Rütlischwur / Kommissar Eschenbach Bd.4
Ausgezeichnet mit dem Friedrich-Glauser-Preis, Kategorie Roman 2012
In einer Zürcher Privatbank verschwindet ein Mitarbeiter spurlos. Der Chef der Bank, Jakob Banz, bittet Kommissar Eschenbach um Hilfe. Kurz darauf wird Banz ermordet. Seine junge Assistentin Judith gerät in Verdacht. Doch Kommissar Eschenbach vermag nicht...
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Klappentext zu „Rütlischwur / Kommissar Eschenbach Bd.4 “
In einer Zürcher Privatbank verschwindet ein Mitarbeiter spurlos. Der Chef der Bank, Jakob Banz, bittet Kommissar Eschenbach um Hilfe. Kurz darauf wird Banz ermordet. Seine junge Assistentin Judith gerät in Verdacht. Doch Kommissar Eschenbach vermag nicht zu glauben, dass sie tatsächlich die Mörderin ist. Er macht sich auf die Suche nach dem wahren Täter - und taucht tief ein in das Schattenreich der internationalen Finanzwelt.Lese-Probe zu „Rütlischwur / Kommissar Eschenbach Bd.4 “
Rütli Schwur von Michael TheurillatKapitel 1
Das Mädchen Judith
Wenn ein Vater sein Kind nicht will, dann macht er sich aus dem Staub. Am besten vor der Geburt. Das Kind bleibt noch eine Weile im Bauch der Mutter, wird geboren und von ihr großgezogen. Allein oder zusammen mit einem neuen Partner. Das ist ein Unglück - aber keine Katastrophe.
Anders sieht es aus, wenn eine Mutter ihr Kind nicht will; dann ist die Sache komplizierter: Der Vater wird sich nicht selbstverständlich um es kümmern, sie kann es abtreiben oder nach der Geburt weggeben. Wenn sie verzweifelt ist, wird sie ihr Baby bekommen und verlassen.
Das ist Mord.
Babys werden in Mülltonnen und auf Parkbänken gefunden. Auch im Winter. Auf Parkplätzen von Autobahnraststätten und im Wald. Oft kommt jede Hilfe zu spät. Und dann gibt es noch die, von denen keiner Kenntnis hat, weil sie nie gefunden wurden ...
Bruder John folgte in groben Zügen dieser Argumentation, als er während eines Kolloquiums im Benediktinerkloster Einsiedeln zu seinen Ordensbrüdern sprach.
Es war ein Augustnachmittag im Jahr1995.
Die Quecksilbersäule in Zürich verzeichnete mit zweiunddreißig Grad Celsius einen Höchstwert, doch auf der Anhöhe in Einsiedeln, rund vierzig Kilometer südöstlich der Stadt, herrschten tiefere Temperaturen.
Der Geist von Sankt Benedikt wirkte schon über tausend Jahre an diesem Ort, seit der Heilige Meinrad, Einsiedler aus dem Finsteren Wald, im Jahr 835 die Gegend aufgesucht hatte. Gefördert von Bischöfen und Adelsfamilien, erreichte das neugegründete Kloster bis ins Jahr 1100 eine erste Hochblüte und strahlte als geistliches und kulturelles Zentrum über Alemannien hinaus bis nach Norditalien.
... mehr
Im Strudel politischer und gesellschaftlicher Wirren verlor die Fürstabtei zunehmend an Einfluss. Bis auf einen einzigen Mann reduziert, trotzte die Bruderschaft schließlich der Reformation. Es waren dunkle Jahre, an deren Ende neues Leben erwachte. Denn in der Folge entwickelte sich Einsiedeln zu einem internationalen Wallfahrtsort und zum Mittelpunkt der katholischen Schweiz. Wie eine Eiche, die alle Stürme überlebt hat und noch immer Früchte trägt, waren sich die Ordensbrüder ihrer kraftvollen Ausstrahlung bewusst. Dennoch gab man sich demütig
- ganz im Gegensatz zum nahe gelegenen Zürich -, man wollte mit nichts protzen. Und doch: Der prächtige Barockbau aus dem achtzehnten Jahrhundert, die kostbar ausgestattete Kirche und die kunstvoll verzierten Säle; die Stiftsbibliothek von Weltruhm und die über tausendjährige Pferdezucht - all dies vermochte das selbstauferlegte Gelübde der Bescheidenheit nicht ganz widerzuspiegeln. In der Arbeitsklause im Westflügel des Klosters war es angenehm kühl. Der Abt Sebastian Watter, ein bedächtiger, weißhaariger Mann, und die vier Mönche, die der Sitzung beiwohnten, folgten den Ausführungen des Vortragenden recht unbeteiligt. Keiner von ihnen war jemals verheiratet gewesen und demzufolge auch noch nie im Leben Vater geworden. Aber sie waren alle weltlich genug, um sich menschliche Katastrophen aller Art vorstellen zu können.
Bevor Bruder John zu seinem eigentlichen Anliegen vordrang, machte er eine kurze Pause. Er hatte viele Wochen lang über einen geeigneten Namen nachgedacht: Ort des Lebens - Hoffnungs- box - Babykasten. Sie schienen ihm alle noch recht unausgegoren, so dass er sie erst gar nicht erwähnte.
»Wir sollten verzweifelten Müttern eine Anlaufstelle bieten - ihnen eine Möglichkeit geben, ihr Baby abzugeben. Bei uns. Anonym. Natürlich in der Hoffnung, dass sie es später wieder abholen. Wenn Gott ihnen in diesen schweren Stunden beisteht, so werden sie sich bei uns melden ...«
An dieser Stelle hielt Bruder John inne und ließ das Gesagte nachwirken. Er beobachtete die nachdenklichen Gesichter seiner Ordensbrüder.
Keiner sagte ein Wort.
Stille erfasste den Raum. Eine Ruhe, die Bruder John nicht als unangenehm empfand, denn in den Kolloquien, die sie in Abständen von drei bis fünf Wochen abhielten, war es nicht üblich, dass man sich sofort zu dem vorgebrachten Thema äußerte.
Es galt, in andächtiger Stimmung über das Gehörte nachzudenken und wohlwollend darüber zu befinden. Darin unterschied sich die Gemeinschaft des Benediktinerordens von den meisten anderen Gemeinschaften der westlichen Welt.
Bruder John sah zu Sebastian Watter, der am Kopfende des langen Eichentisches saß und die Augen geschlossen hielt. Hinter dem Abt, auf halber Höhe, hing als einziger Schmuck an der weiß getünchten Wand das Kreuz Jesu Christi.
Unweigerlich dachte Bruder John an Golgatha. Und vielleicht fiel ihm gerade deshalb der springende Punkt erst in diesem Augenblick ein.
»Natürlich müssen wir diese Neuerung öffentlich machen. Schließlich sollen die Mütter wissen, dass sie bei uns diese Möglichkeit haben ...«
Der Abt hob langsam das Kinn: »Öffentlich«, sagte er in ruhigem, gefasstem Ton. »Ganz richtig. Und gerade darin liegt das Problem.«
Die Babyklappe, wie Bruder Johns Idee inzwischen klosterintern genannt wurde, war auch in den folgenden Sitzungen ein Thema, auch wenn man sich mit der konkreten Umsetzung Zeit lassen wollte. Bruder John war zuversichtlich, ja, sogar hoffnungsfroh. Wenn die Kirche das ungeborene Leben schützte, warum sollte sie es mit dem geborenen anders halten. Dass der Begriff Babyklappe nicht von ihm selbst stammte, störte ihn nicht. Denn im Kloster Einsiedeln war es kein Geheimnis, dass er der Vater dieses durchaus bemerkenswerten Gedankens war.
So war es kein Zufall, dass man sich an Bruder John wandte, als am Abend des 26. November desselben Jahres ein Mädchen den Weg ins Kloster fand.
»Sie ist in meinem Büro«, war der erste Satz, den Bruder Pachomius herausbrachte, nachdem er mit hastigem Klopfen in Johns Zimmer hereingeplatzt war. Er nahm seine Nickelbrille ab und fuhr sich mit dem Ärmel seiner Kutte über die schweißnasse Stirn.
»Wer?«, fragte John.
»Ein Mädchen. Nach der Vesper ging ich zurück ... Ich muss doch die Katalogisierung vorantreiben. Da stand sie ... Das Fenster eingeschlagen.«
Die beiden Mönche eilten durch die Gänge in Richtung Westflügel. John tat sich schwer, sein Tempo zu drosseln - auch wenn er kurze Beine hatte, untersetzt und pummelig war. Immer wieder musste er innehalten, weil der zweiundsiebzigjährige Pachomius stehen blieb und schweißgebadet nach Luft rang.
Als sie um die letzte Ecke bogen, sah John, dass die Tür des besagten Zimmers weit offen stand. »Sie ist bestimmt schon über alle Berge«, murmelte er.
»Dass ich so was noch erleben muss«, keuchte Pachomius.
Aber das Mädchen war noch da. Sie saß auf der Kante des Schreibtisches und hielt ein Buch in den Händen. Als sie die beiden Mönche erblickte, stand sie auf.
»Hier.« Pachomius zeigte auf das Mädchen. Es war ungefähr eins fünfzig groß, trug ausgeblichene Jeans und einen verfilzten, sandfarbenen Wollpullover, der ihr bis zu den Knien reichte. »Sie ist noch da.«
Das Mädchen blickte Bruder John direkt an. »Ich bin Judith. Ich brauche etwas zum Essen und neue Kleider.«
Kein Baby, schoss es Bruder John durch den Kopf. Er nickte. »Wie alt bist du?«
»Dreizehn.«
»Ein Teenager also.«
»Ja.« Das Mädchen verzog den Mund. »Ich war bei den Pferden gewesen, draußen ...« Sie deutete in die Richtung, in der die Stallungen lagen. »Dort habe ich mich eine Weile versteckt. Aber jetzt habe ich Hunger, und mir ist kalt.«
»Hast du die Scheibe eingeschlagen?«
»Ja. Ich dachte, ich finde hier einen Kühlschrank. Oder Vorräte ... In einem Kloster habt ihr doch so was, oder?«
Bruder John musterte das Mädchen. Ihre kurzen schwarzen Haare waren zerzaust. Sie hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem energischen Kinn. Obwohl sie abgemagert und bleich war, erschien sie dem Klosterbruder keineswegs hilflos. Das Auffälligste aber waren ihre Augen: Sie glänzten in hellem Grün, wie frischpolierte Jadesteine. Und zu seinem Erstaunen konnte Bruder John keinerlei Angst oder Argwohn in ihnen entdecken. »Das hier ist das Büro von Bruder Pachomius«, sagte der Mönch leise. »Pachomius betreut zusammen mit fünf Brüdern die Stiftsbibliothek.«
Der alte Mann nickte und ließ die Schultern hängen.
Einen Moment dachte Bruder John darüber nach, wie wenig seine bisherigen konzeptionellen Ideen zur Lösung des akuten Problems beitrugen.
»Und jetzt?«, fragte das Mädchen.
»Ich schlage vor, wir essen und trinken erst einmal etwas«, sagte John. »Dann schauen wir weiter.«
Abt Sebastian Watter, der in Zürich an einer Podiumsdiskussion teilgenommen hatte und kurz nach Mitternacht ins Kloster zurückgekehrt war, erfuhr erst am nächsten Morgen von dem neuen Gast. Gleich nachdem ihn Bruder John über den Fall unterrichtet hatte, bat er das Mädchen zu sich, für ein Gespräch unter vier Augen.
Watter war es gewohnt, in seinem Kloster Gäste aufzunehmen. Denn die Gastfreundschaft war Teil jener Regula Benedicti, die der heilige Namensgeber des Ordens vor fünfzehnhundert Jahren verfasst hatte.
Häufig waren es Manager, die sich in ihren Konzernen eine Auszeit erbaten, um über den Sinn des Lebens nachzudenken. Es waren Menschen mit einer wohldefinierten Vergangenheit, die sich über ihre Zukunft im Unklaren waren.
Mit diesem Mädchen, das ihm nun seit einer knappen halben Stunde gegenübersaß, verhielt es sich genau umgekehrt. Sie besaß sehr klare Vorstellungen, was ihre Zukunft anging. Über ihre Vergangenheit dagegen schwieg sie sich aus.
»Du möchtest also hierbleiben«, fasste der Abt zusammen. »Und du willst bei uns in die Stiftsschule gehen und etwas lernen. «
Judith nickte. »Genau das will ich.« Ein kurzes Lächeln huschte über ihr mageres Gesicht. »Und ich weiß auch, dass eine solche Ausbildung Geld kostet«, fuhr sie fort. »Dafür möchte ich arbeiten. In der Küche ... oder, was mir viel lieber wäre, bei Bruder Pachomius. Die Katalogisierung der Bibliothek ... Da gibt es noch sehr viel zu tun. Ich kann das.« Sie machte eine kurze Pause. Als der Abt weder nickte noch etwas dazu bemerkte, sagte sie: »Wenn mein Lohn dafür nicht reicht, würde ich die Differenz gerne später zurückzahlen. Ich unterschreibe auch einen Darlehensvertrag. Ich werde später Wirtschaft studieren. Und ich werde Geld verdienen. Sehr viel Geld.«
Der Abt dachte nach. In gewisser Weise gefiel ihm die Zielstrebigkeit dieses Teenagers. Sie war ungewöhnlich. Auf der an deren Seite missfiel ihm das Ziel. Abt Sebastian dachte an die Manager, die - sofern sie den Weg zu ihm ins Kloster gefunden hatten - mit ebendieser Zielsetzung haderten und sie oft genug als Irrweg bezeichneten.
Trotzdem äußerte er keine Einwände. Er würde John damit beauftragen, mehr über das Mädchen herauszufinden. Auch nach den internationalen Vermisstenanzeigen bei der Polizei mussten sie sich erkundigen. Bestimmt gab es Eltern, die bereits in großer Sorge waren. Nicht selten klärten sich solche Fälle innerhalb kürzester Zeit auf. Der Abt blickte eine Weile in das junge Gesicht, dann beschied er: »Du kannst bleiben. Und einen Vertrag brauchen wir nicht.«
Im März des darauffolgenden Jahres erreichte Bruder John ein Brief. Die Marke zeigte Lady Augusta Gregory (in nachdenklicher Pose) und trug den Schriftzug EIRE. Der Poststempel war nicht zu entziffern. John wusste dennoch sofort, dass es der Brief war, auf den er gewartet hatte. Eine Mischung aus Erleichterung und Neugier erfasste den Mönch. War sein Schreiben also doch angekommen?
Vier Wochen lang hatte John daran gezweifelt, denn Judiths Informationen waren dürftig gewesen. Ein Landgut im Süden von Irland. Merryborough oder so ähnlich, und ein Mann namens Ernest Bill. Von einer alten Frau war einmal die Rede gewesen, und von Eseln und Gänsen.
Der Mönch hatte sich wirklich Mühe gegeben. Hartnäckig hatte er Judith immer wieder auf ihre Vergangenheit angesprochen, hatte nach ihren Eltern, Geschwistern und Verwandten gefragt. Doch je mehr er insistierte, desto verschlossener gab sich das Mädchen. Einmal, als er ungeduldig geworden war und mit der Polizei gedroht hatte, war Judith plötzlich verschwunden. Für drei unendlich lange Tage. In dieser Zeit hatte John sich geschworen, künftig behutsamer vorzugehen. Inzwischen gab es Momente, in denen er einfach vergaß, dass er über Judiths bisheriges Leben so gut wie nichts wusste. Ironischerweise waren es gerade diese Augenblicke, in denen Judith von sich aus etwas preisgab. Eine kleine Geschichte oder - was leider viel häufiger der Fall war - nur eine kurze Bemerkung.
Es gab Nächte, in denen John sich in seiner Selbstbetrachtung mit einem Fastenden verglich, den man immer mal wieder mit kleinen Häppchen in Versuchung führen wollte. Und nicht selten drängte sich der Gedanke auf, dass Judith ein Spiel mit ihm trieb. Vielleicht hatte sie aber auch Angst, dass man sie an ihre alte Welt zurückverwies, und empfand ihre Anonymität als Schutz. Aber welche Welt war es, aus der Judith gekommen war? John machte sich nichts vor. Es war gut möglich, dass Judith etwas zu verbergen hatte und sich deshalb über ihre Vergangenheit ausschwieg.
Judith ahnte nicht, dass es John gelungen war, aus ihren spärlichen Angaben eine Adresse zusammenzusetzen; diese Adresse war zwar nicht vollständig, aber vielleicht würde der Brief, den der Bruder geschrieben hatte, sein Ziel doch erreichen:
Ernest Bill
Country Estate or Farm
Maryborough (Cork)
Ireland
Weil der Mönch selbst englischer Abstammung war (ein Schotte, wenn man es genau nahm), hatte es ihm keinerlei Mühe bereitet, seinen Brief auf Englisch zu verfassen. Er erzählte von Judiths Ankunft im Kloster im vergangenen November und legte den Schwerpunkt seines Schreibens auf die erfreuliche Tatsache, dass man im Internat der Stiftsschule für sie einen Platz gefunden habe. Bruder John erwähnte mit einem gewissen Stolz, dass er selbst sie auch unterrichtete (Latein, Englisch und Biologie) und dass er eine Art Mentor für Judith geworden sei.
Eine Broschüre des Internats hatte er seinem Schreiben beigelegt.
... und natürlich können Sie uns jederzeit hier besuchen. Bei dieser Gelegenheit würde es mich auch freuen, mehr über Judith zu erfahren. Hat sie Verwandte in Irland? Sie erwähnte einmal einen Unfall. Sind ihre Eltern tatsächlich tot?
Ich hoffe, mein Brief erreicht Sie - denn Ihre Anschrift hat mir doch einiges Kopfzerbrechen bereitet.
Es war ein Schreiben voller Hoffnung und voller Fragen gewesen. John hatte den Moment noch vor Augen, als er den Brief persönlich zum Postschalter gebracht hatte. Es war ihm wichtig gewesen, dass eine Angestellte der Schweizer Post das Gewicht sowie Adresse und Frankierung noch einmal überprüfte und dass diesbezüglich auch wirklich nichts zu beanstanden war.
Ebenso erinnerte sich Bruder John an das Unbehagen, das in ihm aufgekommen war, als er gesehen hatte, wie die Frau das Schreiben in hohem Bogen in eine große gelbe Box geworfen hatte, zu Dutzenden von anderen Briefen.
In Gottes Namen.
Als er mit leeren Händen den Weg zurück zum Kloster in Angriff genommen hatte, war ihm schmerzlich bewusst geworden, dass es keinen Schutzheiligen gab, der für die Post zuständig war. Also rief er den heiligen Christophorus an, dessen Bereich immerhin der Verkehr war, und bat ihn, sich dieser Sache gleichermaßen anzunehmen.
Bruder John stand noch immer vor den Postfächern im Hauptgebäude des Klosters Einsiedeln. Sosehr ihn seine Neugier trieb, er widerstand der Versuchung, den Brief auf der Stelle zu öffnen. Es blieben kaum noch zehn Minuten bis zum Mittagsmahl. Also legte er das ungeöffnete Kuvert zurück in das Fach. Er hatte zu lange auf diesen Moment gewartet - und deshalb wollte er die Nachmittagsstunden dazu verwenden, den Brief in aller Ruhe zu lesen.
Copyright © List TB. (Verlag)
Im Strudel politischer und gesellschaftlicher Wirren verlor die Fürstabtei zunehmend an Einfluss. Bis auf einen einzigen Mann reduziert, trotzte die Bruderschaft schließlich der Reformation. Es waren dunkle Jahre, an deren Ende neues Leben erwachte. Denn in der Folge entwickelte sich Einsiedeln zu einem internationalen Wallfahrtsort und zum Mittelpunkt der katholischen Schweiz. Wie eine Eiche, die alle Stürme überlebt hat und noch immer Früchte trägt, waren sich die Ordensbrüder ihrer kraftvollen Ausstrahlung bewusst. Dennoch gab man sich demütig
- ganz im Gegensatz zum nahe gelegenen Zürich -, man wollte mit nichts protzen. Und doch: Der prächtige Barockbau aus dem achtzehnten Jahrhundert, die kostbar ausgestattete Kirche und die kunstvoll verzierten Säle; die Stiftsbibliothek von Weltruhm und die über tausendjährige Pferdezucht - all dies vermochte das selbstauferlegte Gelübde der Bescheidenheit nicht ganz widerzuspiegeln. In der Arbeitsklause im Westflügel des Klosters war es angenehm kühl. Der Abt Sebastian Watter, ein bedächtiger, weißhaariger Mann, und die vier Mönche, die der Sitzung beiwohnten, folgten den Ausführungen des Vortragenden recht unbeteiligt. Keiner von ihnen war jemals verheiratet gewesen und demzufolge auch noch nie im Leben Vater geworden. Aber sie waren alle weltlich genug, um sich menschliche Katastrophen aller Art vorstellen zu können.
Bevor Bruder John zu seinem eigentlichen Anliegen vordrang, machte er eine kurze Pause. Er hatte viele Wochen lang über einen geeigneten Namen nachgedacht: Ort des Lebens - Hoffnungs- box - Babykasten. Sie schienen ihm alle noch recht unausgegoren, so dass er sie erst gar nicht erwähnte.
»Wir sollten verzweifelten Müttern eine Anlaufstelle bieten - ihnen eine Möglichkeit geben, ihr Baby abzugeben. Bei uns. Anonym. Natürlich in der Hoffnung, dass sie es später wieder abholen. Wenn Gott ihnen in diesen schweren Stunden beisteht, so werden sie sich bei uns melden ...«
An dieser Stelle hielt Bruder John inne und ließ das Gesagte nachwirken. Er beobachtete die nachdenklichen Gesichter seiner Ordensbrüder.
Keiner sagte ein Wort.
Stille erfasste den Raum. Eine Ruhe, die Bruder John nicht als unangenehm empfand, denn in den Kolloquien, die sie in Abständen von drei bis fünf Wochen abhielten, war es nicht üblich, dass man sich sofort zu dem vorgebrachten Thema äußerte.
Es galt, in andächtiger Stimmung über das Gehörte nachzudenken und wohlwollend darüber zu befinden. Darin unterschied sich die Gemeinschaft des Benediktinerordens von den meisten anderen Gemeinschaften der westlichen Welt.
Bruder John sah zu Sebastian Watter, der am Kopfende des langen Eichentisches saß und die Augen geschlossen hielt. Hinter dem Abt, auf halber Höhe, hing als einziger Schmuck an der weiß getünchten Wand das Kreuz Jesu Christi.
Unweigerlich dachte Bruder John an Golgatha. Und vielleicht fiel ihm gerade deshalb der springende Punkt erst in diesem Augenblick ein.
»Natürlich müssen wir diese Neuerung öffentlich machen. Schließlich sollen die Mütter wissen, dass sie bei uns diese Möglichkeit haben ...«
Der Abt hob langsam das Kinn: »Öffentlich«, sagte er in ruhigem, gefasstem Ton. »Ganz richtig. Und gerade darin liegt das Problem.«
Die Babyklappe, wie Bruder Johns Idee inzwischen klosterintern genannt wurde, war auch in den folgenden Sitzungen ein Thema, auch wenn man sich mit der konkreten Umsetzung Zeit lassen wollte. Bruder John war zuversichtlich, ja, sogar hoffnungsfroh. Wenn die Kirche das ungeborene Leben schützte, warum sollte sie es mit dem geborenen anders halten. Dass der Begriff Babyklappe nicht von ihm selbst stammte, störte ihn nicht. Denn im Kloster Einsiedeln war es kein Geheimnis, dass er der Vater dieses durchaus bemerkenswerten Gedankens war.
So war es kein Zufall, dass man sich an Bruder John wandte, als am Abend des 26. November desselben Jahres ein Mädchen den Weg ins Kloster fand.
»Sie ist in meinem Büro«, war der erste Satz, den Bruder Pachomius herausbrachte, nachdem er mit hastigem Klopfen in Johns Zimmer hereingeplatzt war. Er nahm seine Nickelbrille ab und fuhr sich mit dem Ärmel seiner Kutte über die schweißnasse Stirn.
»Wer?«, fragte John.
»Ein Mädchen. Nach der Vesper ging ich zurück ... Ich muss doch die Katalogisierung vorantreiben. Da stand sie ... Das Fenster eingeschlagen.«
Die beiden Mönche eilten durch die Gänge in Richtung Westflügel. John tat sich schwer, sein Tempo zu drosseln - auch wenn er kurze Beine hatte, untersetzt und pummelig war. Immer wieder musste er innehalten, weil der zweiundsiebzigjährige Pachomius stehen blieb und schweißgebadet nach Luft rang.
Als sie um die letzte Ecke bogen, sah John, dass die Tür des besagten Zimmers weit offen stand. »Sie ist bestimmt schon über alle Berge«, murmelte er.
»Dass ich so was noch erleben muss«, keuchte Pachomius.
Aber das Mädchen war noch da. Sie saß auf der Kante des Schreibtisches und hielt ein Buch in den Händen. Als sie die beiden Mönche erblickte, stand sie auf.
»Hier.« Pachomius zeigte auf das Mädchen. Es war ungefähr eins fünfzig groß, trug ausgeblichene Jeans und einen verfilzten, sandfarbenen Wollpullover, der ihr bis zu den Knien reichte. »Sie ist noch da.«
Das Mädchen blickte Bruder John direkt an. »Ich bin Judith. Ich brauche etwas zum Essen und neue Kleider.«
Kein Baby, schoss es Bruder John durch den Kopf. Er nickte. »Wie alt bist du?«
»Dreizehn.«
»Ein Teenager also.«
»Ja.« Das Mädchen verzog den Mund. »Ich war bei den Pferden gewesen, draußen ...« Sie deutete in die Richtung, in der die Stallungen lagen. »Dort habe ich mich eine Weile versteckt. Aber jetzt habe ich Hunger, und mir ist kalt.«
»Hast du die Scheibe eingeschlagen?«
»Ja. Ich dachte, ich finde hier einen Kühlschrank. Oder Vorräte ... In einem Kloster habt ihr doch so was, oder?«
Bruder John musterte das Mädchen. Ihre kurzen schwarzen Haare waren zerzaust. Sie hatte ein ebenmäßiges Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem energischen Kinn. Obwohl sie abgemagert und bleich war, erschien sie dem Klosterbruder keineswegs hilflos. Das Auffälligste aber waren ihre Augen: Sie glänzten in hellem Grün, wie frischpolierte Jadesteine. Und zu seinem Erstaunen konnte Bruder John keinerlei Angst oder Argwohn in ihnen entdecken. »Das hier ist das Büro von Bruder Pachomius«, sagte der Mönch leise. »Pachomius betreut zusammen mit fünf Brüdern die Stiftsbibliothek.«
Der alte Mann nickte und ließ die Schultern hängen.
Einen Moment dachte Bruder John darüber nach, wie wenig seine bisherigen konzeptionellen Ideen zur Lösung des akuten Problems beitrugen.
»Und jetzt?«, fragte das Mädchen.
»Ich schlage vor, wir essen und trinken erst einmal etwas«, sagte John. »Dann schauen wir weiter.«
Abt Sebastian Watter, der in Zürich an einer Podiumsdiskussion teilgenommen hatte und kurz nach Mitternacht ins Kloster zurückgekehrt war, erfuhr erst am nächsten Morgen von dem neuen Gast. Gleich nachdem ihn Bruder John über den Fall unterrichtet hatte, bat er das Mädchen zu sich, für ein Gespräch unter vier Augen.
Watter war es gewohnt, in seinem Kloster Gäste aufzunehmen. Denn die Gastfreundschaft war Teil jener Regula Benedicti, die der heilige Namensgeber des Ordens vor fünfzehnhundert Jahren verfasst hatte.
Häufig waren es Manager, die sich in ihren Konzernen eine Auszeit erbaten, um über den Sinn des Lebens nachzudenken. Es waren Menschen mit einer wohldefinierten Vergangenheit, die sich über ihre Zukunft im Unklaren waren.
Mit diesem Mädchen, das ihm nun seit einer knappen halben Stunde gegenübersaß, verhielt es sich genau umgekehrt. Sie besaß sehr klare Vorstellungen, was ihre Zukunft anging. Über ihre Vergangenheit dagegen schwieg sie sich aus.
»Du möchtest also hierbleiben«, fasste der Abt zusammen. »Und du willst bei uns in die Stiftsschule gehen und etwas lernen. «
Judith nickte. »Genau das will ich.« Ein kurzes Lächeln huschte über ihr mageres Gesicht. »Und ich weiß auch, dass eine solche Ausbildung Geld kostet«, fuhr sie fort. »Dafür möchte ich arbeiten. In der Küche ... oder, was mir viel lieber wäre, bei Bruder Pachomius. Die Katalogisierung der Bibliothek ... Da gibt es noch sehr viel zu tun. Ich kann das.« Sie machte eine kurze Pause. Als der Abt weder nickte noch etwas dazu bemerkte, sagte sie: »Wenn mein Lohn dafür nicht reicht, würde ich die Differenz gerne später zurückzahlen. Ich unterschreibe auch einen Darlehensvertrag. Ich werde später Wirtschaft studieren. Und ich werde Geld verdienen. Sehr viel Geld.«
Der Abt dachte nach. In gewisser Weise gefiel ihm die Zielstrebigkeit dieses Teenagers. Sie war ungewöhnlich. Auf der an deren Seite missfiel ihm das Ziel. Abt Sebastian dachte an die Manager, die - sofern sie den Weg zu ihm ins Kloster gefunden hatten - mit ebendieser Zielsetzung haderten und sie oft genug als Irrweg bezeichneten.
Trotzdem äußerte er keine Einwände. Er würde John damit beauftragen, mehr über das Mädchen herauszufinden. Auch nach den internationalen Vermisstenanzeigen bei der Polizei mussten sie sich erkundigen. Bestimmt gab es Eltern, die bereits in großer Sorge waren. Nicht selten klärten sich solche Fälle innerhalb kürzester Zeit auf. Der Abt blickte eine Weile in das junge Gesicht, dann beschied er: »Du kannst bleiben. Und einen Vertrag brauchen wir nicht.«
Im März des darauffolgenden Jahres erreichte Bruder John ein Brief. Die Marke zeigte Lady Augusta Gregory (in nachdenklicher Pose) und trug den Schriftzug EIRE. Der Poststempel war nicht zu entziffern. John wusste dennoch sofort, dass es der Brief war, auf den er gewartet hatte. Eine Mischung aus Erleichterung und Neugier erfasste den Mönch. War sein Schreiben also doch angekommen?
Vier Wochen lang hatte John daran gezweifelt, denn Judiths Informationen waren dürftig gewesen. Ein Landgut im Süden von Irland. Merryborough oder so ähnlich, und ein Mann namens Ernest Bill. Von einer alten Frau war einmal die Rede gewesen, und von Eseln und Gänsen.
Der Mönch hatte sich wirklich Mühe gegeben. Hartnäckig hatte er Judith immer wieder auf ihre Vergangenheit angesprochen, hatte nach ihren Eltern, Geschwistern und Verwandten gefragt. Doch je mehr er insistierte, desto verschlossener gab sich das Mädchen. Einmal, als er ungeduldig geworden war und mit der Polizei gedroht hatte, war Judith plötzlich verschwunden. Für drei unendlich lange Tage. In dieser Zeit hatte John sich geschworen, künftig behutsamer vorzugehen. Inzwischen gab es Momente, in denen er einfach vergaß, dass er über Judiths bisheriges Leben so gut wie nichts wusste. Ironischerweise waren es gerade diese Augenblicke, in denen Judith von sich aus etwas preisgab. Eine kleine Geschichte oder - was leider viel häufiger der Fall war - nur eine kurze Bemerkung.
Es gab Nächte, in denen John sich in seiner Selbstbetrachtung mit einem Fastenden verglich, den man immer mal wieder mit kleinen Häppchen in Versuchung führen wollte. Und nicht selten drängte sich der Gedanke auf, dass Judith ein Spiel mit ihm trieb. Vielleicht hatte sie aber auch Angst, dass man sie an ihre alte Welt zurückverwies, und empfand ihre Anonymität als Schutz. Aber welche Welt war es, aus der Judith gekommen war? John machte sich nichts vor. Es war gut möglich, dass Judith etwas zu verbergen hatte und sich deshalb über ihre Vergangenheit ausschwieg.
Judith ahnte nicht, dass es John gelungen war, aus ihren spärlichen Angaben eine Adresse zusammenzusetzen; diese Adresse war zwar nicht vollständig, aber vielleicht würde der Brief, den der Bruder geschrieben hatte, sein Ziel doch erreichen:
Ernest Bill
Country Estate or Farm
Maryborough (Cork)
Ireland
Weil der Mönch selbst englischer Abstammung war (ein Schotte, wenn man es genau nahm), hatte es ihm keinerlei Mühe bereitet, seinen Brief auf Englisch zu verfassen. Er erzählte von Judiths Ankunft im Kloster im vergangenen November und legte den Schwerpunkt seines Schreibens auf die erfreuliche Tatsache, dass man im Internat der Stiftsschule für sie einen Platz gefunden habe. Bruder John erwähnte mit einem gewissen Stolz, dass er selbst sie auch unterrichtete (Latein, Englisch und Biologie) und dass er eine Art Mentor für Judith geworden sei.
Eine Broschüre des Internats hatte er seinem Schreiben beigelegt.
... und natürlich können Sie uns jederzeit hier besuchen. Bei dieser Gelegenheit würde es mich auch freuen, mehr über Judith zu erfahren. Hat sie Verwandte in Irland? Sie erwähnte einmal einen Unfall. Sind ihre Eltern tatsächlich tot?
Ich hoffe, mein Brief erreicht Sie - denn Ihre Anschrift hat mir doch einiges Kopfzerbrechen bereitet.
Es war ein Schreiben voller Hoffnung und voller Fragen gewesen. John hatte den Moment noch vor Augen, als er den Brief persönlich zum Postschalter gebracht hatte. Es war ihm wichtig gewesen, dass eine Angestellte der Schweizer Post das Gewicht sowie Adresse und Frankierung noch einmal überprüfte und dass diesbezüglich auch wirklich nichts zu beanstanden war.
Ebenso erinnerte sich Bruder John an das Unbehagen, das in ihm aufgekommen war, als er gesehen hatte, wie die Frau das Schreiben in hohem Bogen in eine große gelbe Box geworfen hatte, zu Dutzenden von anderen Briefen.
In Gottes Namen.
Als er mit leeren Händen den Weg zurück zum Kloster in Angriff genommen hatte, war ihm schmerzlich bewusst geworden, dass es keinen Schutzheiligen gab, der für die Post zuständig war. Also rief er den heiligen Christophorus an, dessen Bereich immerhin der Verkehr war, und bat ihn, sich dieser Sache gleichermaßen anzunehmen.
Bruder John stand noch immer vor den Postfächern im Hauptgebäude des Klosters Einsiedeln. Sosehr ihn seine Neugier trieb, er widerstand der Versuchung, den Brief auf der Stelle zu öffnen. Es blieben kaum noch zehn Minuten bis zum Mittagsmahl. Also legte er das ungeöffnete Kuvert zurück in das Fach. Er hatte zu lange auf diesen Moment gewartet - und deshalb wollte er die Nachmittagsstunden dazu verwenden, den Brief in aller Ruhe zu lesen.
Copyright © List TB. (Verlag)
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Autoren-Porträt von Michael Theurillat
Michael Theurillat, geboren 1961 in Basel, studierte Wirtschaftswissenschaften, Kunstgeschichte und Geschichte und arbeitete jahrelang erfolgreich im Bankgeschäft. Die Romane mit Kommissar Eschenbach sind eine der beliebtesten Krimiserien der Schweiz. 2012 wurde Rütlischwur mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Michael Theurillat lebt mit seiner Familie in der Nähe von Zürich.
Bibliographische Angaben
- Autor: Michael Theurillat
- 2012, 6. Aufl., 384 Seiten, Masse: 12,5 x 18,5 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548611303
- ISBN-13: 9783548611303
- Erscheinungsdatum: 15.12.2012
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