Schattenbilder

Intensives Thriller-Drama über in der Vergangenheit begrabene Geheimnisse, emotionalen Missbrauch in der Ehe und besondere Kunst mit Bezug zur Natur

Die Künstlerin Claire Beaudry Chase wird am Tag ihrer Vernissage Zuhause von einem maskierten Mann angegriffen, der sie mit dem Messer verletzt und sie dann an einem Balken in der Garage zu erhängen versucht. Doch der Balken, an dem sie sterben sollte, bricht und rettet ihr damit das Leben. Da Claire überzeugt ist, dass es ihr eigener Mann ist, der ihr nach dem Leben trachtet, muss sie untertauchen. Denn sie ist in zweiter Ehe mit Griffin Chase verheiratet, der als Staatsanwalt die Polizei hinter sich und als angehender Gouverneur mächtige Freunde hat. Und sie kennt sein düsteres Geheimnis, das ihn das alles kosten kann. Um zu verschwinden, greift Claire auf Tricks zurück, die ihr Vater sie zum Überleben in der Wildnis lehrte. So schafft sie es, sich trotz der bei dem Angriff erlittenen schweren Verletzungen in das von der Natur verborgene Versteck zurückzuziehen, das ihr Vater ihr zeigte.
Am gleichen Tag explodiert die Sallie B, das nach der Designerin Sallie Benson benannte Boot. An Bord befanden sich neben Sallie auch ihr Mann Dan und ihre erst neun und sieben Jahre alten Kindern Gwen und Charlie. War das ein Unfall, ein Selbstmord oder ein Mord mittels Sabotage? Aber wer könnte so skrupellos sein, dabei das Leben von Kindern zu gefährden? Und besteht ein Zusammenhang zum Angriff auf Claire, dessen zeitliche Nähe sonst ein zu grosser Zufall wäre?

Conor Reid, der Detective bei der Connecticut State Police ist, untersucht das Verschwinden von Claire Beaudry Chase. Connor kennt Claire persönlich über seine Schwägerin Jackie Reid und seine Freundin Kate Woodward. Denn Kate gehört die Galerie, in der Claires Vernissage stattfindet, und Jackie, die Claires beste Freundin ist, leitet diese Galerie. Und Commander Tom Reid von der Küstenwache, der Conors grosser Bruder ist, untersucht die Explosion der Sallie B.
Den Vorgänger "Last Day" von Luanne Rice, in dem Conor die Ermordung von Kates Schwester Beth aufgeklärt hat, kenne ich nicht. Doch auch ohne "Last Day" gelesen zu haben, konnte ich "Schattenbilder" gut folgen, weil die Autorin die relevanten Ereignisse des Vorgängers zu Beginn kurz zusammengefasst hat, indem sie sie in Conors Gedankengänge als Erinnerungen hat einfliessen lassen.

Spannend beginnt der Thriller mit dem Angriff auf Claire bei sich Zuhause, der aus ihrer Sicht geschildert wird, um dann parallel die Ereignisse der vorigen fünf Tage, die auf den Tag des Angriffs zusteuern, sowie der auf den Angriff folgenden Tage, die auf das Finale zulaufen, zu schildern. Das ist geschickt von der Autorin konstruiert. Abwechslungsreich gestaltet sich diese Erzählweise durch die verschiedenen wechselnden Perspektiven. Neben der Sicht von Claire werden die Tage zuvor aus Sicht der Designerin Sallie Benson beschrieben bzw. die Tage danach auch aus Sicht von Conor, seinem Bruder Tom, seiner Frau Jackie und von weiteren Personen. Doch trotz des recht umfangreichen Figurenarsenals, das von zahllosen Nebenfiguren ergänzt wird, der Zeitsprünge und der verschiedenen Sichtweisen habe ich beim Lesen den Überblick behalten.
Claires Gedanken sind voller Erinnerungen etwa an ihre Kindheit und besonders an ihren Vater, der Förster und Dozent für Umweltstudien gewesen ist, da ihr Vater ihr so viel über die Natur beigebracht hat. So weiss sie etwa den in Tierabwehrspray enthaltenen Raubtiergeruch zu ihrem Vorteil einzusetzen und kann ihre Spuren mit Hilfe von Zweigen verwischen. Als Künstlerin erschafft sie aus ihren Fundstücken vom Strand (z.B. Meerglas, Mondsteine und Muscheln) faszinierende Kunstwerke, die sie Objektrahmen nennt. So habe ich Claire, aber auch ihren Mann besser kennengelernt, was mich mehr mit ihr hat mitfiebern und ihre Handlungen für mich hat nachvollziehbarer werden lassen. Claire ist die Frau von Griffin Chase, der Staatsanwalt für den Bezirk Easterly County, Connecticut, und Kandidat für die anstehenden Gouverneurswahlen ist. Griffin stammt - im Gegensatz zu Claire - aus wohlhabenden Verhältnissen. So wohnen sie in dem Haus, das Griffins Urgrossvater Dexter Chase in der noblen Enklave Catamount Bluff erbaut hat. Dexter Chase hat das grösste Versicherungsunternehmen in Hartford gegründet, bevor er Gouverneur wurde, und auch Griffins Grossvater ist als Senator von Connecticut Politiker gewesen.

Gelungen sind die aussergewöhnlichen Beschreibungen der Natur von Luanne Rice - wie etwa zu Beginn die eines Pumas, dessen Schatten Claire nach dem Angriff auf sie zu sehen glaubt. Auch im weiteren Verlauf des Thrillers spielt immer wieder eine Rolle, das eine Frau sich allein gegen einen übermächtigen Gegner zu wehren hat, und dabei nur eine Chance hat, wenn sie sich in die Natur zurückzieht und auf dabei auf das von ihrem Vater vermittelte Wissen zurückgreift. Denn Claires Mann Griffin, der so reich wie manipulativ ist, hat Unterstützer in den Reihen der Polizei und auch bei seinen mächtigen Wahlkampfspendern. Wiederholt hat Griffin sich vorgestellt, wie er seine Frau ermorden würde, und sadistischerweise Claire in diese Gedankengänge mit einbezogen. Gelernt hat er dabei ausgerechnet von den Fehlern der Männer, die er als Staatsanwalt wegen des Mordes an ihren Frauen angeklagt hat.
Intensiv sind die Szenen, in denen geschildert wird, wie Claire in ihrer Ehe unter dem emotionalem Missbrauch von Griffin leidet. Luanne Rice gelingt es glaubwürdig zu erzählen, wie Claire, die eigentlich eine starke Frau ist, Griffin gegenüber immer wieder und weiter nachgibt, sich nach und nach seinen Launen beugt und in ihrer Beziehung wie auf Eierschalen läuft, nur um keine seiner Stimmungsschwankungen zu provozieren. Durch zahlreiche Erinnerungen von Claire an gute wie schlechte Zeiten mit Griffin macht die Autorin begreifbar, wie sich die Beziehung zwischen Claire und Griffin allmählich so entwickeln konnte, die Claire in einem schleichenden Prozess zum Opfer werden liess.

Der Thriller ist spannend geschrieben und mir hat gut gefallen, dass im Finale die verschiedenen, von der Autorin aufgegriffenen Handlungsstränge zusammenlaufen. Insgesamt habe ich den Schlussteil aber als ein wenig unübersichtlich empfunden. Da hätte ich mir ein stringenteres Finale gewünscht. Und leider war das Buch dann recht abrupt zu Ende. So hoffe ich, dass es einen weiteren Fall für Conor Reid geben wird, in dem zumindest kurz beschrieben wird, wie es den Überlebenden nach diesem Finale ergangen ist. Den lese ich dann bestimmt.