Rette dich, das Leben ruft!
"Eine unerschöpfliche Lektion für das Leben" Le Nouvel Observateur
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Rette dich, das Leben ruft! “
"Eine unerschöpfliche Lektion für das Leben" Le Nouvel Observateur
Klappentext zu „Rette dich, das Leben ruft! “
Was macht Menschen stark in Extremsituationen? Diese Frage stellt sich Boris Cyrulnik als einer der führenden Resilienzforscher. Seine eigene Lebensgeschichte gibt darauf Antwort. Hier erzählt er sie zum ersten Mal.Während der deutschen Besatzungszeit wird der sechsjährige Boris mit Hunderten anderen Menschen in eine Synagoge gepfercht. Dass er Jude ist, wird ihm erst jetzt bewusst. Glückliche Zufälle und beherzte Hilfe retten ihn vor der Deportation. Seine Eltern sterben im KZ. Es folgt eine jahrelange Odyssee durch Heime, Pflegefamilien und Internate.
Boris Cyrulnik erzählt erstmals die schmerzlichen Erlebnisse seiner Kindheit und Jugend. Und er zeigt, was uns trotz widriger Umstände stark macht und wie wir ein glückliches Leben führen können. Ein Mut machendes Buch, das grosse Hoffnungen in menschliches Handeln und Gemeinschaft setzt.
Lese-Probe zu „Rette dich, das Leben ruft! “
Rette dich, das Leben ruft von Boris CyrulnikKapitel eins
Der Krieg mit sechs Jahren
Ich wurde zweimal geboren.
Bei meiner ersten Geburt war ich nicht dabei. Mein Körper kam am 26. Juli 1937 in Bordeaux zur Welt. Das wurde mir gesagt. Und ich muss es wohl glauben, denn ich habe keinerlei Erinnerung daran.
Meine zweite Geburt ist mir genau im Gedächtnis geblieben. Eines Nachts wurde ich von bewaffneten Männern festgenommen, die mein Bett umringten. Sie holten mich, um mich zu töten. In dieser Nacht beginnt meine Geschichte.
Die Festnahme
Mit sechs Jahren ist das Wort »Tod« noch nicht erwachsen. Es dauert noch ein oder zwei Jahre, bis die Vorstellung der Zeit den Zugang zum Begriff eines endgültigen, unwiderruflichen Halts gewährt.
Als Madame Farges sagte: »Wenn Sie ihn leben lassen, werden wir ihm nicht sagen, dass er Jude ist«, fand ich das sehr interessant. Diese Männer wollten also, dass ich nicht lebte. Dieser Satz machte mir begreiflich, warum sie ihre Revolver auf mich richteten, als sie mich weckten: Taschenlampe in der einen Hand, Revolver in der anderen, Filzhut, dunkle Brille, Kragen hochgeschlagen - welch ein Auftritt! So also kleiden sich Leute, wenn sie ein Kind töten wollen.
Mich faszinierte das Verhalten von Madame Farges: Im Nachthemd stopfte sie meine Kleidung in einen kleinen Koffer. Dabei sagte sie: »Wenn Sie ihn leben lassen, sagen wir ihm nicht, dass er Jude ist.« Ich wusste nicht, was es hieß, Jude zu sein, aber ich hatte gerade gehört, dass es genügte, es nicht zu sagen, um leben zu dürfen. Einfach!
... mehr
Ein Mann, der offenbar der Chef war, antwortete: »Diese Kinder müssen verschwinden, sonst werden sie zu Feinden Hitlers.« Ich wurde also zum Tode verurteilt für ein Verbrechen, das ich eines Tages begehen würde.
Der Mensch, der in dieser Nacht in mir zur Welt kam, wurde mir durch diese denkwürdige Inszenierung in die Seele gepflanzt: Revolver, um mich zu töten, dunkle Brille in der Nacht, deutsche Soldaten mit geschultertem Gewehr auf dem Flur und vor allem dieser seltsame Satz, der mich als künftigen Verbrecher entlarvte.
Aus alldem schloss ich sogleich, dass man die Erwachsenen nicht ernst nehmen konnte und dass das Leben aufregend war.
Sie werden mir nicht glauben, wenn ich Ihnen sage, dass ich lange brauchte, um zu entdecken, dass ich in jener unsäglichen Nacht sechseinhalb Jahre alt war. Ich brauchte die Hilfe anderer, um zu begreifen, dass das Ereignis am 10. Januar 1944 stattfand, dem Tag, an dem die Juden in Bordeaux zusammengetrieben und deportiert wurden. Für diese zweite Geburt war ich darauf angewiesen, dass man meinem Gedächtnis äußere Anhaltspunkte gab,1 damit ich besser verstand, was geschehen war.
2012 hatte mich RCF, ein christlicher Rundfunksender, zu einer literarischen Sendung in Bordeaux eingeladen. Der Journalist, der mich zum Ausgang begleitete, sagte: »Gehen Sie die erste rechts, und Sie sehen am Ende der Straße die Straßenbahnhaltestelle, die sie zur Place des Quinconces im Stadtzentrum bringt.«
Die Sonne schien, die Sendung war angenehm gewesen, und ich fühlte mich leicht und beschwingt. Doch plötzlich stürmte eine Flut von Bildern auf mich ein: die nächtliche Straße, die Sperrkette der bewaffneten deutschen Soldaten, die Lastwagen mit ihren Planen entlang der Bürgersteige und der schwarze Wagen, in den sie mich stießen.
Die Sonne schien, ich wurde in der Buchhandlung Mollat zu einem weiteren Termin erwartet. Warum diese plötzliche Rückkehr einer fernen Vergangenheit?
Als ich zur Haltestelle kam, las ich, in den weißen Stein eines großen Gebäudes gemeißelt: Hôpital des Enfants malades. Unvermittelt fiel mir wieder das Verbot Margots ein, der Tochter von Madame Farges: »Geh nicht in die Rue de l'Hôpital des Enfants malades, da sind zu viele Leute, man könnte dich verraten.«
Verblüfft gehe ich denselben Weg zurück und entdecke, dass ich gerade durch die Rue Adrien-Baysselance gegangen bin. Ohne dass es mir klar wurde, bin ich an dem Haus von Madame Farges vorbeigekommen. Seit 1944 habe ich es nicht mehr wiedergesehen, aber ich glaube, dass irgendein Indiz, die Gräser zwischen den verrutschten Pflastersteinen oder die Form der Vortreppe, in meinem Gedächtnis die Rückkehr der Umstände meiner Festnahme ausgelöst hat.
Selbst wenn die äußeren Verhältnisse heiter und unbeschwert sind, kann ein Anhaltspunkt ausreichen, um eine Gedächtnisspur zu aktivieren. Unter alltäglichen Ereignissen, Begegnungen, Plänen wird das Drama im Gedächtnis verschüttet, aber die geringste Assoziation - ein Grashalm zwischen Pflastersteinen, eine schlecht gebaute Vortreppe - kann die Erinnerung wieder abrufen. Nichts wird ausgelöscht - wir glauben nur, vergessen zu haben, das ist alles.
Im Januar 1944 wusste ich nicht, dass ich mit dieser Geschichte würde leben müssen. Gewiss, ich bin nicht der Einzige, der mit der Unmittelbarkeit des Todes leben muss: »Ich war durch den Tod hindurchgegangen, er war eine Erfahrung meines Lebens gewesen ...«,2 aber wenn man sechs ist, hinterlässt alles Spuren. Der Tod gräbt sich ins Gedächtnis und wird zu einem neuen Organisator der Entwicklung.
Sinnstiftende Erinnerungen
Der Tod meiner Eltern war kein Ereignis für mich. Erst waren sie da, und dann waren sie nicht mehr da. Ich habe keine Erinnerung an ihren Tod, aber ich bin geprägt von ihrem Verschwinden.3 Wie soll das gehen: erst mit ihnen leben und dann ohne sie? Nicht, dass ich gelitten hätte: Man leidet nicht in der Wüste, man stirbt, das ist alles.
An unser Familienleben vor dem Krieg habe ich sehr deutliche Erinnerungen. Auf das Abenteuer der Sprache ließ ich mich im Grunde erst mit zwei Jahren ein, aber ich habe Bilder bewahrt. Ich erinnere mich an meinen Vater, der am Küchentisch die Zeitung las. Ich erinnere mich an den Kohlehaufen mitten im Zimmer. Ich erinnere mich an die Nachbarn in derselben Etage, zu denen ich ging, um den Braten im Ofen zu bewundern. Ich erinnere mich an den Gummipfeil, den mir mein vierzehnjähriger Onkel Jacques mitten auf die Stirn schoss. Ich erinnere mich, dass ich sehr laut geschrien habe, damit er bestraft würde. Ich erinnere mich an die resignierte Geduld meiner Mutter, während sie darauf wartete, dass ich meine Schuhe allein anzog. Ich erinnere mich an die großen Schiffe im Hafen von Bordeaux. Ich erinnere mich an Männer, die mit riesigen Bananenbüscheln die Schiffe verließen, und ich erinnere mich an tausend andere solche Geschehnisse - Bilder ohne Worte -, die noch heute meine Erinnerungen an die Vorkriegszeit bestimmen.
Eines Tages erschien mein Vater in Uniform, und ich war sehr stolz. Aus den Archiven habe ich erfahren, dass er sich freiwillig beim Régiment de marche des volontaires étrangers, dem Infanterie-Fremdenregiment, gemeldet hatte, das aus ausländischen Juden und republikanischen Spaniern bestand. Sie kämpften bei Soissons und erlitten fürchterliche Verluste.4 Damals konnte ich das nicht wissen. Heute würde ich sagen, dass ich stolz war, einen Vater bei den Soldaten zu haben, dass ich aber sein Käppi nicht mochte, weil mir dessen beiden Spitzen lächerlich erschienen.
Ich war zwei Jahre alt: Empfand ich das wirklich so, oder habe ich es nach dem Krieg auf einem Foto gesehen?
Die Verkettung der Tatsachen gibt dem Ereignis einen Sinn.
Erstes Bild: Die deutsche Wehrmacht marschiert durch eine große Avenue in der Nähe der Rue de la Rousselle. Ich finde das großartig. Die rhythmischen Tritte der Soldaten, die alle gleichzeitig auf den Boden treffen, vermitteln einen Eindruck von Stärke, der mich berauscht. Die Kapelle marschiert voran, und die großen Trommeln zu beiden Seiten eines Pferdes geben den Takt vor und veranstalten einen herrlichen Lärm. Ein Pferd rutscht aus und stürzt, die Soldaten stellen es wieder auf die Beine, die Ordnung ist wiederhergestellt. Ein wunderbares Schauspiel. Verwundert sehe ich, dass einige Erwachsene in meiner Nähe weinen.
Zweites Bild: Ich bin mit meiner Mutter auf der Post. Die deutschen Soldaten schlendern in kleinen Gruppen durch die Stadt, ohne Waffen, ohne Uniformmützen und sogar ohne Koppel. Ich finde, so sehen sie weniger kriegerisch aus. Einer greift in die Tasche und reicht mir eine Handvoll Bonbons. Meine Mutter reißt sie mir aus der Hand und gibt sie dem Soldaten zurück, wobei sie ihn beschimpft. Ich bewundere meine Mutter und bin traurig wegen der Bonbons. Sie sagt zu mir: »Du darfst nie mit einem Deutschen sprechen.«
Drittes Bild: Mein Vater ist auf Urlaub zu Hause. Wir gehen am Ufer der Garonne spazieren. Meine Eltern setzen sich auf eine Bank, ich spiele mit einem Ball, der in Richtung einer Bank rollt, auf der zwei Soldaten sitzen. Einer hebt den Ball auf und reicht ihn mir. Ich weigere mich zuerst, aber als er lächelt, nehme ich den Ball.
Wenig später zieht mein Vater wieder in den Krieg. Die Mutter wird ihn nie wiedersehen. Mein Gedächtnis erschlafft.
Erst später werden meine Erinnerungen wieder einsetzen, als Margot mich aus der Jugendfürsorge abholt. Meine Eltern sind verschwunden. Ich weiß noch, dass ich damals trotz des Verbots mit den Soldaten gesprochen habe, und diese Verkettung der Erinnerungen, lässt mich vermuten, dass meine Eltern wohl tot sind, weil ich im Gespräch mit ihnen unabsichtlich unsere Adresse preisgegeben haben muss.
Wie kann ein Kind das Verschwinden seiner Eltern realistisch erklären, wenn es nicht weiß, dass es antijüdische Gesetze gibt, und glaubt, dass der einzige mögliche Grund die Missachtung des Verbots ist: »Du darfst nie mit einem Deutschen sprechen.« Die Verkettung dieser Erinnerungsbruchstücke verleiht der Vorstellung von der Vergangenheit Zusammenhang. So bin ich zu dem Schluss gekommen, dass sie meinetwegen gestorben sind.
In einem Trugbild ist alles wahr: der Bauch vom Stier, die Flügel vom Adler und der Kopf vom Löwen. Trotzdem existiert ein solches Tier nicht. Oder vielmehr: Es existiert nur in der Vorstellung. Alle Bilder, die im Gedächtnis abgelegt werden, sind wahr. Erst die Umgestaltung ordnet sie so an, dass daraus eine Geschichte wird. Jedes ins Gedächtnis eingespeicherte Ereignis ist ein Baustein für das Trugbild des Selbst.
Erinnerungen legte ich nur so lange ab, wie Leben um mich war. Mein Gedächtnis starb, als meine Mutter starb. Im Kindergarten in der Rue du Pas-Saint-Georges war das Leben intensiv. Die Erzieherin Margot Farges inszenierte mit ihren kleinen Schauspielern von drei Jahren die Fabel vom Raben und dem Fuchs. Ich erinnere mich noch an die Verwirrung, in die mich der Vers »Maître Corbeau, sur un arbre perché ...« stürzte. Ich fragte mich, wie man einen Baum hocken (»perché «) und darauf einen Raben setzen könne, aber das hinderte mich nicht daran, mich ganz meiner Rolle als Meister Reinecke zu widmen.
Besonders empörte mich der Umstand, dass zwei kleine Mädchen Françoise hießen. Ich dachte, jedes Kind müsse durch einen Vornamen bezeichnet werden, der keinem anderen gleiche. Man würdige die Persönlichkeit kleiner Mädchen nicht hinreichend, wenn man mehreren von ihnen einen einzigen Vornamen gebe. Wie man sieht, begann ich schon damals mit meiner psychoanalytischen Ausbildung!
© Ullstein Verlag
Ein Mann, der offenbar der Chef war, antwortete: »Diese Kinder müssen verschwinden, sonst werden sie zu Feinden Hitlers.« Ich wurde also zum Tode verurteilt für ein Verbrechen, das ich eines Tages begehen würde.
Der Mensch, der in dieser Nacht in mir zur Welt kam, wurde mir durch diese denkwürdige Inszenierung in die Seele gepflanzt: Revolver, um mich zu töten, dunkle Brille in der Nacht, deutsche Soldaten mit geschultertem Gewehr auf dem Flur und vor allem dieser seltsame Satz, der mich als künftigen Verbrecher entlarvte.
Aus alldem schloss ich sogleich, dass man die Erwachsenen nicht ernst nehmen konnte und dass das Leben aufregend war.
Sie werden mir nicht glauben, wenn ich Ihnen sage, dass ich lange brauchte, um zu entdecken, dass ich in jener unsäglichen Nacht sechseinhalb Jahre alt war. Ich brauchte die Hilfe anderer, um zu begreifen, dass das Ereignis am 10. Januar 1944 stattfand, dem Tag, an dem die Juden in Bordeaux zusammengetrieben und deportiert wurden. Für diese zweite Geburt war ich darauf angewiesen, dass man meinem Gedächtnis äußere Anhaltspunkte gab,1 damit ich besser verstand, was geschehen war.
2012 hatte mich RCF, ein christlicher Rundfunksender, zu einer literarischen Sendung in Bordeaux eingeladen. Der Journalist, der mich zum Ausgang begleitete, sagte: »Gehen Sie die erste rechts, und Sie sehen am Ende der Straße die Straßenbahnhaltestelle, die sie zur Place des Quinconces im Stadtzentrum bringt.«
Die Sonne schien, die Sendung war angenehm gewesen, und ich fühlte mich leicht und beschwingt. Doch plötzlich stürmte eine Flut von Bildern auf mich ein: die nächtliche Straße, die Sperrkette der bewaffneten deutschen Soldaten, die Lastwagen mit ihren Planen entlang der Bürgersteige und der schwarze Wagen, in den sie mich stießen.
Die Sonne schien, ich wurde in der Buchhandlung Mollat zu einem weiteren Termin erwartet. Warum diese plötzliche Rückkehr einer fernen Vergangenheit?
Als ich zur Haltestelle kam, las ich, in den weißen Stein eines großen Gebäudes gemeißelt: Hôpital des Enfants malades. Unvermittelt fiel mir wieder das Verbot Margots ein, der Tochter von Madame Farges: »Geh nicht in die Rue de l'Hôpital des Enfants malades, da sind zu viele Leute, man könnte dich verraten.«
Verblüfft gehe ich denselben Weg zurück und entdecke, dass ich gerade durch die Rue Adrien-Baysselance gegangen bin. Ohne dass es mir klar wurde, bin ich an dem Haus von Madame Farges vorbeigekommen. Seit 1944 habe ich es nicht mehr wiedergesehen, aber ich glaube, dass irgendein Indiz, die Gräser zwischen den verrutschten Pflastersteinen oder die Form der Vortreppe, in meinem Gedächtnis die Rückkehr der Umstände meiner Festnahme ausgelöst hat.
Selbst wenn die äußeren Verhältnisse heiter und unbeschwert sind, kann ein Anhaltspunkt ausreichen, um eine Gedächtnisspur zu aktivieren. Unter alltäglichen Ereignissen, Begegnungen, Plänen wird das Drama im Gedächtnis verschüttet, aber die geringste Assoziation - ein Grashalm zwischen Pflastersteinen, eine schlecht gebaute Vortreppe - kann die Erinnerung wieder abrufen. Nichts wird ausgelöscht - wir glauben nur, vergessen zu haben, das ist alles.
Im Januar 1944 wusste ich nicht, dass ich mit dieser Geschichte würde leben müssen. Gewiss, ich bin nicht der Einzige, der mit der Unmittelbarkeit des Todes leben muss: »Ich war durch den Tod hindurchgegangen, er war eine Erfahrung meines Lebens gewesen ...«,2 aber wenn man sechs ist, hinterlässt alles Spuren. Der Tod gräbt sich ins Gedächtnis und wird zu einem neuen Organisator der Entwicklung.
Sinnstiftende Erinnerungen
Der Tod meiner Eltern war kein Ereignis für mich. Erst waren sie da, und dann waren sie nicht mehr da. Ich habe keine Erinnerung an ihren Tod, aber ich bin geprägt von ihrem Verschwinden.3 Wie soll das gehen: erst mit ihnen leben und dann ohne sie? Nicht, dass ich gelitten hätte: Man leidet nicht in der Wüste, man stirbt, das ist alles.
An unser Familienleben vor dem Krieg habe ich sehr deutliche Erinnerungen. Auf das Abenteuer der Sprache ließ ich mich im Grunde erst mit zwei Jahren ein, aber ich habe Bilder bewahrt. Ich erinnere mich an meinen Vater, der am Küchentisch die Zeitung las. Ich erinnere mich an den Kohlehaufen mitten im Zimmer. Ich erinnere mich an die Nachbarn in derselben Etage, zu denen ich ging, um den Braten im Ofen zu bewundern. Ich erinnere mich an den Gummipfeil, den mir mein vierzehnjähriger Onkel Jacques mitten auf die Stirn schoss. Ich erinnere mich, dass ich sehr laut geschrien habe, damit er bestraft würde. Ich erinnere mich an die resignierte Geduld meiner Mutter, während sie darauf wartete, dass ich meine Schuhe allein anzog. Ich erinnere mich an die großen Schiffe im Hafen von Bordeaux. Ich erinnere mich an Männer, die mit riesigen Bananenbüscheln die Schiffe verließen, und ich erinnere mich an tausend andere solche Geschehnisse - Bilder ohne Worte -, die noch heute meine Erinnerungen an die Vorkriegszeit bestimmen.
Eines Tages erschien mein Vater in Uniform, und ich war sehr stolz. Aus den Archiven habe ich erfahren, dass er sich freiwillig beim Régiment de marche des volontaires étrangers, dem Infanterie-Fremdenregiment, gemeldet hatte, das aus ausländischen Juden und republikanischen Spaniern bestand. Sie kämpften bei Soissons und erlitten fürchterliche Verluste.4 Damals konnte ich das nicht wissen. Heute würde ich sagen, dass ich stolz war, einen Vater bei den Soldaten zu haben, dass ich aber sein Käppi nicht mochte, weil mir dessen beiden Spitzen lächerlich erschienen.
Ich war zwei Jahre alt: Empfand ich das wirklich so, oder habe ich es nach dem Krieg auf einem Foto gesehen?
Die Verkettung der Tatsachen gibt dem Ereignis einen Sinn.
Erstes Bild: Die deutsche Wehrmacht marschiert durch eine große Avenue in der Nähe der Rue de la Rousselle. Ich finde das großartig. Die rhythmischen Tritte der Soldaten, die alle gleichzeitig auf den Boden treffen, vermitteln einen Eindruck von Stärke, der mich berauscht. Die Kapelle marschiert voran, und die großen Trommeln zu beiden Seiten eines Pferdes geben den Takt vor und veranstalten einen herrlichen Lärm. Ein Pferd rutscht aus und stürzt, die Soldaten stellen es wieder auf die Beine, die Ordnung ist wiederhergestellt. Ein wunderbares Schauspiel. Verwundert sehe ich, dass einige Erwachsene in meiner Nähe weinen.
Zweites Bild: Ich bin mit meiner Mutter auf der Post. Die deutschen Soldaten schlendern in kleinen Gruppen durch die Stadt, ohne Waffen, ohne Uniformmützen und sogar ohne Koppel. Ich finde, so sehen sie weniger kriegerisch aus. Einer greift in die Tasche und reicht mir eine Handvoll Bonbons. Meine Mutter reißt sie mir aus der Hand und gibt sie dem Soldaten zurück, wobei sie ihn beschimpft. Ich bewundere meine Mutter und bin traurig wegen der Bonbons. Sie sagt zu mir: »Du darfst nie mit einem Deutschen sprechen.«
Drittes Bild: Mein Vater ist auf Urlaub zu Hause. Wir gehen am Ufer der Garonne spazieren. Meine Eltern setzen sich auf eine Bank, ich spiele mit einem Ball, der in Richtung einer Bank rollt, auf der zwei Soldaten sitzen. Einer hebt den Ball auf und reicht ihn mir. Ich weigere mich zuerst, aber als er lächelt, nehme ich den Ball.
Wenig später zieht mein Vater wieder in den Krieg. Die Mutter wird ihn nie wiedersehen. Mein Gedächtnis erschlafft.
Erst später werden meine Erinnerungen wieder einsetzen, als Margot mich aus der Jugendfürsorge abholt. Meine Eltern sind verschwunden. Ich weiß noch, dass ich damals trotz des Verbots mit den Soldaten gesprochen habe, und diese Verkettung der Erinnerungen, lässt mich vermuten, dass meine Eltern wohl tot sind, weil ich im Gespräch mit ihnen unabsichtlich unsere Adresse preisgegeben haben muss.
Wie kann ein Kind das Verschwinden seiner Eltern realistisch erklären, wenn es nicht weiß, dass es antijüdische Gesetze gibt, und glaubt, dass der einzige mögliche Grund die Missachtung des Verbots ist: »Du darfst nie mit einem Deutschen sprechen.« Die Verkettung dieser Erinnerungsbruchstücke verleiht der Vorstellung von der Vergangenheit Zusammenhang. So bin ich zu dem Schluss gekommen, dass sie meinetwegen gestorben sind.
In einem Trugbild ist alles wahr: der Bauch vom Stier, die Flügel vom Adler und der Kopf vom Löwen. Trotzdem existiert ein solches Tier nicht. Oder vielmehr: Es existiert nur in der Vorstellung. Alle Bilder, die im Gedächtnis abgelegt werden, sind wahr. Erst die Umgestaltung ordnet sie so an, dass daraus eine Geschichte wird. Jedes ins Gedächtnis eingespeicherte Ereignis ist ein Baustein für das Trugbild des Selbst.
Erinnerungen legte ich nur so lange ab, wie Leben um mich war. Mein Gedächtnis starb, als meine Mutter starb. Im Kindergarten in der Rue du Pas-Saint-Georges war das Leben intensiv. Die Erzieherin Margot Farges inszenierte mit ihren kleinen Schauspielern von drei Jahren die Fabel vom Raben und dem Fuchs. Ich erinnere mich noch an die Verwirrung, in die mich der Vers »Maître Corbeau, sur un arbre perché ...« stürzte. Ich fragte mich, wie man einen Baum hocken (»perché «) und darauf einen Raben setzen könne, aber das hinderte mich nicht daran, mich ganz meiner Rolle als Meister Reinecke zu widmen.
Besonders empörte mich der Umstand, dass zwei kleine Mädchen Françoise hießen. Ich dachte, jedes Kind müsse durch einen Vornamen bezeichnet werden, der keinem anderen gleiche. Man würdige die Persönlichkeit kleiner Mädchen nicht hinreichend, wenn man mehreren von ihnen einen einzigen Vornamen gebe. Wie man sieht, begann ich schon damals mit meiner psychoanalytischen Ausbildung!
© Ullstein Verlag
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Autoren-Porträt von Boris Cyrulnik
Cyrulnik, BorisBoris Cyrulnik, 1937 in Bordeaux geboren, ist Neuropsychiater, Verhaltensforscher, Psychoanalytiker und Professor an der Universität Toulon. Seine Eltern, aus der Ukraine eingewanderte Juden, starben im Konzentrationslager. Er selbst entging nur knapp dem Tod. Cyrulnik ist Autor zahlreicher erfolgreicher Sachbücher, die in Frankreich allesamt Bestseller waren.
Bibliographische Angaben
- Autor: Boris Cyrulnik
- 2013, 304 Seiten, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Kober, Hainer
- Übersetzer: Hainer Kober
- Verlag: Ullstein HC
- ISBN-10: 3550080395
- ISBN-13: 9783550080395
- Erscheinungsdatum: 13.09.2013
Rezension zu „Rette dich, das Leben ruft! “
"Dieses ist eines der Bücher, die man gelesen haben muss, um sich, die Welt, und dass, was sich kaum sagen lässt, dennoch besser zu verstehen.", scobel, Gert Scobel, 16.01.2014
Kommentar zu "Rette dich, das Leben ruft!"