Nacht unter Tag / Karen Pirie Bd.2
Roman
Ungelöste Fälle sind ihre Spezialität, doch dieser führt Inspektor Karen Pirie an ihre Grenzen: Nach über 20 Jahren wird der Bergarbeiter Mick Prentice von seiner Tochter als vermisst gemeldet. Warum erst jetzt? Und warum...
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Produktinformationen zu „Nacht unter Tag / Karen Pirie Bd.2 “
Ungelöste Fälle sind ihre Spezialität, doch dieser führt Inspektor Karen Pirie an ihre Grenzen: Nach über 20 Jahren wird der Bergarbeiter Mick Prentice von seiner Tochter als vermisst gemeldet. Warum erst jetzt? Und warum verschwand die Tochter der reichen Brodies zur selben Zeit?
Karens Ermittlungen im schottischen Glenrothes stoßen auf eine Mauer des Schweigens. Ähnlich ergeht es einer Journalistin, die ehrgeizig über eine fast vergessene Entführung recherchiert. Bald landet auch dieser alte Fall auf Karens Schreibtisch - zusammen mit einem neuen Mord.
Klappentext zu „Nacht unter Tag / Karen Pirie Bd.2 “
Ungelöste Fälle sind ihre Spezialität, doch dieser führt DI Karen Pirie an ihre Grenzen: Ein Mann wird als vermisst gemeldet - nach über zwanzig Jahren. Karens Ermittlungen im schottischen Glenrothes stossen auf eine Mauer des Schweigens. Ähnlich ergeht es einer Journalistin, die ehrgeizig über eine fast vergessene Entführung recherchiert. Bald landet auch dieser alte Fall auf Karens Schreibtisch - zusammen mit einem neuen Mord ...
Ungelöste Fälle sind ihre Spezialität, doch dieser führt DI Karen Pirie an ihre Grenzen: Ein Mann wird als vermisst gemeldet - nach über zwanzig Jahren. Karens Ermittlungen im schottischen Glenrothes stossen auf eine Mauer des Schweigens. Ähnlich ergeht es einer Journalistin, die ehrgeizig über eine fast vergessene Entführung recherchiert. Bald landet auch dieser alte Fall auf Karens Schreibtisch - zusammen mit einem neuen Mord ...
Lese-Probe zu „Nacht unter Tag / Karen Pirie Bd.2 “
Nacht unter Tag von Val McDermid Mittwoch, 23. Januar, 1985, Newton of Wemyss
Die Stimme ist dumpf wie die Dunkelheit, die sie umfängt. „Bist du bereit?“
„So bereit, wie ich nur sein kann.“
„Du hast ihr gesagt, was sie tun soll?“ Die Worte überschlagen sich, kommen hastend in einer einzigen Kette von Lauten.
„Mach dir keine Gedanken. Sie weiß genau Bescheid. Sie macht sich keine Illusionen darüber, wer die Konsequenzen tragen wird, wenn es schief geht.“ Harte Worte in strengem Tonfall. „Ihretwegen mach ich mir keine Sorgen.“
„Was soll das heißen?“
„Nichts. Es bedeutet nichts, klar? Wir haben keine Wahl. Hier nicht. Jetzt nicht. Wir tun nur, was getan werden muss.“ Die Worte klingen hohl und draufgängerisch. Man kann nur vermuten, was sich dahinter verbirgt. „Komm, bringen wir’s hinter uns.“
Und so fängt es an.
Mittwoch, 27. Juni, 2007; Glenrothes
... mehr
Die junge Frau schritt durch den Empfangsbereich, und das rhythmische Klacken ihrer niedrigen Absätze auf dem Kunststoffboden wurde vom Geräusch der vielen anderen vorbeieilenden Füße übertönt. Sie sah aus wie jemand, der eine wichtige Mission hat, dachte der Beamte in Zivil, als sie auf seinen Schreibtisch zukam. Aber eigentlich war das ja bei den meisten so. Die ganzen Poster an den Wänden, auf denen Hinweise zur Verbrechensverhütung und allerlei weitere Informationen standen, erreichten diese Leute nie, wenn sie in wilder Entschlossenheit auf ihn zuschritten.
Sie steuerte ihn mit fest aufeinandergepressten Lippen an. Sieht nicht schlecht aus, dachte er. Aber wie bei vielen der Frauen, die sich hier einfanden, war ihr Äußeres auch nicht gerade spitzenmäßig. Ein bisschen mehr Make-up wäre angebracht gewesen, um ihre leuchtend blauen Augen stärker zu betonen; und auch etwas Kleidsameres als Jeans und ein Kapuzenpullover. Dave Cruickshank setzte sein gewohntes professionelles Lächeln auf. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er.
Die Frau schob den Kopf leicht zurück, als wolle sie sich verteidigen. „Ich möchte jemanden als vermisst melden.“
Dave versuchte, sich seine Müdigkeit und Gereiztheit nicht anmerken zu lassen. Wenn nicht bitterböse Nachbarn, dann waren es so genannte Vermisste. Die Frau war für ein verschwundenes Kleinkind zu gelassen und für einen weggelaufenen Teenager zu jung. Bestimmt ging es um einen Streit mit ihrem Freund. Oder um einen senilen Opa, der ausgebrochen war. Also eine verflixte Zeitverschwendung – wie üblich. Er zog einen Block mit Formularen über den Schaltertisch in exakten Bewegungen zu sich heran und griff nach einem Füller. Aber er nahm dessen Kappe noch nicht ab. Es gab eine Schlüsselfrage, die beantwortet werden musste, bevor er Einzelheiten notieren würde. „Und wie lange ist diese Person schon verschwunden?“
„Zweiundzwanzig Jahre und sechs Monate. Genau genommen seit Freitag, dem vierzehnten Dezember 1984.“ Sie streckte das Kinn vor, und Entrüstung verdüsterte ihre Gesichtszüge. „Ist das lang genug, um es ernst nehmen zu können?“
Detective Sergeant Phil Parhatka sah sich den Video-Beitrag auf seinem Computermonitor zu Ende an, dann schloss er das Fenster. „Ich sag dir“, begann er, „wenn es überhaupt jemals eine günstige Zeit gegeben hat, um an ungelösten Fällen zu arbeiten, dann jetzt.“
Detective Inspector Karen Pirie hob den Blick kaum von der Akte, die sie gerade auf den neuesten Stand brachte. „Wieso?“
„Ist doch klar. Wir sind mitten im Krieg gegen den Terrorismus. Und ich habe mir gerade angesehen, wie mein Abgeordneter aus unserem Wahlkreis mit seiner Frau in die Downing Street 10 eingezogen ist.“ Er sprang auf und ging zu dem kleinen Kühlschrank hinüber, der auf einem Aktenschrank stand. „Womit würdest du dich lieber beschäftigen? Alte ungelöste Fälle aufklären und dafür eine gute Presse bekommen, oder Islamisten daran hindern, mitten in deinem Revier eine Bombe zu legen?“
„Du meinst, weil Gordon Brown jetzt Premierminister ist, wird Fife zur Zielscheibe werden?“ Karen legte den Zeigefinger auf die Stelle in der Akte, wo sie stehen geblieben war, und hörte Phil nun aufmerksam zu. Es dämmerte ihr, dass sie sich zu lange mit der Vergangenheit beschäftigt hatte, um die gegenwärtigen Eventualitäten beurteilen zu können. „Als Tony Blair an der Macht war, haben sie sich doch auch nie um seinen Wahlkreis gekümmert.“
„Das stimmt allerdings.“ Phil schaute in den Kühlschrank und schwankte zwischen einem Irn Bru und einem Vimto. Vierunddreißig Jahre war er alt und konnte sich immer noch nicht die Getränke abgewöhnen, die in seiner Kindheit das Größte gewesen waren. „Aber diese Typen nennen sich islamische Kämpfer, und Gordon ist ein Pfarrerssohn. Ich möchte ungern in den Schuhen des Polizeipräsidenten stecken, wenn sie sich vornehmen, ein Exempel zu statuieren und die alte Kirche seines Vaters in die Luft sprengen.“ Er entschied sich für das Vimto. Karen schüttelte sich.
„Ich verstehe nicht, wie du das Zeug trinken kannst“, sagte sie. „Hast du noch nie bemerkt, dass es praktisch ein Brechmittel ist?“
Phil nahm auf dem Weg zu seinem Schreibtisch einen großen Schluck. „Lässt Haare auf der Brust wachsen“, erwiderte er.
„Dann nimm doch gleich zwei Dosen.“ Karen klang gereizt und etwas neidisch. Phil schien sich von zuckersüßen Getränken und gesättigten Fettsäuren zu ernähren, war aber trotzdem noch genauso schlank und drahtig wie damals, in ihrer gemeinsamen Zeit als Anfänger. Sie dagegen brauchte eine normale Cola nur anzusehen, um zu spüren, wie sie ein paar Zentimeter zulegte. Es war wirklich ungerecht.
Phil kniff seine dunklen Augen zusammen und verzog die Lippen zu einem spöttischen, aber gutmütigen Lächeln. „Wie auch immer. Der Silberstreif am Horizont ist, dass es dem Chef gelingen könnte, mehr Geld von der Regierung loszueisen, wenn er sie überzeugen kann, dass die Bedrohung sich verstärkt hat.“
Karen schüttelte den Kopf, jetzt hatte sie festen Boden unter den Füßen. „Meinst du etwa, dass Gordons berühmter moralischer Leitstern ihm erlauben würde, auf etwas zuzusteuern, das so sehr nach Eigennutz aussieht?“ Noch im Sprechen griff sie nach dem Telefon, das gerade zu läuten begann. Es gab in dem großen Büro des Teams für ungelöste Fälle durchaus Kollegen, die rangniedriger waren, aber Karen hielt auch nach ihrer Beförderung an ihren alten Gewohnheiten fest und ging weiterhin ran, sobald ein Telefon in ihrer Nähe klingelte. „Detective Inspector Pirie am Apparat“, meldete sie sich zerstreut, denn sie war in Gedanken noch bei dem, was Phil gesagt hatte, und fragte sich, ob er sich wohl insgeheim danach sehnte, mehr in die aufregendere praktische Polizeiarbeit eingebunden zu sein.
„Dave Cruickshank am Empfang, Inspector. Hier ist eine Frau, die, glaub ich, mit Ihnen sprechen müsste.“ Cruickshank klang unsicher, was so ungewöhnlich war, dass Karen aufmerksam wurde.
„Worum geht es?“
„Eine vermisste Person“, sagte er.
„Einer von unseren Fällen?“
„Nein, sie möchte jemanden als vermisst melden.“
Karen unterdrückte einen gereizten Seufzer. Cruickshank sollte doch inzwischen wirklich Bescheid wissen. Er saß schon lange genug am Empfang. „Da muss sie mit der Kripo reden, Dave.“
„Ja, schon. Normalerweise wäre das meine erste Anlaufstelle. Aber wissen Sie, die Sache ist etwas ungewöhnlich. Und deshalb dachte ich, es wäre besser, zuerst mit Ihnen darüber zu sprechen.“
Komm zur Sache. „Wir haben es mit ungelösten Fällen zu tun. Wir leiern keine neuen Nachforschungen an.“ Karen sah mit rollenden Augen zu Phil hinüber, der über ihren offensichtlichen Ärger grinste.
„Dies ist nicht gerade eine neue Sache, Inspector. Der Mann ist vor zweiundzwanzig Jahren verschwunden.“
Karen richtete sich auf ihrem Stuhl auf. „Vor zweiundzwanzig Jahren? Und man kommt jetzt endlich dazu, es zu melden?“
„Stimmt. Ist das nun ein alter ungelöster Fall oder was anderes?“
Karen wusste, dass Cruickshank die Frau genau genommen an die Kripo verweisen müsste. Aber sie hatte schon immer eine Schwäche für alles gehabt, was bei anderen nur ein belustigtes, ungläubiges Kopfschütteln hervorrief. Kühne Hypothesen brachten sie erst so richtig in Schwung. Diesem Impuls folgend war sie in drei Jahren zweimal befördert worden, war an Kollegen im gleichen Dienstalter vorbeigezogen und hatte andere nervös gemacht. „Schicken Sie sie rauf, Dave. Ich spreche mal mit ihr.“
Sie legte auf und schob sich vom Schreibtisch zurück. „Warum man wohl mit einer Vermisstenmeldung zweiundzwanzig Jahre wartet?“, fragte sie mehr sich selbst als Phil, während sie auf ihrem Schreibtisch nach einem neuen Notizbuch und einem Stift suchte.
Phil schob die Lippen vor wie einer jener teueren Karpfen. „Vielleicht war sie im Ausland. Vielleicht ist sie gerade zurückgekommen und hat herausgefunden, dass diese Person nicht da ist, wo sie sie erwartet hatte.“
„Und vielleicht braucht sie uns, damit der Betroffene für tot erklärt werden kann. Geld, Phil. Darauf läuft es doch gewöhnlich hinaus.“ Karen lächelte ironisch. Ihr Lächeln schien nachzuwirken, wie bei der Grinsekatze aus Alice im Wunderland. Geschäftig verließ sie das Büro und ging zu den Aufzügen hinüber.
Ihr geübtes Auge studierte und stufte die Frau ein, die ohne das geringste Anzeichen von Schüchternheit aus dem Aufzug stieg. Jeans und ein Kapuzenpullover von Gap, der sportlich wirken sollte. Schnitt und Farben ihres Outfits waren hochmodern. Die Lederschuhe waren sauber, ohne Kratzer und passten im Farbton zu ihrer Handtasche, die von der Schulter auf die Hüfte herabhing. Ihr mittelbraunes Haar war gut geschnitten, der lange Bob begann nur an den Rändern ein wenig herauszuwachsen. Also wohl keine Arbeitslose. Wahrscheinlich auch keine Frau aus einer Sozialsiedlung. Sondern eine nette Frau der Mittelklasse, die etwas auf dem Herzen hatte. Mitte bis Ende zwanzig, blaue Augen mit einem hellen, topasfarbenen Glanz. Kaum eine Spur Make-up. Entweder versuchte sie es gar nicht, oder sie war schon verheiratet. Die Haut um ihre Augen wirkte leicht angespannt, als sie Karens musternden Blick bemerkte.
© Droemer Knaur Verlag
Übersetzung: Doris Styron
Sie steuerte ihn mit fest aufeinandergepressten Lippen an. Sieht nicht schlecht aus, dachte er. Aber wie bei vielen der Frauen, die sich hier einfanden, war ihr Äußeres auch nicht gerade spitzenmäßig. Ein bisschen mehr Make-up wäre angebracht gewesen, um ihre leuchtend blauen Augen stärker zu betonen; und auch etwas Kleidsameres als Jeans und ein Kapuzenpullover. Dave Cruickshank setzte sein gewohntes professionelles Lächeln auf. „Kann ich Ihnen helfen?“, fragte er.
Die Frau schob den Kopf leicht zurück, als wolle sie sich verteidigen. „Ich möchte jemanden als vermisst melden.“
Dave versuchte, sich seine Müdigkeit und Gereiztheit nicht anmerken zu lassen. Wenn nicht bitterböse Nachbarn, dann waren es so genannte Vermisste. Die Frau war für ein verschwundenes Kleinkind zu gelassen und für einen weggelaufenen Teenager zu jung. Bestimmt ging es um einen Streit mit ihrem Freund. Oder um einen senilen Opa, der ausgebrochen war. Also eine verflixte Zeitverschwendung – wie üblich. Er zog einen Block mit Formularen über den Schaltertisch in exakten Bewegungen zu sich heran und griff nach einem Füller. Aber er nahm dessen Kappe noch nicht ab. Es gab eine Schlüsselfrage, die beantwortet werden musste, bevor er Einzelheiten notieren würde. „Und wie lange ist diese Person schon verschwunden?“
„Zweiundzwanzig Jahre und sechs Monate. Genau genommen seit Freitag, dem vierzehnten Dezember 1984.“ Sie streckte das Kinn vor, und Entrüstung verdüsterte ihre Gesichtszüge. „Ist das lang genug, um es ernst nehmen zu können?“
Detective Sergeant Phil Parhatka sah sich den Video-Beitrag auf seinem Computermonitor zu Ende an, dann schloss er das Fenster. „Ich sag dir“, begann er, „wenn es überhaupt jemals eine günstige Zeit gegeben hat, um an ungelösten Fällen zu arbeiten, dann jetzt.“
Detective Inspector Karen Pirie hob den Blick kaum von der Akte, die sie gerade auf den neuesten Stand brachte. „Wieso?“
„Ist doch klar. Wir sind mitten im Krieg gegen den Terrorismus. Und ich habe mir gerade angesehen, wie mein Abgeordneter aus unserem Wahlkreis mit seiner Frau in die Downing Street 10 eingezogen ist.“ Er sprang auf und ging zu dem kleinen Kühlschrank hinüber, der auf einem Aktenschrank stand. „Womit würdest du dich lieber beschäftigen? Alte ungelöste Fälle aufklären und dafür eine gute Presse bekommen, oder Islamisten daran hindern, mitten in deinem Revier eine Bombe zu legen?“
„Du meinst, weil Gordon Brown jetzt Premierminister ist, wird Fife zur Zielscheibe werden?“ Karen legte den Zeigefinger auf die Stelle in der Akte, wo sie stehen geblieben war, und hörte Phil nun aufmerksam zu. Es dämmerte ihr, dass sie sich zu lange mit der Vergangenheit beschäftigt hatte, um die gegenwärtigen Eventualitäten beurteilen zu können. „Als Tony Blair an der Macht war, haben sie sich doch auch nie um seinen Wahlkreis gekümmert.“
„Das stimmt allerdings.“ Phil schaute in den Kühlschrank und schwankte zwischen einem Irn Bru und einem Vimto. Vierunddreißig Jahre war er alt und konnte sich immer noch nicht die Getränke abgewöhnen, die in seiner Kindheit das Größte gewesen waren. „Aber diese Typen nennen sich islamische Kämpfer, und Gordon ist ein Pfarrerssohn. Ich möchte ungern in den Schuhen des Polizeipräsidenten stecken, wenn sie sich vornehmen, ein Exempel zu statuieren und die alte Kirche seines Vaters in die Luft sprengen.“ Er entschied sich für das Vimto. Karen schüttelte sich.
„Ich verstehe nicht, wie du das Zeug trinken kannst“, sagte sie. „Hast du noch nie bemerkt, dass es praktisch ein Brechmittel ist?“
Phil nahm auf dem Weg zu seinem Schreibtisch einen großen Schluck. „Lässt Haare auf der Brust wachsen“, erwiderte er.
„Dann nimm doch gleich zwei Dosen.“ Karen klang gereizt und etwas neidisch. Phil schien sich von zuckersüßen Getränken und gesättigten Fettsäuren zu ernähren, war aber trotzdem noch genauso schlank und drahtig wie damals, in ihrer gemeinsamen Zeit als Anfänger. Sie dagegen brauchte eine normale Cola nur anzusehen, um zu spüren, wie sie ein paar Zentimeter zulegte. Es war wirklich ungerecht.
Phil kniff seine dunklen Augen zusammen und verzog die Lippen zu einem spöttischen, aber gutmütigen Lächeln. „Wie auch immer. Der Silberstreif am Horizont ist, dass es dem Chef gelingen könnte, mehr Geld von der Regierung loszueisen, wenn er sie überzeugen kann, dass die Bedrohung sich verstärkt hat.“
Karen schüttelte den Kopf, jetzt hatte sie festen Boden unter den Füßen. „Meinst du etwa, dass Gordons berühmter moralischer Leitstern ihm erlauben würde, auf etwas zuzusteuern, das so sehr nach Eigennutz aussieht?“ Noch im Sprechen griff sie nach dem Telefon, das gerade zu läuten begann. Es gab in dem großen Büro des Teams für ungelöste Fälle durchaus Kollegen, die rangniedriger waren, aber Karen hielt auch nach ihrer Beförderung an ihren alten Gewohnheiten fest und ging weiterhin ran, sobald ein Telefon in ihrer Nähe klingelte. „Detective Inspector Pirie am Apparat“, meldete sie sich zerstreut, denn sie war in Gedanken noch bei dem, was Phil gesagt hatte, und fragte sich, ob er sich wohl insgeheim danach sehnte, mehr in die aufregendere praktische Polizeiarbeit eingebunden zu sein.
„Dave Cruickshank am Empfang, Inspector. Hier ist eine Frau, die, glaub ich, mit Ihnen sprechen müsste.“ Cruickshank klang unsicher, was so ungewöhnlich war, dass Karen aufmerksam wurde.
„Worum geht es?“
„Eine vermisste Person“, sagte er.
„Einer von unseren Fällen?“
„Nein, sie möchte jemanden als vermisst melden.“
Karen unterdrückte einen gereizten Seufzer. Cruickshank sollte doch inzwischen wirklich Bescheid wissen. Er saß schon lange genug am Empfang. „Da muss sie mit der Kripo reden, Dave.“
„Ja, schon. Normalerweise wäre das meine erste Anlaufstelle. Aber wissen Sie, die Sache ist etwas ungewöhnlich. Und deshalb dachte ich, es wäre besser, zuerst mit Ihnen darüber zu sprechen.“
Komm zur Sache. „Wir haben es mit ungelösten Fällen zu tun. Wir leiern keine neuen Nachforschungen an.“ Karen sah mit rollenden Augen zu Phil hinüber, der über ihren offensichtlichen Ärger grinste.
„Dies ist nicht gerade eine neue Sache, Inspector. Der Mann ist vor zweiundzwanzig Jahren verschwunden.“
Karen richtete sich auf ihrem Stuhl auf. „Vor zweiundzwanzig Jahren? Und man kommt jetzt endlich dazu, es zu melden?“
„Stimmt. Ist das nun ein alter ungelöster Fall oder was anderes?“
Karen wusste, dass Cruickshank die Frau genau genommen an die Kripo verweisen müsste. Aber sie hatte schon immer eine Schwäche für alles gehabt, was bei anderen nur ein belustigtes, ungläubiges Kopfschütteln hervorrief. Kühne Hypothesen brachten sie erst so richtig in Schwung. Diesem Impuls folgend war sie in drei Jahren zweimal befördert worden, war an Kollegen im gleichen Dienstalter vorbeigezogen und hatte andere nervös gemacht. „Schicken Sie sie rauf, Dave. Ich spreche mal mit ihr.“
Sie legte auf und schob sich vom Schreibtisch zurück. „Warum man wohl mit einer Vermisstenmeldung zweiundzwanzig Jahre wartet?“, fragte sie mehr sich selbst als Phil, während sie auf ihrem Schreibtisch nach einem neuen Notizbuch und einem Stift suchte.
Phil schob die Lippen vor wie einer jener teueren Karpfen. „Vielleicht war sie im Ausland. Vielleicht ist sie gerade zurückgekommen und hat herausgefunden, dass diese Person nicht da ist, wo sie sie erwartet hatte.“
„Und vielleicht braucht sie uns, damit der Betroffene für tot erklärt werden kann. Geld, Phil. Darauf läuft es doch gewöhnlich hinaus.“ Karen lächelte ironisch. Ihr Lächeln schien nachzuwirken, wie bei der Grinsekatze aus Alice im Wunderland. Geschäftig verließ sie das Büro und ging zu den Aufzügen hinüber.
Ihr geübtes Auge studierte und stufte die Frau ein, die ohne das geringste Anzeichen von Schüchternheit aus dem Aufzug stieg. Jeans und ein Kapuzenpullover von Gap, der sportlich wirken sollte. Schnitt und Farben ihres Outfits waren hochmodern. Die Lederschuhe waren sauber, ohne Kratzer und passten im Farbton zu ihrer Handtasche, die von der Schulter auf die Hüfte herabhing. Ihr mittelbraunes Haar war gut geschnitten, der lange Bob begann nur an den Rändern ein wenig herauszuwachsen. Also wohl keine Arbeitslose. Wahrscheinlich auch keine Frau aus einer Sozialsiedlung. Sondern eine nette Frau der Mittelklasse, die etwas auf dem Herzen hatte. Mitte bis Ende zwanzig, blaue Augen mit einem hellen, topasfarbenen Glanz. Kaum eine Spur Make-up. Entweder versuchte sie es gar nicht, oder sie war schon verheiratet. Die Haut um ihre Augen wirkte leicht angespannt, als sie Karens musternden Blick bemerkte.
© Droemer Knaur Verlag
Übersetzung: Doris Styron
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Autoren-Porträt von Val McDermid
Val McDermid, geb. 1955 in Kirkcaldy im schottischen Fife, wuchs dort in einer Bergarbeiterfamilie auf. Nach der Schulzeit begann sie, als erste aus ihrer Familie überhaupt, ein Studium: Englische Literatur am St. Hilda's College in Oxford. Nach Jahren als Literaturdozentin und als Journalistin bei namhaften Zeitungen lebt sie heute als freie Autorin in Manchester und in einem kleinen Dorf an der englischen Nordseeküste. Sie gilt als eine der interessantesten Autorinnen im Spannungsgenre und ist ausserdem als Krimikritikerin der BBC, der Times, des Express und der Krimi-Website Tangled Web sowie als Jurymitglied mehrerer Krimipreise eine zentrale Figur in der britischen Krimiszene. Ihre Kriminalromane und Thriller sind weltweit in mehr als 25 Sprachen übersetzt. Für ihr Lebenswerk erhielt sie 2010 die angesehenste Auszeichnung, die es in Grossbritannien für Kriminalromane gibt: den Diamond Dagger der britischen Crime Writers' Association.
Bibliographische Angaben
- Autor: Val McDermid
- 2009, 539 Seiten, Masse: 15 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Styron, Doris
- Übersetzer: Doris Styron
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426198444
- ISBN-13: 9783426198445
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