf einer hoch gelegenen Wiese. Sie ist nach Norden ausgerichtet.
Da Boo die Ohren aufgestellt und den Kopf gehoben hatte, witterte er offenbar einen nahenden Besucher. Den Schwanz hatte er gesenkt.
Den Zustand seines Nackenfells konnte ich nicht beurteilen, doch seine angespannte Haltung wies darauf hin, dass es sich sträubte. Die Lampen entlang des Fahrwegs brennen von der Dämmerung bis zum Morgengrauen. Die Mönche von St. Bart sind nämlich der Ansicht, man müsse nächtliche Besucher mit Licht willkommen heißen, auch wenn nur selten welche kommen. Eine Weile stand der Hund reglos da, dann richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Rasen rechts vom Fahrweg. Sein Kopf war nun gesenkt, die Ohren lagen eng an.
Zuerst sah ich nicht, was Boo derart beunruhigte. Dann kam eine Gestalt in den Blick, die so flüchtig war wie ein über schwarzes Wasser schwebender Schatten. Sie strich nahe genug an einem der Laternenpfähle vorbei, um kurz erkennbar zu sein. Selbst bei Tageslicht wäre dies ein Besucher gewesen, den nur der Hund und ich wahrgenommen hätten. Ich sehe tote Menschen. Es sind die Geister der Verstorbenen, die aus ihrem jeweils ureigenen Grund nicht bereit sind, diese Welt zu verlassen. Manche zieht es zu mir hin, weil sie Gerechtigkeit suchen, zum Beispiel, weil sie ermordet wurden, manche suchen Trost oder einfach nur Gesellschaft. Andere wenden sich aus Motiven an mich, die ich nicht immer begreifen kann. Das macht mein Leben ganz schön kompliziert.
Ich bitte nicht um euer Mitgefühl. Wir haben alle unsere Probleme, und eure kommen euch genauso wichtig vor wie meine mir. Vielleicht müsst ihr jeden Morgen eineinhalb Stunden lang zur Arbeit fahren, auf verstopften Autobahnen, auf denen ihr von ungeduldigen und unfähigen Leidensgenossen behindert werdet, von denen manche so wütend sind, dass ihr Mittelfinger von der häufigen Verwendung äußerst muskulös geworden ist. Stellt euch jedoch einmal vor, wie viel stressiger euer Morgen wäre, wenn auf dem Beifahrersitz ein junger Mann mit einer grausigen Axtwunde im Kopf säße und auf dem Rücksitz eine alte Frau, deren hervorquellende Augen und dunkelrotes Gesicht darauf hinweisen, dass ihr Mann sie erwürgt hat.
Die Toten sprechen nicht. Ich weiß auch nicht, warum. Außerdem blutet ein von einer Axt getroffener Geist nicht aufs Polster. Nichtsdestoweniger ist ein Gefolge aus kürzlich Verstorbenen nicht nur beunruhigend, es hebt auch nicht gerade die Stimmung.
Der Besucher auf dem Rasen war kein gewöhnlicher Geist, ja vielleicht gar kein Geist. Zusätzlich zu den auf der Erde verweilenden Geistern der Toten sehe ich noch eine andere Sorte übernatürlicher Wesen. Ich nenne sie Bodachs.
Sie sind pechschwarz, von fließender Gestalt und besitzen nicht mehr Substanz als Schatten. Obwohl sie so groß sind wie ein durchschnittlicher Mensch, schleichen sie häufig nah am Boden dahin wie Katzen. Dabei verhalten sie sich völlig geräuschlos. Der auf dem Rasen der Abtei bewegte sich aufgerichtet fort. Er war schwarz und hatte keine erkennbaren Merkmale, und doch sah er aus wie etwas, das halb Mensch und halb Wolf war. Geschmeidig war er, glatt und finster.
Das Gras, über das er kam, regte sich nicht. Hätte er eine Wasserfläche überquert, so wäre nicht die kleinste Welle entstanden. In der Sagenwelt der Britischen Inseln ist der Bodach ein abscheuliches Ungeheuer, das nachts durch den Schornstein ins Haus gleitet, um unartige Kinder mit sich fortzuschleifen. Man könnte fast meinen, er würde fürs Finanzamt arbeiten. Was ich sehe, sind weder Bodachs noch Steuereintreiber. Diese Wesen schleppen auch weder unartige Kinder noch säumige Erwachsene mit sich fort. Aber ich habe gesehen, wie sie durch den Schornstein oder auch durch Schlüssellöcher und den Spalt von Fensterrahmen in Häuser eingedrungen sind, so anpassungsfähig wie Rauch, und ich weiß keinen besseren Namen für sie.
Ihr seltenes Erscheinen ist immer ein Grund zur Sorge. Sie scheinen eine Art übersinnliche Vampire zu sein, die sich von menschlichem Leiden nähren und in die Zukunft blicken können. Deshalb werden sie von Orten angezogen, an denen bald Gewalttaten oder schlimme Katastrophen geschehen werden.
Obwohl Boo ein tapferer Hund war, wofür er gute Gründe hatte, schreckte er vor der an ihm vorüberstreichenden Erscheinung zurück. Seine schwarzen Lippen öffneten sich und entblößten spitze weiße Zähne.
Das Phantom hielt inne, als wollte es den Hund verhöhnen. Offenbar wissen die Bodachs, dass manche Tiere sie sehen können. Ich weiß nicht, ob sie wissen, dass auch ich sie sehen kann. Wenn sie es wüssten, würden sie wohl weniger Erbarmen mit mir haben als gewisse religiöse Fanatiker, wenn sie gerade in übler Laune sind.
Beim Anblick der Erscheinung war mein erster Impuls, vom Fenster zurückzutreten und mich zu den Staubflocken unter meinem Bett zu gesellen. Mein zweiter Impuls bestand darin, pinkeln zu gehen. Statt der Feigheit oder dem Ruf meiner Blase nachzugeben, rannte ich aus meinem Zimmer auf den Flur. Hier, im zweiten Stock des Gästehauses, befanden sich zwei kleine Zimmerfluchten. Die andere war momentan unbewohnt.
Der Russe im ersten Stock, der immer finster blickte, tat das zweifellos gerade auch im Schlaf. Da das Kloster äußerst solide gebaut war, drangen meine Schritte sicherlich nicht in seine Träume ein.
Das Gästehaus besitzt eine Wendeltreppe aus Granitstufen, die von Steinwänden umschlossen sind. Da die Stufen abwechselnd schwarz und weiß sind, muss ich dort immer an Harlekine, Klaviertasten und einen kitschigen alten Song von Paul McCartney und Stevie Wonder denken.
Obwohl Steinstufen ziemlich hart sind und das schwarz-weiße Muster desorientierend wirken kann, rannte ich blindlings ins Erdgeschoss und nahm dabei in Kauf, den Granit zu beschädigen, falls ich stürzte und mit dem Schädel darauf aufschlug.
Vor sechzehn Monaten habe ich das verloren, was mir am meisten wert war. Seither liegt meine Welt in Trümmern, aber rücksichtslos verhalte ich mich sonst trotzdem nicht. Ich habe zwar weniger, wofür ich leben kann, als früher, doch mein Leben hat noch immer einen Zweck, und ich bemühe mich, in jedem einzelnen Tag Sinn zu finden.
Ich hinterließ die Treppenstufen in dem Zustand, in dem ich sie vorgefunden hatte, und eilte durch den großen Aufenthaltsraum, wo nur eine Nachtlampe mit perlenverziertem Schirm das Dunkel milderte. Dann stieß ich eine schwere Eichentür mit einem bunten Glasfenster auf und sah, wie mein Atem in der Winternacht eine Wolke bildete.
Der Kreuzgang des Gästehauses umgibt einen Hof mit einem spiegelnden Wasserbecken und einer weißen Marmorstatue des heiligen Bartholomäus. Der ist wahrscheinlich der am wenigsten bekannte unter den zwölf Aposteln. Ernst steht der Heilige hier auf seinem Sockel, die rechte Hand auf dem Herzen, den linken Arm ausgestreckt. In der nach oben gewandten Handfläche dieses Arms liegt etwas, das aussieht wie ein Kürbis.
Welche symbolische Bedeutung der Kürbis hat, ist mir völlig schleierhaft.
Angesichts der Jahreszeit war das Wasserbecken leer. Auch der Duft von nassem Kalkstein, der in wärmeren Tagen von ihm aufsteigt, war nicht wahrzunehmen. Stattdessen roch ich eine Spur von Ozon, wie sie nach einem Blitzschlag im Frühlingsregen auftritt. Obwohl ich mich darüber wunderte, ging ich unbeirrt weiter.
Durch den Säulengang erreichte ich die Tür des Empfangszimmers, durchquerte den dunklen Raum und trat durch die Vordertür des Klosters wieder in die Dezembernacht.
Unser weißer Schäferhundmischling Boo stand noch genau so auf dem Fahrweg, wie ich ihn von meinem Fenster im zweiten Stock aus gesehen hatte. Während ich die breite Vordertreppe herunterkam, drehte er mir den Kopf zu, um mich anzublicken. Seine Augen waren klar, blau und ohne jede Spur des gespenstischen Glänzens, das nachts im Blick von Tieren liegt.
Da weder Mond noch Sterne schienen, verschwand der weite Hof großteils im Dunkel. Falls dort irgendwo ein Bodach lauerte, konnte ich ihn nicht sehen.
»Boo, wo ist er hin?«, flüsterte ich.
Der Hund gab keine Antwort. Mein Leben ist zwar seltsam, aber doch nicht so seltsam, dass ich mit Tieren sprechen könnte. Allerdings trat der Hund vorsichtig vom Asphalt auf den Rasen. Dort ging er nach Osten, vorbei an dem mächtigen Bau der Abtei, die fast so aussah, als wäre sie aus einer einzigen Felsmasse gemeißelt, so eng sind die Fugen zwischen den Steinen. Kein Windhauch zauste die Nacht, und die Dunkelheit hing mit gefalteten Flügeln da.
Copyright 2006 by Dean Koontz
Copyright 2008 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
Übersetzung:»Bernhard Kleinschmidt«
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Autoren-Porträt von Dean R. Koontz
Koontz, DeanDean Koontz wurde 1945 in Pennsylvania geboren und lebt heute mit seiner Frau in Kalifornien. Seine zahlreichen Romane - Thriller und Horrorromane - wurden in 38 Sprachen übersetzt und sämtlich zu internationalen Bestsellern. Weltweit wurden bislang 400 Millionen Exemplare seiner Bücher verkauft. Mit dem grossartigen Helden Odd Thomas in "Opferweg" vollendet Dean Koontz seine internationale Erfolgsreihe nach "Die Anbetung", "Seelenlos", "Schattennacht", "Meer der Finsternis", "Schwarze Fluten" und "Abgrundtief". Alle sieben Bücher waren in den USA Top-Ten-Bestseller der "New York Times".
Bibliographische Angaben
- Autor: Dean R. Koontz
- 2010, 415 Seiten, Masse: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Kleinschmidt, Bernhard
- Übersetzer: Bernhard Kleinschmidt
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453433092
- ISBN-13: 9783453433090
- Erscheinungsdatum: 01.03.2010
Rezension zu „Schattennacht / Odd Thomas Bd.3 “
"Ein Autor voller brillanter Ideen und ein mitreißender Held."
Kommentar zu "Schattennacht / Odd Thomas Bd.3"
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