Neue Vahr Süd
Frank bekommt zwischen Bundeswehr und WG mit Weltrevolutionsambiente die ganze Zwiespältigkeit seiner Generation ab. Urkomisch, chaotisch und beklemmend zugleich.
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Frank bekommt zwischen Bundeswehr und WG mit Weltrevolutionsambiente die ganze Zwiespältigkeit seiner Generation ab. Urkomisch, chaotisch und beklemmend zugleich.
Sven Regener ist ein komischer und zugleich beklemmender Roman gelungen, der uns über den Aufbruch seines Helden in eine verwirrende Zukunft die frühen achtziger Jahre von einer Seite nahebringt, die wir erfolgreich verdrängt zu haben glaubten.
Neue VahrSüd von Sven Regener
LESEPROBE
Serbisches Reisfleisch
Nach Hause wollte Frank jetzt nicht mehr. Es war Mittagszeit,und der Gedanke, zu Hause auf seine Mutter zu treffen, die demnächst von ihremneuen Halbtagsjob in einem Imbiss am Bahnhof zurück sein musste, schreckte ihn ab.Aber Hunger hatte er, und deshalb beschloss er, zur Universität zu fahren, um inder Mensa etwas zu essen, er hatte das schon einige Male gemacht, und es schienihm eine gute Gelegenheit, unter Menschen zu sein, ohne mit jemandem reden zumüssen. Es sei denn, Martin Klapp ist da, dachte er, das kann man bei der Mensanie wissen, schliesslich ist er Student, dachte Frank hoffnungsvoll, die Mensaist sein natürliches Umfeld. Martin Klapp zu treffen wäre gut, er ist aberauch der einzige Mensch, den man an einem solchen Tag ertragen kann, Martin istgut, dachte Frank, Martin ist entspannt, er ist vor allem nicht Harry, damitgeht's schon mal los, Harry ist alles andere als entspannt, dachte er, undMartin weiss, wer Harry ist. Martin könnte man erzählen, dass man Harry getroffenhat, ohne allzuviel erklären zu müssen, dachte er, und dann war er am Stern, woimmer die Studenten an der Strasse zur Uni standen und darauf warteten, dass mansie mitnahm, und er entschloss sich, genau das zu tun. Wenn man schon ihr verbilligtesEssen isst, ohne Sozialwerkgebühren zu zahlen, dachte er, dann sollte manwenigstens einigen von ihnen eine kostenlose Fahrt spendieren, das ist nurfair, dachte er. Sein Bruder hatte ihm das alles mal erklärt, damals, als er nochin Bremen studiert hatte, bevor er Knall auf Fall alles hingeworfen hatte undnach Berlin gegangen war. Damals hat Manni sich noch für solche Sacheninteressiert, dachte er, damals hat er sich überhaupt für alles mögliche interessiertund von allem möglichen erzählt, dachte er, denn seit sein Bruder in Berlinwohnte und Künstler war, war Frank sich da nicht mehr so sicher, sie sahen sichselten, und ihre Telefonate wurden immer komischer.
Er hielt also am Stern und drehte sich um, um zu sehen, wereinstieg. Es warteten dort viele Studenten, es ist Mittagszeit, dachte Frank,darauf können sich wahrscheinlich alle einigen, und es schien ein System fürdas Trampen zu geben, denn es gab keinen Streit unter den Wartenden, es warengenau vier Leute, die auf seinen Wagen zurannten. Die erste, die ihn erreichte,war ein Mädchen, das die Tür öffnete und den Sitz nach vorn klappte, damit dieNachfolgenden hinten einsteigen konnten.
»Hallo«, sagten die drei auf das Mädchen nachfolgendenJungs, jeder nacheinander, als sie einstiegen. Dann klappte das Mädchen denSitz zurück und setzte sich neben ihn. Frank fuhr los.
»Wo fährst du hin?« fragte das Mädchen.
»Zur Mensa.«
»Das ist gut«, rief einer von hinten, »da wollen wir auch hin.«
»Schon klar«, sagte Frank. Sie halten mich für einen Studenten,dachte er, aber für einen komischen, wegen meiner Haare, so einenScheisshaarschnitt hat man als Student eigentlich nicht. Martin Klapp hatte ihmdie Haare am vergangenen Samstagabend eigenhändig für die Bundeswehrzurechtgeschnitten, Ohren und Kragen frei usw., »Ich kann das«, hatte ergesagt, und das Ergebnis war so furchtbar gewesen, dass Frank sogar seinerMutter erlaubt hatte, einiges daran zu korrigieren, was die Sache aber auch nichtviel besser gemacht hatte.
»Studierst du auch Germanistik?« fragte das Mädchen.
»Nein. Wieso?«
Frank sah sie kurz an. Sie war sehr klein und sehr dünn, undsie hatte sehr lange, glatte, blonde Haare, so lang, dass sie auf ihren Beinenauflagen, wenn sie sass, aber sie ist ja auch nicht sehr gross, dachte Frank, dagehen die Haare schnell mal bis zu den Beinen. Sie kurbelte das Fenster herunter,und ihre Haare flogen durcheinander und berührten sogar Franks Gesicht dabei. (..)
© Eichborn AG, Frankfurt am Main 2004
Autoren-Porträt von Sven Regener
Sven Regener wurde am 1. Januar 1961 in Bremen geboren. NachSchulbesuch, Bundeswehr- und Zivildienst kam er über Hamburg nach Berlin. Dortmachte er in vielen Übungsräumen als Trompeter mit vielen verschiedenen LeutenLärm. 1982 nahm er seine erste LP mit der Band "Zatopek"auf. 1984 kam er zur Band "Neue Liebe", einer Art Punk-Funkband mitKunstanspruch und vielen Bläsern. Nach deren Auflösung gründete er 1985 mitanderen die Band "Element of Crime",die mit deutschsprachigen Alben wie Damals hinterm Mond und WeissesPapier eine grosse Popularität erlangte. Sven Regenerist Sänger, Texter und Trompeter der Gruppe. Er gilt als "einer derfeinsten Pop-Poeten des deutschen Sprachraums." (zitty)
Interview mit Sven Regener
Herr Regener, wie man Ihrem neuen Band ansieht - er hat fast 600Seiten -, haben Sie Spass gehabt an der Fortsetzung von "Herr Lehmann". Odersind Sie vom Verlag gequält und von der Filmgesellschaft bedroht worden?
Nein, nein. Das ist ein bisschen missverständlichrübergekommen. Tatsächlich hatte ich das von vornherein so angelegt. Es sindeigentlich drei Bücher, und ich habe den letzten Band der Trilogie zuerstgeschrieben. Ich habe mit "Herr Lehmann" begonnen, weil es mir das Einfachstezu sein schien. Aber bei "Neue Vahr Süd" geht dieGeschichte eigentlich los. Da wird Herr Lehmann in Bremen sozusagen aus derKurve getragen. Es ist ein relativ beschaulicher Beginn, an dem der Held mitnichts da steht, und wo ihm plötzlich alles um die Ohren fliegt. Jedes Buchaber hat sein eigenes Recht, und so kann man die Bücher auch getrenntvoneinander lesen. Das zumindest war mein Ziel. Dass dieses Buch nun so dickgeworden ist, tja - es hat einfach gerade so viele Seiten, wie es haben muss.Ich hätte einfach nicht mehr kürzen können. Es ist eine relativ komplizierteGeschichte, weil sie in zwei Welten zugleich spielt. Und auf beide Welten mussman sich richtig einlassen. Wenn zum Beispiel die Geschichte mit der Bundeswehrihren Raum braucht, dann muss man dem auch stattgeben. Dann nutzt es nichts,faul zu sein. Hauptsache, es bleibt für den Leser spannend, und das Buch hatkeine Längen. Aber man darf es den Lesern auch nicht zu leicht machen. Man mussda schon durch, um verstehen zu können, was diese Leute umtreibt. Es kann nichtimmer nur Schokoladenpudding zu essen geben.
Neue Vahr Süd - so heisst einStadtteil von Bremen. Können Sie uns diesen Ort etwas näher beschreiben. Wiewichtig ist dieser Ort für die Metamorphose von Frank zu Herrn Lehmann?
Herr Lehmann ist 20, er ist in einem Übergangsalter. DerJugendlichen-Bonus ist aufgebraucht, Herr Lehmann ist strafmündig. Undgleichzeitig hat er aber überhaupt noch keine Ahnung. Ein schwieriges Alter.Man wird noch gar nicht richtig für voll genommen. Die Geschichte ist letztlichdie von einer Befreiung, einer Loslösung: Am Anfang wohnt er noch bei seinenEltern in der Neuen Vahr Süd. Er muss raus, weiss abernicht genau wie. Die Eltern wollen ihn loswerden - und wissen auch noch nichtso recht wie. Und dann kommt diese Institution Bundeswehr dazu, die ihn quaGesetz zwingt, etwas zu tun. Halb zog es ihn, halb sank er hin. In der Neuen Vahr Süd beginnt der Roman, und er endet auch dort. Seineganzen Freunde oder eher Kumpels kommen von dort. Auch wenn Herr Lehmann insOstertorviertel zieht, also ins Zentrum von Bremen, wohnt er dort wieder mitLeuten zusammen, die aus der Neuen Vahr sind. Er gehtzur Bundeswehr und wird dann versetzt. Wohin? In die Neue VahrSüd. Es ist kein Roman über den Stadtteil, aber das Neubauviertel bekommt manaus Lehmann sozusagen nicht raus.
Kindheit und Jugend in der Hochhaussiedlung, Bundeswehr,WG - was erlebt Herr Lehmann noch, bevor er nach Berlin geht?
Es passieren Dinge mit ihm, die er zwar insgeheim will, sichaber anders vorgestellt hat. Sein gesamtes bisheriges Leben bricht zusammen.Alles, was zuvor für ihn galt, gilt plötzlich nicht mehr. Er bricht allerdingsdie Brücken selber ab. Er hätte ja sagen können: "Ich gehe zurück zu denEltern nach der Bundeswehrzeit." So einer ist er aber nicht. Das kann ernicht. Dazu ist er zu stolz. Er muss ja weiter. Es gibt ja auch ein oder zweiLiebesgeschichten, die aber hilflos ausgehen. Weil auch das sehr schwierig ist,wenn man das Spiel kennt, aber nicht die Regeln. Das mit der Bundeswehr istwichtig. Ich meine, wir reden ja hier über eine Armee in einem freiheitlichen,demokratischen Land, in dem die Menschen relativ liberal aufwachsen können.Aber nun kommt man plötzlich in diese Armee, wo man eigentlich aller Menschenrechteberaubt wird. Das ist natürlich ein unglaublicher Schock. Man kann politischdazu stehen, wie man will. 90 Prozent der Menschenrechte gelten dort nicht,jedenfalls nicht im "Stillgestanden!" Man ist in einer völlig anderen Welt undgehört der Armee an, die eine Form der Diktatur in einer Demokratie darstellt.Und am Wochenende dann wird Herr Lehmann wieder herausgeschleudert in dienormale, liberale und linke WG-Welt. Und dieses Aufgeriebenwerden zwischen denWelten, darum geht es. Das ist ja das Reizvolle an diesem Szenario, dieZerrissenheit von Herrn Lehmann darstellen zu können.
Wie gehtes eigentlich Element of Crime? Kommen Sie noch dazu, Musik zu machen?
Musik kann man immer machen. Aber wir sind nicht dazugekommen, neue Songs zu schreiben. Wir haben 2004 einige Festivals gespielt.Aber wir haben relativ lange keine Platte mehr gemacht. Grosse Tourneen muss maneigentlich mit neuen Platten machen. Es wird einfach Zeit, ein paar neue Songszu schreiben. Die letzte Platte ist von 2001. Wenn alles so kommt, wie ich mirdas erträume, werden wir im Herbst nächsten Jahres eine neue Platteherausbringen. Aber ich habe natürlich noch keine neuen Texte schreiben können.Das Buch muss weg, ich muss davon befreit sein, das mit den Interviews mussaufhören. Aber dann kann es recht schnell gehen. Das würde ich mir vomWeihnachtsmann wünschen, dass wir dann mit einer neuen Platte kommen können.
Erzählen Sie unsdoch bitte ein bisschen aus der "Produktion". Wie schreiben Sie ein Buch? Undgibt es grosse Unterschiede zum Musikmachen?
Das ist natürlich eine ganz andere Sache. Ich mache dieSongtexte ja immer zur Musik. Die Musik ist zuerst da. Musik ist Musik und mitnichts zu vergleichen. Songtexte sind musikalisch bedingt und sie sind eineForm von Lyrik. Meine Bücher aber sind Prosa. Das sieht man ja auch bei derKapiteleinteilung. Jedes Kapitel hat eine eigene Überschrift, seine eigenePointe und seinen eigenen Spannungsbogen, kleine Bilder, aus denen sich wie beieinem Mosaik ein grosses Bild zusammensetzt. Ich schreibe so ein Kapitelvielleicht an zwei Tagen herunter, aber ich habe einen Monat lang darübernachgedacht. Es ist immer noch ein grosser Kampf, aber ich mache dann zwei Tagelang nichts anderes, als nur zu schreiben. Die Sache muss in meinem Kopf schon relativweit gediehen sein, damit ich überhaupt beginnen kann.
Wann folgtder letzte Band der Lehmann-Trilogie? Und wovon handelt er?
Das noch fehlende Buch wird im Zeichen des grossen Brudersvon Herrn Lehmann stehen. Es wird ja bei den beiden vorliegenden Bücherndeutlich, dass der Bruder für ihn eine ungeheure Rolle spielt. Er ist im Grundegenommen auch ein ewiger Quell von Schmerz und von Sehnsucht. Herr Lehmann hatseinen Bruder verloren, als der nach Berlin ging. Und er ist ein Massstab, andem sich Frank misst. In "Herr Lehmann" hat er schon ein sehr vielentspannteres Verhältnis als in "Neue Vahr Süd". Daberührt es ihn richtig stark. Er wird dann auch mit dem Bruder konfrontiert.Das neue Buch wird direkt an die Handlung von "Neue VahrSüd" anschliessen. Es wird davon handeln, wie Frank Lehmann nach Berlin kommtund seinen grossen Bruder aufsucht. Alle drei Bücher erzählen eigentlich sehrbittere Geschichten. Ich habe sie aber extra so geschrieben, dass noch einkomischer Aspekt mit dabei ist. Es ist eine Art Verzweiflungskomik, die dasGanze noch irgendwie erträglich macht. Aber das nächste wird ein dunkles Buch."Herr Lehmann" hat einen roten Schutzumschlag, "Neue VahrSüd" einen grünen. Und ich denke, das letzte Buch wird schwarz. Man wird dannverstehen, wie es dazu kam, dass Frank zumindest am Anfang von "Herr Lehmann"ein glücklicher Mensch ist, trotz alledem. Denn er hat etwas gefunden, wodurcher in sich selbst ruht. Und es ist angenehm, so etwas gefunden zu haben. Er istso eine Art Yogi. Dass er das nicht aufrechterhalten kann, ist eine andereSache, aber am Anfang hatte er seinen Frieden. Vielleicht versteht man das dannetwas besser. Jeder Mensch hat ein Schicksal, und es ist nicht damit getan, ihneinen Schlaffi, einen ambitionslosen Anti-Helden zu nennen. Für mich ist derMann ein Held, kein Anti-Held.
Sie sindsozusagen ein Quereinsteiger in der Literatur. Fühlen Sie sich wohl in dieserWelt?
Die Welt der Literatur. Wenn ich mich mit meinem "Herr Lehmann"-Hit und meinem anderen Buch beklagen würde überdie Welt der Literatur, dann wäre ich wohl ein ziemlich komischer Typ. Das mussich echt mal sagen. Nein, die Welt der Literatur ist sehr gut zu mir. Es istkeine Welt, die ich besonders gut kenne. Ich bin seit über 20 Jahren imMusikgeschäft. Ich will auch gar nicht den Schlaumeier machen, aber manbehandelt mich sehr gut, auch in den Feuilletons. Und wenn das Buch malverrissen oder in die Pfanne gehauen wird, dann macht das gar nichts. Ich habenichts zu meckern und gar nichts zu kritisieren, denn es war natürlich auchwahnsinnig viel Glück dabei. Das ist eine Geschichte wie ein Märchen. Manschreibt so ein Buch wie "Herr Lehmann", und das geht ab wie Schmidts Katze.Und keiner weiss warum. Es ist wie ein Lottogewinn mit Sonderzahl und Superzahlund Spiel 77 noch oben drauf. Und man sitzt so da und denkt, was ist denn jetztlos? Nun bin ich Gott sei Dank lange genug im Geschäft, um damit umgehen zukönnen. Ich flippe deswegen nicht aus, und ich nehme das nicht persönlich.Dieses Buch hat eben einen Nerv getroffen. So ein Erfolg ist eigentlich einegute Gelegenheit, um Demut zu üben. Denn keiner konnte ahnen, wie sich dasentwickelt. Niemand konnte sagen: "Ein Buch über einen Typen, der in einerKneipe in Kreuzberg arbeitet? Na, das wird ja wohl laufen wie irre." Daskonnte wirklich keiner ahnen.Die Fragen stellte Mathias Voigt, literaturtest.de.
- Autor: Sven Regener
- 592 Seiten, Masse: 13 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Eichborn
- ISBN-10: 3821807431
- ISBN-13: 9783821807430
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