Noch ein Kuss
Roman. Deutsche Erstausgabe
Die Kolumnistin Carly ist überzeugt: Liebe führt nur zu Enttäuschung. Deshalb will sie eine Vernunftehe mit dem ehrgeizigen Peter eingehen. Doch dann lernt sie Peters attraktiven Bruder Mike kennen. Und steht plötzlich vor der Frage:...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Noch ein Kuss “
Die Kolumnistin Carly ist überzeugt: Liebe führt nur zu Enttäuschung. Deshalb will sie eine Vernunftehe mit dem ehrgeizigen Peter eingehen. Doch dann lernt sie Peters attraktiven Bruder Mike kennen. Und steht plötzlich vor der Frage: Soll sie die Liebe mit all ihren Risiken in ihr Leben lassen?
Klappentext zu „Noch ein Kuss “
Liebe auf eigene GefahrDie Kolumnistin Carly Wexler ist überzeugt: Liebe und Leidenschaft bringen nichts als Enttäuschung, und so führt sie eine eher leidenschaftslose Beziehung mit dem ehrgeizigen Peter. Die Vernunftheirat der beiden steht kurz bevor, als sie Peters attraktiven Bruder Mike kennenlernt. Er ist das genaue Gegenteil von Peter: rau, männlich, selbstbewusst, und Carly fühlt sich stark zu ihm hingezogen. Die Begegnungen mit ihm verwirren sie und bringen ihre Prinzipien ins Wanken. Will sie weiter auf Nummer sicher gehen oder die Liebe mit all ihren Risiken in ihr Leben lassen?
Lese-Probe zu „Noch ein Kuss “
Noch ein Kuss von Carly PhillipsAus dem Amerikanischen von Ruth Sander
Kapitel 1
Carly Wexler trat einen Schritt zurück und bewunderte die Schaufensterauslage. Die Sonnenstrahlen, die durch die Scheibe fielen, beschienen eine Auswahl von goldenen und diamantenbesetzten Eheringen. Beim Anblick dieser Symbole für ewige Liebe und Treue verkrampfte sich plötzlich ihr Magen. Schnell machte Carly die Augen zu. Bestimmt würden sich ihre Nerven schnell wieder beruhigen, wenn sie sich die funkelnden Ringe noch einmal ansah. Schließlich konnte bei einer Hochzeit, die so minutiös geplant war wie ihre, nichts schiefgehen. Sie schlug die Augen auf und riskierte einen zweiten Blick. Links von ihr lagen zwei zueinander passende glänzende Ringe auf einer schwarzen Samtunterlage. Einer für ihn und einer für sie: Peter und Carly. Auch sie waren ein Paar, das - wie ihr Verlobter immer wieder betonte - sehr gut zueinander passte, denn sie hatten gemeinsame Freunde und Interessen. Sie waren wie füreinander geschaffen, dachte Carly, während ihr Blick über das glitzernde Angebot glitt.
... mehr
Für jeden Trauring im Fenster gab es ein Gegenstück - ebenfalls ein treffender Ausdruck für ihren Verlobten. Ihre eher partnerschaftliche Beziehung basierte nicht auf großer Leidenschaft, aber genau das machte die Verbindung perfekt. In einer idealen Welt mochten Liebe und Leidenschaft zusammenkommen und aus einem Pärchen ein Traumpaar machen - nicht nur ein gut eingespieltes Team. Aber Carly glaubte nicht mehr an Märchen. Dank der Verfehlungen ihres Vaters hatte sie gelernt, wie viel Schaden es anrichtete, sich von Gefühlen leiten zu lassen. Besser, man gab sich mit gegenseitiger Achtung und Fürsorge zufrieden, als es zu riskieren, dass man verletzt und enttäuscht wurde. Sie strich sich den frisch geschnittenen Pony aus der Stirn und achtete nicht weiter darauf, dass die Fransen ihr gleich wieder in die Augen fielen.
Ein Set aus reinem Platin und achtzehnkarätigem Gold sprang ihr ins Auge. Obwohl die zweifarbigen Ringe zu beiden Seiten von diamantenbesetzten Eheringen flankiert wurden, schaffte Carly es nicht, den Blick von dem schlichteren Paar loszureißen. »Perfekt«, sagte sie zu sich selbst. Zu schade, dass ihr Verlobter einen mit Edelsteinen besetzten Ring vorziehen würde, ein Exemplar, das etwas mehr hermachte.
»So wie dieser da«, sagte sie und klopfte mit dem Finger an das Fenster.
Doch sie hatte ebenso viel Verständnis für Peters Bedürfnis zu brillieren wie er für ihren Wunsch nach einer perfekten Hochzeit mit allem Drum und Dran. Das Leben war ein Geben und Nehmen, ermahnte sie sich, während sie mit ihrem Finger Muster auf das Schaufensterglas malte.
»Welche Frau brächte es wohl fertig, all diesen funkeln den Steinen zu widerstehen?«, raunte eine aufreizende, unbekannte Stimme ihr von hinten ins Ohr.
Die Frage reizte Carly. »Eine mit Charakter vielleicht? «, erwiderte sie, ohne sich umzudrehen, ganz auf den Ring ihrer Wahl konzentriert.
»Und Esprit«, fügte der Mann in bewunderndem Tonfall hinzu.
Carly legte die Hände hinter dem Rücken zusammen. »Sowie gutem Geschmack«, fuhr sie fort, denn sie fand Gefallen an dem lockeren Wortspiel.
Das tiefe, sonore Lachen, das sie damit provozierte, weckte ihr Interesse und hielt sie davon ab, sich für einen Ring zu entscheiden, der sie für immer an ihren zukünftigen Ehemann binden sollte.
»Man braucht Köpfchen, um sich nicht vom Glitzern der Diamanten blenden zu lassen«, sagte der Fremde beifällig in seiner melodischen Sprechweise.
»Mag schon sein.« Neugierig drehte Carly sich um, sodass ihr langer Rock um ihre bloßen Beine flog.
Ein lässig attraktiver Mann lächelte sie an. Sie sah ihm in die Augen. Sie waren haselnussbraun mit goldenen Flecken, die in der Nachmittagssonne funkelten, und sein sinnlicher Mund wurde von Lachfältchen gerahmt.
Die faszinierenden Augen musterten sie interessiert. »Eine Schönheit wie Sie fällt doch von ganz allein auf.«
Das unerwartete Kompliment ließ Carly erröten. »Danke«, murmelte sie.
»Das war bloß eine Feststellung.«
In ihrer Verlegenheit nickte Carly nur stumm. Dass sie sich auf den ersten Blick zu diesem Fremden hingezogen fühlte, widersprach jeglicher Logik. Durch sein langes, sonnengebleichtes helles Haar und die aufreizende Art, wie er sich auf den Absätzen seiner abgetragenen Stiefel wiegte, strahlte er etwas Wildes und Ungezähmtes aus, pure Männlichkeit gepaart mit unerschütterlichem Selbstbewusstsein. Verunsichert strich sie sich den Pony aus der Stirn. Eigentlich mochte sie es viel lieber, wenn Männer sanft und berechenbar waren. Doch dieser hier war alles andere als das.
»Also, welchen würden Sie sich aussuchen?«, fragte der Fremde und ließ den Blick einen Wimpernschlag zu lange auf ihr ruhen, bevor er ihn auf den Schmuck im Schaufenster richtete.
Dich, schoss es ihr ungewollt durch den Kopf. »Den da«, krächzte Carly rau und deutete mit nicht allzu ruhiger Hand auf die schlichteren Ringe.
»Hübsch«, murmelte der Mann anerkennend. »Damit wäre dann ja wohl geklärt, welche Art von Frau Sie sind, wenn Sie einen einfachen Goldreif den glitzernden Steinen vorziehen, oder?« Er lachte laut.
Carly gefiel der sonore Klang, obwohl sie dabei ein Schauer überlief. Sie schaute zum blauen Himmel auf. Ein einzelnes Wölkchen hatte sich vor die Sonne geschoben, aber sie war absolut sicher, dass dieser Mann und nicht eine vorübergehende Laune der Natur für ihr Schaudern und ihr plötzliches Unbehagen verantwortlich war.
»Die Art von Frau, die normalerweise vernünftig genug ist, nicht an einer Straßenecke in Manhattan zu stehen und sich mit einem völligen Fremden zu unterhalten«, erwiderte Carly. »Entschuldigen Sie mich.« Sie drehte sich auf dem Absatz um, um in das Geschäft zu gehen, wo sie sich hinter Zahlen verschanzen konnte.
»Carly, nun warte doch.«
Wie angewurzelt blieb Carly stehen und drehte sich dann ganz langsam wieder zu der schmeichelnden Stimme um. »Wer sind Sie?«, fragte sie misstrauisch.
»Mike Novack, Peters Bruder.« Der Mann hielt ihr seine braun gebrannte Hand hin.
Stumm verfluchte Carly ihren Verlobten für seinen Mangel an Sentimentalität. Auf dem einzigen Foto, das sie von Mike gesehen hatte, war er noch ein kleiner Junge gewesen. An ein neueres Bild von dem gut aussehenden Mann, der ihr gegenüberstand, hätte sie sich bestimmt erinnert.
»Peters Bruder.« Obwohl sie automatisch ihre Hand ausstreckte, war sie sehr bestürzt und böse auf sich. Mit einem Fremden zu flirten, während man dabei war, sich einen Ehering auszusuchen, war schon schlimm genug, doch ausgerechnet mit Peters unstetem Bruder zu schäkern, zeugte von einem deutlichen Mangel an Anstand. Ein Benehmen, das sie eher ihrem Vater zugetraut hätte als sich.
»Ja, es gibt mich noch.«
Als Mike ihr kräftig die Hand schüttelte, geriet Carly endgültig aus dem Gleichgewicht. In seinem festen Griff wurden ihre Finger ganz warm.
Dann wanderte diese Wärme den Arm hinauf zu ihren Brüsten und breitete sich schließlich im Magen aus. Sie musste ihre gesamte Willenskraft aufbieten, um diese unbekannten und erschreckenden Empfindungen zu ignorieren.
Rasch befreite sie ihre Hand aus Mikes Umklammerung und konzentrierte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Schaufenster. Ohne die Sonnenstrahlen hatten die Ringe viel von ihrem Glanz und ihrer Anziehungskraft eingebüßt. In dem vergeblichen Bemühen, die Wärme bei sich zu behalten, schlang sie die Arme um ihre Brust.
»Carly?«
Die Besorgnis in Mikes tiefer Stimme ließ sie die Zähne zusammenbeißen. »Offenbar hast du ein Foto von mir gesehen.«
Mike schmunzelte. »Ja, das auf Peters Schreibtisch.«
»Ich wünschte, von dir könnte ich das Gleiche sagen.«
»Ich bin der Fotograf in der Familie, nicht Pete.«
»Das habe ich schon gehört. Bist du auch der Aufreißer in der Familie?«
Irritiert kniff Mike die Augen zusammen. »Ich weiß, dass ich eine Weile außer Landes gewesen bin, aber seit wann gilt eine lockere Unterhaltung schon als Anmache? «
Mit einem kräftigen Atemstoß blies Carly die Ponyfransen aus den Augen. »Okay, ich habe überreagiert.« Aber nur weil dieser Mann ihr Herz zum Rasen und ihre Hände zum Schwitzen brachte. Aus ihrer Sicht betrachtet hatte sie sich schwer zusammengerissen.
Am liebsten wäre sie weit weggelaufen und hätte sich nicht nur vor Mike, sondern auch vor sich selbst versteckt. »Wollen wir noch einmal von vorn anfangen?«, fragte sie und streckte die Hand aus. Nur um zu beweisen, dass sie den Körperkontakt aushielt, nicht, weil sie sich nach den Gefühlen sehnte, die sein warmer Handschlag bei ihr hervorrief.
»Gerne.« Mike nahm ihre Hand und ließ sie gleich wieder los. Nicht, weil er es nicht aushielt, ihre weiche Haut zu berühren, sondern weil ihr schon seine Anwesenheit unangenehm zu sein schien. Auch wenn er nicht wusste, warum.
»Wo ist Peter?«, wollte Carly wissen.
»Bei der Arbeit. Er war schon auf dem Weg zur Tür, aber in letzter Minute ist noch etwas dazwischengekommen. Er hat mich vorgeschickt, damit ich ihn entschuldige. «
»Rechtsanwälte.« Carlys lässiges Achselzucken stand in krassem Gegensatz zu ihrem enttäuschten Blick. »Wenigstens hat er diesmal daran gedacht, mir jemanden zu schicken, der mir Bescheid sagt.« Sie lächelte. »Vielen Dank.«
»Gern geschehen«, erwiderte Mike. Die Frau vor ihm war eine echte Überraschung.
Als er seinen Bruder nach Carly gefragt hatte, hatte Peter mit einem geistesabwesenden: »Wir sind uns sehr ähnlich, und auch beruflich passt alles bestens zusammen « geantwortet. Für Mike war das gleichbedeutend gewesen mit: »Sie hat einen guten Charakter«, was für eine Frau nie eine tolle Empfehlung war. Danach hatte er ratsuchend das gerahmte Foto auf Peters Schreibtisch betrachtet. Doch die Schwarz-Weiß-Aufnahme wurde dieser Frau nicht gerecht.
Sie war vielleicht keine klassische Schönheit, aber sie hatte definitiv das gewisse Etwas, das einen Mann zweimal hinschauen ließ. Eine schwer zu beschreibende Ausstrahlung, die er gern im Bild festgehalten hätte. Hellbraunes Haar mit goldenen Strähnen rahmte ihr Gesicht und fiel in weichen Wellen auf ihre Schultern. Die dünnen Ponyfransen reichten bis kurz unter die Augenbrauen - wenn sie nicht gerade mit einer Hand weggestrichen wurden. Mike unterdrückte den Drang, sie beiseitezuschieben, nur um herauszufinden, ob ihr Haar sich wirklich so weich anfühlte, wie es aussah. Ihre Lippen waren ein wenig zu voll, doch ein Hauch rosafarbener Gloss verlieh ihnen einen verlockenden Schimmer.
Sein Bruder war ein verdammter Glückspilz. Nicht, dass Mike seine Freiheit jemals gegen die Zwänge einer Ehe eingetauscht hätte, aber er nahm sich vor, dafür zu sorgen, dass Peter klar wurde, was für ein Glück er hatte.
»Mike?«
Überrascht zuckte er zusammen, als Carly ihm auf die Schulter tippte.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Alles bestens.« Mike ließ die Schulter ein paarmal kreisen, um die verspannte Muskulatur zu lockern. Er fragte sich, ob die Wunde, die er sich kürzlich zugezogen hatte, wohl irgendwann abheilte, oder ob der Schmerz und die Narben ihn ständig an all das erinnern würden, was er hinter sich gelassen hatte und trotzdem eines Tages zu Ende bringen musste.
»Ich habe dich gerade gefragt, wie viel Zeit uns noch bleibt.« Abwartend zog Carly eine Braue in die Höhe.
»Ungefähr ...« Mike schaute auf seine Armbanduhr. »Fünf bis zehn Minuten, je nachdem, ob Pete sich schnell loseisen kann oder nicht. Wenn er um Viertel nach noch nicht hier ist, sollen wir davon ausgehen, dass er nicht mehr kommt. Dann wird er dich anrufen, um einen neuen Termin auszumachen.« Mike grinste. »Seine Worte, nicht meine.«
»Kein Problem. Das bin ich schon gewohnt.«
Furchtbar verständnisvoll für eine Frau, die darauf gewartet hat, mit ihrem Bräutigam die Trauringe auszusuchen, überlegte Mike. »Offenbar ist Pete im Privatleben immer noch so wie im Beruf.«
»Das kannst du ihm nicht vorwerfen.« Carlys Augen waren sehr schmal geworden und funkelten ärgerlich.
Dass sie ihren Verlobten verteidigte, war bewundernswert, auch wenn sein Bruder es nicht verdient hatte, dachte Mike.
»Die Arbeitszeiten von Rechtsanwälten lassen sich nicht genau planen, und ich habe Verständnis dafür.«
»Ich auch.« Aber wenn sein ehrgeiziger, arbeitsbesessener Bruder seine Braut öfter wegen Schriftsätzen und meckernden Mandanten vernachlässigte, brauchte er dringend eine Auffrischung seiner Libido.
»Er wollte doch kommen«, erklärte Carly.
»Ich habe nie etwas anderes behauptet. Ich habe nur gesagt, dass er sich nicht verändert hat.«
An Carlys Wange zuckte ein Muskel, dann gab sie sich geschlagen und lächelte. »Anscheinend kennst du deinen Bruder sehr gut.«
»Das scheint dich zu überraschen.«
»Es ist nur, dass er sich ständig Sorgen um dich macht, während du ...« Sie verstummte. Eine leichte Röte färbte ihre Wangen und verlieh ihnen einen rosigen Schimmer.
»Ihm selten ein Lebenszeichen gibst«, führte Mike den Satz für sie zu Ende. »Das liegt an meiner Umgebung. Die Orte, zu denen ich reise, müssen ohne den Luxus von Telefonzellen auskommen.«
»Aber ihr zwei steht euch trotzdem sehr nahe.«
»Wir sind Brüder.« Für Mike war damit alles gesagt. Er und Peter hatten außer einander niemanden auf der Welt, der sich um sie sorgte. Bis auf Carly. Sie war nun Peters Verlobte, und Mike musste endlich damit aufhören, sie anzustarren wie eine Erscheinung. Besser er konzentrierte sich auf die bevorstehende Hochzeit und die lebenslange Verbindung zwischen ihr und Pete.
»Wie lange wirst du in der Stadt bleiben?«, fragte Carly.
»Mindestens die vier Wochen bis zu eurer Hochzeit, und vielleicht sogar etwas länger. Dann mache ich mich wieder auf die Reise.« Ihm blieb keine andere Wahl. Er hatte mitten im Einsatz alles hingeworfen, weil er es zugelassen hatte, dass seine persönlichen Dämonen ihn vertrieben. Und er wusste verdammt gut, dass er sich ihnen stellen musste, damit er morgens wieder in den Spiegel sehen konnte. Mike Novack ließ keine Arbeit unerledigt, und er lief auch nicht vor seiner Vergangenheit weg.
Sobald er das Nomadenleben, das er so liebte, wieder aufgenommen hatte, würde sich alles normalisieren. Jedenfalls hoffte er das, dachte er mit einem Blick auf die Frau, die sein Bruder bald heiraten wollte.
»Möchtest du reingehen und dir die Ringe im Laden ansehen?«, fragte Mike.
»Ja, klar.« Doch Carlys Blick kehrte abermals zu dem Schmuck im Schaufenster zurück.
»Oder hast du schon welche gefunden, die dir gut gefallen? «, fragte er.
»Ja, die da.« Carly beugte sich vor und klopfte vorsichtig an die Scheibe, um ihm die einfachen zweifarbigen Ringe zu zeigen.
Also eine Frau mit Geschmack. Als Mike an ihr anfängliches Geplänkel zurückdachte, erkannte er, dass sie jedes Wort ernst gemeint hatte. »Sie sind wunderschön«, meinte er.
Carly drehte sich zu ihm um und sah ihn an. »Aber Peter wird sie nicht mögen.« Sie kniff die Lippen zusammen und auch ihr sanfter brauner Blick wurde traurig.
»Du hast recht. Die hauen einen nicht gerade vom Sockel. Pete hätte bestimmt lieber etwas, das ein klein wenig ... auffälliger ist.«
Carly seufzte.
»Du kennst ihn anscheinend auch sehr gut«, sagte Mike.
Carly lächelte. »Wir verstehen uns einfach.«
Wirklich? Mike hatte mit den beiden jeweils nur ein paar Minuten verbracht, trotzdem war er bereits ins Grübeln geraten. Und als er sah, wie sehnsüchtig Carly die Ringe im Fenster betrachtete, begann er, sich geradezu zu sorgen.
»Es wird langsam Zeit«, murmelte Carly. »Ich hoffe, er sieht ein, dass manche Dinge ihre Zeit brauchen, und wir müssen die Ringe noch aussuchen, anpassen und gravieren lassen. Danach sind noch die Smokings, das endgültige Blumenarrangement, die ...«
»Entspann dich. Solche Listen sind doch nicht in Stein gemeißelt. Es wird schon alles rechtzeitig fertig sein.«
»Nur, wenn wir uns an meinen Plan halten.«
Beschwichtigend legte Mike eine Hand auf Carlys nackte Schulter, und als er erkannte, dass er einen Fehler gemacht hatte, war es bereits zu spät. Die Haut unter seinen rauen Fingern war seidenweich. Er holte tief Luft. Diese Frau sah hinreißend aus und duftete nach Vanille - eine Kombination, der er kaum widerstehen konnte.
»Wir wär's, wenn wir eine Tasse Kaffee trinken gehen und über deinen Plan reden? Bestimmt wirst du etwas ruhiger, wenn du erkennst, dass alles klappen wird.«
Carlys hektischer Blick sprang zwischen seiner Hand, die immer noch auf ihrer Schulter ruhte, und den Ringen im Schaufenster hin und her. »Kaffee ist keine besonders gute Idee.«
Besser er nahm die Hand wieder weg. Angesichts seiner heftigen Reaktion auf Carly war es wohl am vernünftigsten, auf Distanz zu gehen. »Aber Zeit genug hätten wir«, murmelte Mike stattdessen.
»Es ist doch allgemein bekannt, dass Kaffee für die Gesundheit schädlich ist.« Carly ging auf die Straße zu. Ehe Mike begriff, was sie vorhatte, kam mit quietschenden Reifen ein gelbes Taxi zum Stehen.
»Danke, dass du gekommen bist. Wir sehen uns sicher bald wieder in dem ganzen Hochzeitstrubel.« Carlys ausweichendes Geplapper ließ vermuten, dass sie genau das Gegenteil hoffte. Doch ihre großen braunen Augen sagten etwas anderes.
»Verlass dich drauf«, erwiderte Mike schmunzelnd.
Kaum war Carly in das wartende Taxi eingestiegen, fädelte es sich auch schon wieder in den Verkehr ein.
»Willkommen in New York City.« Mike sah zu, wie die Bremslichter im Verkehrsgewühl verschwanden und ihm die Frau entführten.
Carly betrat das ihr wohlbekannte Foyer des Hauses, in dem Peter wohnte. Es roch nach frischer Farbe, und strahlend weiße Wände rahmten das viele Chrom und die Spiegel, was sie nicht sonderlich überraschte. Bei den hohen Mieten und Nebenkosten erwarteten die Bewohner des luxuriösen Gebäudes an der Upper East Side gute Service- und Instandhaltungsleistungen, und Peter war da keine Ausnahme.
»'n Abend, Miss Wexler.«
»Hallo, George«, sagte Carly zu dem grauhaarigen Pförtner, den sie schon genauso lange kannte wie Peter. »Ist er da?«, fragte sie.
»Vor ein paar Minuten an mir vorbeigestürmt.«
»Gut. Tun Sie mir einen Gefallen, kündigen Sie mich nicht an.« Vertraulich beugte sie sich über die schmale Theke. »Ich möchte ihn überraschen.«
Der schon etwas ältere Portier schmunzelte. »Kein Problem. Aber seien Sie brav«, erwiderte er freundlich.
»Das bin ich doch immer. Danke, George. Einen schönen Abend noch.« Winkend ging Carly auf die Aufzüge am Ende der Halle zu.
Unter normalen Umständen tat sie alles, um Peter nicht zu überraschen, doch in letzter Zeit war seine Terminabstimmung ausgesprochen unbefriedigend.
Die Schiebetüren glitten zur Seite, und Carly trat in den Aufzug. Seit ihrer Verlobung hatte sie den mit der Hochzeitsplanung befassten »Experten« freie Hand gelassen. In ihrer Rolle als Kolumnistin und Schulpsychologin gab sie zwar anderen Ratschläge, doch im Privatleben hatte sie kein Problem damit, sich von Menschen beraten zu lassen, die mehr Erfahrung hatten als sie ... insbesondere in diesem Fall. Sie hatte ein Versprechen gegeben und nicht die Absicht, den Eheschwur zweimal im Leben zu leisten.
Sie stieg aus dem Aufzug, ging durch den vertrauten Flur und blieb vor Peters Wohnung stehen. In einem plötzlichen Anflug von Panik wünschte sie sich, sie hätte doch vorher angerufen.
Zu spät. Leise klopfte sie an die Tür.
»Komme schon.« Auf den gedämpften Ruf folgten schwere Schritte und dann das Rasseln der Kette.
»Ihr habt aber lange gebraucht, ich sterbe vor Hunger. « Die Tür wurde weit aufgerissen. »Anscheinend bist du nicht der Pizzabote.«
Carly schluckte mühsam. »Und du nicht Peter.« Sie hatte nicht damit gerechnet, ohne Vorwarnung Mike gegenüberzustehen. Genauso wenig wie sie damit gerechnet hatte, dass der Adrenalinstoß beim Wiedersehen so heftig sein würde.
»Gott sei Dank nicht. Ich bin viel entspannter und wesentlich hübscher.«
»Und ganz schön eingebildet«, erwiderte Carly und unterdrückte ein Grinsen.
»Also zu wenig Charakter?«, fragte Mike.
Eher zu viel, dachte Carly, als sie wieder in das lockere Geplänkel vom Nachmittag zurückfielen.
Mike winkte sie in die Wohnung, und sie ging an ihm vorbei. Der sinnlich herbe Duft seines Aftershaves wirkte so erregend, dass sie diesen Mann einfach nicht ignorieren konnte. Als die Wohnungstür mit einem dumpfen Klacken hinter ihr ins Schloss fiel, drehte Carly sich zu ihm um und stellte fest, dass er mit der bloßen Schulter an der Wand lehnte - einer ausgesprochen muskulösen bloßen Schulter. Wieder überlief sie ein jäher Schauer.
»Hast du es dir mit der Tasse Kaffee anders überlegt?«, fragte Mike mit einem vielsagenden Grinsen.
Carly fummelte an ihrem Pony herum. »Daran habe ich gar nicht mehr gedacht.« Aber das war gelogen. In Wahrheit hatte sie den Rest des Tages damit verbracht, sich jeden Gedanken an Mike Novack zu verbieten.
Doch als er nun auf sie zukam, musste sie einsehen, dass das ein sinnloses Unterfangen gewesen war. »Wie deprimierend«, erwiderte Mike. »Aber du kannst dein mangelndes Interesse wiedergutmachen, indem du meine Pizza mit mir teilst.« Er ließ sie nicht aus den Augen.
Sein goldener Blick wirkte geradezu hypnotisch und gab ihr das Gefühl, in die Enge getrieben zu werden. Gespannt und etwas nervös wartete sie auf das Prickeln, das sich bei ihren Wortgefechten einstellte.
Doch Mike tippte ihr nur mit einem Finger auf die Nasenspitze. »Ich hasse es nämlich, allein zu essen.«
»Ich wette, das kommt nicht so oft vor«, murmelte Carly.
Ein leises Hüsteln erinnerte sie schlagartig wieder daran, wo sie war. Mit einer Mischung aus Schuldbewusstsein und Bedauern wandte sie sich von Mike ab.
»Was für eine Überraschung«, sagte Peter, der sie beide aus einiger Distanz beobachtete.
»Sicher keine unwillkommene.« Mike ging an Carly vorbei und setzte sich auf das schicke Ledersofa im Wohnzimmer. Dann legte er die Füße auf den gläsernen Couchtisch und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Natürlich nicht«, sagte Peter lächelnd und streckte eine Hand nach ihr aus. Carly ging zu ihm und versuchte, nicht auf Mikes bohrenden Blick zu achten. Ihr Verlobter war frisch geduscht und roch nach dem vertrauten Shampoo. Er legte einen Arm um ihre Taille und zog sie an sich. »Carly ist mir natürlich immer willkommen. Dieser Besuch war nur nicht geplant.«
Seine Braut grinste und knuffte ihn in die Rippen. »Da ich mit meinem Plan nicht weiterkomme, habe ich beschlossen, dich zu überfallen. Schau.« Sie klopfte auf ihre Umhängetasche, aus der Listen und Artikel aus den neuesten Hochzeitszeitschriften quollen.
Peter stöhnte vernehmlich. Dann ließ er sich mit sichtlich genervter Miene und leise über neurotische Frauen schimpfend von Carly zum Sofa führen und neben Mike in die Polster drücken. Seine Braut kannte ihn gut genug, um nicht beleidigt zu sein, denn vor ihrer Verlobung waren sie lange befreundet gewesen. Peter hatte selbst dann noch Geduld mit ihr, wenn sie ihn mit endlosen Listen und Artikeln schier zur Verzweiflung trieb. Schließlich verfolgten sie beide das gleiche Ziel - eine Hochzeit mit allem Drum und Dran.
Was für Carly auch ein gesichertes, ruhiges Leben einschloss. Peter dagegen ging es wohl mehr um den kräftigen Schub, den sein Aufstieg zum Teilhaber durch diese Verbindung bekam. Doch letztendlich wollten sie beide dasselbe, selbst wenn ihre Träume ein klein wenig voneinander abwichen.
»Bist du bereit?« Sie hockte sich neben ihrem Verlobten auf den Boden.
»Gib's ihm«, stichelte Mike.
Wild entschlossen, die Gefühle, die dieser Mann in ihr auslöste, zu ignorieren, kicherte Carly laut. Als sie die beiden Brüder nebeneinander sitzen sah, entdeckte sie einige Ähnlichkeiten zwischen ihnen. Beide hatten hellbraunes Haar, nur dass Peters kürzlich geschnitten worden war und keine sonnengebleichten goldenen Strähnen aufwies. Auch die Profile der beiden glichen sich, auch wenn Mikes gebräuntes Gesicht durch den häufigen Aufenthalt in der freien Natur frischer wirkte. Dafür hatte Peter eine kultivierte Ausstrahlung, einen Schliff, für den er hart gearbeitet hatte. Jedenfalls sahen beide Männer sehr gut aus, und sie verbot es sich, weitere Vergleiche anzustellen.
»Können wir es kurz machen?«, fragte Peter. »Ich muss noch einen Antrag formulieren, der bis morgen früh um neun eingereicht sein soll.«
»Pete ...«
»Sicher«, schnitt Carly Mike das Wort ab. Er wusste nicht genug vom Job seines Bruders, um zu verstehen, welche Anforderungen er stellte, während sie als Tochter eines prominenten Anwalts damit aufgewachsen war. »Hör mir einfach nur eine Weile zu«, sagte sie und begann, verschiedene Dinge aus ihrer Tasche zu ziehen.
Kurz darauf waren Planer, Listen und Bilder über den ganzen Tisch verstreut, denn trotz Peters eher symbolischer Proteste war ihm durchaus bewusst, dass ein paar Stunden an diesem Abend ihnen im Weiteren viel Ärger ersparen würden.
»Siehst du, was ich aushalten muss?«, quengelte Peter. Doch Carly hörte den amüsierten Unterton in seiner Stimme.
Mike sah zu Carly hinüber. »Das Leben ist hart, Pete. Erinner mich daran, mich zu beschweren, wenn das nächste Mal eine wunderschöne Frau einige Stunden meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit verlangt.«
»Selbst wenn sie ein Schoßhündchen aus dir machen will?« Peter hielt ein Hochglanzfoto von einem Brautpaar in die Höhe.
Die beiden Brüder prusteten los und erlaubten es Carly, das unsichtbare Band zwischen ihnen zu sehen, an das sie bislang nicht so recht geglaubt hatte.
»In dem Fall«, erwiderte Mike, »würde ich mich mit dem nächsten Flieger in Sicherheit bringen.«
Carlys Magen zog sich schmerzhaft zusammen, eine Reaktion, die sie auf ihren quälenden Hunger schob - und auf ihr plötzliches Verlangen ... nach Essen.
Mike gähnte unterdrückt; er war froh, dass die Hochzeitsplanerei endlich zu Ende ging.
»Also um vierzehn Uhr am Freitag im Herrenmodengeschäft und um zehn am Samstag bei der Floristin?«, erkundigte sich Peter.
Carly schaute in ihren Terminkalender und nickte bestätigend. »Keine Entschuldigungen, keine Verspätungen. « Sie schaute auf und sah ihren Verlobten an.
»Vorausgesetzt, dass nichts Außergewöhnliches dazwischenkommt. «
»Bestimmt nicht.«
Mike klappte die Pizzaschachtel wieder zu. Obwohl Pete und Carly bei ihm gewesen waren, hatte er allein gegessen, während die beiden beinahe zwei Stunden lang über die letzten Hochzeitsarrangements verhandelt hatten. Wenn man dem Paar, das vor ihm saß, Glauben schenken konnte, hing eine perfekte Hochzeit weniger von Gefühlen als von einem Haufen Kleinigkeiten ab. Die Carly Wexler, die noch vor ein paar Stunden in den Anblick ihres Lieblingstraurings versunken gewesen war, hatte mehr Emotionen gezeigt als die, die er an diesem Abend erlebt hatte.
Was war mit der sensiblen Romantikerin passiert, die sich ihm gezeigt hatte? In der Gegenwart seines Bruders war jedenfalls nichts davon zu sehen gewesen.
»Du wirst kommen oder ich werfe all meine Prinzipien über den Haufen und verdonnere meinen Vater dazu, deine Fälle selbst zu bearbeiten.« Carly strahlte ihren Verlobten an, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte.
»Deinen Vater?« Mike konnte sich die Nachfrage nicht verkneifen.
Sein Bruder schaute zu ihm herüber und murmelte: »Der Seniorpartner der Kanzlei.« Und beruflich passt auch alles bestens zusammen. Beinahe wäre Mike an seiner Cola erstickt.
Peter wandte sich wieder an Carly. »Ich werde da sein«, versprach er.
»Dann wäre ja alles geklärt.« Sie klappte ihr ledernes Notizbuch zu.
»Zur Anprobe des Smokings ganz sicher und vielleicht sogar, um die Blumen auszusuchen«, fuhr Pete fort, ein offensichtlich allerletzter Versuch, die Pläne zu seinen Gunsten zu ändern.
Als Carly eine Augenbraue hob, hielt Mike gespannt den Atem an.
»Einverstanden«, sagte sie dann.
Die Frau hatte anscheinend Übung darin, sich gnädig auf einen Kompromiss einzulassen.
Peter stand auf und auch Carly erhob sich aus ihrem Schneidersitz. Dann streckte sie die Arme über den Kopf, wobei sich ihre runden Brüste so verführerisch unter ihrem engen Spaghettitop abzeichneten, dass Mikes Glied sich versteifte und gegen den rauen Stoff seiner Jeans drückte. Er unterdrückte ein Stöhnen. Das würde eine verdammt lange Nacht werden.
»Zeit, dich wieder an die Arbeit gehen zu lassen«, sagte Carly derweil zu Peter.
Sein Bruder lächelte. »Du bist genau die richtige Frau für mich«, sagte er und legte eine Hand auf ihren Rücken.
Zu seinem Entsetzen konnte Mike sich kaum davon abhalten, gegen diesen intimen Kontakt zu protestieren. Abgesehen davon, dass Carly ihm gelegentlich eine Frage zu den Hochzeitsvorbereitungen gestellt hatte, hatte sie ihn den ganzen Abend nicht weiter beachtet. Und nachdem er an diesem Tag schon zweimal im Zentrum ihres Interesses gestanden hatte, fühlte er sich wider Willen ein wenig gekränkt.
»Das habt ihr gut gemacht, ihr zwei Turteltäubchen«, rief er den beiden zu.
Überrascht drehte Carly sich zu ihm um und sah ihn an. Dann fasste sie sich an den Pony. Ihre naive Verletzlichkeit rührte ihn.
»Danke, Mike.«
Dass sie sich nun auf ihn konzentrierte, erschien ihm vollkommen richtig ... trotz der Tatsache, dass sein Bruder neben ihr stand.
»Gute Nacht.« Carly senkte den Kopf und ging an ihm vorbei, ohne ihn noch einmal anzusehen.
Doch der Vanilleduft, der ihm schon am Nachmittag aufgefallen war, hüllte ihn ein und tröstete ihn. »Bis bald.«
Während Peter Carly zur Tür brachte, zappte Mike mit der Fernbedienung durch die Programme. Doch die gedämpften Stimmen der beiden und Carlys leises Lachen waren bis ins Wohnzimmer zu hören und lenkten ihn ab. Fluchend stellte er die Lautstärke höher. Ob sein Bruder sie zum Abschied küsste, hatte ihn nicht zu interessieren. Und wie ihre vollen Lippen sich anfühlten, ging ihn erst recht nichts an.
Mit einer heiseren Verwünschung, die er irgendwo auf seinen Reisen aufgeschnappt hatte, schaltete Mike den Fernseher aus, sprang auf und verzog sich ins Gästezimmer. Lieber schlug er sich mit seinen Albträumen herum, als zwei Verliebte beim Gute-Nacht-Sagen zu belauschen.
Kapitel 2
Ungläubig sah Mike sich um. Das Herrenmodengeschäft bot eigentlich kaum mehr als fünf Menschen Platz, dennoch schienen mindestens fünfzehn Kunden um die Aufmerksamkeit zweier gehetzter Verkäufer zu kämpfen. »Das glaube ich einfach nicht«, murmelte er.
»Ich schon.«
In dem überfüllten Laden musste er viel zu dicht neben Carly stehen und gegen ihren verlockenden Duft ankämpfen. Wer den Begriff Trauzeuge auch erfunden haben mochte, an ihn hatte er dabei bestimmt nicht gedacht. Bei diesem Andrang waren die Aussichten, schnell mit der Anprobe fertig zu werden, eher düster. Und obwohl er gern einen ganzen Vormittag mit Carly verbracht hätte, scheute er vor der Versuchung zurück. Pete würde sein Interesse an der zukünftigen Frau seines Bruders sicher nicht gefallen.
»Sieht so aus, als wollten alle Frauen im Juni heiraten «, meinte Mike.
Carly verdrehte die Augen. »Hast du mal genauer hingesehen? Die Mädels können noch keine zwanzig sein und die Hälfte dieser jungen Männer ist noch nicht trocken hinter den Ohren. Um diese Jahreszeit sind auch die Schulabschlussfeiern.« Sie setzte sich in einen freien Sessel in einer Ecke und faltete geduldig die Hände im Schoß.
Mike lehnte sich an die Wand neben ihr. »Da Peter sich hier mit uns treffen will und er normalerweise zu spät kommt, müssten wir wohl sowieso warten.«
»Ganz recht.«
»Würdest du dich wirklich bei deinem Vater über ihn beschweren?«, fragte Mike in dem Bemühen, dieses merkwürdige Paar zu verstehen. Er wusste, dass nur eine Gefahr für seine Karriere seinen zielstrebigen Bruder davon abhalten konnte, sich so in die Arbeit zu vertiefen, dass er alles um sich herum vergaß. Selbst wenn es dabei um seine eigene Hochzeit ging.
»Tja, wer weiß?« Seufzend sah Carly auf ihre Armbanduhr.
»Noch ist er nicht überfällig.«
»Habe ich ja auch gar nicht gesagt. Aber heute bin ich diejenige, die wenig Zeit hat.«
»Geht's um die Arbeit oder ums Vergnügen?«
»Beides. Bis zum späten Nachmittag muss ich meine Kolumne abgeben, und um vier habe ich einen Termin.«
»Pete hat mir etwas von einer Ratgeberkolumne und einer Art Beratertätigkeit erzählt.« Mehr als nur ein bisschen neugierig auf die vielen Facetten dieser Frau sah Mike zu Carly hinüber.
»Hmm. Ich gebe Jugendlichen in einer Zeitschrift Ratschläge und arbeite außerdem an einer weiterführenden Schule.«
»Als Sozialarbeiterin?«, fragte Mike.
»Psychologin.«
»Hört sich so an, als hättest du viel zu tun.«
Carly zuckte die Achseln. »Im Herbst ist es oft ziemlich hektisch, aber den Sommer habe ich meist für mich.«
»Also ein Job mit gewissen Vorteilen. Das gefällt mir.«
In Anbetracht der Tatsache, dass deine Arbeit dich um die ganze Welt führt, wundert mich das nicht«, erwiderte Carly mit einem Grinsen.
Auf der anderen Seite des Raumes erklang lautes Männergelächter, gefolgt von typisch weiblichem Kichern. »Was für Ratschläge gibst du denn solchen Jugendlichen? « Mike deutete auf die sorglosen Teenager.
Wann war er eigentlich das letzte Mal derart unbekümmert gewesen? Kaum hatte Mike sich diese Frage gestellt, erkannte er, wie unangemessen sie war. Schließlich tat er sein Möglichstes, um Beziehungen oder Verpflichtungen aus dem Wege zu gehen, trotzdem fühlte er sich in letzter Zeit irgendwie bedrückt.
»Sie kommen mit Fragen, die ihre aktuelle Lebenssituation betreffen. In manchen Fällen geht es dabei um Freundschaften, in anderen um Liebe.«
»Und dann antwortest du ihnen aus dem reichen Schatz deiner Erfahrungen?«
»Quatsch.« Ein kleidsames Rosa überzog Carlys Wangen.
Also eher aus der Sichtweise einer ebenso unerfahrenen jungen Frau? Plötzlich stellte Mike sich zahlreiche Fragen über Carly, Pete und ihre Beziehung und viele andere Dinge, die ihn gar nichts angingen.
»Zu dem Termin kann ich nicht zu spät kommen.« Offensichtlich wollte Carly gern das Thema wechseln.
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Für jeden Trauring im Fenster gab es ein Gegenstück - ebenfalls ein treffender Ausdruck für ihren Verlobten. Ihre eher partnerschaftliche Beziehung basierte nicht auf großer Leidenschaft, aber genau das machte die Verbindung perfekt. In einer idealen Welt mochten Liebe und Leidenschaft zusammenkommen und aus einem Pärchen ein Traumpaar machen - nicht nur ein gut eingespieltes Team. Aber Carly glaubte nicht mehr an Märchen. Dank der Verfehlungen ihres Vaters hatte sie gelernt, wie viel Schaden es anrichtete, sich von Gefühlen leiten zu lassen. Besser, man gab sich mit gegenseitiger Achtung und Fürsorge zufrieden, als es zu riskieren, dass man verletzt und enttäuscht wurde. Sie strich sich den frisch geschnittenen Pony aus der Stirn und achtete nicht weiter darauf, dass die Fransen ihr gleich wieder in die Augen fielen.
Ein Set aus reinem Platin und achtzehnkarätigem Gold sprang ihr ins Auge. Obwohl die zweifarbigen Ringe zu beiden Seiten von diamantenbesetzten Eheringen flankiert wurden, schaffte Carly es nicht, den Blick von dem schlichteren Paar loszureißen. »Perfekt«, sagte sie zu sich selbst. Zu schade, dass ihr Verlobter einen mit Edelsteinen besetzten Ring vorziehen würde, ein Exemplar, das etwas mehr hermachte.
»So wie dieser da«, sagte sie und klopfte mit dem Finger an das Fenster.
Doch sie hatte ebenso viel Verständnis für Peters Bedürfnis zu brillieren wie er für ihren Wunsch nach einer perfekten Hochzeit mit allem Drum und Dran. Das Leben war ein Geben und Nehmen, ermahnte sie sich, während sie mit ihrem Finger Muster auf das Schaufensterglas malte.
»Welche Frau brächte es wohl fertig, all diesen funkeln den Steinen zu widerstehen?«, raunte eine aufreizende, unbekannte Stimme ihr von hinten ins Ohr.
Die Frage reizte Carly. »Eine mit Charakter vielleicht? «, erwiderte sie, ohne sich umzudrehen, ganz auf den Ring ihrer Wahl konzentriert.
»Und Esprit«, fügte der Mann in bewunderndem Tonfall hinzu.
Carly legte die Hände hinter dem Rücken zusammen. »Sowie gutem Geschmack«, fuhr sie fort, denn sie fand Gefallen an dem lockeren Wortspiel.
Das tiefe, sonore Lachen, das sie damit provozierte, weckte ihr Interesse und hielt sie davon ab, sich für einen Ring zu entscheiden, der sie für immer an ihren zukünftigen Ehemann binden sollte.
»Man braucht Köpfchen, um sich nicht vom Glitzern der Diamanten blenden zu lassen«, sagte der Fremde beifällig in seiner melodischen Sprechweise.
»Mag schon sein.« Neugierig drehte Carly sich um, sodass ihr langer Rock um ihre bloßen Beine flog.
Ein lässig attraktiver Mann lächelte sie an. Sie sah ihm in die Augen. Sie waren haselnussbraun mit goldenen Flecken, die in der Nachmittagssonne funkelten, und sein sinnlicher Mund wurde von Lachfältchen gerahmt.
Die faszinierenden Augen musterten sie interessiert. »Eine Schönheit wie Sie fällt doch von ganz allein auf.«
Das unerwartete Kompliment ließ Carly erröten. »Danke«, murmelte sie.
»Das war bloß eine Feststellung.«
In ihrer Verlegenheit nickte Carly nur stumm. Dass sie sich auf den ersten Blick zu diesem Fremden hingezogen fühlte, widersprach jeglicher Logik. Durch sein langes, sonnengebleichtes helles Haar und die aufreizende Art, wie er sich auf den Absätzen seiner abgetragenen Stiefel wiegte, strahlte er etwas Wildes und Ungezähmtes aus, pure Männlichkeit gepaart mit unerschütterlichem Selbstbewusstsein. Verunsichert strich sie sich den Pony aus der Stirn. Eigentlich mochte sie es viel lieber, wenn Männer sanft und berechenbar waren. Doch dieser hier war alles andere als das.
»Also, welchen würden Sie sich aussuchen?«, fragte der Fremde und ließ den Blick einen Wimpernschlag zu lange auf ihr ruhen, bevor er ihn auf den Schmuck im Schaufenster richtete.
Dich, schoss es ihr ungewollt durch den Kopf. »Den da«, krächzte Carly rau und deutete mit nicht allzu ruhiger Hand auf die schlichteren Ringe.
»Hübsch«, murmelte der Mann anerkennend. »Damit wäre dann ja wohl geklärt, welche Art von Frau Sie sind, wenn Sie einen einfachen Goldreif den glitzernden Steinen vorziehen, oder?« Er lachte laut.
Carly gefiel der sonore Klang, obwohl sie dabei ein Schauer überlief. Sie schaute zum blauen Himmel auf. Ein einzelnes Wölkchen hatte sich vor die Sonne geschoben, aber sie war absolut sicher, dass dieser Mann und nicht eine vorübergehende Laune der Natur für ihr Schaudern und ihr plötzliches Unbehagen verantwortlich war.
»Die Art von Frau, die normalerweise vernünftig genug ist, nicht an einer Straßenecke in Manhattan zu stehen und sich mit einem völligen Fremden zu unterhalten«, erwiderte Carly. »Entschuldigen Sie mich.« Sie drehte sich auf dem Absatz um, um in das Geschäft zu gehen, wo sie sich hinter Zahlen verschanzen konnte.
»Carly, nun warte doch.«
Wie angewurzelt blieb Carly stehen und drehte sich dann ganz langsam wieder zu der schmeichelnden Stimme um. »Wer sind Sie?«, fragte sie misstrauisch.
»Mike Novack, Peters Bruder.« Der Mann hielt ihr seine braun gebrannte Hand hin.
Stumm verfluchte Carly ihren Verlobten für seinen Mangel an Sentimentalität. Auf dem einzigen Foto, das sie von Mike gesehen hatte, war er noch ein kleiner Junge gewesen. An ein neueres Bild von dem gut aussehenden Mann, der ihr gegenüberstand, hätte sie sich bestimmt erinnert.
»Peters Bruder.« Obwohl sie automatisch ihre Hand ausstreckte, war sie sehr bestürzt und böse auf sich. Mit einem Fremden zu flirten, während man dabei war, sich einen Ehering auszusuchen, war schon schlimm genug, doch ausgerechnet mit Peters unstetem Bruder zu schäkern, zeugte von einem deutlichen Mangel an Anstand. Ein Benehmen, das sie eher ihrem Vater zugetraut hätte als sich.
»Ja, es gibt mich noch.«
Als Mike ihr kräftig die Hand schüttelte, geriet Carly endgültig aus dem Gleichgewicht. In seinem festen Griff wurden ihre Finger ganz warm.
Dann wanderte diese Wärme den Arm hinauf zu ihren Brüsten und breitete sich schließlich im Magen aus. Sie musste ihre gesamte Willenskraft aufbieten, um diese unbekannten und erschreckenden Empfindungen zu ignorieren.
Rasch befreite sie ihre Hand aus Mikes Umklammerung und konzentrierte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Schaufenster. Ohne die Sonnenstrahlen hatten die Ringe viel von ihrem Glanz und ihrer Anziehungskraft eingebüßt. In dem vergeblichen Bemühen, die Wärme bei sich zu behalten, schlang sie die Arme um ihre Brust.
»Carly?«
Die Besorgnis in Mikes tiefer Stimme ließ sie die Zähne zusammenbeißen. »Offenbar hast du ein Foto von mir gesehen.«
Mike schmunzelte. »Ja, das auf Peters Schreibtisch.«
»Ich wünschte, von dir könnte ich das Gleiche sagen.«
»Ich bin der Fotograf in der Familie, nicht Pete.«
»Das habe ich schon gehört. Bist du auch der Aufreißer in der Familie?«
Irritiert kniff Mike die Augen zusammen. »Ich weiß, dass ich eine Weile außer Landes gewesen bin, aber seit wann gilt eine lockere Unterhaltung schon als Anmache? «
Mit einem kräftigen Atemstoß blies Carly die Ponyfransen aus den Augen. »Okay, ich habe überreagiert.« Aber nur weil dieser Mann ihr Herz zum Rasen und ihre Hände zum Schwitzen brachte. Aus ihrer Sicht betrachtet hatte sie sich schwer zusammengerissen.
Am liebsten wäre sie weit weggelaufen und hätte sich nicht nur vor Mike, sondern auch vor sich selbst versteckt. »Wollen wir noch einmal von vorn anfangen?«, fragte sie und streckte die Hand aus. Nur um zu beweisen, dass sie den Körperkontakt aushielt, nicht, weil sie sich nach den Gefühlen sehnte, die sein warmer Handschlag bei ihr hervorrief.
»Gerne.« Mike nahm ihre Hand und ließ sie gleich wieder los. Nicht, weil er es nicht aushielt, ihre weiche Haut zu berühren, sondern weil ihr schon seine Anwesenheit unangenehm zu sein schien. Auch wenn er nicht wusste, warum.
»Wo ist Peter?«, wollte Carly wissen.
»Bei der Arbeit. Er war schon auf dem Weg zur Tür, aber in letzter Minute ist noch etwas dazwischengekommen. Er hat mich vorgeschickt, damit ich ihn entschuldige. «
»Rechtsanwälte.« Carlys lässiges Achselzucken stand in krassem Gegensatz zu ihrem enttäuschten Blick. »Wenigstens hat er diesmal daran gedacht, mir jemanden zu schicken, der mir Bescheid sagt.« Sie lächelte. »Vielen Dank.«
»Gern geschehen«, erwiderte Mike. Die Frau vor ihm war eine echte Überraschung.
Als er seinen Bruder nach Carly gefragt hatte, hatte Peter mit einem geistesabwesenden: »Wir sind uns sehr ähnlich, und auch beruflich passt alles bestens zusammen « geantwortet. Für Mike war das gleichbedeutend gewesen mit: »Sie hat einen guten Charakter«, was für eine Frau nie eine tolle Empfehlung war. Danach hatte er ratsuchend das gerahmte Foto auf Peters Schreibtisch betrachtet. Doch die Schwarz-Weiß-Aufnahme wurde dieser Frau nicht gerecht.
Sie war vielleicht keine klassische Schönheit, aber sie hatte definitiv das gewisse Etwas, das einen Mann zweimal hinschauen ließ. Eine schwer zu beschreibende Ausstrahlung, die er gern im Bild festgehalten hätte. Hellbraunes Haar mit goldenen Strähnen rahmte ihr Gesicht und fiel in weichen Wellen auf ihre Schultern. Die dünnen Ponyfransen reichten bis kurz unter die Augenbrauen - wenn sie nicht gerade mit einer Hand weggestrichen wurden. Mike unterdrückte den Drang, sie beiseitezuschieben, nur um herauszufinden, ob ihr Haar sich wirklich so weich anfühlte, wie es aussah. Ihre Lippen waren ein wenig zu voll, doch ein Hauch rosafarbener Gloss verlieh ihnen einen verlockenden Schimmer.
Sein Bruder war ein verdammter Glückspilz. Nicht, dass Mike seine Freiheit jemals gegen die Zwänge einer Ehe eingetauscht hätte, aber er nahm sich vor, dafür zu sorgen, dass Peter klar wurde, was für ein Glück er hatte.
»Mike?«
Überrascht zuckte er zusammen, als Carly ihm auf die Schulter tippte.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Alles bestens.« Mike ließ die Schulter ein paarmal kreisen, um die verspannte Muskulatur zu lockern. Er fragte sich, ob die Wunde, die er sich kürzlich zugezogen hatte, wohl irgendwann abheilte, oder ob der Schmerz und die Narben ihn ständig an all das erinnern würden, was er hinter sich gelassen hatte und trotzdem eines Tages zu Ende bringen musste.
»Ich habe dich gerade gefragt, wie viel Zeit uns noch bleibt.« Abwartend zog Carly eine Braue in die Höhe.
»Ungefähr ...« Mike schaute auf seine Armbanduhr. »Fünf bis zehn Minuten, je nachdem, ob Pete sich schnell loseisen kann oder nicht. Wenn er um Viertel nach noch nicht hier ist, sollen wir davon ausgehen, dass er nicht mehr kommt. Dann wird er dich anrufen, um einen neuen Termin auszumachen.« Mike grinste. »Seine Worte, nicht meine.«
»Kein Problem. Das bin ich schon gewohnt.«
Furchtbar verständnisvoll für eine Frau, die darauf gewartet hat, mit ihrem Bräutigam die Trauringe auszusuchen, überlegte Mike. »Offenbar ist Pete im Privatleben immer noch so wie im Beruf.«
»Das kannst du ihm nicht vorwerfen.« Carlys Augen waren sehr schmal geworden und funkelten ärgerlich.
Dass sie ihren Verlobten verteidigte, war bewundernswert, auch wenn sein Bruder es nicht verdient hatte, dachte Mike.
»Die Arbeitszeiten von Rechtsanwälten lassen sich nicht genau planen, und ich habe Verständnis dafür.«
»Ich auch.« Aber wenn sein ehrgeiziger, arbeitsbesessener Bruder seine Braut öfter wegen Schriftsätzen und meckernden Mandanten vernachlässigte, brauchte er dringend eine Auffrischung seiner Libido.
»Er wollte doch kommen«, erklärte Carly.
»Ich habe nie etwas anderes behauptet. Ich habe nur gesagt, dass er sich nicht verändert hat.«
An Carlys Wange zuckte ein Muskel, dann gab sie sich geschlagen und lächelte. »Anscheinend kennst du deinen Bruder sehr gut.«
»Das scheint dich zu überraschen.«
»Es ist nur, dass er sich ständig Sorgen um dich macht, während du ...« Sie verstummte. Eine leichte Röte färbte ihre Wangen und verlieh ihnen einen rosigen Schimmer.
»Ihm selten ein Lebenszeichen gibst«, führte Mike den Satz für sie zu Ende. »Das liegt an meiner Umgebung. Die Orte, zu denen ich reise, müssen ohne den Luxus von Telefonzellen auskommen.«
»Aber ihr zwei steht euch trotzdem sehr nahe.«
»Wir sind Brüder.« Für Mike war damit alles gesagt. Er und Peter hatten außer einander niemanden auf der Welt, der sich um sie sorgte. Bis auf Carly. Sie war nun Peters Verlobte, und Mike musste endlich damit aufhören, sie anzustarren wie eine Erscheinung. Besser er konzentrierte sich auf die bevorstehende Hochzeit und die lebenslange Verbindung zwischen ihr und Pete.
»Wie lange wirst du in der Stadt bleiben?«, fragte Carly.
»Mindestens die vier Wochen bis zu eurer Hochzeit, und vielleicht sogar etwas länger. Dann mache ich mich wieder auf die Reise.« Ihm blieb keine andere Wahl. Er hatte mitten im Einsatz alles hingeworfen, weil er es zugelassen hatte, dass seine persönlichen Dämonen ihn vertrieben. Und er wusste verdammt gut, dass er sich ihnen stellen musste, damit er morgens wieder in den Spiegel sehen konnte. Mike Novack ließ keine Arbeit unerledigt, und er lief auch nicht vor seiner Vergangenheit weg.
Sobald er das Nomadenleben, das er so liebte, wieder aufgenommen hatte, würde sich alles normalisieren. Jedenfalls hoffte er das, dachte er mit einem Blick auf die Frau, die sein Bruder bald heiraten wollte.
»Möchtest du reingehen und dir die Ringe im Laden ansehen?«, fragte Mike.
»Ja, klar.« Doch Carlys Blick kehrte abermals zu dem Schmuck im Schaufenster zurück.
»Oder hast du schon welche gefunden, die dir gut gefallen? «, fragte er.
»Ja, die da.« Carly beugte sich vor und klopfte vorsichtig an die Scheibe, um ihm die einfachen zweifarbigen Ringe zu zeigen.
Also eine Frau mit Geschmack. Als Mike an ihr anfängliches Geplänkel zurückdachte, erkannte er, dass sie jedes Wort ernst gemeint hatte. »Sie sind wunderschön«, meinte er.
Carly drehte sich zu ihm um und sah ihn an. »Aber Peter wird sie nicht mögen.« Sie kniff die Lippen zusammen und auch ihr sanfter brauner Blick wurde traurig.
»Du hast recht. Die hauen einen nicht gerade vom Sockel. Pete hätte bestimmt lieber etwas, das ein klein wenig ... auffälliger ist.«
Carly seufzte.
»Du kennst ihn anscheinend auch sehr gut«, sagte Mike.
Carly lächelte. »Wir verstehen uns einfach.«
Wirklich? Mike hatte mit den beiden jeweils nur ein paar Minuten verbracht, trotzdem war er bereits ins Grübeln geraten. Und als er sah, wie sehnsüchtig Carly die Ringe im Fenster betrachtete, begann er, sich geradezu zu sorgen.
»Es wird langsam Zeit«, murmelte Carly. »Ich hoffe, er sieht ein, dass manche Dinge ihre Zeit brauchen, und wir müssen die Ringe noch aussuchen, anpassen und gravieren lassen. Danach sind noch die Smokings, das endgültige Blumenarrangement, die ...«
»Entspann dich. Solche Listen sind doch nicht in Stein gemeißelt. Es wird schon alles rechtzeitig fertig sein.«
»Nur, wenn wir uns an meinen Plan halten.«
Beschwichtigend legte Mike eine Hand auf Carlys nackte Schulter, und als er erkannte, dass er einen Fehler gemacht hatte, war es bereits zu spät. Die Haut unter seinen rauen Fingern war seidenweich. Er holte tief Luft. Diese Frau sah hinreißend aus und duftete nach Vanille - eine Kombination, der er kaum widerstehen konnte.
»Wir wär's, wenn wir eine Tasse Kaffee trinken gehen und über deinen Plan reden? Bestimmt wirst du etwas ruhiger, wenn du erkennst, dass alles klappen wird.«
Carlys hektischer Blick sprang zwischen seiner Hand, die immer noch auf ihrer Schulter ruhte, und den Ringen im Schaufenster hin und her. »Kaffee ist keine besonders gute Idee.«
Besser er nahm die Hand wieder weg. Angesichts seiner heftigen Reaktion auf Carly war es wohl am vernünftigsten, auf Distanz zu gehen. »Aber Zeit genug hätten wir«, murmelte Mike stattdessen.
»Es ist doch allgemein bekannt, dass Kaffee für die Gesundheit schädlich ist.« Carly ging auf die Straße zu. Ehe Mike begriff, was sie vorhatte, kam mit quietschenden Reifen ein gelbes Taxi zum Stehen.
»Danke, dass du gekommen bist. Wir sehen uns sicher bald wieder in dem ganzen Hochzeitstrubel.« Carlys ausweichendes Geplapper ließ vermuten, dass sie genau das Gegenteil hoffte. Doch ihre großen braunen Augen sagten etwas anderes.
»Verlass dich drauf«, erwiderte Mike schmunzelnd.
Kaum war Carly in das wartende Taxi eingestiegen, fädelte es sich auch schon wieder in den Verkehr ein.
»Willkommen in New York City.« Mike sah zu, wie die Bremslichter im Verkehrsgewühl verschwanden und ihm die Frau entführten.
Carly betrat das ihr wohlbekannte Foyer des Hauses, in dem Peter wohnte. Es roch nach frischer Farbe, und strahlend weiße Wände rahmten das viele Chrom und die Spiegel, was sie nicht sonderlich überraschte. Bei den hohen Mieten und Nebenkosten erwarteten die Bewohner des luxuriösen Gebäudes an der Upper East Side gute Service- und Instandhaltungsleistungen, und Peter war da keine Ausnahme.
»'n Abend, Miss Wexler.«
»Hallo, George«, sagte Carly zu dem grauhaarigen Pförtner, den sie schon genauso lange kannte wie Peter. »Ist er da?«, fragte sie.
»Vor ein paar Minuten an mir vorbeigestürmt.«
»Gut. Tun Sie mir einen Gefallen, kündigen Sie mich nicht an.« Vertraulich beugte sie sich über die schmale Theke. »Ich möchte ihn überraschen.«
Der schon etwas ältere Portier schmunzelte. »Kein Problem. Aber seien Sie brav«, erwiderte er freundlich.
»Das bin ich doch immer. Danke, George. Einen schönen Abend noch.« Winkend ging Carly auf die Aufzüge am Ende der Halle zu.
Unter normalen Umständen tat sie alles, um Peter nicht zu überraschen, doch in letzter Zeit war seine Terminabstimmung ausgesprochen unbefriedigend.
Die Schiebetüren glitten zur Seite, und Carly trat in den Aufzug. Seit ihrer Verlobung hatte sie den mit der Hochzeitsplanung befassten »Experten« freie Hand gelassen. In ihrer Rolle als Kolumnistin und Schulpsychologin gab sie zwar anderen Ratschläge, doch im Privatleben hatte sie kein Problem damit, sich von Menschen beraten zu lassen, die mehr Erfahrung hatten als sie ... insbesondere in diesem Fall. Sie hatte ein Versprechen gegeben und nicht die Absicht, den Eheschwur zweimal im Leben zu leisten.
Sie stieg aus dem Aufzug, ging durch den vertrauten Flur und blieb vor Peters Wohnung stehen. In einem plötzlichen Anflug von Panik wünschte sie sich, sie hätte doch vorher angerufen.
Zu spät. Leise klopfte sie an die Tür.
»Komme schon.« Auf den gedämpften Ruf folgten schwere Schritte und dann das Rasseln der Kette.
»Ihr habt aber lange gebraucht, ich sterbe vor Hunger. « Die Tür wurde weit aufgerissen. »Anscheinend bist du nicht der Pizzabote.«
Carly schluckte mühsam. »Und du nicht Peter.« Sie hatte nicht damit gerechnet, ohne Vorwarnung Mike gegenüberzustehen. Genauso wenig wie sie damit gerechnet hatte, dass der Adrenalinstoß beim Wiedersehen so heftig sein würde.
»Gott sei Dank nicht. Ich bin viel entspannter und wesentlich hübscher.«
»Und ganz schön eingebildet«, erwiderte Carly und unterdrückte ein Grinsen.
»Also zu wenig Charakter?«, fragte Mike.
Eher zu viel, dachte Carly, als sie wieder in das lockere Geplänkel vom Nachmittag zurückfielen.
Mike winkte sie in die Wohnung, und sie ging an ihm vorbei. Der sinnlich herbe Duft seines Aftershaves wirkte so erregend, dass sie diesen Mann einfach nicht ignorieren konnte. Als die Wohnungstür mit einem dumpfen Klacken hinter ihr ins Schloss fiel, drehte Carly sich zu ihm um und stellte fest, dass er mit der bloßen Schulter an der Wand lehnte - einer ausgesprochen muskulösen bloßen Schulter. Wieder überlief sie ein jäher Schauer.
»Hast du es dir mit der Tasse Kaffee anders überlegt?«, fragte Mike mit einem vielsagenden Grinsen.
Carly fummelte an ihrem Pony herum. »Daran habe ich gar nicht mehr gedacht.« Aber das war gelogen. In Wahrheit hatte sie den Rest des Tages damit verbracht, sich jeden Gedanken an Mike Novack zu verbieten.
Doch als er nun auf sie zukam, musste sie einsehen, dass das ein sinnloses Unterfangen gewesen war. »Wie deprimierend«, erwiderte Mike. »Aber du kannst dein mangelndes Interesse wiedergutmachen, indem du meine Pizza mit mir teilst.« Er ließ sie nicht aus den Augen.
Sein goldener Blick wirkte geradezu hypnotisch und gab ihr das Gefühl, in die Enge getrieben zu werden. Gespannt und etwas nervös wartete sie auf das Prickeln, das sich bei ihren Wortgefechten einstellte.
Doch Mike tippte ihr nur mit einem Finger auf die Nasenspitze. »Ich hasse es nämlich, allein zu essen.«
»Ich wette, das kommt nicht so oft vor«, murmelte Carly.
Ein leises Hüsteln erinnerte sie schlagartig wieder daran, wo sie war. Mit einer Mischung aus Schuldbewusstsein und Bedauern wandte sie sich von Mike ab.
»Was für eine Überraschung«, sagte Peter, der sie beide aus einiger Distanz beobachtete.
»Sicher keine unwillkommene.« Mike ging an Carly vorbei und setzte sich auf das schicke Ledersofa im Wohnzimmer. Dann legte er die Füße auf den gläsernen Couchtisch und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Natürlich nicht«, sagte Peter lächelnd und streckte eine Hand nach ihr aus. Carly ging zu ihm und versuchte, nicht auf Mikes bohrenden Blick zu achten. Ihr Verlobter war frisch geduscht und roch nach dem vertrauten Shampoo. Er legte einen Arm um ihre Taille und zog sie an sich. »Carly ist mir natürlich immer willkommen. Dieser Besuch war nur nicht geplant.«
Seine Braut grinste und knuffte ihn in die Rippen. »Da ich mit meinem Plan nicht weiterkomme, habe ich beschlossen, dich zu überfallen. Schau.« Sie klopfte auf ihre Umhängetasche, aus der Listen und Artikel aus den neuesten Hochzeitszeitschriften quollen.
Peter stöhnte vernehmlich. Dann ließ er sich mit sichtlich genervter Miene und leise über neurotische Frauen schimpfend von Carly zum Sofa führen und neben Mike in die Polster drücken. Seine Braut kannte ihn gut genug, um nicht beleidigt zu sein, denn vor ihrer Verlobung waren sie lange befreundet gewesen. Peter hatte selbst dann noch Geduld mit ihr, wenn sie ihn mit endlosen Listen und Artikeln schier zur Verzweiflung trieb. Schließlich verfolgten sie beide das gleiche Ziel - eine Hochzeit mit allem Drum und Dran.
Was für Carly auch ein gesichertes, ruhiges Leben einschloss. Peter dagegen ging es wohl mehr um den kräftigen Schub, den sein Aufstieg zum Teilhaber durch diese Verbindung bekam. Doch letztendlich wollten sie beide dasselbe, selbst wenn ihre Träume ein klein wenig voneinander abwichen.
»Bist du bereit?« Sie hockte sich neben ihrem Verlobten auf den Boden.
»Gib's ihm«, stichelte Mike.
Wild entschlossen, die Gefühle, die dieser Mann in ihr auslöste, zu ignorieren, kicherte Carly laut. Als sie die beiden Brüder nebeneinander sitzen sah, entdeckte sie einige Ähnlichkeiten zwischen ihnen. Beide hatten hellbraunes Haar, nur dass Peters kürzlich geschnitten worden war und keine sonnengebleichten goldenen Strähnen aufwies. Auch die Profile der beiden glichen sich, auch wenn Mikes gebräuntes Gesicht durch den häufigen Aufenthalt in der freien Natur frischer wirkte. Dafür hatte Peter eine kultivierte Ausstrahlung, einen Schliff, für den er hart gearbeitet hatte. Jedenfalls sahen beide Männer sehr gut aus, und sie verbot es sich, weitere Vergleiche anzustellen.
»Können wir es kurz machen?«, fragte Peter. »Ich muss noch einen Antrag formulieren, der bis morgen früh um neun eingereicht sein soll.«
»Pete ...«
»Sicher«, schnitt Carly Mike das Wort ab. Er wusste nicht genug vom Job seines Bruders, um zu verstehen, welche Anforderungen er stellte, während sie als Tochter eines prominenten Anwalts damit aufgewachsen war. »Hör mir einfach nur eine Weile zu«, sagte sie und begann, verschiedene Dinge aus ihrer Tasche zu ziehen.
Kurz darauf waren Planer, Listen und Bilder über den ganzen Tisch verstreut, denn trotz Peters eher symbolischer Proteste war ihm durchaus bewusst, dass ein paar Stunden an diesem Abend ihnen im Weiteren viel Ärger ersparen würden.
»Siehst du, was ich aushalten muss?«, quengelte Peter. Doch Carly hörte den amüsierten Unterton in seiner Stimme.
Mike sah zu Carly hinüber. »Das Leben ist hart, Pete. Erinner mich daran, mich zu beschweren, wenn das nächste Mal eine wunderschöne Frau einige Stunden meine uneingeschränkte Aufmerksamkeit verlangt.«
»Selbst wenn sie ein Schoßhündchen aus dir machen will?« Peter hielt ein Hochglanzfoto von einem Brautpaar in die Höhe.
Die beiden Brüder prusteten los und erlaubten es Carly, das unsichtbare Band zwischen ihnen zu sehen, an das sie bislang nicht so recht geglaubt hatte.
»In dem Fall«, erwiderte Mike, »würde ich mich mit dem nächsten Flieger in Sicherheit bringen.«
Carlys Magen zog sich schmerzhaft zusammen, eine Reaktion, die sie auf ihren quälenden Hunger schob - und auf ihr plötzliches Verlangen ... nach Essen.
Mike gähnte unterdrückt; er war froh, dass die Hochzeitsplanerei endlich zu Ende ging.
»Also um vierzehn Uhr am Freitag im Herrenmodengeschäft und um zehn am Samstag bei der Floristin?«, erkundigte sich Peter.
Carly schaute in ihren Terminkalender und nickte bestätigend. »Keine Entschuldigungen, keine Verspätungen. « Sie schaute auf und sah ihren Verlobten an.
»Vorausgesetzt, dass nichts Außergewöhnliches dazwischenkommt. «
»Bestimmt nicht.«
Mike klappte die Pizzaschachtel wieder zu. Obwohl Pete und Carly bei ihm gewesen waren, hatte er allein gegessen, während die beiden beinahe zwei Stunden lang über die letzten Hochzeitsarrangements verhandelt hatten. Wenn man dem Paar, das vor ihm saß, Glauben schenken konnte, hing eine perfekte Hochzeit weniger von Gefühlen als von einem Haufen Kleinigkeiten ab. Die Carly Wexler, die noch vor ein paar Stunden in den Anblick ihres Lieblingstraurings versunken gewesen war, hatte mehr Emotionen gezeigt als die, die er an diesem Abend erlebt hatte.
Was war mit der sensiblen Romantikerin passiert, die sich ihm gezeigt hatte? In der Gegenwart seines Bruders war jedenfalls nichts davon zu sehen gewesen.
»Du wirst kommen oder ich werfe all meine Prinzipien über den Haufen und verdonnere meinen Vater dazu, deine Fälle selbst zu bearbeiten.« Carly strahlte ihren Verlobten an, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte.
»Deinen Vater?« Mike konnte sich die Nachfrage nicht verkneifen.
Sein Bruder schaute zu ihm herüber und murmelte: »Der Seniorpartner der Kanzlei.« Und beruflich passt auch alles bestens zusammen. Beinahe wäre Mike an seiner Cola erstickt.
Peter wandte sich wieder an Carly. »Ich werde da sein«, versprach er.
»Dann wäre ja alles geklärt.« Sie klappte ihr ledernes Notizbuch zu.
»Zur Anprobe des Smokings ganz sicher und vielleicht sogar, um die Blumen auszusuchen«, fuhr Pete fort, ein offensichtlich allerletzter Versuch, die Pläne zu seinen Gunsten zu ändern.
Als Carly eine Augenbraue hob, hielt Mike gespannt den Atem an.
»Einverstanden«, sagte sie dann.
Die Frau hatte anscheinend Übung darin, sich gnädig auf einen Kompromiss einzulassen.
Peter stand auf und auch Carly erhob sich aus ihrem Schneidersitz. Dann streckte sie die Arme über den Kopf, wobei sich ihre runden Brüste so verführerisch unter ihrem engen Spaghettitop abzeichneten, dass Mikes Glied sich versteifte und gegen den rauen Stoff seiner Jeans drückte. Er unterdrückte ein Stöhnen. Das würde eine verdammt lange Nacht werden.
»Zeit, dich wieder an die Arbeit gehen zu lassen«, sagte Carly derweil zu Peter.
Sein Bruder lächelte. »Du bist genau die richtige Frau für mich«, sagte er und legte eine Hand auf ihren Rücken.
Zu seinem Entsetzen konnte Mike sich kaum davon abhalten, gegen diesen intimen Kontakt zu protestieren. Abgesehen davon, dass Carly ihm gelegentlich eine Frage zu den Hochzeitsvorbereitungen gestellt hatte, hatte sie ihn den ganzen Abend nicht weiter beachtet. Und nachdem er an diesem Tag schon zweimal im Zentrum ihres Interesses gestanden hatte, fühlte er sich wider Willen ein wenig gekränkt.
»Das habt ihr gut gemacht, ihr zwei Turteltäubchen«, rief er den beiden zu.
Überrascht drehte Carly sich zu ihm um und sah ihn an. Dann fasste sie sich an den Pony. Ihre naive Verletzlichkeit rührte ihn.
»Danke, Mike.«
Dass sie sich nun auf ihn konzentrierte, erschien ihm vollkommen richtig ... trotz der Tatsache, dass sein Bruder neben ihr stand.
»Gute Nacht.« Carly senkte den Kopf und ging an ihm vorbei, ohne ihn noch einmal anzusehen.
Doch der Vanilleduft, der ihm schon am Nachmittag aufgefallen war, hüllte ihn ein und tröstete ihn. »Bis bald.«
Während Peter Carly zur Tür brachte, zappte Mike mit der Fernbedienung durch die Programme. Doch die gedämpften Stimmen der beiden und Carlys leises Lachen waren bis ins Wohnzimmer zu hören und lenkten ihn ab. Fluchend stellte er die Lautstärke höher. Ob sein Bruder sie zum Abschied küsste, hatte ihn nicht zu interessieren. Und wie ihre vollen Lippen sich anfühlten, ging ihn erst recht nichts an.
Mit einer heiseren Verwünschung, die er irgendwo auf seinen Reisen aufgeschnappt hatte, schaltete Mike den Fernseher aus, sprang auf und verzog sich ins Gästezimmer. Lieber schlug er sich mit seinen Albträumen herum, als zwei Verliebte beim Gute-Nacht-Sagen zu belauschen.
Kapitel 2
Ungläubig sah Mike sich um. Das Herrenmodengeschäft bot eigentlich kaum mehr als fünf Menschen Platz, dennoch schienen mindestens fünfzehn Kunden um die Aufmerksamkeit zweier gehetzter Verkäufer zu kämpfen. »Das glaube ich einfach nicht«, murmelte er.
»Ich schon.«
In dem überfüllten Laden musste er viel zu dicht neben Carly stehen und gegen ihren verlockenden Duft ankämpfen. Wer den Begriff Trauzeuge auch erfunden haben mochte, an ihn hatte er dabei bestimmt nicht gedacht. Bei diesem Andrang waren die Aussichten, schnell mit der Anprobe fertig zu werden, eher düster. Und obwohl er gern einen ganzen Vormittag mit Carly verbracht hätte, scheute er vor der Versuchung zurück. Pete würde sein Interesse an der zukünftigen Frau seines Bruders sicher nicht gefallen.
»Sieht so aus, als wollten alle Frauen im Juni heiraten «, meinte Mike.
Carly verdrehte die Augen. »Hast du mal genauer hingesehen? Die Mädels können noch keine zwanzig sein und die Hälfte dieser jungen Männer ist noch nicht trocken hinter den Ohren. Um diese Jahreszeit sind auch die Schulabschlussfeiern.« Sie setzte sich in einen freien Sessel in einer Ecke und faltete geduldig die Hände im Schoß.
Mike lehnte sich an die Wand neben ihr. »Da Peter sich hier mit uns treffen will und er normalerweise zu spät kommt, müssten wir wohl sowieso warten.«
»Ganz recht.«
»Würdest du dich wirklich bei deinem Vater über ihn beschweren?«, fragte Mike in dem Bemühen, dieses merkwürdige Paar zu verstehen. Er wusste, dass nur eine Gefahr für seine Karriere seinen zielstrebigen Bruder davon abhalten konnte, sich so in die Arbeit zu vertiefen, dass er alles um sich herum vergaß. Selbst wenn es dabei um seine eigene Hochzeit ging.
»Tja, wer weiß?« Seufzend sah Carly auf ihre Armbanduhr.
»Noch ist er nicht überfällig.«
»Habe ich ja auch gar nicht gesagt. Aber heute bin ich diejenige, die wenig Zeit hat.«
»Geht's um die Arbeit oder ums Vergnügen?«
»Beides. Bis zum späten Nachmittag muss ich meine Kolumne abgeben, und um vier habe ich einen Termin.«
»Pete hat mir etwas von einer Ratgeberkolumne und einer Art Beratertätigkeit erzählt.« Mehr als nur ein bisschen neugierig auf die vielen Facetten dieser Frau sah Mike zu Carly hinüber.
»Hmm. Ich gebe Jugendlichen in einer Zeitschrift Ratschläge und arbeite außerdem an einer weiterführenden Schule.«
»Als Sozialarbeiterin?«, fragte Mike.
»Psychologin.«
»Hört sich so an, als hättest du viel zu tun.«
Carly zuckte die Achseln. »Im Herbst ist es oft ziemlich hektisch, aber den Sommer habe ich meist für mich.«
»Also ein Job mit gewissen Vorteilen. Das gefällt mir.«
In Anbetracht der Tatsache, dass deine Arbeit dich um die ganze Welt führt, wundert mich das nicht«, erwiderte Carly mit einem Grinsen.
Auf der anderen Seite des Raumes erklang lautes Männergelächter, gefolgt von typisch weiblichem Kichern. »Was für Ratschläge gibst du denn solchen Jugendlichen? « Mike deutete auf die sorglosen Teenager.
Wann war er eigentlich das letzte Mal derart unbekümmert gewesen? Kaum hatte Mike sich diese Frage gestellt, erkannte er, wie unangemessen sie war. Schließlich tat er sein Möglichstes, um Beziehungen oder Verpflichtungen aus dem Wege zu gehen, trotzdem fühlte er sich in letzter Zeit irgendwie bedrückt.
»Sie kommen mit Fragen, die ihre aktuelle Lebenssituation betreffen. In manchen Fällen geht es dabei um Freundschaften, in anderen um Liebe.«
»Und dann antwortest du ihnen aus dem reichen Schatz deiner Erfahrungen?«
»Quatsch.« Ein kleidsames Rosa überzog Carlys Wangen.
Also eher aus der Sichtweise einer ebenso unerfahrenen jungen Frau? Plötzlich stellte Mike sich zahlreiche Fragen über Carly, Pete und ihre Beziehung und viele andere Dinge, die ihn gar nichts angingen.
»Zu dem Termin kann ich nicht zu spät kommen.« Offensichtlich wollte Carly gern das Thema wechseln.
Copyright © 2013 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München in der Verlagsgruppe Random House GmbH.
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Autoren-Porträt von Carly Phillips
Phillips, CarlyCarly Phillips, eine New York Times- und USA Today-Bestsellerautorin, hat über 50 zeitgenössische, sexy Liebesromane geschrieben, mit heissen Männern, starken Frauen und den emotional fesselnden Geschichten, die ihre Leser inzwischen erwarten und lieben. Carly ist glücklich verheiratet mit ihrer Collegeliebe, hat zwei fast erwachsene Töchter und drei verrückte Hunde, die auf ihrer Facebook Fan Page und ihrer Website zu bewundern sind. Carly liebt die sozialen Medien und kommuniziert ständig mit ihren Lesern.
Bibliographische Angaben
- Autor: Carly Phillips
- 2013, 304 Seiten, Masse: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Sander, Ruth
- Übersetzer: Ruth Sander
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453409612
- ISBN-13: 9783453409613
- Erscheinungsdatum: 12.08.2013
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