Niedertracht
Alpenkrimi
In der Gipfelwand hoch über einem idyllischen Kurort findet die Bergwacht eine Leiche. Wie kam der Mann ohne Kletterausrüstung überhaupt dort hin? Kommissar Jennerwein ermittelt mit seinem Team zwischen Höhenangst und Almrausch,...
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Produktinformationen zu „Niedertracht “
In der Gipfelwand hoch über einem idyllischen Kurort findet die Bergwacht eine Leiche. Wie kam der Mann ohne Kletterausrüstung überhaupt dort hin? Kommissar Jennerwein ermittelt mit seinem Team zwischen Höhenangst und Almrausch, während sich die Einheimischen in düsteren Vorhersagen über weitere Opfer ergehen. Was hat derweil die merkwürdige Mückenplage in Gipfelnähe zu bedeuten, warum besitzt ein grantiger Imker auf einmal viel Geld, und wieso hilft ein Mafioso, ein Kind aus Bergnot zu retten? Jennerwein hat einen steilen Weg vor sich.
SPIEGEL Bestseller!
"Maurers kriminalistische Energie, sein wunderlicher Wortwitz und seine detailversessene Beschreibungsgabe bescheren dem Leser skurrilen Lesespaß."
BUCHJOURNAL
Lese-Probe zu „Niedertracht “
Niedertracht von Jörg MaurerBasislager
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»Zu wem soll ich andauernd hinübergeglotzt haben?«
»Da fragst du noch. Zu der Dunkelhaarigen mit den Spaghettiträgern, zwei Tische weiter.«
»Wer, ich?«
»Wer sonst! Alle paar Sekunden hast du einen Grund gefunden, dich umzudrehen. Einmal hast du die Speisetafel an der Wand studiert, dann hast du nach dem Ober gerufen, am Ende hast du nachgesehen, woher es so zieht.«
»Ich habe mich ja extra so hingesetzt, dass ich den restlichen Raum im Rücken hatte.«
»Und warum?«
»Weil ich schon wusste, wie du reagierst.«
»Ah! Du hast sie also doch gesehen.«
»Ja logisch habe ich sie gesehen. Ich musste doch an ihr vorbei, als ich reinkam.«
»Dann hast du dich also extra mit dem Rücken zu ihr gesetzt, weil du sie sonst dauernd angeglotzt hättest!«
»Nein, weil ich dir gegenüber sitzen wollte.«
»Jetzt bin ich auch noch schuld! Wenn du wirklich kein Interesse an ihr gehabt hättest, dann hättest du dich ganz locker neben mich gesetzt, ab und zu in ihre Richtung gesehen und sie nicht angeglotzt!«
»Wie glotzt man denn jemanden nicht an?«
»Jetzt reicht's mir aber. Du drehst mir jedes Wort im Mund herum!«
Beim letzten Satz war sie laut geworden. Er hatte den Klang ihrer Stimme noch stundenlang im Ohr gehabt, selbst als er schon im Zug saß. Er war mit dem Taxi zum Hauptbahnhof gefahren, hatte eine Fahrkarte gekauft und war in einen Zug gestiegen, der ihn Richtung Süden, Richtung Sonne bringen sollte. Ein Glück, dass er selbstständig war, sein kleiner Einmannbetrieb würde auch ein paar Tage ohne ihn auskommen. Niemand würde ihn vermissen. Er konnte sich den Luxus leisten, alles spontan hinzuwerfen und ein paar Tage Auszeit zu nehmen.
»Wenn du wieder so anfängst«, hatte er gesagt, »dann brauchen wir ja gar nicht mehr weiterzureden.«
»Typisch, ganz typisch! Sobald es Schwierigkeiten gibt -« Er war aufgestanden und zur Tür gegangen.
»Ja, hau nur ab, verschwinde!«, hatte sie ihm quer durchs Lokal nachgerufen. »Und lass dich nie wieder bei mir blicken!«
In der Höhe von Bordesholm wurde der Nachhall ihres Streits leiser, nach Neumünster war sein Zorn schon halbwegs verraucht, kurz vor Fulda musste er schon darüber schmunzeln. In München konnte er sich gar nicht mehr so richtig an den Grund für die Auseinandersetzung erinnern. Es war eben einer ihrer zyklisch auftretenden Eifersuchtsanfälle gewesen. Als er die Berge des Voralpenlandes durch das Zugfenster sah, stieg er aus und beschloss, eine Nacht in diesem Kurort mit dem sperrigen Doppelnamen zu verbringen, um am nächsten Tag weiterzureisen. Oder vielleicht zurückzufahren. Er betrat eine Pension, schrieb sich unter falschem Namen und falscher Adresse ein, das fand er prickelnd. Er checkte am nächsten Morgen wieder aus, Auf Wiedersehen, Herr Zimmermann, sagte die Wirtin freundlich. Wie, Zimmermann? Ach so, ja natürlich. Jetzt fühlte er sich wie ein verwegener Globetrotter. Er schlenderte noch ein Weilchen im Kurort herum, denn der nächste Zug in den Süden fuhr erst in ein paar Stunden. Herrlich klares Wetter herrschte in diesem Talkessel, und die Berge standen da wie junge Hunde, die spielen wollten. Im Modegeschäft Berndanner & Söhne kaufte er sich eine völlig überteuerte, aber feste Wetterjacke und fuhr mit der Seilbahn hoch auf einen der Berge. Hupfleitenjoch, den Namen fand er lustig. Aber was zum Teufel war eigentlich ein Spaghettiträger? Als er oben bei der Bergstation angekommen war, spazierte er, den Schildern folgend, zu einem Aussichtspunkt. Die Luft war merklich dünner hier in dieser Höhe, das war ungewohnt für ihn, er atmete schwerer. Die Sonne stach auf ihn ein, und der Föhn streckte schon seine knochigen Finger nach ihm aus. Etwas benommen setzte er sich auf einen der großen Steine.
»Hallo, ist Ihnen nicht gut?«
»Doch, doch, ich bin bloß ein bisschen zu lange in der Sonne gewesen.«
»Kommen Sie mit mir, da drüben gibt es eine bequeme Bank. Da sitzt meine Frau, die hat Sonnencreme dabei. Sie müssen unbedingt etwas trinken. Das hilft am besten bei Sonnenstich. Kommen Sie.«
Er stand auf und ging mit dem Fremden mit. Sie stolperten über ein kleines Geröllfeld.
»Sind Sie das erste Mal hier in den Bergen?«
Zunächst stützte ihn der großgewachsene Fremde noch, als der Weg wieder ebener wurde, ließ er locker.
»Ich glaube, dort drüben ist meine Frau.«
Das Plateau brach ab, kalter Wind pfiff ihm ins Gesicht. Er sah weit und breit keine Frau. Er sah überhaupt keinen Menschen mehr, der hilfsbereite Fremde war hinter ihm geblieben. Er blickte sich um. Eine Faust kam auf ihn zugeflogen. Der Schlag war schnell, hart und humorlos.
»Kennen Sie diesen Mann? Hat er hier bei Ihnen eine Fahrkarte gekauft?«
Gleich nachdem er das Lokal verlassen hatte, bereute sie es schon wieder, ihren Freund so angeschrien zu haben. Doch sie hatte ihren Stolz, sie wartete auf seinen Anruf. Als er sich am Abend des nächsten Tages immer noch nicht gemeldet hatte, begann sie, sich Sorgen zu machen. Sie fragte bei seinen Freunden, niemand wusste, wo er war. Er ging nicht ans Telefon. Die Polizei konnte ihr auch nicht helfen. Ist so etwas schon öfter vorgekommen? Aber sicher, schon ein paar Mal. Ja, dann! Ja, dann? - Was soll das heißen? Der Fall wurde aufgenommen und zu den Akten gelegt. Am Morgen des nächsten Tages beschloss sie, zu handeln und Nachforschungen auf eigene Faust anzustellen. Er war ein Fluchttyp, ein Pferdemensch, er war Problemen schon immer gerne aus dem Weg gegangen. Da er kein Auto besaß und nicht gerne flog, hielt sie es für am wahrscheinlichsten, dass er in einen Zug gestiegen und irgendwohin gefahren war. Irgendwohin. Er war einer von denen, die irgendwohin fahren.
»Kennen Sie diesen Mann?«
Nein, warum, wer ist das, kenne ich nicht. Endlich betrachtete ein Schalterbeamter das Foto genauer:
»Ja, der hat hier eine Fahrkarte gekauft. An den erinnere ich mich gut. Der war dermaßen unfreundlich, er hat mir das Geld auf den Tresen geknallt - ich habe sofort auf einen Beziehungsstreit getippt. Man lernt die Menschen kennen in meinem Beruf! Geschichten könnte ich Ihnen da erzählen! Aus seinen Augen sprühten direkt die Funken, so wütend war er. Seine Freundin muss ihn bis zur Weißglut geärgert haben. Ist ja eigentlich immer dasselbe -«
»Wissen Sie, wohin er gefahren ist?«
»Er wollte nach Messina, ich habe ihm eine gute Verbindung herausgesucht. Der Zug wäre am nächsten Morgen losgefahren, mit nur viermal umsteigen - das ist doch eine Spitzenleistung der Deutschen Bundesbahn! Er aber wollte unbedingt den nächstmöglichen Zug nach Messina. Gut, sage ich, der braucht halt dann über sechsunddreißig Stunden, man muss zehnmal umsteigen - aber bitte, der Kunde ist König, auch wenn es ein zorniger König ist.«
Nach Messina also. Wieso ausgerechnet dorthin? Sie ließ sich die genaue Verbindung mit allen Zwischenstopps ausdrucken. Sie konnte sich vorstellen, dass sein Zorn in der Höhe von Flintbek, spätestens aber in Bordesholm schon halbwegs verraucht war. Sie nahm den nächsten Zug nach Bordesholm und durchkämmte den ganzen Bahnhofsbereich. Den Taxistand, die Imbissbude und den Blumenladen (wer weiß!), die Fahrkartenschalter.
»Kennen Sie diesen Mann?«
Nein, nie gesehen, kenn ich nicht, wer soll das sein. Vielleicht war ja sein Zorn in Bordesholm oder Einfeld noch nicht verflogen, vielleicht glühte er auch noch in Neumünster oder am Ende bis nach Hamburg. Wie weit reichte die eigensinnige Rage eines temperamentvollen Mannes? Vielleicht sogar bis Würzburg? Sie begann noch einmal von vorn.
1
jädi-ü-ho jodi-ü-hö jädi-ü-hö hollaradi ri-hö
Jodler aus dem Werdenfelser Land
Die beiden Wanderer bogen um die Kurve und blieben stehen. Sie waren jetzt auf zweieinhalbtausend Meter Höhe, die Luft war merklich kühler als unten im Kurort, wo die Touristen schon in kurzen Hosen von Eisdiele zu Eisdiele schlenderten. Hier oben wurden die beiden Wanderer von bösen Winden attackiert. In der Ferne bäumten sich zwei unförmige Gebirgskegel mit windschiefen, gezackten Gipfeln auf: links die Gatterlköpfe, rechts die Plattspitzen.
»Was sind denn das für Berge?«, fragte der eine der Wanderer.
»Links, das ist der Brunntalstein, rechts der Blassenkopf«, entgegnete der andere.
»Ist das rechts nicht eher das Schroffkogeleck?«
»Das Schroffkogeleck auf keinen Fall.«
»Es muss das Schroffkogeleck sein. Der Blassenkopf ist doch ganz woanders.«
Der Blassenkopf lag wirklich ganz woanders. Der Brunntalstein und das Schroffkogeleck aber auch.
Die beiden Wanderer sahen sich um. Notgedrungen
mussten sie den Weg räumen. Kopfschüttelnd machten sie
Platz für ein eiliges Trio, zwei Männer und eine Frau, die durch das Karstgelände marschierten, als wäre es ein Polizeieinsatz.
»Idioten«, sagte der eine der Wanderer.
Es war ein Polizeieinsatz. Drei Mitglieder der Mordkommission IV, nämlich Hauptkommissar Hubertus Jennerwein, die Polizeipsychologin Dr. Maria Schmalfuß und der Polizeiobermeister Johann Ostler, waren, wie die vielen Touristen auch, mit der Gondel auf den Zugspitzgipfel, dann mit der Gletscherseilbahn aufs Platt gefahren, den Rest der Strecke mussten sie zu Fuß gehen. Sie waren von der Bergwacht alarmiert worden.
»Da stimmt was net!«, hatte der Bergwachtler gesagt.
»Es ist wirklich ein ungewöhnlicher Fundort«, schrie Polizeiobermeister Ostler gegen den jaulenden Wind an, der jetzt aufkam. Kommissar Jennerwein sprang auf einen unförmigen, riesigen Stein, er bot Maria Schmalfuß die Hand. Hier auf dem Zugspitzplatt taten sich rechts und links schon einmal Spalten mit zehn, zwanzig Meter Tiefe auf. Es war Ende Juni, und nur noch einzelne schmutzige Schneerestchen waren von dem einst prächtigen Gletscher übrig geblieben. Das karstige Gelände war jedoch ausgesprochen belebt, immer wieder mussten ihnen Wanderer verschiedenster Leistungsstufen den Weg frei machen: Jogger, Gletscherforscher, Nordic Walker, Wandernadelsammler, Geocacher und andere Schatzsucher, Hardcore-Trekker mit unbezahlbarer Bergausrüstung und Japaner in Halbschühchen spritzten links und rechts weg. Manche schimpften, dass man selbst hier oben auf dem Schneeferner keine Ruhe hätte vor den neureichen Rabauken, die sich unten im Tal eine Zweitwohnung gekauft hatten und sich hier oben mit riesigen Walkie-Talkies wichtigmachten.
»Hier war früher alles meterhoch mit Eis bedeckt«, rief Ostler und sprang zum nächsten Stein.
»Wie eigentlich ganz Bayern«, schrie Jennerwein zurück. Der Scherz wurde ihm von einem Windstoß weggerissen, der aus dem Tschechischen herübergekommen war, einem czesky vzduch.
»Es gibt viele Geschichten rund um die Zugspitze, vor allem um das Zugspitzplatt. Wenn der Hölleisen jetzt hier wäre«, fuhr Ostler fort, »dann würde er gleich eine passende Anekdote dazu erzählen.«
Franz Hölleisen war wie Johann Ostler ebenfalls Polizeiobermeister im Kurort. Er kannte jeden Grashalm, seine Familie war seit dem Mittelalter hier ansässig. Sein Vater war Gendarm in der Gemeinde gewesen, sein Großvater ebenfalls. Und der Enkel hatte immer mit einem Sack voller Schnurren und Schmarren aus dem Polizei- und Bergsteigerleben aufzuwarten. Er musste gleich eintreffen, er war sicherlich schon mit ähnlich strammem Schritt nach oben unterwegs. Der Wind ließ etwas nach, man musste immerhin nicht mehr schreien.
»Die Bergwacht hat uns angerufen«, sagte Ostler in die relative Stille hinein. »Sie haben einen anonymen Hinweis bekommen, dass eine seltsame Gestalt in einer Felsnische kauert.«
»Ein anonymer Hinweis?«, fragte Jennerwein verwundert.
»Der mysteriöse Zeuge wollte weder seine Personalien noch seinen Standort angeben, die Position des Opfers hat er dafür umso genauer geschildert: Leblose Person im oberen Teil der Wand der Schneefernerscharte. Unterhalb der Gratrippe, die vom Zugspitzeck südwestlich abgeht. Ein Felssporn, der das Kar auf seiner Nordseite begrenzt. Etwa sechzig Meter unterhalb des Aussichtspunkts - etwas von der Art. Richtig professionell, wie ein Pilot, sogar auf englisch. Wie einer, der sich am Berg auskennt.«
»Sehr ungewöhnlich«, murmelte Maria. »Ein Retter ist doch normalerweise stolz darauf, jemandem geholfen zu haben. Er nennt als Erstes seinen Namen. Äußerst merkwürdig.«
Sie hatten eine Anhöhe erreicht, die bis auf ein paar Flechten ganz und gar vegetationslos war und die mit ihren Rundhöckern, Dolinen und Schratten an eine Mondlandschaft erinnerte. Es pfiff dort aus allen Himmelsrichtungen. Es hatte den Anschein, als ob sie sich hier träfen, die europäischen Winde, zu einer Ratssitzung der Turbulenzen: der beständige Blascht vom Bodensee, der temperamentvolle Vent de la vallée du Buëch aus dem Französischen, der heiße Traubenkocher aus Nordtirol, der quirlige Jinovec aus der Slowakei - die Ritter der Thermodynamik, die hier die weitere Vorgehensweise besprachen. Die Ermittler kletterten jetzt einen Steilhang hinauf. Ostler war diese berglerische Fortbewegungsart augenscheinlich gewohnt, Maria und Jennerwein atmeten schwer, beide trieben wenig Sport. Maria ging einmal in der Woche in die Halle, zum Psychologen-Volleyball (Systemische gegen Psychoanalytiker), Jennerwein hatte schon alles Mögliche angefangen, von Tai-Chi bis Waldlauf, er hatte seine Sportart noch nicht gefunden.
»Gell, da schnaufen sie, die Damen und Herren Flachland-kriminaler!«, unkte Ostler. »Aber es ist nicht mehr weit.«
In seiner Eigenschaft als Polizeibergführer war Ostler sozusagen Fachvorgesetzter der beiden, er fühlte sich verantwortlich für deren Wohlergehen bei solch einer Tour, deshalb lief er voraus, gab den Schritt vor und blickte nur ab und zu zurück, um sie zu beobachten. Setzte ihnen die dünner werdende Höhenluft zu? Sprangen sie allzu kühn über Stock und Stein? Kündigten sich schon erste Anzeichen von Wadenkrämpfen an?
»Frau Doktor, lassen Sie sich Zeit! Wollen Sie den Steinböcken Konkurrenz machen?«
Frau Doktor hatte jetzt kein Lungenbläschen mehr frei zu einer frechen Entgegnung. Jennerwein lächelte schweratmend.
Nach der Steigung kamen sie auf eine kleine Hochebene, auf ein holpriges Plateau mit dünnen Flechten, das nach ein paar Metern mit einem eisernen Geländer abschloss. Dahinter ahnte man es schon, das Nichts. Man roch es auch, und man hörte es, am Seufzen und Raunen der Winde, die allen Mut zusammennahmen, bevor sie sich hinabstürzten ins Ehrwalder Tal. Die gemeldete leblose Person, derentwegen sie heraufgefahren und dann eine halbe Stunde weitergegangen waren, musste hier unter dem Geländer in der Steilwand hängen.
»Ist Hansjochen Becker mit seinen Spurensicherern noch da?«, fragte Jennerwein.
»Nein«, entgegnete Ostler, »die haben ihre Apparaturen schon eingepackt und sind mit dem Hubschrauber davongeflogen.«
»In welcher Höhe befinden wir uns hier?«, fragte Maria mit belegter Stimme. Jennerwein sah zu ihr hin, sie war blass. Die Höhenluft?
»Wir befinden uns an der Schneefernerscharte, auf zweitausendsiebenhundertzehn Meter Höhe«, antwortete Ostler mit einem Anflug von Lokalstolz, und der Wind biss ihm immer wieder ein paar Silben aus den Wörtern heraus. »Der Weg hierher ist ein Dackelspaziergang, aber dort hinter dem Geländer geht es steil hinunter. So nah liegen die Extreme bei uns im Werdenfelser Land beieinander. Seniorenerholung und Hochgebirgskletterei, nur ein paar Meter voneinander entfernt.«
Die beiden Männer näherten sich vorsichtig den begrenzenden Vierkanteisenstangen, die Psychologin blieb wie angewurzelt stehen, sie bekam einen gehetzten Blick und setzte sich auf einen Stein. Jennerwein und Ostler beugten sich über die eiserne Brüstung und blickten in den Abgrund.
»Toller Ausblick, wie?«, sagte Ostler. Unter ihnen breitete sich die Urlandschaft aus wie ein Buch mit prächtiger, aber unleserlicher Schrift. Es war keine senkrecht abfallende Steilwand, die sich da auftat, aber die spitzwinklige Neigung, mit der es hinunterging ins Habsburgische, machte den Abgrund eigentlich noch deutlicher. Jennerwein schnipste ein Steinchen in die Tiefe, als kleinen Gruß an Sir Isaac Newton - den mit der Lockenperücke und der Gravitation. Wenn man den Blick hob, konnte man in der Ferne ein junigrünes Tal sehen, Felder sprenkelten die Landschaft, und dahinter türmten sich die österreichischen Alpen auf.
»Ein gigantischer Ausblick«, sagte Jennerwein. »Da fällt mir eine Dozentin ein, die in einer Kriminaler-Fortbildung zum Thema Todesursachen etwas Interessantes gesagt hat. Meine Damen und Herren, es gibt nur eine einzige Möglichkeit, den perfekten Mord zu begehen. Dazu müssen Sie Ihre Ehehälfte lediglich zu einer Bergtour überreden. Bitte nicht zu fest schubsen - wegen der Hämatome. Alle anderen Morde klären wir Kriminalisten über kurz oder lang auf. Wahre Worte! Wir sollten sie uns immer vor Augen halten.«
Er warf ein zweites Steinchen hinunter, diesmal nur so. Ostler drehte sich um und klopfte sich den Schmutz von der Hose.
»Frau Doktor«, sagte er, »was ist mit Ihnen, gehts Ihnen nicht gut?«
»Doch, natürlich, ich verschnaufe mich nur ein wenig«, sagte diese in einiger Entfernung. »Was ist eigentlich mit dieser Absperrung? Die ist doch wohl viel zu leicht zu überwinden. Ist hier denn noch nie etwas passiert?«
Ostler zögerte ein bisschen, bevor er weitersprach. Jennerwein musste lächeln. Er bemerkte so ein Zögern sofort. Das waren diese Sekunden bei einem Verhör, bei denen der andere fieberhaft überlegt, ob er ein bestimmtes Detail ansprechen soll oder nicht. War da etwas Persönliches im Spiel? Hatte Polizeiobermeister Ostler ein Geheimnis?
»Es gab in den Achtzigerjahren einmal Gerüchte um pubertierende Jugendliche«, fuhr dieser zögerlich fort. »Unten im Tal wurde erzählt, dass Liebespaare hier oben besondere Mutproben veranstaltet hätten.«
Maria war interessiert ein paar Schritte nähergekommen. Pubertierende Jugendliche, Liebespaare, Mutproben - die Kerngebiete der Psychologie. Manche waren allerdings der Meinung, dass sie sich damit auch schon wieder erschöpfte.
»Und was waren das für Mutproben?«, fragte sie.
»Die Jugendlichen trugen ein Brett auf den Berg«, fuhr Ostler fort. »Das Brett wurde oben so platziert, dass es mit der einen Hälfte auf dem Boden lag, mit der anderen über den Abgrund ragte. Der Bursch stellte sich auf das Brett, das Mädchen ging vorsichtig an ihm vorbei, bis zum freistehenden Ende. Jetzt wurden luftige, aber umso ernsthaftere Liebesschwüre getauscht, dann ging das Mädchen wieder zurück - und man wechselte die Plätze.« Ostler wies auf eine kleine erhöhte Fläche neben dem Absperrgeländer. »Dort ist eine wunderbare Stelle für das Scharteln, wie das genannt wurde. Es geht knappe tausend Meter hinunter, aber wenn man sich wirklich liebt - was bedeuten dann schon Zahlen?«
Maria Schmalfuß war kreidebleich geworden. Sie griff sich an den Hals und hustete. Sie musste sich schon wieder setzen.
»Wurde der Tod des Opfers schon festgestellt?«, fragte Jennerwein.
»Ja«, sagte Ostler. »Die Bergwachtler sind nach dem mysteriösen Anruf gleich mit einem Hubschrauber ausgerückt und haben sich abgeseilt. Es war nicht schwer, den Tod festzustellen, denn die Leiche war schon mumifiziert. Dann haben sie mich in meiner Eigenschaft als Polizeibergführer verständigt.«
»Wie lange hängt die leblose Person schon in der Wand?«, fragte Jennerwein.
»Wahrscheinlich ein paar Wochen, aber hängen ist der falsche Ausdruck. Es ist eine kleine Felsnische, fast eine Guffel, in der sie liegt, die leblose Person. Eigentlich sogar bequem sitzt, wenn man das so sagen darf. Die Nische befindet sich etwa sechzig Meter unter uns.«
»Die Bergwacht hat nichts angerührt?«
»Natürlich nicht! Die haben uns sofort angerufen.« »Todesursache?«
»Auf den ersten Blick würde ich sagen: verdursten, verhungern, so etwas in der Art.«
Es musste jetzt zwei oder drei Uhr nachmittags sein, denn man hörte die Glocken einer Ehrwalder Kirche von unten im Tal, ganz von ferne und ganz undeutlich. Jennerwein fragte sich, ob das immer noch echte, kostbare Glocken waren. Vielleicht hat mancher katholische Sprengel seine bronzenen und kupfernen Schätze schon verscherbelt und lässt das Gedröhne von einer gesubwooferten Hi-Fi-Anlage kommen. DING-DONG in Niederbayern, KRAWUMM-KRABOIING von Notre-Dame. WRRRONG! WRRRONG! im Voralpenland. TU FELIX AUSTRIA in Österreich, wenn das möglich ist.
»Wie kommt es eigentlich«, fragte Maria, die sich wieder etwas gefasst hatte, »dass die Leiche wochenlang unentdeckt geblieben ist?«
»Das kommt bei uns schon mal vor«, entgegnete Ostler. »Bergsteiger stürzen in Felsspalten, die Wetterverhältnisse sind schlecht, der Hubschrauber kann deshalb nicht fliegen, mit Hunden kann man in diesem Gelände nicht suchen - da gibt es viele Gründe. In unserem Fall kommt noch etwas dazu. Die besondere Lage dieser Felsspalte. Sie ist etwas schräg in die Wand eingelassen.«
»Wann wird die Leiche geborgen?«, fragte Jennerwein. »Wenn wir sie freigegeben haben.«
»Ich möchte sie mir vorher noch persönlich anschauen«, sagte Jennerwein. »Kann ich mich abseilen?«
Ostler hatte auf diese Frage wohl gewartet.
»Natürlich. Die Bergwacht hat uns ihre Seilwinde zur Verfügung gestellt. Mit der lassen wir Sie die sechzig Meter hinunter. Hier ist ein Sitzgurt. Wissen Sie, wie so etwas funktioniert?«
Jennerwein wusste es. Er war schon ein paar Mal mit dem Allgäuer Hauptkommissar Ludwig Stengele, dem zweiten leidenschaftlichen Kletterer und Bergspezialisten im Team, in der Wand gehangen.
»Dann ein gutes Gelingen, Chef.«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
»Zu wem soll ich andauernd hinübergeglotzt haben?«
»Da fragst du noch. Zu der Dunkelhaarigen mit den Spaghettiträgern, zwei Tische weiter.«
»Wer, ich?«
»Wer sonst! Alle paar Sekunden hast du einen Grund gefunden, dich umzudrehen. Einmal hast du die Speisetafel an der Wand studiert, dann hast du nach dem Ober gerufen, am Ende hast du nachgesehen, woher es so zieht.«
»Ich habe mich ja extra so hingesetzt, dass ich den restlichen Raum im Rücken hatte.«
»Und warum?«
»Weil ich schon wusste, wie du reagierst.«
»Ah! Du hast sie also doch gesehen.«
»Ja logisch habe ich sie gesehen. Ich musste doch an ihr vorbei, als ich reinkam.«
»Dann hast du dich also extra mit dem Rücken zu ihr gesetzt, weil du sie sonst dauernd angeglotzt hättest!«
»Nein, weil ich dir gegenüber sitzen wollte.«
»Jetzt bin ich auch noch schuld! Wenn du wirklich kein Interesse an ihr gehabt hättest, dann hättest du dich ganz locker neben mich gesetzt, ab und zu in ihre Richtung gesehen und sie nicht angeglotzt!«
»Wie glotzt man denn jemanden nicht an?«
»Jetzt reicht's mir aber. Du drehst mir jedes Wort im Mund herum!«
Beim letzten Satz war sie laut geworden. Er hatte den Klang ihrer Stimme noch stundenlang im Ohr gehabt, selbst als er schon im Zug saß. Er war mit dem Taxi zum Hauptbahnhof gefahren, hatte eine Fahrkarte gekauft und war in einen Zug gestiegen, der ihn Richtung Süden, Richtung Sonne bringen sollte. Ein Glück, dass er selbstständig war, sein kleiner Einmannbetrieb würde auch ein paar Tage ohne ihn auskommen. Niemand würde ihn vermissen. Er konnte sich den Luxus leisten, alles spontan hinzuwerfen und ein paar Tage Auszeit zu nehmen.
»Wenn du wieder so anfängst«, hatte er gesagt, »dann brauchen wir ja gar nicht mehr weiterzureden.«
»Typisch, ganz typisch! Sobald es Schwierigkeiten gibt -« Er war aufgestanden und zur Tür gegangen.
»Ja, hau nur ab, verschwinde!«, hatte sie ihm quer durchs Lokal nachgerufen. »Und lass dich nie wieder bei mir blicken!«
In der Höhe von Bordesholm wurde der Nachhall ihres Streits leiser, nach Neumünster war sein Zorn schon halbwegs verraucht, kurz vor Fulda musste er schon darüber schmunzeln. In München konnte er sich gar nicht mehr so richtig an den Grund für die Auseinandersetzung erinnern. Es war eben einer ihrer zyklisch auftretenden Eifersuchtsanfälle gewesen. Als er die Berge des Voralpenlandes durch das Zugfenster sah, stieg er aus und beschloss, eine Nacht in diesem Kurort mit dem sperrigen Doppelnamen zu verbringen, um am nächsten Tag weiterzureisen. Oder vielleicht zurückzufahren. Er betrat eine Pension, schrieb sich unter falschem Namen und falscher Adresse ein, das fand er prickelnd. Er checkte am nächsten Morgen wieder aus, Auf Wiedersehen, Herr Zimmermann, sagte die Wirtin freundlich. Wie, Zimmermann? Ach so, ja natürlich. Jetzt fühlte er sich wie ein verwegener Globetrotter. Er schlenderte noch ein Weilchen im Kurort herum, denn der nächste Zug in den Süden fuhr erst in ein paar Stunden. Herrlich klares Wetter herrschte in diesem Talkessel, und die Berge standen da wie junge Hunde, die spielen wollten. Im Modegeschäft Berndanner & Söhne kaufte er sich eine völlig überteuerte, aber feste Wetterjacke und fuhr mit der Seilbahn hoch auf einen der Berge. Hupfleitenjoch, den Namen fand er lustig. Aber was zum Teufel war eigentlich ein Spaghettiträger? Als er oben bei der Bergstation angekommen war, spazierte er, den Schildern folgend, zu einem Aussichtspunkt. Die Luft war merklich dünner hier in dieser Höhe, das war ungewohnt für ihn, er atmete schwerer. Die Sonne stach auf ihn ein, und der Föhn streckte schon seine knochigen Finger nach ihm aus. Etwas benommen setzte er sich auf einen der großen Steine.
»Hallo, ist Ihnen nicht gut?«
»Doch, doch, ich bin bloß ein bisschen zu lange in der Sonne gewesen.«
»Kommen Sie mit mir, da drüben gibt es eine bequeme Bank. Da sitzt meine Frau, die hat Sonnencreme dabei. Sie müssen unbedingt etwas trinken. Das hilft am besten bei Sonnenstich. Kommen Sie.«
Er stand auf und ging mit dem Fremden mit. Sie stolperten über ein kleines Geröllfeld.
»Sind Sie das erste Mal hier in den Bergen?«
Zunächst stützte ihn der großgewachsene Fremde noch, als der Weg wieder ebener wurde, ließ er locker.
»Ich glaube, dort drüben ist meine Frau.«
Das Plateau brach ab, kalter Wind pfiff ihm ins Gesicht. Er sah weit und breit keine Frau. Er sah überhaupt keinen Menschen mehr, der hilfsbereite Fremde war hinter ihm geblieben. Er blickte sich um. Eine Faust kam auf ihn zugeflogen. Der Schlag war schnell, hart und humorlos.
»Kennen Sie diesen Mann? Hat er hier bei Ihnen eine Fahrkarte gekauft?«
Gleich nachdem er das Lokal verlassen hatte, bereute sie es schon wieder, ihren Freund so angeschrien zu haben. Doch sie hatte ihren Stolz, sie wartete auf seinen Anruf. Als er sich am Abend des nächsten Tages immer noch nicht gemeldet hatte, begann sie, sich Sorgen zu machen. Sie fragte bei seinen Freunden, niemand wusste, wo er war. Er ging nicht ans Telefon. Die Polizei konnte ihr auch nicht helfen. Ist so etwas schon öfter vorgekommen? Aber sicher, schon ein paar Mal. Ja, dann! Ja, dann? - Was soll das heißen? Der Fall wurde aufgenommen und zu den Akten gelegt. Am Morgen des nächsten Tages beschloss sie, zu handeln und Nachforschungen auf eigene Faust anzustellen. Er war ein Fluchttyp, ein Pferdemensch, er war Problemen schon immer gerne aus dem Weg gegangen. Da er kein Auto besaß und nicht gerne flog, hielt sie es für am wahrscheinlichsten, dass er in einen Zug gestiegen und irgendwohin gefahren war. Irgendwohin. Er war einer von denen, die irgendwohin fahren.
»Kennen Sie diesen Mann?«
Nein, warum, wer ist das, kenne ich nicht. Endlich betrachtete ein Schalterbeamter das Foto genauer:
»Ja, der hat hier eine Fahrkarte gekauft. An den erinnere ich mich gut. Der war dermaßen unfreundlich, er hat mir das Geld auf den Tresen geknallt - ich habe sofort auf einen Beziehungsstreit getippt. Man lernt die Menschen kennen in meinem Beruf! Geschichten könnte ich Ihnen da erzählen! Aus seinen Augen sprühten direkt die Funken, so wütend war er. Seine Freundin muss ihn bis zur Weißglut geärgert haben. Ist ja eigentlich immer dasselbe -«
»Wissen Sie, wohin er gefahren ist?«
»Er wollte nach Messina, ich habe ihm eine gute Verbindung herausgesucht. Der Zug wäre am nächsten Morgen losgefahren, mit nur viermal umsteigen - das ist doch eine Spitzenleistung der Deutschen Bundesbahn! Er aber wollte unbedingt den nächstmöglichen Zug nach Messina. Gut, sage ich, der braucht halt dann über sechsunddreißig Stunden, man muss zehnmal umsteigen - aber bitte, der Kunde ist König, auch wenn es ein zorniger König ist.«
Nach Messina also. Wieso ausgerechnet dorthin? Sie ließ sich die genaue Verbindung mit allen Zwischenstopps ausdrucken. Sie konnte sich vorstellen, dass sein Zorn in der Höhe von Flintbek, spätestens aber in Bordesholm schon halbwegs verraucht war. Sie nahm den nächsten Zug nach Bordesholm und durchkämmte den ganzen Bahnhofsbereich. Den Taxistand, die Imbissbude und den Blumenladen (wer weiß!), die Fahrkartenschalter.
»Kennen Sie diesen Mann?«
Nein, nie gesehen, kenn ich nicht, wer soll das sein. Vielleicht war ja sein Zorn in Bordesholm oder Einfeld noch nicht verflogen, vielleicht glühte er auch noch in Neumünster oder am Ende bis nach Hamburg. Wie weit reichte die eigensinnige Rage eines temperamentvollen Mannes? Vielleicht sogar bis Würzburg? Sie begann noch einmal von vorn.
1
jädi-ü-ho jodi-ü-hö jädi-ü-hö hollaradi ri-hö
Jodler aus dem Werdenfelser Land
Die beiden Wanderer bogen um die Kurve und blieben stehen. Sie waren jetzt auf zweieinhalbtausend Meter Höhe, die Luft war merklich kühler als unten im Kurort, wo die Touristen schon in kurzen Hosen von Eisdiele zu Eisdiele schlenderten. Hier oben wurden die beiden Wanderer von bösen Winden attackiert. In der Ferne bäumten sich zwei unförmige Gebirgskegel mit windschiefen, gezackten Gipfeln auf: links die Gatterlköpfe, rechts die Plattspitzen.
»Was sind denn das für Berge?«, fragte der eine der Wanderer.
»Links, das ist der Brunntalstein, rechts der Blassenkopf«, entgegnete der andere.
»Ist das rechts nicht eher das Schroffkogeleck?«
»Das Schroffkogeleck auf keinen Fall.«
»Es muss das Schroffkogeleck sein. Der Blassenkopf ist doch ganz woanders.«
Der Blassenkopf lag wirklich ganz woanders. Der Brunntalstein und das Schroffkogeleck aber auch.
Die beiden Wanderer sahen sich um. Notgedrungen
mussten sie den Weg räumen. Kopfschüttelnd machten sie
Platz für ein eiliges Trio, zwei Männer und eine Frau, die durch das Karstgelände marschierten, als wäre es ein Polizeieinsatz.
»Idioten«, sagte der eine der Wanderer.
Es war ein Polizeieinsatz. Drei Mitglieder der Mordkommission IV, nämlich Hauptkommissar Hubertus Jennerwein, die Polizeipsychologin Dr. Maria Schmalfuß und der Polizeiobermeister Johann Ostler, waren, wie die vielen Touristen auch, mit der Gondel auf den Zugspitzgipfel, dann mit der Gletscherseilbahn aufs Platt gefahren, den Rest der Strecke mussten sie zu Fuß gehen. Sie waren von der Bergwacht alarmiert worden.
»Da stimmt was net!«, hatte der Bergwachtler gesagt.
»Es ist wirklich ein ungewöhnlicher Fundort«, schrie Polizeiobermeister Ostler gegen den jaulenden Wind an, der jetzt aufkam. Kommissar Jennerwein sprang auf einen unförmigen, riesigen Stein, er bot Maria Schmalfuß die Hand. Hier auf dem Zugspitzplatt taten sich rechts und links schon einmal Spalten mit zehn, zwanzig Meter Tiefe auf. Es war Ende Juni, und nur noch einzelne schmutzige Schneerestchen waren von dem einst prächtigen Gletscher übrig geblieben. Das karstige Gelände war jedoch ausgesprochen belebt, immer wieder mussten ihnen Wanderer verschiedenster Leistungsstufen den Weg frei machen: Jogger, Gletscherforscher, Nordic Walker, Wandernadelsammler, Geocacher und andere Schatzsucher, Hardcore-Trekker mit unbezahlbarer Bergausrüstung und Japaner in Halbschühchen spritzten links und rechts weg. Manche schimpften, dass man selbst hier oben auf dem Schneeferner keine Ruhe hätte vor den neureichen Rabauken, die sich unten im Tal eine Zweitwohnung gekauft hatten und sich hier oben mit riesigen Walkie-Talkies wichtigmachten.
»Hier war früher alles meterhoch mit Eis bedeckt«, rief Ostler und sprang zum nächsten Stein.
»Wie eigentlich ganz Bayern«, schrie Jennerwein zurück. Der Scherz wurde ihm von einem Windstoß weggerissen, der aus dem Tschechischen herübergekommen war, einem czesky vzduch.
»Es gibt viele Geschichten rund um die Zugspitze, vor allem um das Zugspitzplatt. Wenn der Hölleisen jetzt hier wäre«, fuhr Ostler fort, »dann würde er gleich eine passende Anekdote dazu erzählen.«
Franz Hölleisen war wie Johann Ostler ebenfalls Polizeiobermeister im Kurort. Er kannte jeden Grashalm, seine Familie war seit dem Mittelalter hier ansässig. Sein Vater war Gendarm in der Gemeinde gewesen, sein Großvater ebenfalls. Und der Enkel hatte immer mit einem Sack voller Schnurren und Schmarren aus dem Polizei- und Bergsteigerleben aufzuwarten. Er musste gleich eintreffen, er war sicherlich schon mit ähnlich strammem Schritt nach oben unterwegs. Der Wind ließ etwas nach, man musste immerhin nicht mehr schreien.
»Die Bergwacht hat uns angerufen«, sagte Ostler in die relative Stille hinein. »Sie haben einen anonymen Hinweis bekommen, dass eine seltsame Gestalt in einer Felsnische kauert.«
»Ein anonymer Hinweis?«, fragte Jennerwein verwundert.
»Der mysteriöse Zeuge wollte weder seine Personalien noch seinen Standort angeben, die Position des Opfers hat er dafür umso genauer geschildert: Leblose Person im oberen Teil der Wand der Schneefernerscharte. Unterhalb der Gratrippe, die vom Zugspitzeck südwestlich abgeht. Ein Felssporn, der das Kar auf seiner Nordseite begrenzt. Etwa sechzig Meter unterhalb des Aussichtspunkts - etwas von der Art. Richtig professionell, wie ein Pilot, sogar auf englisch. Wie einer, der sich am Berg auskennt.«
»Sehr ungewöhnlich«, murmelte Maria. »Ein Retter ist doch normalerweise stolz darauf, jemandem geholfen zu haben. Er nennt als Erstes seinen Namen. Äußerst merkwürdig.«
Sie hatten eine Anhöhe erreicht, die bis auf ein paar Flechten ganz und gar vegetationslos war und die mit ihren Rundhöckern, Dolinen und Schratten an eine Mondlandschaft erinnerte. Es pfiff dort aus allen Himmelsrichtungen. Es hatte den Anschein, als ob sie sich hier träfen, die europäischen Winde, zu einer Ratssitzung der Turbulenzen: der beständige Blascht vom Bodensee, der temperamentvolle Vent de la vallée du Buëch aus dem Französischen, der heiße Traubenkocher aus Nordtirol, der quirlige Jinovec aus der Slowakei - die Ritter der Thermodynamik, die hier die weitere Vorgehensweise besprachen. Die Ermittler kletterten jetzt einen Steilhang hinauf. Ostler war diese berglerische Fortbewegungsart augenscheinlich gewohnt, Maria und Jennerwein atmeten schwer, beide trieben wenig Sport. Maria ging einmal in der Woche in die Halle, zum Psychologen-Volleyball (Systemische gegen Psychoanalytiker), Jennerwein hatte schon alles Mögliche angefangen, von Tai-Chi bis Waldlauf, er hatte seine Sportart noch nicht gefunden.
»Gell, da schnaufen sie, die Damen und Herren Flachland-kriminaler!«, unkte Ostler. »Aber es ist nicht mehr weit.«
In seiner Eigenschaft als Polizeibergführer war Ostler sozusagen Fachvorgesetzter der beiden, er fühlte sich verantwortlich für deren Wohlergehen bei solch einer Tour, deshalb lief er voraus, gab den Schritt vor und blickte nur ab und zu zurück, um sie zu beobachten. Setzte ihnen die dünner werdende Höhenluft zu? Sprangen sie allzu kühn über Stock und Stein? Kündigten sich schon erste Anzeichen von Wadenkrämpfen an?
»Frau Doktor, lassen Sie sich Zeit! Wollen Sie den Steinböcken Konkurrenz machen?«
Frau Doktor hatte jetzt kein Lungenbläschen mehr frei zu einer frechen Entgegnung. Jennerwein lächelte schweratmend.
Nach der Steigung kamen sie auf eine kleine Hochebene, auf ein holpriges Plateau mit dünnen Flechten, das nach ein paar Metern mit einem eisernen Geländer abschloss. Dahinter ahnte man es schon, das Nichts. Man roch es auch, und man hörte es, am Seufzen und Raunen der Winde, die allen Mut zusammennahmen, bevor sie sich hinabstürzten ins Ehrwalder Tal. Die gemeldete leblose Person, derentwegen sie heraufgefahren und dann eine halbe Stunde weitergegangen waren, musste hier unter dem Geländer in der Steilwand hängen.
»Ist Hansjochen Becker mit seinen Spurensicherern noch da?«, fragte Jennerwein.
»Nein«, entgegnete Ostler, »die haben ihre Apparaturen schon eingepackt und sind mit dem Hubschrauber davongeflogen.«
»In welcher Höhe befinden wir uns hier?«, fragte Maria mit belegter Stimme. Jennerwein sah zu ihr hin, sie war blass. Die Höhenluft?
»Wir befinden uns an der Schneefernerscharte, auf zweitausendsiebenhundertzehn Meter Höhe«, antwortete Ostler mit einem Anflug von Lokalstolz, und der Wind biss ihm immer wieder ein paar Silben aus den Wörtern heraus. »Der Weg hierher ist ein Dackelspaziergang, aber dort hinter dem Geländer geht es steil hinunter. So nah liegen die Extreme bei uns im Werdenfelser Land beieinander. Seniorenerholung und Hochgebirgskletterei, nur ein paar Meter voneinander entfernt.«
Die beiden Männer näherten sich vorsichtig den begrenzenden Vierkanteisenstangen, die Psychologin blieb wie angewurzelt stehen, sie bekam einen gehetzten Blick und setzte sich auf einen Stein. Jennerwein und Ostler beugten sich über die eiserne Brüstung und blickten in den Abgrund.
»Toller Ausblick, wie?«, sagte Ostler. Unter ihnen breitete sich die Urlandschaft aus wie ein Buch mit prächtiger, aber unleserlicher Schrift. Es war keine senkrecht abfallende Steilwand, die sich da auftat, aber die spitzwinklige Neigung, mit der es hinunterging ins Habsburgische, machte den Abgrund eigentlich noch deutlicher. Jennerwein schnipste ein Steinchen in die Tiefe, als kleinen Gruß an Sir Isaac Newton - den mit der Lockenperücke und der Gravitation. Wenn man den Blick hob, konnte man in der Ferne ein junigrünes Tal sehen, Felder sprenkelten die Landschaft, und dahinter türmten sich die österreichischen Alpen auf.
»Ein gigantischer Ausblick«, sagte Jennerwein. »Da fällt mir eine Dozentin ein, die in einer Kriminaler-Fortbildung zum Thema Todesursachen etwas Interessantes gesagt hat. Meine Damen und Herren, es gibt nur eine einzige Möglichkeit, den perfekten Mord zu begehen. Dazu müssen Sie Ihre Ehehälfte lediglich zu einer Bergtour überreden. Bitte nicht zu fest schubsen - wegen der Hämatome. Alle anderen Morde klären wir Kriminalisten über kurz oder lang auf. Wahre Worte! Wir sollten sie uns immer vor Augen halten.«
Er warf ein zweites Steinchen hinunter, diesmal nur so. Ostler drehte sich um und klopfte sich den Schmutz von der Hose.
»Frau Doktor«, sagte er, »was ist mit Ihnen, gehts Ihnen nicht gut?«
»Doch, natürlich, ich verschnaufe mich nur ein wenig«, sagte diese in einiger Entfernung. »Was ist eigentlich mit dieser Absperrung? Die ist doch wohl viel zu leicht zu überwinden. Ist hier denn noch nie etwas passiert?«
Ostler zögerte ein bisschen, bevor er weitersprach. Jennerwein musste lächeln. Er bemerkte so ein Zögern sofort. Das waren diese Sekunden bei einem Verhör, bei denen der andere fieberhaft überlegt, ob er ein bestimmtes Detail ansprechen soll oder nicht. War da etwas Persönliches im Spiel? Hatte Polizeiobermeister Ostler ein Geheimnis?
»Es gab in den Achtzigerjahren einmal Gerüchte um pubertierende Jugendliche«, fuhr dieser zögerlich fort. »Unten im Tal wurde erzählt, dass Liebespaare hier oben besondere Mutproben veranstaltet hätten.«
Maria war interessiert ein paar Schritte nähergekommen. Pubertierende Jugendliche, Liebespaare, Mutproben - die Kerngebiete der Psychologie. Manche waren allerdings der Meinung, dass sie sich damit auch schon wieder erschöpfte.
»Und was waren das für Mutproben?«, fragte sie.
»Die Jugendlichen trugen ein Brett auf den Berg«, fuhr Ostler fort. »Das Brett wurde oben so platziert, dass es mit der einen Hälfte auf dem Boden lag, mit der anderen über den Abgrund ragte. Der Bursch stellte sich auf das Brett, das Mädchen ging vorsichtig an ihm vorbei, bis zum freistehenden Ende. Jetzt wurden luftige, aber umso ernsthaftere Liebesschwüre getauscht, dann ging das Mädchen wieder zurück - und man wechselte die Plätze.« Ostler wies auf eine kleine erhöhte Fläche neben dem Absperrgeländer. »Dort ist eine wunderbare Stelle für das Scharteln, wie das genannt wurde. Es geht knappe tausend Meter hinunter, aber wenn man sich wirklich liebt - was bedeuten dann schon Zahlen?«
Maria Schmalfuß war kreidebleich geworden. Sie griff sich an den Hals und hustete. Sie musste sich schon wieder setzen.
»Wurde der Tod des Opfers schon festgestellt?«, fragte Jennerwein.
»Ja«, sagte Ostler. »Die Bergwachtler sind nach dem mysteriösen Anruf gleich mit einem Hubschrauber ausgerückt und haben sich abgeseilt. Es war nicht schwer, den Tod festzustellen, denn die Leiche war schon mumifiziert. Dann haben sie mich in meiner Eigenschaft als Polizeibergführer verständigt.«
»Wie lange hängt die leblose Person schon in der Wand?«, fragte Jennerwein.
»Wahrscheinlich ein paar Wochen, aber hängen ist der falsche Ausdruck. Es ist eine kleine Felsnische, fast eine Guffel, in der sie liegt, die leblose Person. Eigentlich sogar bequem sitzt, wenn man das so sagen darf. Die Nische befindet sich etwa sechzig Meter unter uns.«
»Die Bergwacht hat nichts angerührt?«
»Natürlich nicht! Die haben uns sofort angerufen.« »Todesursache?«
»Auf den ersten Blick würde ich sagen: verdursten, verhungern, so etwas in der Art.«
Es musste jetzt zwei oder drei Uhr nachmittags sein, denn man hörte die Glocken einer Ehrwalder Kirche von unten im Tal, ganz von ferne und ganz undeutlich. Jennerwein fragte sich, ob das immer noch echte, kostbare Glocken waren. Vielleicht hat mancher katholische Sprengel seine bronzenen und kupfernen Schätze schon verscherbelt und lässt das Gedröhne von einer gesubwooferten Hi-Fi-Anlage kommen. DING-DONG in Niederbayern, KRAWUMM-KRABOIING von Notre-Dame. WRRRONG! WRRRONG! im Voralpenland. TU FELIX AUSTRIA in Österreich, wenn das möglich ist.
»Wie kommt es eigentlich«, fragte Maria, die sich wieder etwas gefasst hatte, »dass die Leiche wochenlang unentdeckt geblieben ist?«
»Das kommt bei uns schon mal vor«, entgegnete Ostler. »Bergsteiger stürzen in Felsspalten, die Wetterverhältnisse sind schlecht, der Hubschrauber kann deshalb nicht fliegen, mit Hunden kann man in diesem Gelände nicht suchen - da gibt es viele Gründe. In unserem Fall kommt noch etwas dazu. Die besondere Lage dieser Felsspalte. Sie ist etwas schräg in die Wand eingelassen.«
»Wann wird die Leiche geborgen?«, fragte Jennerwein. »Wenn wir sie freigegeben haben.«
»Ich möchte sie mir vorher noch persönlich anschauen«, sagte Jennerwein. »Kann ich mich abseilen?«
Ostler hatte auf diese Frage wohl gewartet.
»Natürlich. Die Bergwacht hat uns ihre Seilwinde zur Verfügung gestellt. Mit der lassen wir Sie die sechzig Meter hinunter. Hier ist ein Sitzgurt. Wissen Sie, wie so etwas funktioniert?«
Jennerwein wusste es. Er war schon ein paar Mal mit dem Allgäuer Hauptkommissar Ludwig Stengele, dem zweiten leidenschaftlichen Kletterer und Bergspezialisten im Team, in der Wand gehangen.
»Dann ein gutes Gelingen, Chef.«
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Jörg Maurer
Jörg Maurer stammt aus Garmisch-Partenkirchen. Er studierte Germanistik, Anglistik, Theaterwissenschaften und Philosophie und ist Krimiautor und Musikkabarettist. Eine feste Größe in der süddeutschen Kabarettszene, leitete er jahrelang ein Theater in München und wurde für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Kabarettpreis der Stadt München (2005) und dem Agatha-Christie-Krimi-Preis (2005 und 2006). Sein Krimi-Kabarettprogramm ist Kult.
Bibliographische Angaben
- Autor: Jörg Maurer
- 391 Seiten, Masse: 12,5 x 18,7 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868005846
- ISBN-13: 9783868005844
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