Rot wie das Meer
Roman
Jedes Jahr im November wird die Insel Thisby von Capaill Uisce heimgesucht, Meereswesen, die in Gestalt wunderschöner Pferde Tod und Verderben bringen. Schnell wie der Seewind und tückisch wie das Meer, ziehen sie die Menschen in ihren Bann. Wie...
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Produktinformationen zu „Rot wie das Meer “
Jedes Jahr im November wird die Insel Thisby von Capaill Uisce heimgesucht, Meereswesen, die in Gestalt wunderschöner Pferde Tod und Verderben bringen. Schnell wie der Seewind und tückisch wie das Meer, ziehen sie die Menschen in ihren Bann. Wie viele junge Männer der Insel fiebert auch Sean Kendrick dem Skorpio-Rennen entgegen, bei dem sie auf Capaill Uisce gegeneinander antreten. Nicht wenige bezahlen dafür mit ihrem Leben. Das diesjährige Rennen aber wird sein wie keines zuvor: Als erste Frau wagt Puck Connolly, sich einen Platz in dieser Männerwelt zu erkämpfen. Sie gewinnt den Respekt von Sean Kendrick, der ihr anfangs widerwillig, dann selbstlos hilft. Schließlich fällt der Startschuss und auch diesmal erreichen viele Reiter nicht das Ziel. Ihr Blut und das ihrer Capaill Uisce färben die Wellen des Meeres rot ...
Mehr Infos rund um Maggie Stiefvater und ihre Bücher unter: www.maggiestiefvater.de
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Klappentext zu „Rot wie das Meer “
Jedes Jahr im November wird die Insel Thisby von Capaill Uisce heimgesucht, Meereswesen, die in Gestalt wunderschöner Pferde Tod und Verderben bringen. Schnell wie der Seewind und tückisch wie das Meer, ziehen sie die Menschen in ihren Bann.Wie viele junge Männer der Insel fiebert auch Sean Kendrick dem Skorpio-Rennen entgegen, bei dem sie auf Capaill Uisce gegeneinander antreten. Nicht wenige bezahlen dafür mit ihrem Leben.
Das diesjährige Rennen aber wird sein wie keines zuvor: Als erste Frau wagt Puck Connolly, sich einen Platz in dieser Männerwelt zu erkämpfen. Sie gewinnt den Respekt von Sean Kendrick, der ihr anfangs widerwillig, dann selbstlos hilft. Schliesslich fällt der Startschuss und auch diesmal erreichen viele Reiter nicht das Ziel.
Ihr Blut und das ihrer Capaill Uisce färben die Wellen des Meeres rot ...
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Lese-Probe zu „Rot wie das Meer “
Rot wie das Meer von Maggie StiefvaterProlog
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Neun Jahre zuvor
Sean Heute ist der erste November und das bedeutet, heute wird jemand sterben.
Selbst im hellen Sonnenschein schillert die eisige Herbstsee in allen Farben der Nacht: dunkelblau, schwarz und braun. Ich betrachte die sich stetig verändernden Muster im Sand, zerpügt von unzähligen Hufen.
Unten am Strand, einem bleichen Streifen zwischen schwarzem Wasser und Kalkfelsen, wärmen sie die Pferde auf. Das ist niemals ungefährlich, aber die Gefahr ist auch nie so groß wie heute, am Tag des Rennens. Zu dieser Zeit des Jahres lebe und atme ich den Strand. Meine Wangen sind wund vom Sand, den der Wind mir ins Gesicht weht. Die Innenseiten meiner Oberschenkel brennen, wo sie am Sattel scheuern. Meine Arme schmerzen von der Anstrengung, knapp eine Tonne Pferd unter Kontrolle zu halten. Ich habe vergessen, wie sich Wärme anfühlt, eine durchgeschlafene Nacht oder wie mein Name klingt, wenn er gesprochen wird und nicht über zig Meter Sand geschrien. Ich bin lebendig, so lebendig.
Als ich mich mit meinem Vater auf den Weg zur Klippe mache, hält mich einer der Organisatoren des Rennens zurück. Er sagt: »Sean Kendrick, du bist zehn Jahre alt. Du weißt es vielleicht noch nicht, aber es gibt bessere Arten zu sterben als an diesem Strand.«
Mein Vater fährt herum und packt den Mann am Oberarm, als wäre er ein unruhiges Pferd. Es folgt eine kurze Diskussion über Altersbeschränkungen beim Rennen. Mein Vater gewinnt.
»Wenn Ihr Sohn stirbt«, sagt der Mann, »ist das ganz allein Ihre Schuld.« Mein Vater würdigt ihn nicht einmal einer Antwort, sondern führt seinen Uisce-Hengst schweigend weiter.
Auf dem Weg zum Wasser müssen wir uns durch ein Gewirr von Menschen und Pferden drängen. Ich schlüpfe unter einem steigenden Pferd hindurch, dessen Reiter sich am anderen Ende des Führstricks in den Sand stemmt. Unbeschadet gelange ich schließlich ans Wasser und nde mich umringt von Capaill Uisce wieder - den Wasserpferden. Sie schimmern in allen Farben der Kieselsteine am Strand: schwarz, rot, golden, weiß, elfenbeinfarben, grau, blau. Die Männer befestigen rote Troddeln und Gänseblümchen an den Zaumzeugen, die sie vor den Gefahren der dunklen Novembersee schützen sollen. Ich würde nicht darauf vertrauen, dass eine Handvoll Blütenblätter mir das Leben rettet. Letztes Jahr hat so ein mit Blumen und Glöckchen geschmücktes Wasserpferd einem Mann beinahe den Arm abgerissen.
Das hier sind keine gewöhnlichen Pferde. Behäng sie mit Zauber- kram, so viel du willst, halt sie vom Meer fern, so gut du kannst, aber heute, hier am Strand, gilt nur eines: Dreh ihnen niemals den Rücken zu.
Einige der Pferde haben Schaum vor dem Maul. Er trop ihnen von den Lippen, rinnt ihnen über die Brust wie weiße Meeresgischt, verdeckt die Zähne, die sich vielleicht noch an diesem Tag in das Fleisch eines Menschen graben werden.
Sie sind wunderschön und todbringend, sie lieben und sie hassen uns.
Mein Vater schickt mich los, um ihm seine Satteldecke und die Armbinde zu besorgen. Anhand der farbigen Stoße sollen die Zuschauer hoch oben auf den Klippen die Reiter auseinanderhalten können, doch mein Vater hätte kein solches Erkennungszeichen gebraucht, nicht bei dem leuchtend roten Fell seines Hengstes.
»Ah, Kendrick«, sagt einer der Männer, die die Farben ausgeben. Das ist der Name meines Vaters und auch meiner. »Der bekommt eine rote Decke.«
Als ich zurück zu meinem Vater gehe, ruft mich ein anderer Reiter zu sich: »He, Sean Kendrick.« Er ist klein und drahtig, sein Gesicht wie aus Fels gemeißelt. »Guter Tag für das Rennen.« Ich fühle mich geehrt, dass er mit mir redet wie mit einem Erwachsenen. So als gehörte ich dazu. Wir nicken einander zu, dann wendet er sich wieder zu seinem Pferd um, das er gerade aufzäumt. Sein kleiner Rennsattel ist handgefertigt, und als er das Blatt hebt, um den Gurt darunter ein letztes Mal festzuziehen, sehe ich, dass dort Worte in das Leder geprägt sind: Unsere Toten saufen Meerwasser.
Das Herz hämmert mir in der Brust, als ich meinem Vater das rote Stoßbündel reiche. Auch er wirkt unruhig und ich wünschte, ich würde reiten, nicht er.
Meinetwegen mache ich mir keine Sorgen.
Der rote Uisce-Hengst schnaubt nervös, die Ohren aufgestellt, voller Ungeduld. Voller Feuer. Er wird schnell sein. Schnell und schwer zu kontrollieren.
Mein Vater übergibt mir die Zügel, damit er seinem Wasserpferd die rote Decke auegen kann. Ich lecke mir über die Zähne - sie schmecken salzig - und sehe zu, wie mein Vater sich die gleichfarbige Binde um den Oberarm knotet. Jedes Jahr sehe ich ihm dabei zu und jedes Jahr befestigt er die Armbinde mit ruhiger Hand. Diesmal nicht. Seine Finger wirken unbeholfen und ich weiß, er hat Angst vor dem roten Hengst.
Ich habe es selbst schon geritten, dieses Capall. Wenn ich auf seinem Rücken sitze, den Wind im Gesicht, das Donnern seiner Hufschläge in den Knochen, unsere Beine nass von Gischt, kennen wir keine Erschöpfung.
Ich beuge mich vor, dicht an den Kopf des Hengstes, und zeichne gegen den Uhrzeigersinn einen Kreis über sein Auge, dann lüstere ich ihm etwas in sein weiches Ohr.
»Sean!«, schimpft mein Vater und der Kopf des Capall zuckt so schnell hoch, dass sein Schädel beinahe gegen meinen prallt. »Gehst du wohl weg von seinem Kopf! Siehst du denn nicht, wie hungrig er heute aussieht? Oder meinst du, du wärst hübscher, wenn dir dein halbes Gesicht fehlt?«
Doch ich blicke weiterhin in die schmale Pupille des Hengstes und er starrt zurück, den Kopf leicht von mir weggedreht. Ich hoe, dass er sich an das, was ich zu ihm gesagt habe, erinnern wird: Bitte friss meinen Vater nicht.
Mein Vater räuspert sich und sagt dann zu mir: »Du solltest jetzt raufgehen. Na, komm ...« Er gibt mir einen Klaps auf die Schulter und steigt auf.
Er wirkt klein und dunkel auf dem Rücken des roten Hengstes. Seine Hände ziehen schon jetzt unablässig an den Zügeln, um das Pferd am Platz zu halten. Jede Bewegung überträgt sich auf das Gebissstück im Maul des Tiers; ich sehe zu, wie sein Kopf vor- und zurückwippt. Ich hätte es anders gemacht, aber ich sitze nicht da oben.
Ich will meinen Vater daran erinnern, wie der Hengst nach rechts scheut und dass er womöglich mit dem linken Auge besser sieht, stattdessen aber sage ich: »Wir sehen uns danach.« Wir nicken einander zu wie zwei Fremde, der Abschied knapp und linkisch.
Ich beobachte das Rennen von den Klippen aus, als ein graues Uisce-Pferd sich in den Arm meines Vaters verbeißt, dann in seine Brust.
Einen Moment lang hören die Wellen auf, an den Strand zu rollen, die Möwen über uns halten die Flügel still und die salzige Lu erstarrt in meinen Lungen.
Dann zerrt das graue Wasserpferd meinen Vater aus seinem unsicheren Sitz auf dem roten Hengst.
Der Graue kann meinen Vater nicht zwischen seinen scharfen Zähnen halten und lässt ihn in den Sand fallen, verloren, noch ehe er unter die Hufe gerät. Er lag an zweiter Stelle und es dauert eine endlose Minute, bis der Rest der Pferde über seinen Körper hinweggeprescht ist und ich ihn wieder sehen kann. Er ist nur noch ein länglicher, schwarz-dunkelroter Fleck im Sand, halb überspült von der schäumenden Gischt. Der rote Hengst zögert, schon auf halbem Wege zurück zu jenem hungrigen Meeresgeschöpf, das er immer gewesen ist, aber er tut, worum ich ihn gebeten habe: Er rührt das, was von meinem Vater geblieben ist, nicht an. Stattdessen trottet er ins Wasser. Nichts ist je so rot wie das Meer an diesem Tag.
Ich denke nicht o an die in der rötlichen Brandung treibende Leiche meines Vaters. Stattdessen denke ich an ihn, wie er vor dem Rennen gewesen ist: ängstlich. Ich werde niemals denselben Fehler machen.
1
Puck Die Leute sagen immer, ohne mich wären meine Brüder verloren, in Wahrheit aber wäre ich ohne sie verloren. Wenn auf der Insel jemand gefragt wird, wo er wohnt, antwortet er normalerweise so etwas wie »In der Nähe von Skarmouth« oder »Im hinteren Teil von isby«, »Auf der harten Seite« oder »'nen Steinwurf von olla«. Ich nicht. Ich weiß noch, einmal, als ich klein war und mich an die zerfurchte Hand meines Vaters klammerte, fragte mich ein alter, wettergegerbter Bauer, der aussah, als hätte ihn gerade jemand aus dem Acker ausgegraben: »Wo wohnst du, Kleine?« Ich antwortete, mit viel zu lauter Stimme für ein so kleines sommersprossiges Ding: »Im Connolly-Haus.« Er fragte: »Wo is'n das?« Und ich erwiderte: »Na, da, wo die Connollys wohnen. Ich bin nämlich eine.« Dann - und dafür schäme ich mich noch heute ein wenig, weil es eine dunkle Seite meiner Persönlichkeit enthüllt - fügte ich hinzu: »Und Sie nicht.«
Aber so ist es nun mal. Es gibt die Connollys und es gibt den Rest der Welt - obwohl der Rest der Welt, wenn man hier auf isby lebt, nicht besonders groß ist. Bis zum letzten Herbst waren das die Connollys: ich, mein jüngerer Bruder Finn, mein älterer Bruder Gabriel und unsere Eltern. Alles in allem lebte unsere Familie ziemlich zurückgezogen. Finn baute die ganze Zeit Sachen zusammen und nahm sie wieder auseinander und sammelte in einer Kiste unter seinem Bett Ersatzteile. Gabe war auch nicht gerade ein großer Redner. Er war sechs Jahre älter als ich und schien all seine Energie fürs Wachsen aufzuwenden; mit dreizehn war er schon einen Meter achtzig groß.
Unser Dad spielte die Blech öte, wenn er zu Hause war, und unsere Mutter vollbrachte jeden Abend aufs Neue die wundersame Vermehrung von Brot und Fisch, auch wenn ich sie erst als Wunder wahrnahm, als Mum nicht mehr da war.
Man konnte nicht sagen, dass wir ein schlechtes Verhältnis zu den anderen auf der Insel gehabt hätten. Unser Verhältnis untereinander war nur einfach besser. Ein Connolly zu sein, stand immer an erster Stelle. Das war die einzige Regel. Man konnte auf den Schlips treten, wem man wollte, solange dieser Schlips keinem Connolly gehörte.
Jetzt ist es Mitte Oktober. Wie jeder Herbsttag auf der Insel beginnt auch dieser hier kalt, doch die aufgehende Sonne verleiht ihm nach und nach Wärme und Farbe. Ich greife mir Striegel und Bürste und schrubbe den Schmutz aus Doves sandfarbenem Fell, bis meine Finger warm werden. Als ich sie schließlich sattele, ist sie sauber und ich bin voller Staub. Sie ist meine Stute und meine beste Freundin und ich rechne jeden Tag damit, dass ihr etwas Schlimmes zustößt, weil ich sie so sehr liebe.
Als ich den Sattelgurt festziehe, drückt Dove mir ihre Nase in die Seite und zwickt mich ganz sanft, dann zieht sie ihren Kopf schnell wieder zurück; sie liebt mich auch. Heute werde ich nicht lange reiten können; ich muss früh zurück sein und Finn dabei helfen, Kekse für die Läden im Dorf zu backen. Ich bemale auch Teekannen für die Touristen, und da es nicht mehr lange bis zum Rennen ist, habe ich Bestellungen im Überfluss. Wenn das Rennen vorbei ist, werden sich bis zum Frühjahr keine Besucher vom Festland mehr hier blicken lassen. Der Ozean ist einfach zu unberechenbar in der kalten Jahreszeit. Gabe wird den ganzen Tag unterwegs sein, bei der Arbeit im Hotel in Skarmouth, wo er die Zimmer für die Zuschauer des Rennens herrichtet. Als Waisenkind auf isby muss man hart arbeiten, um über die Runden zu kommen.
Dass auf unserer Insel nicht besonders viel los ist, wusste ich gar nicht, bis ich vor ein paar Jahren anng, Magazine zu lesen. Für mich fühlt es sich nicht so an, aber isby ist winzig: viertausend Menschen auf einem Felsbrocken, der aus dem Meer ragt, viele Stunden vom Festland entfernt. Hier gibt es nichts als Klippen und Pferde und Schafe und schmale Straßen, die sich an baumlosen Feldern vorbei nach Skarmouth schlängeln, dem größten Ort auf der Insel. Die Wahrheit ist: Solange man es nicht anders kennt, ist einem die Insel genug.
Nur dass ich es anders kenne. Und sie ist mir trotzdem genug.
Ich sitze auf und reite los, meine Zehen kalt in den abgewetzten Stiefeln, während Finn in unserem Morris in der Ausfahrt sitzt und sorgfältig einen Riss im Beifahrersitz mit schwarzem Klebeband verarztet. Der Riss ist eine Hinterlassenschaft von Pu¬n, unserer Hofkatze. Wenigstens hat Finn auf diese Weise gelernt, den Wagen nicht mit heruntergekurbelten Fenstern stehen zu lassen. Er tut so, als sei er genervt von der Frickelei, aber ich weiß, dass er sie insgeheim genießt. Es ist einfach nur Finns Grundsatz, nie allzu fröhlich zu wirken.
Als Finn mich auf Dove näher kommen sieht, wir er mir einen seltsamen Blick zu. Früher einmal, vor letztem Herbst, hätte sich dieser Blick in ein Lächeln verwandelt, er hätte den Motor angeworfen und wir hätten ein kleines Rennen veranstaltet, ich auf Dove gegen ihn im Auto, obwohl er eigentlich noch zu jung zum Autofahren war. Viel zu jung. Aber das war uns egal. Wer wollte es uns auch verbieten? Also rasten wir los, ich durch die Felder, er über die Straße. Wer als Letzter am Strand war, musste dem anderen eine Woche lang das Bett machen.
Aber so ein Rennen hat es nun seit fast einem Jahr nicht mehr gegeben. Nicht seit unsere Eltern in dem Boot gestorben sind.
Ich lasse Dove kehrtmachen und kleine Kreise im Garten neben unserem Haus laufen. Sie ist ungeduldig und zu aufgedreht, um sich an diesem Morgen zu konzentrieren, und mir ist zu kalt, um sie zu zwingen, am Zügel zu gehen. Sie will galoppieren.
Der Motor des Morris brummt auf. Als ich mich umdrehe, sehe ich den Wagen die Straße hinuntersausen, gefolgt von einer Wolke ungesunder Abgase. Eine Sekunde später höre ich Finn juchzen. Er streckt seinen Kopf aus dem Fenster, das Gesicht blass unter dem staubigen Haar und mit einem Grinsen, das jeden einzelnen seiner Zähne zeigt.
»Was ist, brauchst du 'ne schri liche Einladung?«, ru er mir zu. Dann zieht er den Kopf zurück und der Motor heult auf, als Finn einen anderen Gang einlegt.
»Dann los!«, rufe ich zurück, obwohl er viel zu weit weg ist, um mich zu hören. Doves Ohren zucken kurz zu mir nach hinten und richten sich dann wieder bebend nach vorn auf die Straße. Es ist ein rauer, kühler Morgen und sie lässt sich nicht lange bitten. Ich presse ihr meine Waden in die Seiten und schnalze mit der Zunge.
Dove stürmt los, ihre Hufe wirbeln die Erde hinter ihr in hohem Bogen auf und wir preschen Finn hinterher.
Finns Route ist nicht schwer zu erraten; er muss sich an die Straßen halten und hier draußen gibt es nur die eine, die hinter unserem Haus vorbei nach Skarmouth führt. Allerdings ist sie nicht besonders gerade. Sie windet sich durch einen Flickenteppich aus Feldern, die von Steinmauern und Hecken umgeben sind. Der Staubwolke zu folgen, die er auf diesem Zickzackkurs hinter sich herzieht, wäre Unsinn. Stattdessen sprengen Dove und ich querfeldein. Dove ist nicht groß - das ist keines der normalen Inselpferde, weil das Gras nicht sehr nahrha ist -, aber sie ist ehrgeizig und kühn. Und so setzen sie und ich gemeinsam über jede Hecke, die sich uns in den Weg stellt, solange nur der Boden fest genug ist.
Wir schießen um die erste Kurve und scheuchen ein paar Schafe auf. »'tschuldigung!«, rufe ich ihnen über die Schulter zu. Die nächste Hecke kommt in Sicht, während ich noch mit den Schafen beschäftigt bin, und Dove muss hastig die Vorderhufe hochreißen, um den knappen Absprung zu schaffen. Ich lasse die Zügel so locker, dass es jedem anderen Reiter einen Schauder über den Rücken jagen würde, aber immerhin zerre ich nicht an ihrem Gebiss und sie zieht die Beine ganz dicht an und rettet uns beide. Als sie hinter der Hecke weitergaloppiert, nehme ich die Zügel wieder kürzer und klopfe ihr auf den Hals, um ihr zu zeigen, dass mir nicht entgangen ist, wie gut sie reagiert hat, und sie dreht mir ihr Ohr zu, um mir zu zeigen, dass sie sich über mein Lob freut.
Dann segeln wir über eine Weide dahin, auf der früher einmal Schafe gegrast haben, wo heute aber nur noch stoppeliges Heidekraut steht, das darauf wartet, abgebrannt zu werden. Der Morris ist uns noch immer ein Stück voraus, ein dunkler Umriss hinter einer gewaltigen Wand aus Staub. Ich mache mir keine Sorgen wegen Finns Vorsprung; um mit dem Auto zum Strand zu kommen, muss er entweder die Straße durch den Ort nehmen, mit all seinen Fußgängern und engen Kurven, oder den Umweg außen herum, der ihn mehrere Minuten kosten und uns eine Chance zum Auolen geben würde.
Ich höre, wie der Morris am Kreisverkehr kurz abbremst und schließlich auf Skarmouth zubraust. Jetzt könnte ich entweder die Umgehungsstraße nehmen, sodass wir nicht mehr springen müssten, oder die Abkürzung direkt durch das Wohngebiet am Ortsrand, auf der wir durch ein paar Gärten hopsen und riskieren würden, von Gabe am Hotel gesehen zu werden.
Ich male mir schon aus, wie ich als Erste auf den Strand presche. Ich beschließe, das Risiko einzugehen, von Gabe entdeckt zu werden. Das letzte Mal, dass ich diesen Weg genommen habe, ist schon so lange her, dass die spießigen alten Damen nicht allzu viel Grund haben dürfen, sich über ein Pferd in ihren Gärten zu beschweren, solange wir nicht irgendetwas von Wert niedertrampeln.
»Na los, Dove«, flüstere ich. Sie galoppiert über die Straße und durch eine Lücke in einer Hecke. Die Häuser hier wirken, als wären sie direkt aus dem Fels emporgewachsen, und die Gärten sind vollgestopft mit Sachen, die aus den Häusern herausgequollen zu sein scheinen. Auf der anderen Seite verläuft eine Straße aus massivem Stein, auf der kein Pferd sollte laufen müssen, also führt der einzig mögliche Weg durch das halbe Dutzend von Gärten und am Hotel vorbei.
Copyright © für die deutschsprachige Ausgabe 2012 script5 script5 ist ein Imprint der Loewe Verlag GmbH, Bindlach
Neun Jahre zuvor
Sean Heute ist der erste November und das bedeutet, heute wird jemand sterben.
Selbst im hellen Sonnenschein schillert die eisige Herbstsee in allen Farben der Nacht: dunkelblau, schwarz und braun. Ich betrachte die sich stetig verändernden Muster im Sand, zerpügt von unzähligen Hufen.
Unten am Strand, einem bleichen Streifen zwischen schwarzem Wasser und Kalkfelsen, wärmen sie die Pferde auf. Das ist niemals ungefährlich, aber die Gefahr ist auch nie so groß wie heute, am Tag des Rennens. Zu dieser Zeit des Jahres lebe und atme ich den Strand. Meine Wangen sind wund vom Sand, den der Wind mir ins Gesicht weht. Die Innenseiten meiner Oberschenkel brennen, wo sie am Sattel scheuern. Meine Arme schmerzen von der Anstrengung, knapp eine Tonne Pferd unter Kontrolle zu halten. Ich habe vergessen, wie sich Wärme anfühlt, eine durchgeschlafene Nacht oder wie mein Name klingt, wenn er gesprochen wird und nicht über zig Meter Sand geschrien. Ich bin lebendig, so lebendig.
Als ich mich mit meinem Vater auf den Weg zur Klippe mache, hält mich einer der Organisatoren des Rennens zurück. Er sagt: »Sean Kendrick, du bist zehn Jahre alt. Du weißt es vielleicht noch nicht, aber es gibt bessere Arten zu sterben als an diesem Strand.«
Mein Vater fährt herum und packt den Mann am Oberarm, als wäre er ein unruhiges Pferd. Es folgt eine kurze Diskussion über Altersbeschränkungen beim Rennen. Mein Vater gewinnt.
»Wenn Ihr Sohn stirbt«, sagt der Mann, »ist das ganz allein Ihre Schuld.« Mein Vater würdigt ihn nicht einmal einer Antwort, sondern führt seinen Uisce-Hengst schweigend weiter.
Auf dem Weg zum Wasser müssen wir uns durch ein Gewirr von Menschen und Pferden drängen. Ich schlüpfe unter einem steigenden Pferd hindurch, dessen Reiter sich am anderen Ende des Führstricks in den Sand stemmt. Unbeschadet gelange ich schließlich ans Wasser und nde mich umringt von Capaill Uisce wieder - den Wasserpferden. Sie schimmern in allen Farben der Kieselsteine am Strand: schwarz, rot, golden, weiß, elfenbeinfarben, grau, blau. Die Männer befestigen rote Troddeln und Gänseblümchen an den Zaumzeugen, die sie vor den Gefahren der dunklen Novembersee schützen sollen. Ich würde nicht darauf vertrauen, dass eine Handvoll Blütenblätter mir das Leben rettet. Letztes Jahr hat so ein mit Blumen und Glöckchen geschmücktes Wasserpferd einem Mann beinahe den Arm abgerissen.
Das hier sind keine gewöhnlichen Pferde. Behäng sie mit Zauber- kram, so viel du willst, halt sie vom Meer fern, so gut du kannst, aber heute, hier am Strand, gilt nur eines: Dreh ihnen niemals den Rücken zu.
Einige der Pferde haben Schaum vor dem Maul. Er trop ihnen von den Lippen, rinnt ihnen über die Brust wie weiße Meeresgischt, verdeckt die Zähne, die sich vielleicht noch an diesem Tag in das Fleisch eines Menschen graben werden.
Sie sind wunderschön und todbringend, sie lieben und sie hassen uns.
Mein Vater schickt mich los, um ihm seine Satteldecke und die Armbinde zu besorgen. Anhand der farbigen Stoße sollen die Zuschauer hoch oben auf den Klippen die Reiter auseinanderhalten können, doch mein Vater hätte kein solches Erkennungszeichen gebraucht, nicht bei dem leuchtend roten Fell seines Hengstes.
»Ah, Kendrick«, sagt einer der Männer, die die Farben ausgeben. Das ist der Name meines Vaters und auch meiner. »Der bekommt eine rote Decke.«
Als ich zurück zu meinem Vater gehe, ruft mich ein anderer Reiter zu sich: »He, Sean Kendrick.« Er ist klein und drahtig, sein Gesicht wie aus Fels gemeißelt. »Guter Tag für das Rennen.« Ich fühle mich geehrt, dass er mit mir redet wie mit einem Erwachsenen. So als gehörte ich dazu. Wir nicken einander zu, dann wendet er sich wieder zu seinem Pferd um, das er gerade aufzäumt. Sein kleiner Rennsattel ist handgefertigt, und als er das Blatt hebt, um den Gurt darunter ein letztes Mal festzuziehen, sehe ich, dass dort Worte in das Leder geprägt sind: Unsere Toten saufen Meerwasser.
Das Herz hämmert mir in der Brust, als ich meinem Vater das rote Stoßbündel reiche. Auch er wirkt unruhig und ich wünschte, ich würde reiten, nicht er.
Meinetwegen mache ich mir keine Sorgen.
Der rote Uisce-Hengst schnaubt nervös, die Ohren aufgestellt, voller Ungeduld. Voller Feuer. Er wird schnell sein. Schnell und schwer zu kontrollieren.
Mein Vater übergibt mir die Zügel, damit er seinem Wasserpferd die rote Decke auegen kann. Ich lecke mir über die Zähne - sie schmecken salzig - und sehe zu, wie mein Vater sich die gleichfarbige Binde um den Oberarm knotet. Jedes Jahr sehe ich ihm dabei zu und jedes Jahr befestigt er die Armbinde mit ruhiger Hand. Diesmal nicht. Seine Finger wirken unbeholfen und ich weiß, er hat Angst vor dem roten Hengst.
Ich habe es selbst schon geritten, dieses Capall. Wenn ich auf seinem Rücken sitze, den Wind im Gesicht, das Donnern seiner Hufschläge in den Knochen, unsere Beine nass von Gischt, kennen wir keine Erschöpfung.
Ich beuge mich vor, dicht an den Kopf des Hengstes, und zeichne gegen den Uhrzeigersinn einen Kreis über sein Auge, dann lüstere ich ihm etwas in sein weiches Ohr.
»Sean!«, schimpft mein Vater und der Kopf des Capall zuckt so schnell hoch, dass sein Schädel beinahe gegen meinen prallt. »Gehst du wohl weg von seinem Kopf! Siehst du denn nicht, wie hungrig er heute aussieht? Oder meinst du, du wärst hübscher, wenn dir dein halbes Gesicht fehlt?«
Doch ich blicke weiterhin in die schmale Pupille des Hengstes und er starrt zurück, den Kopf leicht von mir weggedreht. Ich hoe, dass er sich an das, was ich zu ihm gesagt habe, erinnern wird: Bitte friss meinen Vater nicht.
Mein Vater räuspert sich und sagt dann zu mir: »Du solltest jetzt raufgehen. Na, komm ...« Er gibt mir einen Klaps auf die Schulter und steigt auf.
Er wirkt klein und dunkel auf dem Rücken des roten Hengstes. Seine Hände ziehen schon jetzt unablässig an den Zügeln, um das Pferd am Platz zu halten. Jede Bewegung überträgt sich auf das Gebissstück im Maul des Tiers; ich sehe zu, wie sein Kopf vor- und zurückwippt. Ich hätte es anders gemacht, aber ich sitze nicht da oben.
Ich will meinen Vater daran erinnern, wie der Hengst nach rechts scheut und dass er womöglich mit dem linken Auge besser sieht, stattdessen aber sage ich: »Wir sehen uns danach.« Wir nicken einander zu wie zwei Fremde, der Abschied knapp und linkisch.
Ich beobachte das Rennen von den Klippen aus, als ein graues Uisce-Pferd sich in den Arm meines Vaters verbeißt, dann in seine Brust.
Einen Moment lang hören die Wellen auf, an den Strand zu rollen, die Möwen über uns halten die Flügel still und die salzige Lu erstarrt in meinen Lungen.
Dann zerrt das graue Wasserpferd meinen Vater aus seinem unsicheren Sitz auf dem roten Hengst.
Der Graue kann meinen Vater nicht zwischen seinen scharfen Zähnen halten und lässt ihn in den Sand fallen, verloren, noch ehe er unter die Hufe gerät. Er lag an zweiter Stelle und es dauert eine endlose Minute, bis der Rest der Pferde über seinen Körper hinweggeprescht ist und ich ihn wieder sehen kann. Er ist nur noch ein länglicher, schwarz-dunkelroter Fleck im Sand, halb überspült von der schäumenden Gischt. Der rote Hengst zögert, schon auf halbem Wege zurück zu jenem hungrigen Meeresgeschöpf, das er immer gewesen ist, aber er tut, worum ich ihn gebeten habe: Er rührt das, was von meinem Vater geblieben ist, nicht an. Stattdessen trottet er ins Wasser. Nichts ist je so rot wie das Meer an diesem Tag.
Ich denke nicht o an die in der rötlichen Brandung treibende Leiche meines Vaters. Stattdessen denke ich an ihn, wie er vor dem Rennen gewesen ist: ängstlich. Ich werde niemals denselben Fehler machen.
1
Puck Die Leute sagen immer, ohne mich wären meine Brüder verloren, in Wahrheit aber wäre ich ohne sie verloren. Wenn auf der Insel jemand gefragt wird, wo er wohnt, antwortet er normalerweise so etwas wie »In der Nähe von Skarmouth« oder »Im hinteren Teil von isby«, »Auf der harten Seite« oder »'nen Steinwurf von olla«. Ich nicht. Ich weiß noch, einmal, als ich klein war und mich an die zerfurchte Hand meines Vaters klammerte, fragte mich ein alter, wettergegerbter Bauer, der aussah, als hätte ihn gerade jemand aus dem Acker ausgegraben: »Wo wohnst du, Kleine?« Ich antwortete, mit viel zu lauter Stimme für ein so kleines sommersprossiges Ding: »Im Connolly-Haus.« Er fragte: »Wo is'n das?« Und ich erwiderte: »Na, da, wo die Connollys wohnen. Ich bin nämlich eine.« Dann - und dafür schäme ich mich noch heute ein wenig, weil es eine dunkle Seite meiner Persönlichkeit enthüllt - fügte ich hinzu: »Und Sie nicht.«
Aber so ist es nun mal. Es gibt die Connollys und es gibt den Rest der Welt - obwohl der Rest der Welt, wenn man hier auf isby lebt, nicht besonders groß ist. Bis zum letzten Herbst waren das die Connollys: ich, mein jüngerer Bruder Finn, mein älterer Bruder Gabriel und unsere Eltern. Alles in allem lebte unsere Familie ziemlich zurückgezogen. Finn baute die ganze Zeit Sachen zusammen und nahm sie wieder auseinander und sammelte in einer Kiste unter seinem Bett Ersatzteile. Gabe war auch nicht gerade ein großer Redner. Er war sechs Jahre älter als ich und schien all seine Energie fürs Wachsen aufzuwenden; mit dreizehn war er schon einen Meter achtzig groß.
Unser Dad spielte die Blech öte, wenn er zu Hause war, und unsere Mutter vollbrachte jeden Abend aufs Neue die wundersame Vermehrung von Brot und Fisch, auch wenn ich sie erst als Wunder wahrnahm, als Mum nicht mehr da war.
Man konnte nicht sagen, dass wir ein schlechtes Verhältnis zu den anderen auf der Insel gehabt hätten. Unser Verhältnis untereinander war nur einfach besser. Ein Connolly zu sein, stand immer an erster Stelle. Das war die einzige Regel. Man konnte auf den Schlips treten, wem man wollte, solange dieser Schlips keinem Connolly gehörte.
Jetzt ist es Mitte Oktober. Wie jeder Herbsttag auf der Insel beginnt auch dieser hier kalt, doch die aufgehende Sonne verleiht ihm nach und nach Wärme und Farbe. Ich greife mir Striegel und Bürste und schrubbe den Schmutz aus Doves sandfarbenem Fell, bis meine Finger warm werden. Als ich sie schließlich sattele, ist sie sauber und ich bin voller Staub. Sie ist meine Stute und meine beste Freundin und ich rechne jeden Tag damit, dass ihr etwas Schlimmes zustößt, weil ich sie so sehr liebe.
Als ich den Sattelgurt festziehe, drückt Dove mir ihre Nase in die Seite und zwickt mich ganz sanft, dann zieht sie ihren Kopf schnell wieder zurück; sie liebt mich auch. Heute werde ich nicht lange reiten können; ich muss früh zurück sein und Finn dabei helfen, Kekse für die Läden im Dorf zu backen. Ich bemale auch Teekannen für die Touristen, und da es nicht mehr lange bis zum Rennen ist, habe ich Bestellungen im Überfluss. Wenn das Rennen vorbei ist, werden sich bis zum Frühjahr keine Besucher vom Festland mehr hier blicken lassen. Der Ozean ist einfach zu unberechenbar in der kalten Jahreszeit. Gabe wird den ganzen Tag unterwegs sein, bei der Arbeit im Hotel in Skarmouth, wo er die Zimmer für die Zuschauer des Rennens herrichtet. Als Waisenkind auf isby muss man hart arbeiten, um über die Runden zu kommen.
Dass auf unserer Insel nicht besonders viel los ist, wusste ich gar nicht, bis ich vor ein paar Jahren anng, Magazine zu lesen. Für mich fühlt es sich nicht so an, aber isby ist winzig: viertausend Menschen auf einem Felsbrocken, der aus dem Meer ragt, viele Stunden vom Festland entfernt. Hier gibt es nichts als Klippen und Pferde und Schafe und schmale Straßen, die sich an baumlosen Feldern vorbei nach Skarmouth schlängeln, dem größten Ort auf der Insel. Die Wahrheit ist: Solange man es nicht anders kennt, ist einem die Insel genug.
Nur dass ich es anders kenne. Und sie ist mir trotzdem genug.
Ich sitze auf und reite los, meine Zehen kalt in den abgewetzten Stiefeln, während Finn in unserem Morris in der Ausfahrt sitzt und sorgfältig einen Riss im Beifahrersitz mit schwarzem Klebeband verarztet. Der Riss ist eine Hinterlassenschaft von Pu¬n, unserer Hofkatze. Wenigstens hat Finn auf diese Weise gelernt, den Wagen nicht mit heruntergekurbelten Fenstern stehen zu lassen. Er tut so, als sei er genervt von der Frickelei, aber ich weiß, dass er sie insgeheim genießt. Es ist einfach nur Finns Grundsatz, nie allzu fröhlich zu wirken.
Als Finn mich auf Dove näher kommen sieht, wir er mir einen seltsamen Blick zu. Früher einmal, vor letztem Herbst, hätte sich dieser Blick in ein Lächeln verwandelt, er hätte den Motor angeworfen und wir hätten ein kleines Rennen veranstaltet, ich auf Dove gegen ihn im Auto, obwohl er eigentlich noch zu jung zum Autofahren war. Viel zu jung. Aber das war uns egal. Wer wollte es uns auch verbieten? Also rasten wir los, ich durch die Felder, er über die Straße. Wer als Letzter am Strand war, musste dem anderen eine Woche lang das Bett machen.
Aber so ein Rennen hat es nun seit fast einem Jahr nicht mehr gegeben. Nicht seit unsere Eltern in dem Boot gestorben sind.
Ich lasse Dove kehrtmachen und kleine Kreise im Garten neben unserem Haus laufen. Sie ist ungeduldig und zu aufgedreht, um sich an diesem Morgen zu konzentrieren, und mir ist zu kalt, um sie zu zwingen, am Zügel zu gehen. Sie will galoppieren.
Der Motor des Morris brummt auf. Als ich mich umdrehe, sehe ich den Wagen die Straße hinuntersausen, gefolgt von einer Wolke ungesunder Abgase. Eine Sekunde später höre ich Finn juchzen. Er streckt seinen Kopf aus dem Fenster, das Gesicht blass unter dem staubigen Haar und mit einem Grinsen, das jeden einzelnen seiner Zähne zeigt.
»Was ist, brauchst du 'ne schri liche Einladung?«, ru er mir zu. Dann zieht er den Kopf zurück und der Motor heult auf, als Finn einen anderen Gang einlegt.
»Dann los!«, rufe ich zurück, obwohl er viel zu weit weg ist, um mich zu hören. Doves Ohren zucken kurz zu mir nach hinten und richten sich dann wieder bebend nach vorn auf die Straße. Es ist ein rauer, kühler Morgen und sie lässt sich nicht lange bitten. Ich presse ihr meine Waden in die Seiten und schnalze mit der Zunge.
Dove stürmt los, ihre Hufe wirbeln die Erde hinter ihr in hohem Bogen auf und wir preschen Finn hinterher.
Finns Route ist nicht schwer zu erraten; er muss sich an die Straßen halten und hier draußen gibt es nur die eine, die hinter unserem Haus vorbei nach Skarmouth führt. Allerdings ist sie nicht besonders gerade. Sie windet sich durch einen Flickenteppich aus Feldern, die von Steinmauern und Hecken umgeben sind. Der Staubwolke zu folgen, die er auf diesem Zickzackkurs hinter sich herzieht, wäre Unsinn. Stattdessen sprengen Dove und ich querfeldein. Dove ist nicht groß - das ist keines der normalen Inselpferde, weil das Gras nicht sehr nahrha ist -, aber sie ist ehrgeizig und kühn. Und so setzen sie und ich gemeinsam über jede Hecke, die sich uns in den Weg stellt, solange nur der Boden fest genug ist.
Wir schießen um die erste Kurve und scheuchen ein paar Schafe auf. »'tschuldigung!«, rufe ich ihnen über die Schulter zu. Die nächste Hecke kommt in Sicht, während ich noch mit den Schafen beschäftigt bin, und Dove muss hastig die Vorderhufe hochreißen, um den knappen Absprung zu schaffen. Ich lasse die Zügel so locker, dass es jedem anderen Reiter einen Schauder über den Rücken jagen würde, aber immerhin zerre ich nicht an ihrem Gebiss und sie zieht die Beine ganz dicht an und rettet uns beide. Als sie hinter der Hecke weitergaloppiert, nehme ich die Zügel wieder kürzer und klopfe ihr auf den Hals, um ihr zu zeigen, dass mir nicht entgangen ist, wie gut sie reagiert hat, und sie dreht mir ihr Ohr zu, um mir zu zeigen, dass sie sich über mein Lob freut.
Dann segeln wir über eine Weide dahin, auf der früher einmal Schafe gegrast haben, wo heute aber nur noch stoppeliges Heidekraut steht, das darauf wartet, abgebrannt zu werden. Der Morris ist uns noch immer ein Stück voraus, ein dunkler Umriss hinter einer gewaltigen Wand aus Staub. Ich mache mir keine Sorgen wegen Finns Vorsprung; um mit dem Auto zum Strand zu kommen, muss er entweder die Straße durch den Ort nehmen, mit all seinen Fußgängern und engen Kurven, oder den Umweg außen herum, der ihn mehrere Minuten kosten und uns eine Chance zum Auolen geben würde.
Ich höre, wie der Morris am Kreisverkehr kurz abbremst und schließlich auf Skarmouth zubraust. Jetzt könnte ich entweder die Umgehungsstraße nehmen, sodass wir nicht mehr springen müssten, oder die Abkürzung direkt durch das Wohngebiet am Ortsrand, auf der wir durch ein paar Gärten hopsen und riskieren würden, von Gabe am Hotel gesehen zu werden.
Ich male mir schon aus, wie ich als Erste auf den Strand presche. Ich beschließe, das Risiko einzugehen, von Gabe entdeckt zu werden. Das letzte Mal, dass ich diesen Weg genommen habe, ist schon so lange her, dass die spießigen alten Damen nicht allzu viel Grund haben dürfen, sich über ein Pferd in ihren Gärten zu beschweren, solange wir nicht irgendetwas von Wert niedertrampeln.
»Na los, Dove«, flüstere ich. Sie galoppiert über die Straße und durch eine Lücke in einer Hecke. Die Häuser hier wirken, als wären sie direkt aus dem Fels emporgewachsen, und die Gärten sind vollgestopft mit Sachen, die aus den Häusern herausgequollen zu sein scheinen. Auf der anderen Seite verläuft eine Straße aus massivem Stein, auf der kein Pferd sollte laufen müssen, also führt der einzig mögliche Weg durch das halbe Dutzend von Gärten und am Hotel vorbei.
Copyright © für die deutschsprachige Ausgabe 2012 script5 script5 ist ein Imprint der Loewe Verlag GmbH, Bindlach
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Autoren-Porträt von Maggie Stiefvater
Maggie Stiefvater, geb. im November 1981 in Virginia, verlebte eine nach eigenen Worten sehr chaotische aber sehr kreative und musisch geprägte Kindheit und Jugend. Nach dem College versuchte sie u.a. als Kellnerin, Zeichenlehrerin beruflich Fuss zu fassen. Doch sehr bald schon meldeten sich ihre kreativen Talente und verlangten, ausgelebt zu werden zunächst als Musikerin und Songwriterin, dann zunehmend als bildende Künstlerin. Für ihre künstlerischen Arbeiten wurde sie inzwischen mit einigen wichtigen Preisen ausgezeichnet. Seit 2007 hat sich Stiefvater aufs Schreiben konzentriert und zählt inzwischen zu den erfolgreichsten Autorinnen der Romantasy.
Bibliographische Angaben
- Autor: Maggie Stiefvater
- Altersempfehlung: 14 - 17 Jahre
- 2012, 432 Seiten, Masse: 15,3 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Knuffinke, Sandra; Komina, Jessika
- Übersetzer: Sandra Knuffinke, Jessika Komina
- Verlag: script 5
- ISBN-10: 3839001471
- ISBN-13: 9783839001479
- Erscheinungsdatum: 12.11.2012
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