Quasikristalle
Roman. Ausgezeichnet mit dem Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln 2013 und dem Literaturpreis Alpha 2014
Oft ist er kaum berechenbar, verschlungen, und nur aus der Ferne als Ganzes zu erkennen: der Lebensweg. In 13 Kapiteln schildert Eva Menasse das Leben einer Frau. Direkt und subtil zugleich ist diese als Tochter, Mutter, Freundin und treulose Ehefrau erkennbar und bleibt doch sie selbst.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Quasikristalle “
Oft ist er kaum berechenbar, verschlungen, und nur aus der Ferne als Ganzes zu erkennen: der Lebensweg. In 13 Kapiteln schildert Eva Menasse das Leben einer Frau. Direkt und subtil zugleich ist diese als Tochter, Mutter, Freundin und treulose Ehefrau erkennbar und bleibt doch sie selbst.
Klappentext zu „Quasikristalle “
»Immer verwechselt man den eigenen Blick mit dem der anderen.«Was wissen wir wirklich über uns selbst? Und was vom anderen? In dreizehn Kapiteln zerlegt Eva Menasse die Biografie einer Frau in ihre unterschiedlichen Aspekte, zeigt sie als Mutter und Tochter, als Freundin, Mieterin und Patientin, als flüchtige Bekannte und treulose Ehefrau. Aus diesem Mosaik tritt auf magische Weise ein kühner Roman hervor, der wie nebenbei die Fragen nach Wahrnehmung und Wahrheit stellt.Zu Beginn ist Xane Molin vierzehn Jahre alt und erlebt mit ihrer besten Freundin einen dramatischen Sommer. Am Ende ist sie Grossmutter und versucht, für den Rest des Lebenswegs das Steuer noch einmal herumzureissen. Dazwischen nähern wir uns ihr aus verschiedensten Blickwinkeln: Da ist ihr Vermieter, der sie misstrauisch beobachtet und eigene Geheimnisse hat, da ist der Überlebende eines Bürgerkriegs, der sich in sie verliebt, da ist die ungestüme Jugendfreundin, die Xane nach Jahrzehnten plötzlich nicht mehr zu ertragen glaubt.Eva Menasse hat einen unbestechlichen Blick für Frauen in der Gesellschaft, ihre menschlichen Schwächen und das, was man an ihnen lieben muss. Furchtlos und subtil erzählt sie von einer aberwitzigen Auschwitz-Exkursion, vom Arbeitsalltag einer Kinderwunschärztin oder von den Mutproben der pubertierenden Tochter in der Patchwork-Familie ihrer Heldin. Ein energisches Buch, poetisch, komisch und bestürzend, dessen Titel der Naturwissenschaft entliehen ist. Erst kürzlich wurde entdeckt, dass es nicht nur Kristalle mit klar symmetrischer Struktur, sondern auch gebrochene und scheinbar unregelmässige gibt. Genauso verhält es sich mit dem Lebensweg: Er ist verschlungen und schwer berechenbar und nur aus der Ferne als Ganzes erkennbar.
»Vom Glück der Lektüre: Eva Menasse schreibt kristallklare Prosa über die Vergeblichkeit des sehnsuchtsvollen Miteinanders - grosse Literatur!« Die Zeit
Lese-Probe zu „Quasikristalle “
Quasikristalle von Eva MenasseSommerferien. Seit Wochen hatte Judith das Grundstück ihrer Eltern kaum verlassen, den verwilderten Garten, das riesige, baufällige Haus, das ihre kleine Schwester in einer Mischung aus Dreistigkeit und Unschuld unsere Villa nannte. Als Mädchen hatte Judiths Mutter von einem Schlösschen geträumt, und Judiths Vater, der sich gerade mit Verve von seinen Eltern losgesagt hatte, weil sie Nazis gewesen waren und es dennoch wagten, seine junge Frau abzulehnen, war so verliebt und kopflos gewesen, mit geliehenem Geld diese Ruine zu kaufen. Weil sie theoretisch Jugendstil war. Aber seither, seit über vierzehn Jahren, wuchs ihm die Renovierung in hinterhältigen schritten über den Kopf, als wüsste das Haus genau, dass er sich niemals geschlagen geben würde, und verurteilte ihn, den autodidaktischen Bauarbeiter, daher zu lebenslang.
Die Gewissheit, dass es jemals Schule gegeben hatte, löste sich in der Hitze auf. Die hektischen Überlebenskämpfe kurz vor dem Zeugnis nahmen sich von hier, in der Tiefe des Zeitgrabs, genauso schemenhaft aus wie die Aussicht auf den unvermeidlichen Wiederbeginn im Herbst, für dessen kleine Änderungen (altgriechisch als neues Fach, die schwangere Mathelehrerin und vielleicht als Sensation ein neuer, gewiss wieder Verhaltensgestörter Schüler) Judith nur mühsam Interesse hätte heucheln können. aber es war ohnehin keiner da.
... mehr
Xane war, anders als sonst, gleich nach Schulschluss nach Frankreich geschickt worden. Und Claudia verbrachte wie jedes Jahr fast die ganzen Ferien bei ihren Großeltern in einem fernen, westlichen Dorf. Judith und Xane wussten genau, dass ihre Briefe über Langeweile und Sehnsucht verschämte Lügen waren, denn Claudia war die geborene Bäuerin, das sah man schon an ihrem Gesicht. Bei jeder längeren Trennung steigerten sich Judith und Xane in eine Claudia-verachtung hinein, die es eine Weile unmöglich erscheinen ließ, zu Schulbeginn wieder in die alten Gewohnheiten zu schlüpfen, das heißt, Claudia zum anhaltenden Erstaunen von Lehrern und Mitschülern als gutmütigen, dienstbaren Satelliten mit sich herumzuschleppen. Xane und Judith waren ein Amazonenduo, das sich zu blasiert für den Umgang mit dem Fußvolk gab. Keiner wagte es, sich mit ihnen anzulegen. Was Claudia erwarten würde, wenn sie sie fallen ließen, war nicht ganz klar. Aber vermutlich nichts Angenehmes.
Ein guter Kerl, hatte Xanes Mutter einmal über Claudia gesagt, und seither begannen Xane und Judith ihre kurzen, vergifteten Duette oft mit der Frage: Wie es wohl unserem guten Kerl geht?
Heute war ich mit der Oma in den Schwammerln, würde zum Beispiel die andere piepsig antworten, eine Ansichtskarte von Claudia aus Volksschulzeiten zitierend. aber da sie älter und boshafter wurden, sagte inzwischen die Erste, wahrscheinlich mistet sie den Stall aus, und die Zweite spann weiter, und wäscht sich nachher die Haare mit Kernseife, woraufhin die eine ergänzte, du meinst, die Schamhaare, und die andere, schon unter gepresstem Gelächter, antwortete, hoffentlich wäscht sie nicht ihrem Opa die Schamhaare mit Kernseife, denn die beiden hatten vor Kurzem, nur auf Basis eines Fotos, befunden, Claudias Großvater sehe aus wie ein Kinderschänder.
Bisher war es immer gut gegangen, mit der Wiederaufnahme ihrer Beziehungen zu Claudia im Herbst. Dafür gab es Gründe. Zum einen verreiste Xanes Familie normalerweise am Sommerende, und Xane erschien erst direkt zu Schulbeginn wieder. Dann aber war die Luft draußen, und sie schämten sich insgeheim für die Dinge, die sie Wochen zuvor gesagt hatten. Und diese doppelte Scham, nämlich auch die Scham, sich zu schämen, führte dazu, dass das Thema eine Weile tabu war.
Zum anderen bekam man am Schulanfang Claudias Mutter öfter zu sehen. sie war jung, denn sie hatte Claudia in einem skandalösen alter bekommen, das ungefähr mit dem Ende ihrer eigenen Schulzeit zusammengefallen sein musste. Dazu war sie hinreißend hübsch, ein ungeschminkter Engel. Und sie war unkompliziert und herzlich, so wie es keine andere ihnen bekannte Mutter war, weil die Mütter ansonsten auf kratzbürstigen Sicherheitsabstand zwischen sich und ihren halbwüchsigen Konkurrentinnen achteten.
Vielleicht - das konnte Judith damals ungenau spüren - war Claudias Mutter, die jeder Lizzie nennen und duzen durfte, der Grund, warum Xane und sie Claudia erduldeten. Aber natürlich lag es auch an Claudia selbst, die sie beide von klein auf kannten, länger als einander.
Claudia war genauso blond und freundlich wie Lizzie, aber bei ihr hatte alles einen Zug ins Grobe. Ihre Nase war im Vergleich mit der ihrer Mutter nur ein winziges bisschen aufgeworfen, sah deshalb aber gleich aus wie ein Schweinerüsselchen; sie wurde, und nicht nur in der Schule, ständig rot, schwitzte leicht, verhaspelte sich beim Sprechen und fuhr sich andauernd durch die Haare, was man denen deutlich ansah. Und während man sich bei Lizzie - oder Frau Denneberg - wie in einem heiteren französischen Film fühlte, wenn sie einem eiskalte Melonenstückchen in den Holundersaft tat, so empfanden die Mädchen Claudias Gastfreundschaft, deren Pfeiler Vollkornkekse und eine selbstgetöpferte Teekanne waren, als plump und belastend. an Claudia war das Drama der schlechten Kopie zu besichtigen. Das verstand Judith erst als Erwachsene. Damals machte es Xane und sie einfach aggressiv, dass Claudia nicht nur jedes Talent fehlte, sondern auch die mindeste Fähigkeit zur Verstellung.
aber deshalb beschützten sie sie. sie, von denen man annehmen hätte können, dass sie dieses warmherzige, ungeschickte, nach sämtlichen Jugendstandards immens peinliche Mädchen quälen oder zumindest kalt verachten müssten, hatten es vor langer Zeit zur Freundin erklärt. Die Richtung gab die bewunderte Lizzie Denneberg vor, die ihre Tochter mit der unerschütterlichen Nachsicht einer Kindergärtnerin behandelte und von der sie damals glaubten, dass diese insgeheim unter Claudias Begriffsstutzigkeit ebenso leide wie sie.
Und schließlich waren sie in die Verstrickungen mit Claudia schon vor langer Zeit hineingeraten, in einem Zustand kindlicher Unschuld. Judith kannte Claudia seit dem ersten Schultag, und Xane, die in eine andere Volksschule gegangen war, wohnte im selben Haus.
Am ersten Schultag, dem Fest der geschmückten Schultüten, hatte Judiths Mutter wieder einmal die Haare ihrer Tochter verleugnen wollen. sie begann frühmorgens mit der Prozedur, die kaltes Wasser, Zitronensaft, scharfe Kämme und ein Brenneisen erforderte. Judith schrie und tobte, ihrer Mutter rutschte mehrmals die Hand aus, wie man die ohrfeigen damals nannte, das Kleid wurde schmutzig, weil Judith sich zwischendurch am Boden wälzte, und das Seidentuch, das als überbreites Band ihre Haare niederhalten sollte, passte farblich nicht zum einzigen Ersatzkleid. Im Auto hielt Judith ihren malträtierten Kopf unter der Jacke versteckt, Judiths Mutter weinte lautlos, Judiths Vater spielte den unbeteiligten Chauffeur. als sie bei der schule vorfuhren, wo sich herausgeputzte Kinder den väterlichen Kameras präsentierten, hatte die dreijährige Salome unbemerkt einen Großteil von Judiths Süßigkeiten verschlungen und übergab sich gleich nach dem Aussteigen auf dem Gehsteig.
Judith hatte ihre halbleere Schultüte, von der die Papiergirlanden in Fetzen hingen, mit kerzengeradem Rücken weg von ihrer Familie in das Schulhaus hineingetragen, in einen Klassenraum, der noch nach Farbe roch. sie überhörte tapfer das erste Pippi-Langstrumpf-Gezischel. Doch als sie von der Lehrerin ermuntert wurde, mehrere vorgedruckte Birnen anzumalen, die ihr persönliches Symbol für Kleiderhaken, Hausschuh-Fach und alle Schulbücher sein würden, jedenfalls so lange, bis sie lesen und schreiben konnte, und sie dabei feststellte, dass ihr Federpennal anscheinend, als weiteres Opfer des Haar- Dramas, zu Hause vergessen worden war, begannen die Tränen zu fließen. Da stupste eine kleine Blonde ihren Unterarm an, schob ihr ein Taschentuch hin, teilte alle Buntstifte mit ihr und flüsterte später, als sie wieder hinaus, zu ihren wartenden Familien entlassen waren: Deine Haare sind so schön. Darf ich sie angreifen?
Judith nickte, Claudia streichelte ihr vorsichtig den Kopf, den Mund vor Anspannung halb offen, und sagte staunend: Wie rote Zuckerwatte.
Das war der Anfang.
Xanes erste Begegnung mit Claudia war angeblich in den nebeln der Kindheit versunken. Judith unterstellte ihr, etwas zu verheimlichen. aber Xane schien sich wirklich an nichts Besonderes zu erinnern und behauptete, Judith um die klar zuordenbare Geschichte mit der Zuckerwatte zu beneiden, übrigens die einzige gute Formulierung, die man je von Claudia gehört hatte. In Deutsch war sie später eine Doppelnull, noch schlimmer als in den anderen Fächern, von Biologie und Zeichnen abgesehen.
Kurz bevor sie ins Gymnasium kamen, hatten sie sich zum ersten Mal zu dritt getroffen. Lizzie Denneberg wollte die beiden Freundinnen ihrer Tochter miteinander bekannt machen, da sie alle in dieselbe Klasse kommen würden. Lizzie lud auch die Mütter ein. Xanes Mutter war an diesem Tag beim Friseur gewesen und sah obenherum etwas überdimensioniert aus, besonders im Vergleich mit Frau Dennebergs jugendlichem Pferdeschwanz. Sie versuchte diesen Nachteil mit sprudelndem Lob für Lizzies Blumenbalkon zu überspielen. Die Schüchternheit von Judiths Mutter hielten die beiden für vornehme Zurückhaltung. Immerhin war sie gerade für eine Weile gesund.
Als die Mütter Kaffee tranken, verzogen sich die Mädchen ins Kinderzimmer. Claudia wollte Blumen aus Seidenpapier basteln und legte ihre bunten Papierbogen, den Blumendraht, die scheren und das Klebeband in einer, wie sie meinte, unwiderstehlichen Reihe auf dem Fußboden aus. Judith und Xane starrten einander an wie vom Blitz getroffen. sie hatten beide eine Art zweite Claudia und einen dementsprechend kindischen Nachmittag erwartet. Und nun waren sie entzückt, wegen der ungeahnten neuen Möglichkeiten, aber auch verwirrt wegen ihrer Verpflichtungen gegenüber Claudia, die nichtsahnend zum fünften Rad am Wagen geworden war.
In jenem Sommer, bevor sie in die Oberstufe kamen, war alles anders als in den Jahren zuvor. Xanes Eltern hatten den Familienurlaub aus irgendwelchen Gründen streichen müssen, und Xane war, wie Claudia, sofort nach Schulschluss von einem unbekannten Ort verschluckt worden. Sie blieb länger weg, als Judith erwartet hatte. als sie endlich anrief, gestand sie unter viel Gekicher und verräterischen Abschweifungen, dass sie auf dem Rückweg noch ein paar Tage bei Claudia vorbeigeschaut habe.
Ein paar Tage, wiederholte Judith langsam, wie lange genau?
Aber Xane tat, als würde sie das nicht mehr wissen, warte mal, sagte sie, ich bin am Sonntag von Nizza weg, also war ich am Montag - oder nein, ich glaube, es war erst Montag, als ich ...
Vergiss es, sagte Judith, ist nicht so wichtig. Xanes Stimme klang so falsch wie ihre Geschichte, die undenkbar war bei ihren wohlorganisierten Eltern, und bei Claudias Großeltern sowieso, über die Claudia immer klagte, sie seien so streng. Aber dass Xane und Claudia schon vor den Ferien gewusst haben sollen, dass sie sich in jenem Dorf wiedersehen würden, nur sie beide, ohne Judith, hinter Judiths Rücken, das konnte sie sich noch weniger vorstellen. Und deshalb musste sie Xane sehen, so schnell wie möglich, und lud sie einfach für ein paar Tage ein, vereinbarte Datum und Uhrzeit, ohne um Erlaubnis gefragt zu haben.
Du hast was gemacht, zischte ihr Vater, du blödes, gedankenloses, egoistisches Stück ...
Judith hatte vorsichtshalber zu weinen begonnen, ehe sie zu ihm gegangen war, in das Gartenhaus, in das er seit Wochen eine Sauna einzubauen versuchte. Von ihrer Mutter war zurzeit kaum etwas zu sehen, nur manchmal hörte Judith nachts, im Halbschlaf, dass sie mit dem Hund das Haus verließ.
Der Vater stand vor ihr, in einer staubigen Arbeitshose, das Gesicht ein unscharfer hellerer Fleck vor dem Hintergrund. Sie zog den Kopf ein und hob die Ellbogen vors Gesicht, er legte den Schlagbohrer hin, mit einer zarten, beinahe nachdenklichen Bewegung, aber dann war er schon bei ihr und schlug zu. Judith ließ sich fallen und umklammerte seine Knöchel. Sie schrie, bettelte und wimmerte, aber das alles war längst ein Programm, das in ihr ablief, eine Rolle, die dafür sorgte, dass sie so gut wie unempfindlich wurde. Es war, wie im Meer von ein oder zwei Wellen überrollt zu werden. Man wusste ungefähr, dass man nicht länger unter Wasser gedrückt würde, als man maximal die Luft anhalten konnte. Genauso, wie sie wusste, dass sie die Zähne fest zusammenbeißen, die Nackenmuskeln aber möglichst locker lassen musste, wenn der Vater zum Schluss mitten in ihre Haare greifen und ihren Kopf ein paar Mal hin- und herschütteln würde. Da er durch ihre Büßerinnenhaltung raffiniert an den Beinen behindert war, konnte er ihr ja sonst gar nicht richtig wehtun. Bei einer solchen Gelegenheit hatte sie sich einmal beinahe ein Stück Zunge abgebissen und war danach zum ersten Mal über das eigene Spiegelbild erschrocken, sein Handabdruck samt Ehering fast komplett im Gesicht und all das Blut, das noch lange in ihren Mund lief. Als er mit beiden Händen in ihren Haaren war, ließ sie seine Beine los und rollte sich wie ein Igel zusammen. Dann kam ein Tritt, und noch einer, und dann war es vorbei.
Er saß auf einem Haufen Ytongsteine, das Gesicht in den Händen. als er wieder aufsah, hätte er einem fast leidtun können, auch wenn sie gleichzeitig davon träumte, ihm den Schlagbohrer durch die Kniescheibe zu drillen. Du weißt doch ..., murmelte er und deutete mit der Hand ins Ungefähre, du kannst nicht einfach ...
Judith setzte sich auf. sie bemühte sich, noch ein bisschen zu schluchzen und die Nase aufzuziehen.
Papa, ich hab nicht ... Xane war in jeden Ferien da ... soll ich wieder absagen?
Ihr Vater schüttelte den Kopf und stöhnte. Und genau darauf hatte sie gezählt. Deshalb war es einerseits ihre einzige Möglichkeit gewesen und andererseits ein so großes verbrechen: Es mussten Tatsachen geschaffen werden, weil ihr Vater sein Gesicht nicht verlieren konnte. Nicht nur beim Schlagen war er verlässlich. Wenn Judith Xane eingeladen hatte, konnte man nicht zurück. Xane war immer willkommen. Xanes Vater war ein bekannter Mann. Judiths Vater würde sein Gesicht nicht verlieren. Mehr war ihm kaum geblieben.
Denk dir halt was aus, sagte er, und Judith nickte. Aber mach das nicht noch einmal, sonst bring ich dich um.
Seit sie Xane kannte, kam Judith viel besser mit sich selbst zurecht. Früher hatte sie niemanden nach Hause eingeladen, hatte behauptet, dass sie von den fremden Kindern keines leiden konnte. Ihre Eltern irritierte das nicht. Die anderen Kinder blieben in dem Glauben, dass das Haus von Judiths Eltern nicht nur zu weit weg, sondern auch zu vornehm sei, als dass sie mit ihren Rotznasen und schokoladefingern als Besucher in Frage kämen. Als ihre Schwester drei Jahre später in dieselbe schule kam, verdichteten sich die Hinweise auf ein irgendwie exzentrisches Leben der Baer-Mädchen, weil Salome immer von unserer Villa sprach, genauso wie sie die Bäckerei ihrer Eltern als unsere Konditorei bezeichnete.
Die meisten Kinder kannten die Bäckerei Baer, die in der Nähe der Schule lag. Sie hieß vor allem wegen der hübschen Alliteration so, denn sie hatte durchaus gehobenen Anspruch. Man konnte auch sitzen und Kaffee trinken. als Gesamtkunstwerk im Stil der Zwanzigerjahre wehrte sie sich wie Asterix gegen die ankerbrot- und Aida-Filialen, von denen sie umzingelt war. Konditorei schien dafür keine Übertreibung zu sein. Deshalb glaubten die Kinder auch die Villa.
Doch Judith hatte nie jemanden nach Hause eingeladen, weil sie sich für die Betonmischmaschine vor der Haustür schämte, für das rot-weiße Absperrband vor dem unbenutzbaren zweiten Stock, und dafür, dass sie nicht einmal ein richtiges Bad hatten. Es gab nur eine Wanne mit Löwenfüßen, die in der Küche stand und in der ihre Mutter früher den ganzen Sonntagvormittag im warmen Wasser gelegen war und Arien gesungen hatte. Damals hatte ihr Vater noch gelächelt, bevor er zu seinen endlosen Bauarbeiten ging, für die er, wie er später murrte, ein paar Söhne gebrauchen hätte können.
Judith sehnte sich nach der Art Zuhause, wie es Xane hatte, einer spießigen Neubauschachtel voller Verlässlichkeit. aber Xane war hingerissen gewesen, das hatte Judith sofort erkannt, an ihrer ungewöhnlich blöden Bemerkung - Pippi wohnt wirklich in der villa Kunterbunt -, ebenso wie an ihrem Gesicht. Xanes ironische Distanz, das, was sie in Judiths Augen nicht nur anziehend, sondern auch gefährlich machte, verschwand für eine Weile, wenn sie Judith besuchte. sie sah dann beinahe so glücklich aus wie sonst nur Claudia, wenn ihr eine Papierblume gelungen war.
© 2013, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Xane war, anders als sonst, gleich nach Schulschluss nach Frankreich geschickt worden. Und Claudia verbrachte wie jedes Jahr fast die ganzen Ferien bei ihren Großeltern in einem fernen, westlichen Dorf. Judith und Xane wussten genau, dass ihre Briefe über Langeweile und Sehnsucht verschämte Lügen waren, denn Claudia war die geborene Bäuerin, das sah man schon an ihrem Gesicht. Bei jeder längeren Trennung steigerten sich Judith und Xane in eine Claudia-verachtung hinein, die es eine Weile unmöglich erscheinen ließ, zu Schulbeginn wieder in die alten Gewohnheiten zu schlüpfen, das heißt, Claudia zum anhaltenden Erstaunen von Lehrern und Mitschülern als gutmütigen, dienstbaren Satelliten mit sich herumzuschleppen. Xane und Judith waren ein Amazonenduo, das sich zu blasiert für den Umgang mit dem Fußvolk gab. Keiner wagte es, sich mit ihnen anzulegen. Was Claudia erwarten würde, wenn sie sie fallen ließen, war nicht ganz klar. Aber vermutlich nichts Angenehmes.
Ein guter Kerl, hatte Xanes Mutter einmal über Claudia gesagt, und seither begannen Xane und Judith ihre kurzen, vergifteten Duette oft mit der Frage: Wie es wohl unserem guten Kerl geht?
Heute war ich mit der Oma in den Schwammerln, würde zum Beispiel die andere piepsig antworten, eine Ansichtskarte von Claudia aus Volksschulzeiten zitierend. aber da sie älter und boshafter wurden, sagte inzwischen die Erste, wahrscheinlich mistet sie den Stall aus, und die Zweite spann weiter, und wäscht sich nachher die Haare mit Kernseife, woraufhin die eine ergänzte, du meinst, die Schamhaare, und die andere, schon unter gepresstem Gelächter, antwortete, hoffentlich wäscht sie nicht ihrem Opa die Schamhaare mit Kernseife, denn die beiden hatten vor Kurzem, nur auf Basis eines Fotos, befunden, Claudias Großvater sehe aus wie ein Kinderschänder.
Bisher war es immer gut gegangen, mit der Wiederaufnahme ihrer Beziehungen zu Claudia im Herbst. Dafür gab es Gründe. Zum einen verreiste Xanes Familie normalerweise am Sommerende, und Xane erschien erst direkt zu Schulbeginn wieder. Dann aber war die Luft draußen, und sie schämten sich insgeheim für die Dinge, die sie Wochen zuvor gesagt hatten. Und diese doppelte Scham, nämlich auch die Scham, sich zu schämen, führte dazu, dass das Thema eine Weile tabu war.
Zum anderen bekam man am Schulanfang Claudias Mutter öfter zu sehen. sie war jung, denn sie hatte Claudia in einem skandalösen alter bekommen, das ungefähr mit dem Ende ihrer eigenen Schulzeit zusammengefallen sein musste. Dazu war sie hinreißend hübsch, ein ungeschminkter Engel. Und sie war unkompliziert und herzlich, so wie es keine andere ihnen bekannte Mutter war, weil die Mütter ansonsten auf kratzbürstigen Sicherheitsabstand zwischen sich und ihren halbwüchsigen Konkurrentinnen achteten.
Vielleicht - das konnte Judith damals ungenau spüren - war Claudias Mutter, die jeder Lizzie nennen und duzen durfte, der Grund, warum Xane und sie Claudia erduldeten. Aber natürlich lag es auch an Claudia selbst, die sie beide von klein auf kannten, länger als einander.
Claudia war genauso blond und freundlich wie Lizzie, aber bei ihr hatte alles einen Zug ins Grobe. Ihre Nase war im Vergleich mit der ihrer Mutter nur ein winziges bisschen aufgeworfen, sah deshalb aber gleich aus wie ein Schweinerüsselchen; sie wurde, und nicht nur in der Schule, ständig rot, schwitzte leicht, verhaspelte sich beim Sprechen und fuhr sich andauernd durch die Haare, was man denen deutlich ansah. Und während man sich bei Lizzie - oder Frau Denneberg - wie in einem heiteren französischen Film fühlte, wenn sie einem eiskalte Melonenstückchen in den Holundersaft tat, so empfanden die Mädchen Claudias Gastfreundschaft, deren Pfeiler Vollkornkekse und eine selbstgetöpferte Teekanne waren, als plump und belastend. an Claudia war das Drama der schlechten Kopie zu besichtigen. Das verstand Judith erst als Erwachsene. Damals machte es Xane und sie einfach aggressiv, dass Claudia nicht nur jedes Talent fehlte, sondern auch die mindeste Fähigkeit zur Verstellung.
aber deshalb beschützten sie sie. sie, von denen man annehmen hätte können, dass sie dieses warmherzige, ungeschickte, nach sämtlichen Jugendstandards immens peinliche Mädchen quälen oder zumindest kalt verachten müssten, hatten es vor langer Zeit zur Freundin erklärt. Die Richtung gab die bewunderte Lizzie Denneberg vor, die ihre Tochter mit der unerschütterlichen Nachsicht einer Kindergärtnerin behandelte und von der sie damals glaubten, dass diese insgeheim unter Claudias Begriffsstutzigkeit ebenso leide wie sie.
Und schließlich waren sie in die Verstrickungen mit Claudia schon vor langer Zeit hineingeraten, in einem Zustand kindlicher Unschuld. Judith kannte Claudia seit dem ersten Schultag, und Xane, die in eine andere Volksschule gegangen war, wohnte im selben Haus.
Am ersten Schultag, dem Fest der geschmückten Schultüten, hatte Judiths Mutter wieder einmal die Haare ihrer Tochter verleugnen wollen. sie begann frühmorgens mit der Prozedur, die kaltes Wasser, Zitronensaft, scharfe Kämme und ein Brenneisen erforderte. Judith schrie und tobte, ihrer Mutter rutschte mehrmals die Hand aus, wie man die ohrfeigen damals nannte, das Kleid wurde schmutzig, weil Judith sich zwischendurch am Boden wälzte, und das Seidentuch, das als überbreites Band ihre Haare niederhalten sollte, passte farblich nicht zum einzigen Ersatzkleid. Im Auto hielt Judith ihren malträtierten Kopf unter der Jacke versteckt, Judiths Mutter weinte lautlos, Judiths Vater spielte den unbeteiligten Chauffeur. als sie bei der schule vorfuhren, wo sich herausgeputzte Kinder den väterlichen Kameras präsentierten, hatte die dreijährige Salome unbemerkt einen Großteil von Judiths Süßigkeiten verschlungen und übergab sich gleich nach dem Aussteigen auf dem Gehsteig.
Judith hatte ihre halbleere Schultüte, von der die Papiergirlanden in Fetzen hingen, mit kerzengeradem Rücken weg von ihrer Familie in das Schulhaus hineingetragen, in einen Klassenraum, der noch nach Farbe roch. sie überhörte tapfer das erste Pippi-Langstrumpf-Gezischel. Doch als sie von der Lehrerin ermuntert wurde, mehrere vorgedruckte Birnen anzumalen, die ihr persönliches Symbol für Kleiderhaken, Hausschuh-Fach und alle Schulbücher sein würden, jedenfalls so lange, bis sie lesen und schreiben konnte, und sie dabei feststellte, dass ihr Federpennal anscheinend, als weiteres Opfer des Haar- Dramas, zu Hause vergessen worden war, begannen die Tränen zu fließen. Da stupste eine kleine Blonde ihren Unterarm an, schob ihr ein Taschentuch hin, teilte alle Buntstifte mit ihr und flüsterte später, als sie wieder hinaus, zu ihren wartenden Familien entlassen waren: Deine Haare sind so schön. Darf ich sie angreifen?
Judith nickte, Claudia streichelte ihr vorsichtig den Kopf, den Mund vor Anspannung halb offen, und sagte staunend: Wie rote Zuckerwatte.
Das war der Anfang.
Xanes erste Begegnung mit Claudia war angeblich in den nebeln der Kindheit versunken. Judith unterstellte ihr, etwas zu verheimlichen. aber Xane schien sich wirklich an nichts Besonderes zu erinnern und behauptete, Judith um die klar zuordenbare Geschichte mit der Zuckerwatte zu beneiden, übrigens die einzige gute Formulierung, die man je von Claudia gehört hatte. In Deutsch war sie später eine Doppelnull, noch schlimmer als in den anderen Fächern, von Biologie und Zeichnen abgesehen.
Kurz bevor sie ins Gymnasium kamen, hatten sie sich zum ersten Mal zu dritt getroffen. Lizzie Denneberg wollte die beiden Freundinnen ihrer Tochter miteinander bekannt machen, da sie alle in dieselbe Klasse kommen würden. Lizzie lud auch die Mütter ein. Xanes Mutter war an diesem Tag beim Friseur gewesen und sah obenherum etwas überdimensioniert aus, besonders im Vergleich mit Frau Dennebergs jugendlichem Pferdeschwanz. Sie versuchte diesen Nachteil mit sprudelndem Lob für Lizzies Blumenbalkon zu überspielen. Die Schüchternheit von Judiths Mutter hielten die beiden für vornehme Zurückhaltung. Immerhin war sie gerade für eine Weile gesund.
Als die Mütter Kaffee tranken, verzogen sich die Mädchen ins Kinderzimmer. Claudia wollte Blumen aus Seidenpapier basteln und legte ihre bunten Papierbogen, den Blumendraht, die scheren und das Klebeband in einer, wie sie meinte, unwiderstehlichen Reihe auf dem Fußboden aus. Judith und Xane starrten einander an wie vom Blitz getroffen. sie hatten beide eine Art zweite Claudia und einen dementsprechend kindischen Nachmittag erwartet. Und nun waren sie entzückt, wegen der ungeahnten neuen Möglichkeiten, aber auch verwirrt wegen ihrer Verpflichtungen gegenüber Claudia, die nichtsahnend zum fünften Rad am Wagen geworden war.
In jenem Sommer, bevor sie in die Oberstufe kamen, war alles anders als in den Jahren zuvor. Xanes Eltern hatten den Familienurlaub aus irgendwelchen Gründen streichen müssen, und Xane war, wie Claudia, sofort nach Schulschluss von einem unbekannten Ort verschluckt worden. Sie blieb länger weg, als Judith erwartet hatte. als sie endlich anrief, gestand sie unter viel Gekicher und verräterischen Abschweifungen, dass sie auf dem Rückweg noch ein paar Tage bei Claudia vorbeigeschaut habe.
Ein paar Tage, wiederholte Judith langsam, wie lange genau?
Aber Xane tat, als würde sie das nicht mehr wissen, warte mal, sagte sie, ich bin am Sonntag von Nizza weg, also war ich am Montag - oder nein, ich glaube, es war erst Montag, als ich ...
Vergiss es, sagte Judith, ist nicht so wichtig. Xanes Stimme klang so falsch wie ihre Geschichte, die undenkbar war bei ihren wohlorganisierten Eltern, und bei Claudias Großeltern sowieso, über die Claudia immer klagte, sie seien so streng. Aber dass Xane und Claudia schon vor den Ferien gewusst haben sollen, dass sie sich in jenem Dorf wiedersehen würden, nur sie beide, ohne Judith, hinter Judiths Rücken, das konnte sie sich noch weniger vorstellen. Und deshalb musste sie Xane sehen, so schnell wie möglich, und lud sie einfach für ein paar Tage ein, vereinbarte Datum und Uhrzeit, ohne um Erlaubnis gefragt zu haben.
Du hast was gemacht, zischte ihr Vater, du blödes, gedankenloses, egoistisches Stück ...
Judith hatte vorsichtshalber zu weinen begonnen, ehe sie zu ihm gegangen war, in das Gartenhaus, in das er seit Wochen eine Sauna einzubauen versuchte. Von ihrer Mutter war zurzeit kaum etwas zu sehen, nur manchmal hörte Judith nachts, im Halbschlaf, dass sie mit dem Hund das Haus verließ.
Der Vater stand vor ihr, in einer staubigen Arbeitshose, das Gesicht ein unscharfer hellerer Fleck vor dem Hintergrund. Sie zog den Kopf ein und hob die Ellbogen vors Gesicht, er legte den Schlagbohrer hin, mit einer zarten, beinahe nachdenklichen Bewegung, aber dann war er schon bei ihr und schlug zu. Judith ließ sich fallen und umklammerte seine Knöchel. Sie schrie, bettelte und wimmerte, aber das alles war längst ein Programm, das in ihr ablief, eine Rolle, die dafür sorgte, dass sie so gut wie unempfindlich wurde. Es war, wie im Meer von ein oder zwei Wellen überrollt zu werden. Man wusste ungefähr, dass man nicht länger unter Wasser gedrückt würde, als man maximal die Luft anhalten konnte. Genauso, wie sie wusste, dass sie die Zähne fest zusammenbeißen, die Nackenmuskeln aber möglichst locker lassen musste, wenn der Vater zum Schluss mitten in ihre Haare greifen und ihren Kopf ein paar Mal hin- und herschütteln würde. Da er durch ihre Büßerinnenhaltung raffiniert an den Beinen behindert war, konnte er ihr ja sonst gar nicht richtig wehtun. Bei einer solchen Gelegenheit hatte sie sich einmal beinahe ein Stück Zunge abgebissen und war danach zum ersten Mal über das eigene Spiegelbild erschrocken, sein Handabdruck samt Ehering fast komplett im Gesicht und all das Blut, das noch lange in ihren Mund lief. Als er mit beiden Händen in ihren Haaren war, ließ sie seine Beine los und rollte sich wie ein Igel zusammen. Dann kam ein Tritt, und noch einer, und dann war es vorbei.
Er saß auf einem Haufen Ytongsteine, das Gesicht in den Händen. als er wieder aufsah, hätte er einem fast leidtun können, auch wenn sie gleichzeitig davon träumte, ihm den Schlagbohrer durch die Kniescheibe zu drillen. Du weißt doch ..., murmelte er und deutete mit der Hand ins Ungefähre, du kannst nicht einfach ...
Judith setzte sich auf. sie bemühte sich, noch ein bisschen zu schluchzen und die Nase aufzuziehen.
Papa, ich hab nicht ... Xane war in jeden Ferien da ... soll ich wieder absagen?
Ihr Vater schüttelte den Kopf und stöhnte. Und genau darauf hatte sie gezählt. Deshalb war es einerseits ihre einzige Möglichkeit gewesen und andererseits ein so großes verbrechen: Es mussten Tatsachen geschaffen werden, weil ihr Vater sein Gesicht nicht verlieren konnte. Nicht nur beim Schlagen war er verlässlich. Wenn Judith Xane eingeladen hatte, konnte man nicht zurück. Xane war immer willkommen. Xanes Vater war ein bekannter Mann. Judiths Vater würde sein Gesicht nicht verlieren. Mehr war ihm kaum geblieben.
Denk dir halt was aus, sagte er, und Judith nickte. Aber mach das nicht noch einmal, sonst bring ich dich um.
Seit sie Xane kannte, kam Judith viel besser mit sich selbst zurecht. Früher hatte sie niemanden nach Hause eingeladen, hatte behauptet, dass sie von den fremden Kindern keines leiden konnte. Ihre Eltern irritierte das nicht. Die anderen Kinder blieben in dem Glauben, dass das Haus von Judiths Eltern nicht nur zu weit weg, sondern auch zu vornehm sei, als dass sie mit ihren Rotznasen und schokoladefingern als Besucher in Frage kämen. Als ihre Schwester drei Jahre später in dieselbe schule kam, verdichteten sich die Hinweise auf ein irgendwie exzentrisches Leben der Baer-Mädchen, weil Salome immer von unserer Villa sprach, genauso wie sie die Bäckerei ihrer Eltern als unsere Konditorei bezeichnete.
Die meisten Kinder kannten die Bäckerei Baer, die in der Nähe der Schule lag. Sie hieß vor allem wegen der hübschen Alliteration so, denn sie hatte durchaus gehobenen Anspruch. Man konnte auch sitzen und Kaffee trinken. als Gesamtkunstwerk im Stil der Zwanzigerjahre wehrte sie sich wie Asterix gegen die ankerbrot- und Aida-Filialen, von denen sie umzingelt war. Konditorei schien dafür keine Übertreibung zu sein. Deshalb glaubten die Kinder auch die Villa.
Doch Judith hatte nie jemanden nach Hause eingeladen, weil sie sich für die Betonmischmaschine vor der Haustür schämte, für das rot-weiße Absperrband vor dem unbenutzbaren zweiten Stock, und dafür, dass sie nicht einmal ein richtiges Bad hatten. Es gab nur eine Wanne mit Löwenfüßen, die in der Küche stand und in der ihre Mutter früher den ganzen Sonntagvormittag im warmen Wasser gelegen war und Arien gesungen hatte. Damals hatte ihr Vater noch gelächelt, bevor er zu seinen endlosen Bauarbeiten ging, für die er, wie er später murrte, ein paar Söhne gebrauchen hätte können.
Judith sehnte sich nach der Art Zuhause, wie es Xane hatte, einer spießigen Neubauschachtel voller Verlässlichkeit. aber Xane war hingerissen gewesen, das hatte Judith sofort erkannt, an ihrer ungewöhnlich blöden Bemerkung - Pippi wohnt wirklich in der villa Kunterbunt -, ebenso wie an ihrem Gesicht. Xanes ironische Distanz, das, was sie in Judiths Augen nicht nur anziehend, sondern auch gefährlich machte, verschwand für eine Weile, wenn sie Judith besuchte. sie sah dann beinahe so glücklich aus wie sonst nur Claudia, wenn ihr eine Papierblume gelungen war.
© 2013, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
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Autoren-Porträt von Eva Menasse
Eva Menasse, geboren 1970 in Wien, begann als Journalistin und debütierte im Jahr 2005 mit dem Familienroman »Vienna«. Es folgten Romane und Erzählungen (»Lässliche Todsünden«, »Quasikristalle«, »Tiere für Fortgeschrittene«), die vielfach ausgezeichnet und übersetzt wurden. Preise (Auswahl): Heinrich-Böll-Preis, Friedrich-Hölderlin-Preis, Jonathan-Swift-Preis, Österreichischer Buchpreis, Bruno-Kreisky-Preis, Jakob-Wassermann-Preis und das Villa-Massimo-Stipendium in Rom. Eva Menasse betätigt sich zunehmend auch als Essayistin und erhielt dafür 2019 den Ludwig-Börne-Preis. Ihr letzter Roman »Dunkelblum« war ein Bestseller und wurde in neun Sprachen übersetzt. Sie lebt seit über 20 Jahren in Berlin.
Bibliographische Angaben
- Autor: Eva Menasse
- 2013, 10. Aufl., 432 Seiten, Masse: 13 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 346204513X
- ISBN-13: 9783462045130
- Erscheinungsdatum: 12.02.2013
Rezension zu „Quasikristalle “
»Eva Menasse [...] lässt liebende wie ratlose Zeugen erzählen, [...] umkreist, umzingelt, erspürt ihre komplexe Heldin - so wird Quasikristalle zum raffinierten, vielstimmigen Porträt.« stern 20130214
Pressezitat
»Eva Menasse [...] lässt liebende wie ratlose Zeugen erzählen, [...] umkreist, umzingelt, erspürt ihre komplexe Heldin - so wird Quasikristalle zum raffinierten, vielstimmigen Porträt.« stern 20130214
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