»Poesie der Idee«
Tagebuchaufzeichnungen
»Es soll ein Notenbuch meines Herzens sein«, schrieb Friedrich Hebbel 1835 auf das erste Blatt seines Tagebuchs, das dennoch weit mehr als ein Protokoll der eigenen Befindlichkeit ist. Entschieden subjektiv, humorvoll und erstaunlich weitsichtig erkundet...
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Produktinformationen zu „»Poesie der Idee« “
Klappentext zu „»Poesie der Idee« “
»Es soll ein Notenbuch meines Herzens sein«, schrieb Friedrich Hebbel 1835 auf das erste Blatt seines Tagebuchs, das dennoch weit mehr als ein Protokoll der eigenen Befindlichkeit ist. Entschieden subjektiv, humorvoll und erstaunlich weitsichtig erkundet Hebbel in seinen Notizen Welt und Kunst im Allgemeinen. Seine gestochen scharfen Denkbilder haben philosophisches Format und sind doch immer direkt ans unmittelbare Erleben geknüpft; damit bieten Hebbels Aufzeichnungen einzigartige Einblicke in die Alltagswelt des 19. Jahrhundert aus der Sicht eines unersättlichen Beobachters und unbestechlichen Denkers. - Christian Schärf unternimmt einen pointierten Streifzug durch eines der berühmtesten Tagebücher der Weltliteratur, das noch heute verblüffend originell und modern erscheint.Mit einem Nachwort des Herausgebers.
Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der
Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Lese-Probe zu „»Poesie der Idee« “
Poesie der Idee von Friedrich Hebbel Erstes Tagebuch
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Reflexionen über Welt, Leben und Bücher, hauptsächlich aber über mich selbst, nach Art eines Tagebuchs, von K. F. Hebbel Angefangen den 23. März 1835 [Hamburg] Ich fange dieses Heft nicht allein meinem künftigen Biographen zu Gefallen an, obwohl ich bei meinen Aussichten auf die Unsterblichkeit gewiß sein kann, daß ich einen erhalten werde. Es soll ein Notenbuch meines Herzens sein, und diejenigen Töne, welche mein Herz angibt, getreu, zu meiner Erbauung in künftigen Zeiten, aufbewahren. Der Mensch ist anders, als ein Instrument, bei welchem alle Töne in ewigem Kreislauf, wenn auch in den seltsamsten Kombinationen, wiederkehren; das Gefühl, welches in seiner Brust einmal verklingt, ist für immer verklungen; ein gleicher Sonnenstrahl erzeugt in der psychischen nie, wie in der physischen, dieselben Blumen. So wird jede Stunde zur abgeschlossenen Welt, die ihren großen oder kleinen Anfang, ihr langweiliges Mittelstück und ihr ersehntes oder gefürchtetes Ende hat. Und wer kann gleichgültig so manche tausend Welten in sich versinken sehen und wünscht nicht, wenigstens das Göttliche, sei es Wonne oder Schmerz, welches sich durch sie hinzog, zu retten? Darum kann ich es immer entschuldigen, wenn ich täglich einige Minuten auf dieses Heft verwende. [1] 8 1835 d. 23. März. Mein bedeutendes poetisches Talent kommt mir auch bei dem Studio der Sprachen sehr zu Hülfe. Ich bringe nämlich die schwierigsten Punkte der Grammatik in Verse und erhaben klingt es, wenn sich meine Muse philologisch vernehmen läßt: »Die Länder, Inseln und die Frauen Als Feminina sind zu schauen!« [2] Ich sah mich selbst als alten Mann. [7] d. 29. März. Die Dankbarkeit soll eine der schwersten Tugenden sein. Eine noch schwerere mögte sein, die Ansprüche auf Dank nicht zu übertreiben [11] Innere Lichtwelt eines Wahnsinnigen. Roman, in welchem sich alle früheren Ideen des Menschen spiegeln. [12] d. 1. Juli. Byron ist eigentlich nichts weniger, als ein Genie. Dasjenige was einer eigenen Weltanschauung gleicht, ist eine bloße bizarre Richtung seiner Phantasie, die sich aus den Verhältnissen, in welchen er lebte, sehr wohl erklären läßt. Er wäre vermutlich kein so großer Dichter geworden, wenn er kein so großer Sünder gewesen wäre. [35] Ob Luther am Ende ein so strenger Orthodox war, als er gewesen zu sein scheint? Ich habe keine anderen Gründe für meine Meinung, als solche, die aus der Natur des menschlichen Geistes hergenommen sind, aber es will mir vorkommen, als ob der Genius niemals Knecht seines Zeitalters sein könne. Luther berücksichtigte vielleicht bloß sein Zeitalter, er setzte den Menschen, die bei dem Anblick der Unermeßlichkeit schwindelten, einen starken Pfeiler hin, damit sie sich daran festhalten mögten, wenn er gleich weit entfernt war, die Anbetung des Pfeilers zu verlangen. Eben aber, weil er die Notwendigkeit der positiven Religion eingesehen hatte, kämpfte er für willkürliche Dogmen, als ob es für den Himmel selbst gewesen wäre. [36] Spaziergang d. 6. Juli 1835. Wenn man die Menschen am Abend ihr Butterbrot essen sieht, so kann die Bemühung, das Leben zu erklären, sehr lächerlich erscheinen. Butter und Brot erklären alles. [38] Das Ideal. Es gibt keins, als die verschwundene Realität der Vergangenheit. [39] d. 11. Juli. Als ich heute morgen hörte, daß der Kronprinz von Preußen von der Stadt Hamburg mit Kanonenschüssen empfangen würde, lag mir doch wirklich die Frage nah: haben sie denn auf ihn geschossen? [44] Das ist das Unterscheidendste der jetzigen Zeit gegen die frühere, daß jetzt nur die Masse und ehemals nur der bedeutende Einzelne lebte. [46] Heute abend kam Elise endlich von ihrer Reise zurück. Es ist merkwürdig, wie die Frauen, die am Mann doch nur eben das lieben, was ihrer Natur gerade entgegengesetzt ist, ihn doch so gerne zu dem machen wollen, was sie selbst sind; sie sind Göttinnen, die nur seine Sünden vergöttern und ihm diese Sünden dennoch nie vergeben. Sie will mein Tagebuch sehen und ich hab es ihr versprochen. Sie wird sich wundern, daß ich nur wenig über sie niedergeschrieben habe; aber sie wird sich nicht mehr wundern, wenn sie sieht, daß ich über Alberti kein Wort niedergeschrieben. [48] Warum schrieb Christus nicht, wenn er die Evangelien wollte? [73] d. 27. Juli. Der Hauptbeweis gegen das Dasein Gottes ist, daß uns das absolute Gefühl unserer Unsterblichkeit fehlt. Wir könnten es haben, denn das Christentum ist diktatorisch und verbietet den Selbstmord; was die Theologie höchstens anführen könnte, wäre: »die Wirkung der Sehnsucht würde den Menschen aufreiben.[ «] [74] Religion ist die höchste Eitelkeit. [79] Aus den Wirkungen des Genies auf Gott zu schließen. [81] An die Redaktion | des Morgenblatts | in | Stuttgart. Im Anschluß bin ich so frei, einer verehrlichen Redaktion einiger Gedichte zur gefälligen Benutzung für das Morgenblatt zu übersenden. Hiemit verbinde ich die Vorfrage, ob Sie mir verstatten wollen, eine Sendung dieser Art zu wiederholen, und ob Sie etwa auch von Erzählungen und anderen prosaischen Arbeiten aus meiner Feder Gebrauch machen können. Ich hoffe, daß Sie mich hierüber in einigen durch Buchhändler-Gelegenheit leicht an mich zu befördernden Zeilen, oder auch, wenn sich dieses mit Ihrem Geschäftsgange nicht vertragen sollte, durch eine kleine Anzeige im Morgenblatte selbst in Kenntnis setzen werden; für den Fall, daß Ihre Antwort meinen Wünschen gemäß ausfiele, werde ich dasselbe Honorar erwarten dürfen, was anderen Mitarbeitern zuteil wird. Mit vorzügl. Hochachtung ganz ergebenst Angeschlossen: auf ein schl. Kind; H. Offenbarung; das Kind; Abendgang. [92] In dem Augenblick, wo wir uns ein Ideal bilden, entsteht in Gott der Gedanke, es zu schaffen. [96] Vorrede zum Roman Gefühl, womit ich ihn schrieb: Novelle eine präzise Geschäftsreise, Roman-Publikum eine dicke Kaffeeschwester pp. Der Roman ist die heilige Schrift des Lebens. [98] Das Komische ist die beständige Negation der Natur. [99] Wenn ich meinen Begriff der Kunst aussprechen soll, so mögte ich ihn auf die unbedingte Freiheit des Künstlers basieren und sagen: die Kunst soll das Leben in all seinen verschiedenartigen Gestaltungen ergreifen und darstellen. Mit dem bloßen Kopieren ist dies natürlich nicht abgetan, das Leben soll bei dem Künstler etwas anderes, als die Leichenkammer, wo es aufgeputzt und beigesetzt wird, finden. Wir wollen den Punkt sehen, von welchem es ausgeht, und den, wo es als einzelne Welle sich in das Meer allgemeiner Wirkung verliert. Daß diese Wirkung eine gedoppelte sein und sich sowohl nach innen, als nach außen kehren kann, ist selbstverständlich. Hier ist die Seite, von welcher aus sich eine Parallele zwischen den Erscheinungen des wirklichen Lebens und denen des in der Kunst fixierten ziehen läßt. [110] Aufgabe aller Kunst ist Darstellung des Lebens, d. h. Veranschaulichung des Unendlichen an der singulären Erscheinung. Dies erzielt sie durch Ergreifung der für eine Individualität oder einen Zustand derselben bedeutenden Momente. [126] 13 1836 [Hamburg] Erinnerungen aus der Kindheit Bis in mein 14tes Jahr habe ich, obwohl ich Verse machte, keine Ahnung gehabt, daß ich für die Poesie bestimmt sein könne. Sie stand mir bis dahin als ein Ungeheures vor der Seele, und eher würde ich es meinen körperlichen Kräften zugemutet haben, eine Alp zu erklimmen, als meinen geistigen, mit einem Dichter zu wetteifern, obwohl mich beides reizte. Ich stand in einem Verhältnis zur Poesie, wie zu meinem Gott, von dem ich wußte, daß ich ihn in mich aufnehmen, aber ihn nicht erreichen könne. Deutlich erinnere ich mich übrigens noch der Stunde, in welcher ich die Poesie in ihrem eigentümlichsten Wesen und ihrer tiefsten Bedeutung zum erstenmal ahnte. Ich mußte meiner Mutter immer aus einem alten Abendsegenbuch den Abendsegen vorlesen, der gewöhnlich mit einem geistlichen Liede schloß. Da las ich eines Abends das Lied von Paul Gerhard, worin der schöne Vers: »Die goldnen Sternlein prangen Am blauen Himmelssaal« vorkommt. Dies Lied, vorzüglich aber dieser Vers, ergriff mich gewaltig, ich wiederholte es zum Erstaunen meiner Mutter in tiefster Rührung gewiß 10 Mal. Damals stand der Naturgeist mit seiner Wünschelrute über meiner jugendlichen Seele, die Metall- Adern sprangen, und sie erwachte wenigstens aus einem Schlaf. 1 Jan: 1836. [134] 14 d. 5. Jan: 36. Ich halte es für die größte Pflicht eines Menschen, der überhaupt schreibt, daß er Materialien zu seiner Biographie liefere. Hat er keine geistigen Entdeckungen gemacht und keine fremde Länder erobert, so hat er doch gewiß auf mannigfache Weise geirrt und seine Irrtümer sind der Menschheit ebenso wichtig, wie des größten MannesWahrheiten. Darum werde ich von jetzt an dieses Buch zu einem Barometer bestimmen für den jetzigen Jahreszeitenwechsel meiner Seele und zugleich zuweilen den Blick rückwärts kehren, ob ich hie und da einen geistigen Wendepunkt entdecken kann. [136] Selbst im Fall einer Revolution würden die Deutschen sich nur Steuerfreiheit, nie Gedankenfreiheit zu erkämpfen suchen. [140] [Heidelberg] »Ich saß (aufm Heidelberger Schloß) auf der Terrasse und las Goethes Achilleis; ein Gewitter zog herauf und kündigte sich, wie etwa eine beginnende Schlacht, durch abgemeßne, einzelne Donnerschläge an; der Wind erhub sich und rauschte vor mir in den Bäumen; Regenwolken ergossen in längeren und kürzeren Pausen kalte, dicke Tropfen; von unten schäumte der Neckar zu mir herauf; vor mir sah ich auf einer Bank einen schlafenden Knaben, den Donner, Regen und Wind nicht zu erwecken vermogten und in der Ferne, riesenhaft aufdämmernd, die Rheingebirge.[ «] Brief an Brede, 26 Mai 36. [152] Heute sah ich den Tulpenbaum, himmelhoch, dick und voll mächtiger Äste. Es war mir merkwürdig, wie die Natur zuweilen in so ganz verschiednen Gefäßen, wie z. B. ein kräftiger Baumstamm und ein Blumenstengel, dieselben Säfte kochen läßt. [153] Das aus dem Wagen eines Schlachters gehobene schlafende Kalb. [154] d. 2 Juni 36. Heute, Fronleichnamsfest, Prozession in der Jesuiten-Kirche. Die Kirche rings mit Laub und Blumen geschmückt, der Haupt- Altar mit tausend Lichtern, hinten durchs Fenster die Morgensonne. Die Gänge, wodurch die Prozession zog, mit Girlanden, von jungen Mädchen getragen, eingefaßt. Ergreifende Ankündigung der Prozession durch Pauken und Trompeten-Geschmetter. Fahnen. Dazwischen, von einem Knaben getragen, ein silberner Christus. Junge Mädchen, von einer erwachsenen Führerin begleitet, weiße Kleider, lächelnde Engelgesichter, gekränzt mit Rosen, rührender Kontrast zwischen dem frischsten Leben und dem vorangetragenen Tod. Knaben. Monstranz unter einem Thronhimmel. Merkwürdiges Pfaffengesicht, welches sich in die Monstranz zu verkriechen schien, wie etwa ein Hund in eine Heiligennische. Grober Unterteil des Gesichts: Wachskerzen. Viel an den Jesus gedacht. Das alte, schwarze Weib, Gebetbuch und Rosenkranz in der Hand, einen hervorstehenden Zahn im Munde, immer geplappert, gebetet und geneigt. [155] Der Jüngling erwählt sich den Irrtum zum Liebchen, das ist schlimm; der Mann erwählt ihn zur Großmutter, das ist schlimmer. [159] Weil die Deutschen wissen, daß die wilden Tiere frei sind, fürchten sie, durch die Freiheit zu wilden Tieren zu werden. [160]
Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Reflexionen über Welt, Leben und Bücher, hauptsächlich aber über mich selbst, nach Art eines Tagebuchs, von K. F. Hebbel Angefangen den 23. März 1835 [Hamburg] Ich fange dieses Heft nicht allein meinem künftigen Biographen zu Gefallen an, obwohl ich bei meinen Aussichten auf die Unsterblichkeit gewiß sein kann, daß ich einen erhalten werde. Es soll ein Notenbuch meines Herzens sein, und diejenigen Töne, welche mein Herz angibt, getreu, zu meiner Erbauung in künftigen Zeiten, aufbewahren. Der Mensch ist anders, als ein Instrument, bei welchem alle Töne in ewigem Kreislauf, wenn auch in den seltsamsten Kombinationen, wiederkehren; das Gefühl, welches in seiner Brust einmal verklingt, ist für immer verklungen; ein gleicher Sonnenstrahl erzeugt in der psychischen nie, wie in der physischen, dieselben Blumen. So wird jede Stunde zur abgeschlossenen Welt, die ihren großen oder kleinen Anfang, ihr langweiliges Mittelstück und ihr ersehntes oder gefürchtetes Ende hat. Und wer kann gleichgültig so manche tausend Welten in sich versinken sehen und wünscht nicht, wenigstens das Göttliche, sei es Wonne oder Schmerz, welches sich durch sie hinzog, zu retten? Darum kann ich es immer entschuldigen, wenn ich täglich einige Minuten auf dieses Heft verwende. [1] 8 1835 d. 23. März. Mein bedeutendes poetisches Talent kommt mir auch bei dem Studio der Sprachen sehr zu Hülfe. Ich bringe nämlich die schwierigsten Punkte der Grammatik in Verse und erhaben klingt es, wenn sich meine Muse philologisch vernehmen läßt: »Die Länder, Inseln und die Frauen Als Feminina sind zu schauen!« [2] Ich sah mich selbst als alten Mann. [7] d. 29. März. Die Dankbarkeit soll eine der schwersten Tugenden sein. Eine noch schwerere mögte sein, die Ansprüche auf Dank nicht zu übertreiben [11] Innere Lichtwelt eines Wahnsinnigen. Roman, in welchem sich alle früheren Ideen des Menschen spiegeln. [12] d. 1. Juli. Byron ist eigentlich nichts weniger, als ein Genie. Dasjenige was einer eigenen Weltanschauung gleicht, ist eine bloße bizarre Richtung seiner Phantasie, die sich aus den Verhältnissen, in welchen er lebte, sehr wohl erklären läßt. Er wäre vermutlich kein so großer Dichter geworden, wenn er kein so großer Sünder gewesen wäre. [35] Ob Luther am Ende ein so strenger Orthodox war, als er gewesen zu sein scheint? Ich habe keine anderen Gründe für meine Meinung, als solche, die aus der Natur des menschlichen Geistes hergenommen sind, aber es will mir vorkommen, als ob der Genius niemals Knecht seines Zeitalters sein könne. Luther berücksichtigte vielleicht bloß sein Zeitalter, er setzte den Menschen, die bei dem Anblick der Unermeßlichkeit schwindelten, einen starken Pfeiler hin, damit sie sich daran festhalten mögten, wenn er gleich weit entfernt war, die Anbetung des Pfeilers zu verlangen. Eben aber, weil er die Notwendigkeit der positiven Religion eingesehen hatte, kämpfte er für willkürliche Dogmen, als ob es für den Himmel selbst gewesen wäre. [36] Spaziergang d. 6. Juli 1835. Wenn man die Menschen am Abend ihr Butterbrot essen sieht, so kann die Bemühung, das Leben zu erklären, sehr lächerlich erscheinen. Butter und Brot erklären alles. [38] Das Ideal. Es gibt keins, als die verschwundene Realität der Vergangenheit. [39] d. 11. Juli. Als ich heute morgen hörte, daß der Kronprinz von Preußen von der Stadt Hamburg mit Kanonenschüssen empfangen würde, lag mir doch wirklich die Frage nah: haben sie denn auf ihn geschossen? [44] Das ist das Unterscheidendste der jetzigen Zeit gegen die frühere, daß jetzt nur die Masse und ehemals nur der bedeutende Einzelne lebte. [46] Heute abend kam Elise endlich von ihrer Reise zurück. Es ist merkwürdig, wie die Frauen, die am Mann doch nur eben das lieben, was ihrer Natur gerade entgegengesetzt ist, ihn doch so gerne zu dem machen wollen, was sie selbst sind; sie sind Göttinnen, die nur seine Sünden vergöttern und ihm diese Sünden dennoch nie vergeben. Sie will mein Tagebuch sehen und ich hab es ihr versprochen. Sie wird sich wundern, daß ich nur wenig über sie niedergeschrieben habe; aber sie wird sich nicht mehr wundern, wenn sie sieht, daß ich über Alberti kein Wort niedergeschrieben. [48] Warum schrieb Christus nicht, wenn er die Evangelien wollte? [73] d. 27. Juli. Der Hauptbeweis gegen das Dasein Gottes ist, daß uns das absolute Gefühl unserer Unsterblichkeit fehlt. Wir könnten es haben, denn das Christentum ist diktatorisch und verbietet den Selbstmord; was die Theologie höchstens anführen könnte, wäre: »die Wirkung der Sehnsucht würde den Menschen aufreiben.[ «] [74] Religion ist die höchste Eitelkeit. [79] Aus den Wirkungen des Genies auf Gott zu schließen. [81] An die Redaktion | des Morgenblatts | in | Stuttgart. Im Anschluß bin ich so frei, einer verehrlichen Redaktion einiger Gedichte zur gefälligen Benutzung für das Morgenblatt zu übersenden. Hiemit verbinde ich die Vorfrage, ob Sie mir verstatten wollen, eine Sendung dieser Art zu wiederholen, und ob Sie etwa auch von Erzählungen und anderen prosaischen Arbeiten aus meiner Feder Gebrauch machen können. Ich hoffe, daß Sie mich hierüber in einigen durch Buchhändler-Gelegenheit leicht an mich zu befördernden Zeilen, oder auch, wenn sich dieses mit Ihrem Geschäftsgange nicht vertragen sollte, durch eine kleine Anzeige im Morgenblatte selbst in Kenntnis setzen werden; für den Fall, daß Ihre Antwort meinen Wünschen gemäß ausfiele, werde ich dasselbe Honorar erwarten dürfen, was anderen Mitarbeitern zuteil wird. Mit vorzügl. Hochachtung ganz ergebenst Angeschlossen: auf ein schl. Kind; H. Offenbarung; das Kind; Abendgang. [92] In dem Augenblick, wo wir uns ein Ideal bilden, entsteht in Gott der Gedanke, es zu schaffen. [96] Vorrede zum Roman Gefühl, womit ich ihn schrieb: Novelle eine präzise Geschäftsreise, Roman-Publikum eine dicke Kaffeeschwester pp. Der Roman ist die heilige Schrift des Lebens. [98] Das Komische ist die beständige Negation der Natur. [99] Wenn ich meinen Begriff der Kunst aussprechen soll, so mögte ich ihn auf die unbedingte Freiheit des Künstlers basieren und sagen: die Kunst soll das Leben in all seinen verschiedenartigen Gestaltungen ergreifen und darstellen. Mit dem bloßen Kopieren ist dies natürlich nicht abgetan, das Leben soll bei dem Künstler etwas anderes, als die Leichenkammer, wo es aufgeputzt und beigesetzt wird, finden. Wir wollen den Punkt sehen, von welchem es ausgeht, und den, wo es als einzelne Welle sich in das Meer allgemeiner Wirkung verliert. Daß diese Wirkung eine gedoppelte sein und sich sowohl nach innen, als nach außen kehren kann, ist selbstverständlich. Hier ist die Seite, von welcher aus sich eine Parallele zwischen den Erscheinungen des wirklichen Lebens und denen des in der Kunst fixierten ziehen läßt. [110] Aufgabe aller Kunst ist Darstellung des Lebens, d. h. Veranschaulichung des Unendlichen an der singulären Erscheinung. Dies erzielt sie durch Ergreifung der für eine Individualität oder einen Zustand derselben bedeutenden Momente. [126] 13 1836 [Hamburg] Erinnerungen aus der Kindheit Bis in mein 14tes Jahr habe ich, obwohl ich Verse machte, keine Ahnung gehabt, daß ich für die Poesie bestimmt sein könne. Sie stand mir bis dahin als ein Ungeheures vor der Seele, und eher würde ich es meinen körperlichen Kräften zugemutet haben, eine Alp zu erklimmen, als meinen geistigen, mit einem Dichter zu wetteifern, obwohl mich beides reizte. Ich stand in einem Verhältnis zur Poesie, wie zu meinem Gott, von dem ich wußte, daß ich ihn in mich aufnehmen, aber ihn nicht erreichen könne. Deutlich erinnere ich mich übrigens noch der Stunde, in welcher ich die Poesie in ihrem eigentümlichsten Wesen und ihrer tiefsten Bedeutung zum erstenmal ahnte. Ich mußte meiner Mutter immer aus einem alten Abendsegenbuch den Abendsegen vorlesen, der gewöhnlich mit einem geistlichen Liede schloß. Da las ich eines Abends das Lied von Paul Gerhard, worin der schöne Vers: »Die goldnen Sternlein prangen Am blauen Himmelssaal« vorkommt. Dies Lied, vorzüglich aber dieser Vers, ergriff mich gewaltig, ich wiederholte es zum Erstaunen meiner Mutter in tiefster Rührung gewiß 10 Mal. Damals stand der Naturgeist mit seiner Wünschelrute über meiner jugendlichen Seele, die Metall- Adern sprangen, und sie erwachte wenigstens aus einem Schlaf. 1 Jan: 1836. [134] 14 d. 5. Jan: 36. Ich halte es für die größte Pflicht eines Menschen, der überhaupt schreibt, daß er Materialien zu seiner Biographie liefere. Hat er keine geistigen Entdeckungen gemacht und keine fremde Länder erobert, so hat er doch gewiß auf mannigfache Weise geirrt und seine Irrtümer sind der Menschheit ebenso wichtig, wie des größten MannesWahrheiten. Darum werde ich von jetzt an dieses Buch zu einem Barometer bestimmen für den jetzigen Jahreszeitenwechsel meiner Seele und zugleich zuweilen den Blick rückwärts kehren, ob ich hie und da einen geistigen Wendepunkt entdecken kann. [136] Selbst im Fall einer Revolution würden die Deutschen sich nur Steuerfreiheit, nie Gedankenfreiheit zu erkämpfen suchen. [140] [Heidelberg] »Ich saß (aufm Heidelberger Schloß) auf der Terrasse und las Goethes Achilleis; ein Gewitter zog herauf und kündigte sich, wie etwa eine beginnende Schlacht, durch abgemeßne, einzelne Donnerschläge an; der Wind erhub sich und rauschte vor mir in den Bäumen; Regenwolken ergossen in längeren und kürzeren Pausen kalte, dicke Tropfen; von unten schäumte der Neckar zu mir herauf; vor mir sah ich auf einer Bank einen schlafenden Knaben, den Donner, Regen und Wind nicht zu erwecken vermogten und in der Ferne, riesenhaft aufdämmernd, die Rheingebirge.[ «] Brief an Brede, 26 Mai 36. [152] Heute sah ich den Tulpenbaum, himmelhoch, dick und voll mächtiger Äste. Es war mir merkwürdig, wie die Natur zuweilen in so ganz verschiednen Gefäßen, wie z. B. ein kräftiger Baumstamm und ein Blumenstengel, dieselben Säfte kochen läßt. [153] Das aus dem Wagen eines Schlachters gehobene schlafende Kalb. [154] d. 2 Juni 36. Heute, Fronleichnamsfest, Prozession in der Jesuiten-Kirche. Die Kirche rings mit Laub und Blumen geschmückt, der Haupt- Altar mit tausend Lichtern, hinten durchs Fenster die Morgensonne. Die Gänge, wodurch die Prozession zog, mit Girlanden, von jungen Mädchen getragen, eingefaßt. Ergreifende Ankündigung der Prozession durch Pauken und Trompeten-Geschmetter. Fahnen. Dazwischen, von einem Knaben getragen, ein silberner Christus. Junge Mädchen, von einer erwachsenen Führerin begleitet, weiße Kleider, lächelnde Engelgesichter, gekränzt mit Rosen, rührender Kontrast zwischen dem frischsten Leben und dem vorangetragenen Tod. Knaben. Monstranz unter einem Thronhimmel. Merkwürdiges Pfaffengesicht, welches sich in die Monstranz zu verkriechen schien, wie etwa ein Hund in eine Heiligennische. Grober Unterteil des Gesichts: Wachskerzen. Viel an den Jesus gedacht. Das alte, schwarze Weib, Gebetbuch und Rosenkranz in der Hand, einen hervorstehenden Zahn im Munde, immer geplappert, gebetet und geneigt. [155] Der Jüngling erwählt sich den Irrtum zum Liebchen, das ist schlimm; der Mann erwählt ihn zur Großmutter, das ist schlimmer. [159] Weil die Deutschen wissen, daß die wilden Tiere frei sind, fürchten sie, durch die Freiheit zu wilden Tieren zu werden. [160]
Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.
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Autoren-Porträt von Friedrich Hebbel
Friedrich Hebbel, Lyriker, Essayist und einer der bedeutenden nachklassischen Dramatiker und Dramentheoretiker, wurde am 18. März 1813 in Wesselburen/Dithmarschen geboren. In ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, konnte er die Schule nur wenige Jahre besuchen. Nach dem Tod seines Vaters 1827 lebte er zunächst als Schreiber in Wesselburen und studierte nach autodidaktischen Studien von 1836 bis 1839 in Heidelberg und München. 1840 wurde sein erstes Drama 'Judith' in Berlin uraufgeführt. Ab 1843 hielt er sich mit einem königlich-dänischen Reisestipendium in Kopenhagen, Paris, Rom und Neapel auf. In Wien, wo er von 1845 bis zu seinem Tod am 13. Dezember 1863 lebte, erhielt Hebbel schliesslich Anerkennung für sein Werk. 'Maria Magdalena', 'Agnes Bernauer' und 'Die Nibelungen' zählen zu seinen grössten Theatererfolgen. Seine kritischen Schriften und Tagebücher, die erst nach dem Tod grössere Aufmerksamkeit fanden, zeugen von seiner luziden Beobachtungsgabe und aphoristischen Schärfe.
Bibliographische Angaben
- Autor: Friedrich Hebbel
- 2012, 1. Auflage, 400 Seiten, Masse: 12,4 x 18,9 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Herausgegeben: Christian Schärf
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596904897
- ISBN-13: 9783596904891
- Erscheinungsdatum: 12.12.2012
Rezension zu „»Poesie der Idee« “
Humorvoll, bissig, klarsichtig schaut er auf Zeitgenossen und Dichterkollegen, reflektiert über das Leben und das eigene Werk. Sigried Wesener Deutschlandradio Kultur 20131212
Pressezitat
Humorvoll, bissig, klarsichtig schaut er auf Zeitgenossen und Dichterkollegen, reflektiert über das Leben und das eigene Werk. Sigried Wesener Deutschlandradio Kultur 20131212
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