Paradiso
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Paradiso von Thomas Klupp
Damit hier auch wirklich keiner auf falsche Gedanken kommt, lehne ich mich extra unbeteiligt gegen die Wand und schaue konsequent nur auf meine Schuhspitzen hinunter und auf die eingetretenen Kaugummis im Asphalt. Nur ab und zu schaue ich hoch, und zwar wenn Frauen und Mädchen in kurzen Kleidern und Röcken vorbeilaufen, was recht häufig passiert, ich stehe nämlich gleich neben dem Toiletteneingang. Ich kann die Aussicht aber gar nicht genießen, weil das Jucken immer penetranter wird und ich mich mit aller Kraft konzentrieren muss, nicht zu kratzen; sonst rubbeln die Fingerspitzen die gefärbten Baumwollfasern noch tiefer in die Haut, und dort fangen sie erst richtig zu brennen an. Das ist dann wirklich unerträglich, so als würde man barfuß in einen Ameisenhaufen steigen oder mit kurzen Hosen durch Brennnesselstauden waten. Mein Opa hat das manchmal gemacht, gegen sein Rheuma, aber der war ja auch ein Bauer und hatte keine Allergien, der war immer an der frischen Luft. Und während ich noch meinen Opa vor mir sehe, wie er mitten im Wald in einem Ameisenhaufen steht und mich dauernd überreden will, mit hineinzusteigen, fällt mir ein, dass meine Mitfahrgelegenheit ein Förster ist. Ein Starnberger Förster mit einem gelben Passat, das hat er zumindest gesagt. Wir waren um Punkt eins verabredet, und wenn ich mich nicht täusche, ist es schon mindestens zwanzig nach.
Ich warte noch zehn Autos ab, dann gehe ich auf einen silbernen Sportwagen zu, so ein Audi TT-Modell mit diesen kompakten Tankdeckeln an der Seite, der weiter vorne bei den Mülltonnen parkt. Auf dem Beifahrersitz kramt eine ziemlich hübsche Blondine in ihrer Handtasche herum, und ich lächele ihr freundlich entgegen und frage sie, wie spät es ist. Das heißt, ich will sie das fragen, komme aber überhaupt nicht dazu, weil sie direkt vor meiner Nase den automatischen Fensterheber betätigt. Mit einem leisen Surren fährt die Scheibe hoch, und darin spiegelt sich zuerst mein Körper und dann mein Gesicht. Die Blondine schaut jetzt in die andere Richtung, so als hätte sie mich gar nicht bemerkt und als wäre die Sache mit der Scheibe reiner Zufall. Zuerst bin ich noch von meinem Gesicht irritiert, ob das wirklich so unangenehm breit aussieht wie in der Spiegelung, aber dann werde ich wütend. Ich kenne das schon von mir, so eine jähe, abgrundtiefe Wut, die mich zu allem fähig macht, und ich denke mir, wie traurig es ist, dass die Natur so absolut widerliche Menschen hervorbringt, die leider auch noch schön sind und reich. Die guten Menschen, denke ich, sollten schön sein und Glück haben mit allem und die schlechten hässlich und bald sterben. Was ja leider nicht der Fall ist, aber ich wünsche es mir trotzdem, und vor allem wünsche ich mir, das dieser Frau zu sagen. Stattdessen drehe ich mich um und murmle das Wort Schlampe in mich hinein. Genau gesagt murmle ich das Wort erst in mich hinein, nachdem ich mich umgedreht habe, so dass die Frau es auch bestimmt nicht hört.
Ich stelle mich wieder in den Gestank hinein und fluche leise vor mich hin, dann schnüre ich den Rucksack auf und wühle nach meinem Telefon. Ich ertaste es ganz unten zwischen den Hemden und Socken, und als ich es herausziehe und die Zeit ablese, rutscht es mir fast aus der Hand. Weiter links, um genau 13:14 Uhr, geht die Tür des Tankstellenshops auf, und ein komplett kahl rasierter Typ kommt heraus. Er dreht den Kopf in meine Richtung und schnalzt dabei laut mit der Zunge, und dann läuft er geradewegs auf mich zu. Er ist nicht besonders groß, aber ziemlich muskulös und starrt mich durch die verspiegelten Gläser seiner Pilotenbrille an. Die oberen zwei Hemdknöpfe sind geöffnet, so dass man seine gebräunte Brust sehen kann, und ich denke, dass ich sicher gleich Ärger und vielleicht sogar ein paar aufs Maul bekomme – wieso ich das denke, weiß ich nicht, ich habe ja nichts getan –, jedenfalls ducke ich mich schon ein bisschen, da schiebt der Typ seine Brille hoch und sagt: Mensch, Böhm, ist ja derb, dass du immer noch trampst! Vor Schreck schüttle ich den Kopf, aber dann drücke ich mein Rückgrat durch und sage: Konrad, na aber hallo. Und tatsächlich: Vor mir steht Konrad, der Computerkonrad aus der Schule, zwei oder drei Klassen über mir.
Konrad boxt mir gegen die Schulter und grinst mich an. Er grinst wie besessen, so wie der Familienvater auf dem Antiraserplakat auf der anderen Seite der Autobahn, und das Unheimliche ist: Seine Zähne sind mindestens so weiß und gerade wie die von dem toten Mann. Ich schaue ehrlich zweimal hin, Konrads Zähne sind mir nämlich unbekannt. Früher hat er immer diese Spange getragen, sogar zum Abi hatte er die noch im Mund, aber die Briketts und Gummis sind alle verschwunden, und jetzt steht er vor mir mit seinem Gletschergrinsen und sagt, dass er nach Süden fährt und mich mitnehmen kann. Ich sage erst einmal gar nichts, sondern schaue an ihm vorbei zur Tankstelle rüber. An den Zapfsäulen stehen ein paar BMWs und Toyotas und ein rotzgrüner Opel, aber kein einziger gelber Passat. Astrein, sage ich und will mich bedanken, aber er wartet das gar nicht ab. Er greift sich meinen Rucksack vom Boden und läuft damit los. Er läuft an den Mülltonnen vorbei auf den silbernen Audi zu, wirklich schnurstracks in Richtung der blonden Frau. Ich bin mir sicher, dass das ein Irrtum ist, weil er die unmöglich kennen kann. Das tut er aber doch. Er bleibt tatsächlich neben der Beifahrertür stehen, klopft gegen die Scheibe und gibt ihr ein Zeichen, dass sie aussteigen soll. Ich stehe zwei Schritte hinter ihm und spanne wie besessen meine Bauchmuskeln an, aber als die Frau die Tür öffnet und aus dem Wagen steigt, ist die Situation überhaupt nicht unangenehm. Sie lächelt mich an, ich lächle zurück, und dann sagt sie: Hi, ich bin die Verena. Alex, sage ich und gebe ihr die Hand. Wir drücken beide kräftig zu, wie zwei Politiker, die Gott und der Welt beweisen wollen, dass zwischen ihnen alles in bester Ordnung ist, und dafür möchte ich ihr beinahe die Füße küssen. In ihrem weißen Kleid sieht sie wirklich fantastisch aus, und auf Konflikte habe ich ja prinzipiell keine Lust.
Konrad hat in der Zwischenzeit meinen Rucksack auf die Rückbank geworfen, und als ich mich ebenfalls nach hinten quetschen will, hält er mich an der Schulter fest. Er sagt, ich soll mich doch nach vorne setzen, weil wir uns sonst nicht unterhalten können. Ganz selbstverständlich sagt er das, und Verena klettert sofort in den Fond. Auf den zweiten Blick sieht sie fast noch besser aus als vorhin, und nachdem ich beim Einsteigen auf ihren Hintern geschaut habe, fange ich an, im Rückspiegel nach ihren Brüsten zu schielen. Sonst habe ich das bestens unter Kontrolle, aber ihr Ausschnitt reicht fast bis zum Nabel hinunter, und genau mittig, wo die Nähte sich treffen, ist ein rosa Schmetterling aufgestickt. Die Flügel sind an den Rändern mit Pailletten besetzt und funkeln wie wild in der Sonne, und das gibt mir wirklich den Rest. Dann rutscht sie aber zum Glück beiseite und gibt den Blick durch die Heckscheibe frei. Über den Spoiler hinweg kann ich jetzt die Tankstelle sehen, die Zapfsäulen und das rote Total-Schild und alles, und weiter hinten, bei der Raststätteneinfahrt, fährt gerade ein gelber Kombi heran. Ich glaube, dass es ein Passat ist, aber es kann auch sein, dass ich mich täusche, und weil ich ohnehin froh bin, nicht mit diesem Förster mitfahren zu müssen, sage ich keinen einzigen Ton.
Konrad dreht jetzt den Zündschlüssel um, der Wagen fängt dumpf zu vibrieren an, und dann tritt er aufs Gas. Er tritt das Pedal sehr brutal hinunter, der Motor heult auf, und der Drehzahlmesser schnellt tief in den roten Bereich. Schon auf dem Parkplatz beschleunigt er wie ein Verrückter, und als er den Wagen dann auf die Autobahn steuert, muss ich noch mal an den Raser denken und dass bei der Hitze womöglich ein Reifen platzt. Keine Ahnung, weshalb ich so morbide Dinge denke, jedenfalls hätten wir keine Chance. Wir sind nämlich nicht angeschnallt. Ich weiß nicht, ob Konrad es nur vergessen hat oder ob er es grundsätzlich lässt, und weil ich vor ihm nicht als Spießer dastehen will, habe ich es ebenfalls nicht getan. Mit meinem Shirt und den kurzen Hosen sehe ich ohnehin schon aus wie ein verblödeter Sportler, und er wirkt so souverän wie Tom Cruise in Top Gun. Er hat seine Pilotenbrille wieder vor die Augen geschoben, die Hemdsärmel lässig hochgerollt und hält das Steuer nur mit einer Hand. Mit der anderen zündet er zwei Zigaretten an, und während die Tachonadel über die 200 gleitet, reicht er mir eine rüber und fängt zu reden an. Er sagt noch ein paarmal, wie endlos derb er alles findet, unsere Begegnung und vor allem mich und so weiter, aber dass ihn das überhaupt nicht überrascht. Die Guten, sagt er, trifft man nämlich immer wieder, diese Erfahrung hat er schon oft gemacht. Er klopft mindestens fünf Minuten lang seine Verbrüderungssprüche, und ich nicke so leicht und schaue dabei zum Fenster hinaus. Die Landschaft schießt wie im Zeitraffer vorüber, Felder und Wälder und frisch gemähte Wiesen, und durch das Schiebedach bläst angenehm kühl der Fahrtwind herein. Das mildert den Juckreiz am Saum beträchtlich, und ich bin gerade dabei, zu entspannen, aber dann fängt Konrad mit seiner Firma an. Ich habe ihn wirklich nicht gefragt und will das überhaupt nicht wissen, aber er erzählt es mir trotzdem. Er erzählt mir von irgendwelchen Navigationssystemen, die er für VW und Audi und demnächst sogar für BMW programmiert, er nennt mir die Rendite für Softwarepatente und rattert die Namen von zehntausend Satelliten herunter, und am Schluss erklärt er mir GPS. Ich sitze neben ihm wie versteinert und schlucke den Dreck. Ein paarmal sage ich sogar: Alter Schwede, du bist ja richtig dick im Geschäft. Er nickt daraufhin so ultrabescheiden und sagt, dass ihm der ganze Schotter aber überhaupt nicht wichtig ist. Der belastet ihn sogar, sagt er, weil er gar nicht mehr weiß, wohin damit. Deswegen hilft er auch allen möglichen Leuten, mir zum Beispiel, aber auch den Bettlern auf der Straße, denen er aus Mitleid manchmal sogar Scheine gibt.
Als er das mit den Bettlern sagt, wird mir heiß im Gesicht. Ich fange an, ihn so richtig zu hassen, aber das noch viel Schlimmere ist: Obwohl ich den Zweck seiner Rede komplett durchschaue, habe ich gewaltig Respekt. Früher war der Konrad ja ein unendlicher Loser, und keiner hätte auch nur zehn Pfennig auf ihn gesetzt. Während wir alle wie die Irren gefeiert haben, hat er seine halbe Jugend vor dem Bildschirm verbracht. Nicht nur vor dem eigenen, aus lauter Verzweiflung hat er auch den Mädchen die Rechner klargemacht. Er ist damals über die Dörfer getourt, hat sich in den Arbeitszimmern der Väter vergraben, Modems und Soundkarten und sonst was installiert, und hinterher bekam er von den Müttern noch eine Tasse Kaffee spendiert. Abends wollte ihn dann trotzdem keiner kennen, am allerwenigsten die Mädchen, denen er am Nachmittag noch geholfen hat. Die haben ihn von vorne bis hinten beschissen, aber ihm hat das überhaupt nichts ausgemacht. Er hat das einfach weggebissen, und jetzt sitzt er da mit seiner Firma und seinen schneeweißen Zähnen, und das macht wirklich Eindruck auf mich. Ich weiß nicht, wie sehr es mich beeindrucken würde, würde die Verena nicht hinten sitzen, aber sie sitzt ja eben da. Das lässt sich ja nicht leugnen, ich spüre sie sogar. Schon seit einer Weile ihre Knie, die sie mir durch den Sitz so spitz in den Rücken drückt, aber jetzt auch ihre Hand. Sie berührt mich an der Schulter und bittet mich, kurz ihr Tuch zu halten, das genau die Farbe des Schmetterlings hat. Während ich an dem glänzenden Stoff herumreibe, steckt sie mit ein paar Spangen ihr Haar zusammen. Sie benutzt beide Hände dazu, so dass ich aus den Augenwinkeln ihre glatt rasierten Achseln sehen kann. Dann nimmt sie mir das Tuch wieder ab und bindet es um ihren Kopf. Sie bindet es so, dass zwei blonde Strähnen seitlich an ihren Wangen hinunterfallen, und jetzt sieht sie wirklich aus wie ein Model aus irgendeiner Modezeitschrift. Beziehungsweise fast. Ich bemerke nämlich, dass dieses Tuch gerade so ein Tuch ist, wie muslimische Frauen es tragen, um sich zu verschleiern, nur wird es hier sexuell eingesetzt. Welcher Designer sich das auch immer ausgedacht hat, ich wünsche ihm die Pest an den Hals, weil ich, glaube ich, noch nie so ein Verlangen nach jemandem hatte, und dieses Tuch genau den Zweck hat, dieses Verlangen noch zu verstärken.
Ein paar Kilometer später bekomme ich aber bessere Laune, und da ist der Konrad selbst dran schuld. Er fragt mich nämlich, was ich so mache, und ich sage, dass ich Drehbuchschreiben an der Potsdamer Filmhochschule studiere. Im Rückspiegel sehe ich Verena, die ihre Ellenbogen auf die Vordersitze gestützt hat, damit sie von unserer Unterhaltung auch was mitbekommt. Dann treffen sich unsere Blicke, und ohne dass ich es vorher beabsichtigt hätte, fange ich zu schwindeln an. Ich sage, dass ich vor ein paar Wochen mein erstes Drehbuch verkauft habe und es im Herbst verfilmt wird, wahrscheinlich mit Daniel Brühl und Alexandra Maria Lara, und dass es auch für einen Preis vorgeschlagen ist und das Drehbudget sich auf circa drei Millionen Euro beläuft. Das ist natürlich kompletter Unsinn, weil ich noch gar kein Drehbuch geschrieben habe und noch nicht einmal eine Idee für eines habe, vor allem aber auch, weil Konrad ja auf jeden Fall herausbekommen kann, ob das stimmt. Spätestens im nächsten Sommer, wenn der Film dann nicht in die Kinos kommt. Der nächste Sommer ist aber noch weit, außerdem habe ich jetzt schon angefangen, und deshalb erzähle ich eine wilde Geschichte, wovon der Film, Im Fadenkreuz der Angst nenne ich ihn, handelt und worüber jeder Drehbuchautor den Kopf schütteln würde. Konrad und Verena finden es aber derb und spannend und sagen, dass sie unbedingt zur Premiere kommen wollen. Ich verspreche, ihnen zwei Plätze zu reservieren, Loge, sage ich, und Verena holt eine Visitenkarte aus ihrer weißen Handtasche heraus. Verena Schneider, Wilden Consult steht da drauf, und ich frage mich, ob sie das tut, weil sie den Konrad demnächst abservieren will oder ob das einfach Routine ist. Dann zückt sie einen Kugelschreiber und schreibt am Rand ihre Privatnummer dazu. Sie drückt mir die Karte in die Hand und sagt, dass ich anrufen soll, damit wir was abmachen können, auf einen Cappuccino vielleicht. Ich nicke ihr zu wie eine pickende Taube, obwohl ich mit so einer Geschäftsfrau ja niemals auch nur das Allergeringste zu tun haben kann. Ich finde sie absolut attraktiv und begehrenswert und alles, aber auf einem Abstraktionsniveau, das jede Skala sprengt, und sie registriert das zu null Prozent. Sie glaubt offenbar wirklich, dass wir miteinander sprechen können, aber das können wir nicht, auf gar keinen Fall. Ich lasse mir natürlich nichts anmerken, sondern stecke die Karte in meinen Geldbeutel, als würde ich das immer so machen. Und vielleicht, denke ich, rufe ich ja doch mal an.
Konrad geht auf die Visitenkarte nicht weiter ein, sondern lenkt jetzt eilig vom Thema ab. Er fragt mich, ob ich wohl auf dem Weg nach Weiden bin. Daher kommen wir beide ursprünglich, aus Weiden in der Oberpfalz, und als er das fragt, lache ich laut und sage: Nein. Ich erzähle ihm, dass ich nach München will, weil meine Münchner Freundin da auf mich wartet und wir morgen gemeinsam nach Portugal fliegen. Weiden, sage ich, ist ein abgeschlossenes Kapitel für mich. Er nickt und sagt, dass ihm das genauso geht, und im nächsten Moment fangen wir auch schon zu lästern an. Mindestens eine halbe Stunde lang erinnern wir uns an alte Bekannte und ziehen sie durch den Dreck. Wir lassen kein gutes Haar an der Stadt und an den Leuten, und immer, wenn Konrad niemand mehr einfällt, nenne ich ihm einen neuen Namen. Während er ihn so richtig fies heruntermacht, entspanne ich auf dem Beifahrersitz. Ich kann sogar an die Verena denken, ohne ihm etwas Schlechtes zu wünschen. Nicht einmal die kann ihn all den Frust vergessen lassen, den er in seiner Jugend in sich hineingefressen hat, und das finde ich gut. Schon seit er mich vorhin auf dem Rastplatz angesprochen hat, kämpfen ja diese zwei Konrad-Bilder in meinem Kopf gegeneinander an: Der Loserkonrad von früher und der Siegerkonrad, der neben mir am Steuer sitzt. Während er sich jetzt ereifert und dabei in seinen Oberpfälzer Dialekt verfällt, bekomme ich immer deutlicher den alten Konrad in den Blick. Einen Moment lang sehe ich ihn sogar scharf umrissen vor mir. Er steht in der Konzerthalle des Alten Schlachthofs und hat seine braune Jeans und den viel zu langen Tschechenpulli an. Er steht ganz nah bei den Boxen, und als die Speichelbroiss ihre letzte Zugabe gespielt haben, fragt Simon ihn, ob er nicht endlich einen Fanclub gründen will. Mindestens zehn Leute stehen außen herum und hören das, und Konrad lächelt und fragt Simon, wie er das meint. Ganz höflich fragt er, so als wäre er ernsthaft an einer Antwort interessiert. Weil du die besten Voraussetzungen hast, sagt Simon, steckt ihm blitzschnell zwei Finger in den Mund, und dann schiebt er ihm die Lippen auseinander. So wie man Pferden die Lippen auseinanderschiebt, um ihr Alter zu bestimmen, genauso sieht das aus. Im Scheinwerferlicht funkelt Konrads Spange leicht gelblich, aber hinten bei den Backenzähnen, wo die Gummis sich zwischen den Briketts aufspannen, erkennt man ein paar helle Speichelfäden. Genau da schauen alle hin. Und der Wenzer, der spuckt sogar hinein.
Ich kann wieder das Gelächter hören, das die Konzerthalle des Alten Schlachthofs durchdringt und jetzt als verstärktes Echo in meinem Schädel widerhallt. Ein paar Sekunden lebe ich ganz im Inneren dieses Gelächters, wie in einem Kokon ist das, die völlige Auslöschung von Raum und Zeit. Dann kommt der Fahrtwind zurück, ich sehe wieder das flache, trockene Land, das vor den Fenstern vorbeifliegt, und fühle mich schäbig und leer und gemein. Ich höre sofort auf, weitere Namen zu nennen, weil, so bin ich ja nicht, zumindest möchte ich so nicht sein. Ich möchte Konrad sein Glück doch gönnen. Er hat ziemlich gelitten damals und jetzt einen echten Aufstieg hingelegt, und das ist eigentlich schön. So bin ich nicht, sage ich mir noch einmal, aber wenn ich ehrlich bin, stimmt das nicht ganz. Wenn ich ehrlich bin, habe ich den Erfolg anderer Leute schon immer gehasst, von Kindheit an. Dieser Neid und diese Missgunst sind in mir drin wie mein Herz oder meine Lunge oder wie das Blut, das durch meine Adern fließt, und meine einzige Hoffnung ist, dass es den anderen Menschen genauso geht. Bestimmt geht es den anderen Menschen genauso, das sind ja nicht meine Kategorien, sondern die offiziellen Kategorien dieser Welt. Wahrscheinlich erzählt mir Konrad auch nur Lügen, und der Wagen und die Verena sind in Wahrheit nur gemietet, geküsst haben sich die beiden jedenfalls noch nicht.
Es gibt aber noch einen zweiten Grund, weswegen ich aufhöre, weitere Namen zu nennen, und der hat nichts mit diesen Überlegungen zu tun. Weiden ist einfach zu klein, als dass man sich länger als eine halbe Stunde darüber auslassen kann, und die letzten Namen, die ich genannt habe, waren ohnehin schon Freunde von mir. Nur Simon und Leni fehlen noch, und ich könnte nicht ertragen, wenn Konrad auch die noch runtermacht. Auf die beiden lasse ich kein schlechtes Wort kommen, wenn, dann höchstens aus meinem eigenen Mund. Die beiden fallen Konrad aber gar nicht ein. Vermutlich kann er mit seinen Hirnwindungen nur irgendwelche Formeln in den Rechner programmieren und sich teure Autos und Frauen besorgen, aber sich erinnern, das kann er nicht. Das kann nur ich. Und natürlich habe ich ihn auch angelogen, als ich gesagt habe, Weiden sei ein abgeschlossenes Kapitel für mich. Ohnehin kann man sich ja seine Vergangenheit nicht wie eine Geschwulst aus dem Fleisch schneiden, und das möchte ich auch nicht. Das heißt, ich möchte es nur teilweise. Ich möchte mir nur die unangenehmen Erinnerungen rausschneiden und die guten behalten, und wenn ich ein genialer Neurologe wäre, würde ich mich genau darum kümmern. Ich würde eine Maschine erfinden, die alle unangenehmen Erinnerungen ortet und löscht und die guten unberührt lässt, wie auch immer das zu bewerkstelligen ist.
Jedenfalls hören wir jetzt mit diesen Schmutztiraden auf, und weil wir uns ja sonst nichts zu sagen haben, wird es im Wagen still. Mucksmäuschenstill sogar. Konrad raucht zwei Zigaretten, ohne mir eine anzubieten, und schaut dabei konsequent zur Scheibe hinaus. Ich bin mir fast sicher, dass er ähnliche Bilder vor Augen hatte wie ich. Sein Schweigen verrät mir das. Es fühlt sich ziemlich bitter an, und deshalb frage ich ihn, wie viel sein Auto gekostet hat. Er antwortet aber nicht, sondern streckt bloß fünf Finger in die Luft. Erst als die Verena ihn bittet, das Radio einzuschalten, taut er wieder auf. Aber klar doch, sagt er und drückt auf dem silbernen Suchknopf herum. Er wählt einen sächsischen Superhitsender, und bei jedem zweiten Song trommelt er den Takt auf dem Lenkrad mit. Als sie nach den Nachrichten dann die Staus durchsagen, fängt er plötzlich zu fluchen an, und die Verena hinten flucht lauthals mit. Die flucht, dass ich wirklich Angst bekomme: Ihre Stimme wird hart und klirrend, und als sie auch noch was von Scheißpollackenlastern sagt, frage ich mich, wie sie die Dinge eigentlich sieht. Politisch, meine ich. Sie hat ja diese blonden Haare und der Konrad seine Glatze, keine Ahnung, was mit den beiden läuft. Ich begreife auch nicht, warum sie so fluchen, der Laster ist ja auf einer anderen Autobahn umgekippt. Ich versuche, ihnen das zu erklären, ganz behutsam, so als wollte ich zwei plärrende Säuglinge beruhigen, und als ich das tue, trifft mich beinahe der Schlag. Weil wir uns vorher nicht darüber unterhalten haben, erfahre ich erst jetzt, dass sie in eine andere Richtung wollen als ich. Sie wollen nach Würzburg, und nur ich will nach München, und das eine liegt im Westen und das andere im Süden. Und leider haben sie es sehr eilig und können deshalb beim besten Willen keinen Umweg fahren. Das sagen sie zumindest, und der Konrad sagt mehrmals: Supersorry, Böhm. Supersorry mit einem englisch betonten U, so dass es sich wie Ju anhört. Das macht mich ganz verrückt, weil es ihm überhaupt nicht leidtut und das Wort sich wie Säure in meinen Gehörgang ätzt. In dem Moment, in dem er es sagt, weiß ich genau, dass mir in Zukunft immer dieses Sjupersorry einfallen wird, wenn ich an ihn denke, und darauf habe ich überhaupt keine Lust. Dafür hasse ich ihn nun doch.
Es hilft aber nichts. Wir durchfahren noch ein kurviges Waldstück, und als der Fichtenvorhang sich wieder beiseiteschiebt, tauchen überall diese blauen Hinweistafeln auf, die anzeigen, dass die Autobahn sich gleich gabeln wird. Keine drei Minuten später ist das Autobahnkreuz schon da, und Konrad lenkt den Wagen auf den Seitenstreifen hinaus. Er lässt den Motor im Stand laufen, er legt noch nicht einmal den Leergang ein, sondern hält die Kupplung im ersten durchgedrückt. Ich nehme meinen Rucksack von der Rückbank und wünsche den beiden mit einem sehr optimistischen Lächeln eine gute Fahrt. Verena lächelt zuckersüß zurück, Konrad ruft: Immer sauber bleiben, Böhm, dann tritt er das Gaspedal durch und rast davon. Ein paar Sekunden lang sehe ich Verenas Kopftuch hinter der Heckscheibe flattern, dann verschwindet das Auto um die Kurve, und ich stehe auf dem Seitenstreifen und strecke ihnen den Mittelfinger hinterher. Ich strecke den Finger mit aller Inbrunst in die heiße Luft und schaue dabei in die Landschaft hinein: vertrocknete Wiesen und Stoppelfelder mit gepressten Strohballen darauf, und darüber dieser gleißend blaue Himmel, der sich einen Dreck um mich schert. Ich spucke in hohem Bogen auf die Autobahn, dann schultere ich meinen Rucksack und marschiere los. Auf den ersten hundert Metern drehe ich mich noch ein paarmal um und strecke den Daumen raus, aber weil kein Mensch in Deutschland jemals auf dem Standstreifen hält, gebe ich es bald auf. Stattdessen ziehe ich mein Shirt aus, schnalle die Rucksackriemen enger und laufe schneller über den Asphalt. Ich komme mir dabei vor wie ein Fremdenlegionär in der Wüste, dann muss ich plötzlich an Dennis Hopper denken, seine Rolle in dem Film Blue Velvet, wo er diesen Drogenfreak spielt und alle Leute mit dem Wort Fucker anschreit. Den Film fand ich nicht einmal so gut, die Rolle aber schon, und so laufe ich über und über schwitzend auf dem Standstreifen entlang und fange an, mit mir selbst zu sprechen. Genau gesagt schreie ich nur Wörter in der Gegend herum. Du Fucker, schreie ich, und immer wieder Sjupersorry mit englisch betontem U, und dabei sehe ich Konrad im Sand liegen, und ich stehe mit einem Vorderlader über ihm und schlage mit dem Gewehrkolben auf ihn ein, so lange, bis jeder einzelne Zahn in seinem Kiefer zertrümmert ist und ihm das Hirnwasser aus dem Schädel rinnt. Ich brülle wirklich aus Leibeskräften und schwinge auch mit den Armen aus, was von der Autobahn aus bestimmt völlig krank aussieht, aber das ist mir egal. Das brauche ich jetzt, das brauche ich unbedingt, auch wenn mein Mund vom Brüllen immer trockener wird und ich keinen Tropfen Wasser bei mir habe. Keine Ahnung, woher ich die ganze Kraft nehme, jedenfalls ist sie da. Ich glaube, das Schreien gibt mir erst Kraft, jeder sollte ab und zu durch die Gegend laufen und schreien, nichts macht mehr Sinn. Meine Wut verraucht aber nicht, sondern wird nur immer größer. Sie greift jetzt von Konrad auf den Starnberger Förster über und dann auf Johanna. Hätte sie ein bisschen besser aufgepasst und meinen Wagen nicht zu Schrott gefahren, könnte ich jetzt darin sitzen und ganz entspannt nach München fahren. Immer macht sie alles kaputt, denke ich, und das meine ich ganz prinzipiell. Sie hat ja auch meine Beziehung zerstört. Fast fünf Jahre lang war ich vorher mit Leni zusammen, und dann kommt diese Münchnerin und küsst mich auf den Mund. Die ersten paar Male nur zur Begrüßung, so wie es in ihrer tollen Schauspielerfamilie üblich ist, aber dann auf einmal länger, und weil sie ein so strahlender Mensch ist und überall so gut ankommt, lasse ich mich auf sie ein und schicke Leni zum Teufel. So einfach habe ich mich manipulieren lassen, denke ich, mit dieser plumpen Masche hat sie mich gekriegt und meine große Liebe zerstört. Und während ich ihr noch weitere Vorwürfe mache und sie immer bodenloser beschimpfe, passieren zwei Dinge gleichzeitig. Erstens entdecke ich weiter vorne ein blaues Schild, das in drei Kilometern einen kleinen Parkplatz ankündigt, und genau im selben Moment höre ich dieses typische Pfeifen, das ein schleifender Keilriemen macht. Als ich mich umdrehe, sehe ich dicht hinter mir einen gelben Passat. Am Steuer sitzt ein älterer Mann mit Stirnglatze und Schnauzer, und das ist bestimmt der Starnberger Förster. Ich trommle mit beiden Fäusten auf meiner nackten Brust herum und schreie mir die Lunge aus dem Leib, und weil wir genau auf gleicher Höhe sind, bemerkt mich der Mann auch und sieht mich an. Ich lächle ganz breit, aber in seinem Gesicht regt sich nicht der kleinste Muskel. Der Manndreht einfach wieder seinen Kopf nach vorne und fährt an mir vorbei. Ich kann das kaum glauben, weil er mir wirklich genau in die Augen gesehen hat, aber das ändert nicht das Geringste daran. Keine drei Sekunden später ist der Passat schon hinter der nächsten Hügelkuppe verschwunden, und ich stehe in dieser benzinverpesteten Autobahnluft und bin allein.
Copyright © Roman Berlin Verlag
- Autor: Thomas Klupp
- 2009, 1, 199 Seiten, Masse: 12,5 x 20,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: BERLIN VERLAG
- ISBN-10: 3827008433
- ISBN-13: 9783827008435
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