Moonshine - Stadt der Dunkelheit
Roman. Deutsche Erstausgabe
Zephyr Hollis kämpft für Gerechtigkeit in New York. Djinn Amir ist sehr über ihre Bemühungen amüsiert, trotzdem bittet er sie um Hilfe. Zephyr soll den Vampir Ross, einen Drogenboss, für ihn finden. Bei ihrer Suche gerät Zephyr in tödliche Gefahr.
- Kreditkarte, Paypal, Rechnungskauf
- 30 Tage Widerrufsrecht
Produktdetails
Produktinformationen zu „Moonshine - Stadt der Dunkelheit “
Zephyr Hollis kämpft für Gerechtigkeit in New York. Djinn Amir ist sehr über ihre Bemühungen amüsiert, trotzdem bittet er sie um Hilfe. Zephyr soll den Vampir Ross, einen Drogenboss, für ihn finden. Bei ihrer Suche gerät Zephyr in tödliche Gefahr.
Klappentext zu „Moonshine - Stadt der Dunkelheit “
The Golden Twenties ... Illegale Bars florieren und das Nachtleben in den Jazz-Clubs ist ausgelassen wie nie zuvor. Doch New York hat auch eine dunkle Seite: Kriminalität und Korruption gehören zum Alltag und die Schwachen werden ausgebeutet - egal, ob es sich dabei um Frauen, Immigranten oder Vampire handelt. Zephyr Hollis tut alles, um diese Welt ein bisschen gerechter zu machen. Den Djinn Amir amüsieren ihre Bemühungen, trotzdem bittet er sie um Hilfe: Zephyr soll den Vampir Rinaldo, einen Drogenboss, für ihn finden. Sie macht sich auf die Suche, anfangs weil sie das angebotene Geld braucht, später aus viel persönlicheren Gründen. Dabei gerät sie in ein tödliches Netz aus Hass, Machtgier und Ignoranz ...
Lese-Probe zu „Moonshine - Stadt der Dunkelheit “
Moonshine – Stadt der Dunkelheit von Alaya Johnson1.
Ich geriet auf der vereisten Straße ins Schleudern, als ich um die Ecke auf die Lafayette Street bog. Nur meine
jahrelange Erfahrung rettete mich, als ich in die kaum dreißig Zentimeter breite Lücke zwischen einer Pferdedroschke und einem Model-T schlitterte. Der alten Dame, deren Hände in den weißen Handschuhen das Steuer des Wagens umklammerten, war ihr eigenes motorisiertes Fahrzeug offenbar ähnlich unheimlich wie eine Katze, die regelmäßig bei Vollmond verschwand, und so raubte ihr der Anblick meines Fahrrades, das anmutig an ihr vorbeiglitt, den letzten Rest an Selbstbeherrschung. Ich kann mir nicht vorstellen, was sie an mir so erschreckend fand. Es sei denn, es war das Grinsen, das ich mir nicht verkneifen konnte, als ich der Eisglätte im Januar trotzte. Mein Daddy sagte immer, dass ich im Winter zu leichtsinnig sei.
Die Dame schrie und entdeckte den Verwendungszweck des kleinen Knopfes in der Mitte ihres Lenkrades. Ihr Wagen kam ins Schlingern – glücklicherweise weg von den Pferden, die inzwischen vor Aufregung wieherten. Ich schaffte es gerade noch an der Droschke und dem Auto vorbei. Keinen Augenblick zu früh, denn eines der Pferde begann mit einem Mal zu steigen und schlug mit den Hufen gegen den hinteren Kotflügel des Model-T. Ich zuckte zusammen. Zwei Sekunden später und es wäre mein Magen gewesen.
Verdammte Tammany Hall, dachte ich wütend. Würde es diese Mistkerle in der schon sprichwörtlich gewordenen Geschäftsstelle der Demokratischen Partei denn umbringen, wenn sie zwischen ihren Wahlsiegen auch einmal etwas Nützliches taten – wie zum Beispiel die Straßen zu befes tigen?
Heute Abend waren die kriminell engen Straßen allerdings fast menschenleer. Kein anständiger Bürger hatte das Bedürfnis, nach Sonnenuntergang
... mehr
noch draußen unterwegs zu sein, zumal bei Neumond. Ich warf einen Blick auf meine Uhr – Viertel vor acht – und trat in die Pedale. Für eine Lehrerin gehörte es sich nicht, zu spät zur eigenen Unterrichtsstunde zu kommen. Vor allem nicht zu dieser Unterrichtsstunde. Und auf keinen Fall heute Abend.
In diesem Moment sah ich es. Nur ein zusammengekauerter Schatten in einer unsagbar dreckigen Seitengasse, an der heute vermutlich schon Hunderte Menschen vorbeigelaufen waren, ohne etwas zu sagen. Auch ich fuhr erst daran vorbei, bevor ein unbestimmtes Gefühl mich dazu brachte, zu bremsen, umzudrehen und zurückzufahren. Es war nicht so, als hätte mein Nacken geprickelt, und es war auch kein vielsagendes Kribbeln über meinen Rücken gekrochen. Dieses Talent besitze ich nicht – was auch immer meine Schüler hinter meinem Rücken über mich sagen mögen. Aber ich habe die Gabe, extrem aufmerksam und geistesgegenwärtig zu sein. Es ist eine Fähigkeit, die mein Daddy gefördert hat, da ich kein bisschen mit der Pistole umgehen und nicht einmal einen Goldfisch im Glas erschießen kann. Er wollte, dass seine Älteste irgendetwas richtig gut beherrscht.
Um möglichst schnell anzuhalten und umzudrehen, trat ich also gegen die Speichen, riss den Lenker scharf nach rechts und steuerte gleich wieder gegen. Ich holperte über die Entwässerungsrinne und rutschte auf den abgelaufenen Sohlen meiner Stiefel über den Gehweg. Tief in den Schatten eines gigantischen, schmutzigen Fabrikgebäudes kam ich zum Stehen. Beim Anblick solcher Gebäude muss ich unwillkürlich an hohläugige Einwandererkinder denken, die von skrupellosen Aufsehern in einen Raum gesperrt werden, damit sie nicht flüchten können. Meistens übernahmen Vampire in solchen Drecklöchern die Aufgaben der Wächter. Ich erschauderte und warf instinktiv einen Blick zurück auf die Straße. Verlassen. Ich denke, die Härchen in meinem Nacken hätten sich in diesem Moment aufgerichtet, wenn der mustergültig gestärkte Kragen meiner Bluse sie nicht daran gehindert hätte.
Ich trat näher an den engen Spalt zwischen einem Mietshaus und dem ehemaligen Waffen- und Munitionslager heran – der Abstand war zu schmal, um als »Gasse« bezeichnet werden zu können. Eine Ratte, die über mein Näherkommen offenbar überrascht war, huschte über ein graues Häufchen, das von dem restlichen Unrat kaum zu unterscheiden war, und verschwand im Rinnstein neben meinem Fahrrad. Allmählich gewöhnten meine Augen sich an die Dunkelheit. Endlich konnte ich die schwachen Umrisse des auf den ersten Blick harmlos wirkenden kleinen Haufens erkennen, der meine Aufmerksamkeit geweckt hatte. Jetzt bemerkte ich, dass er mit einer Kinderjacke zugedeckt war, die nach nasser Wolle roch. Zitternd – denn ich werde mich bei Gott niemals an so etwas gewöhnen, egal wie lange ich schon in dieser Stadt lebe – zog ich die Jacke zur Seite. Ich erblickte einen kleinen Jungen, dessen Haar röter war als meine eigenen rötlich braunen Haare. Seine Haut war unter den unzähligen Sommersprossen so bleich, dass ich wusste, was geschehen war, noch ehe ich die verräterischen Spuren an seinem Hals entdeckte.
Ich hockte mich auf die Fersen und biss die Zähne zusammen. Am Hals des Jungen zählte ich nicht weniger als sieben Wunden: oberflächlich und ungleichmäßig, als hätten sie mit ihm gespielt. Sicherlich hätte ich, wenn ich das Kragenhemd und die Anzugjacke – aus feinem Stoff hergestellt, aber abgetragen – geöffnet hätte, noch mehr Wunden auf seinem Rücken und an den Armen gefunden. Es sah fast aus wie eine Folterung, gepaart mit Rache. Es sah aus wie eine Tat der Turn Boys. Ein Grund mehr für mich, sie zu verachten. Die Bande von jugendlichen Vampiren herrschte rücksichtslos über ihr selbstgewähltes Königreich, das sich von Little Italy bis zur Lower East Side erstreckte. Der Fundort dieses armen Kindes war für ihren Wirkungskreis eigentlich schon etwas zu weit die Lafayette Street hinab, aber ich zweifelte keinen Augenblick daran, wer dem Jungen das angetan hatte. Ich hatte genügend ihrer Opfer gesehen, um sicher sein zu können.
Ein vereinzeltes Auto raste hinter mir die Straße entlang und spritzte eisigen Schneematsch über mein Fahrrad und auf meinen blauen Tweedrock. Wieder sah ich auf meine Uhr: zehn vor acht. Verdammt! Mir würde gerade noch genug Zeit bleiben, um zur Polizeistation zu fahren, den Fund zu melden und zur Schule zu hetzen. Doch ich wusste, was die Polizei mit dem Jungen tun würde, wenn sie ihn in die Finger bekam. Man ging kein Risiko ein, vor allem nicht, wenn es sich um irgendein namenloses Immigrantenkind handelte. Zu viele Kinder wurden vermisst, um wertvolle Zeit damit zu vergeuden, in einem der unzähligen Mietshäuser in Lower Manhattan nach einer verzweifelten Mutter zu suchen, die vermutlich nicht einmal Englisch sprach. Also nahmen sie die Kinder mit in die Leichenhalle, schalteten das elektrische Licht an und pfählten sie. Manchmal trenn ten sie ihnen, um auf Nummer sicher zu gehen, auch noch den Kopf ab, wenn es wahrscheinlich war, dass das Kind sich wandeln würde.
Dieser Junge würde seinen Kopf auf jeden Fall verlieren.
Er erinnerte mich ein bisschen an meinen kleinen Bruder Harry, der noch immer in Montana lebte. Dieselben Sommersprossen, derselbe rote Haarschopf. Der Junge trug einen einzelnen blauen Fäustling, den anderen musste er im Kampf verloren haben.
»Zephyr«, sagte ich streng und versuchte, meinem vor Schreck gelähmten Hirn etwas Vernunft einzubleuen, »Harry lacht noch immer darüber, dass er dir mal ein Stückchen Bienenwabe in den Schlüpfer gelegt hat. Das hier ist nicht er.«
Obwohl ich so überaus überzeugend und mitreißend an meine Vernunft appelliert hatte, erwischte ich mich im nächsten Moment dabei, wie ich den jämmerlich leichten Körper vom Boden aufhob und zu meinem Fahrrad trug.
Ich wusste nicht genau, was ich da eigentlich tat. Ich schwöre, dass das meistens so ist – ich lasse mich eigentlich immer von meinen Instinkten und meinem gesunden Selbsterhaltungstrieb leiten. Kurz entschlossen legte ich mir den Jungen über die Schulter, richtete mit aller Kraft den Lenker aus und bog wieder auf die Straße. Ich konnte ihn erst einmal im Schulgebäude unterbringen. Dort sollte er sicher sein.
Ich schnaufte und trat fester in die Pedale. Vor Anstrengung begann ich zu schwitzen. Der Junge war nicht schwer, aber ich war nie besonders stark gewesen. Außerdem kam ich geradewegs von einem Zwischenfall auf der anderen Seite der Brücke in Brooklyn zurück. Eine russische Einwanderin mit Ehemann und Kindern, die vor einer Woche gewandelt worden war, hatte offenbar die Warnung vor Alkohol nicht mitbekommen. Oder vielleicht hatte sie sie auch gehört und sie zusammen mit dem Rest des himmelschreienden Unsinns der Abstinenzbewegung einfach ausgeblendet. Ich selbst mochte vielleicht wenig Erfahrung mit dem Dämon Alkohol haben, aber es war kein Vergleich zwischen dem, was er mit meiner kleinen Schwester angestellt hatte, als sie den Geheimvorrat meines Vaters entdeckt hatte, und dem, was er mit den Anderen machte, die unglücklich oder leichtsinnig genug waren, sich zu betrinken. Ein Kicheranfall und der Kater am Morgen danach waren nichts gegen ... nun ja, das.
Die Haut der russischen Vampirin war rot geworden, hatte man mir erzählt. Nicht nur leicht gerötet, wie man es von normalen Betrunkenen in einer Bar kannte. O nein, blutrot. Ihr Blut hatte Tröpfchen auf der Haut gebildet, fast wie Schweiß, und es war aus ihrem Mund geronnen. Ihre Kinder waren natürlich schockiert gewesen. Niemand hatte ihnen erzählt, was mit ihrer Mutter geschehen war, nur, dass sie krank war. Das legal erworbene Blut einer ganzen Woche war auf den Boden gelaufen und hatte eine Lache aus übel riechendem Gift gebildet, das sich durch das Holz gefressen hatte. Das älteste Kind und der Vater waren weggelaufen. Das jüngste Kind war scheinbar gelähmt gewesen – vor Schock, Angst, Ungläubigkeit, Gott weiß was –, denn es war bei seiner Mutter geblieben. Der Vater hatte es erst bemerkt, als es zu spät gewesen war. Die Mutter – blutdurstig, betrunken, gewandelt und mehr als nur ein bisschen rasend – hatte sich ihrem Kind zugewandt und von seinem Blut getrunken. Erst als sie satt gewesen war, hatte sie begriffen, was sie da getan hatte. Zu spät.
Troy Kavanaghs Defender waren die Ersten, die vor Ort gewesen waren. Er hatte mir erzählt, dass die Frau sie ange fleht hatte, sie zu pfählen. Sie hatten ihr den Gefallen getan und den Jungen gleich mit gepfählt. Es ist zu gefährlich, zuzulassen, dass Kinder sich wandeln. Das behaupten zumindest Defender wie Troy, den ich von früher kenne. Noch von vor meiner Zeit in New York. Bei einer großen, legendären Yeti-Jagd in Nordmontana hatte er Daddy kennengelernt. Als ich nach New York gekommen war, hatte ich eine Zeitlang mit ihm zusammengearbeitet. Ich weiß zwar nicht gut mit einer Pistole umzugehen, aber man kann nicht als älteste Tochter des besten Dämonenjägers von Montana aufwachsen, ohne ein paar Tricks zu lernen. Ich hatte meinen Beitrag geleistet, doch ich hatte die Defender verlassen müssen. Die Anderen mögen nicht menschlich sein, aber sie sind immer noch Geschöpfe dieser Welt, verstehen Sie? Troy schien das nicht zu begreifen.
Er hatte mich also während der Säuberungsaktion herbeigerufen, damit ich mich um den Witwer und seinen Sohn kümmerte. Er hatte gemeint, die Situation schreie geradezu nach einer »zarten Hand«. Troy denkt, dass eine maskuline Kinnpartie eine lausige Persönlichkeit wettmachen kann. Also war ich schon den ganzen Tag mit dem Fahrrad unterwegs, und mein Steißbein fühlte sich mittlerweile an, als hätte jemand es mit dem Holzhammer bearbeitet. Außerdem hatte ich einen toten Jungen über der Schulter hängen, der aussah wie ein vampirisches Nadelkissen und dessen Verwandlung man unter keinen Umständen zulassen durfte. Zumindest wenn es nach ignoranten Leuten wie Troy ging, die eine ausgeprägte Phobie vor den Anderen hatten. Es war also kein Wunder, dass ich einige verstörte Blicke auf mich zog, als ich schnaufend über die Kreuzung der belebten Canal Street fuhr. Warum passierten solche Dinge eigentlich immer mir?
Ich musste lachen und beobachtete, wie mein Atem in kleinen weißen Wölkchen im Schimmer der elektrischen Straßenbeleuchtung davontrieb.
Weil ich verrückt bin.
Um zwei Minuten vor acht schoss ich am Verkehrschaos in der Bowery vorbei und hielt an der Ecke Rivington und Chrystie. Schweiß rann mir den Nacken hinab, und meine Bluse klebte mir am Rücken. Mein Hintern war noch immer feucht, meine Zehen spürte ich kaum noch. Zitternd stützte ich mich auf den Lenker und rang keuchend nach Luft. Hinter mir erhob sich das heruntergekommene Gebäude der Chrystie-Elementary-Schule, vom Rauch der Fabrikschlote verkrustet und nur gelegentlich beheizt. Lediglich drei der Klassenräume waren mit elektrischem Licht ausgestattet, und auch das war so zuverlässig wie ein liebestoller Sukkubus. Eine Schule für Einwanderer, unter ihnen auch etliche Andere, war für unsere reizende Stadtverwaltung nicht gerade ein Projekt von höchster Dringlichkeit.
Der Junge auf meiner Schulter begann zu stöhnen. Es war kein normales Stöhnen – Sie wissen schon, gebildet aus Luft und mit Stimmbändern und nach natürlichen biologischen Gesetzen. Nein, dieses Stöhnen war eindeutig jenseitig. Es war ein Stöhnen, das ein kleines Kind wie dieses eigentlich nicht hätte ausstoßen sollen. Es war zu laut und klang fast wie das Nebelhorn eines Schiffes in meinen Ohren. Bis auf den Mund bewegte der Körper sich dabei überhaupt nicht. Keine Luft drang in die Lunge ein oder entwich. Ich erschauderte.
»Vampire sind auch Geschöpfe unserer Erde«, sagte ich leise, um mich zu beruhigen. Ich war nicht oft dabei gewesen, wenn Vampire erwachten, doch meine Kenntnisse reichten aus, um zu wissen, dass mir nicht mehr viel Zeit blieb, den Jungen sicher unterzubringen. Er war augenscheinlich nicht älter als elf Jahre und würde sicher wilder als die meisten anderen sein. Mühsam kletterte ich vom Fahrrad, als der Junge auch schon anfing, sich ernsthaft zu rühren. Seine Bewegungen erwischten mich unvorbereitet, und im nächsten Moment fand ich mich, mit einem zwar schwachen, aber dennoch wehrhaften Vampir ringend, der Länge nach auf dem vereisten Fußweg im Schatten der Schule liegend wieder.
»Oh, verdammter Mist«, murmelte ich. Gut, eins nach dem anderen. Steh auf, Zephyr. Du musst in einer Minute zum Unterricht erscheinen. Mit grimmiger Entschlossenheit stellte ich einen Fuß auf eine wie durch ein Wunder eisfreie Stelle des Gehwegs und kam schwankend in die Hocke. Ich begann, ein Schlaflied zu summen, das meine Mama so gern gesungen hatte, als ich noch ein Kind war – möglicherweise wirkte es ja genauso beruhigend auf kleine Vampire? Doch der Junge wurde stärker, und das Stöhnen entwickelte sich zu einer Art ersticktem Schrei. Die wenigen Leute, die in dieser düsteren, schlecht beleuchteten Gegend noch unterwegs waren, hasteten an mir vorbei und hielten den Blick fest auf den Gehweg gerichtet.
»Ich könnte hier gerade sterben!«, schrie ich ihnen hinterher. So. Verdammte, herzlose Stadt. Mit der linken Hand hielt ich den Jungen fest, der sich aus meinem Griff zu winden versuchte, während ich mit der anderen mein Fahrrad aus dem Rinnstein zog. Dann schleppte ich beide zur Treppe, die zum Eingang der Schule führte.
»Brauchen Sie vielleicht Hilfe, Miss Hollis?«
Einen Moment lang erstarrte ich. Unwillkürlich umklammerte ich den Lenker meines Fahrrades so fest, dass meine Fingerknöchel weiß hervortraten. Ich kannte diese Stimme. Und ich konnte nicht sagen, dass ich sehr erfreut war, sie zu hören. Mit einem Lächeln, das vermutlich mehr als ein bisschen gestresst wirkte, wandte ich mich zu ihm um.
Die Arme lässig vor der Brust verschränkt, lehnte er auf halber Höhe der Treppe an der Steinbrüstung. Amir, wie er sich vorgestellt hatte, als er in der letzten Woche zum ersten Mal in meinem Unterricht aufgetaucht war. Kein Nachname – oder jedenfalls keiner, den er mir nennen wollte.
Er erinnerte mich an Rudolph Valentino in Der Scheich: fremd, gutaussehend, gefährlich, aber dunkler, die Züge breiter und insgesamt ein bisschen attraktiver. Zwar hatte er einen sonderbaren Akzent, doch ansonsten sprach er makelloses Englisch. Bis auf ein einziges Mal: Als ich ihn nach der ersten Unterrichtsstunde gefragt hatte, warum um alles in der Welt ausgerechnet er einen Kurs in »Lesen, Schreiben und Rhetorik« bräuchte, hatte er nahezu perfekt einen russischen Einwanderer nachgeahmt, der erst vor zwei Monaten von Bord gegangen war.
»Der Junge ist gerade erst gewandelt worden«, stellte er nun fest und wies mit einem Nicken auf das Kind, ohne sich jedoch zu rühren.
Ich biss die Zähne zusammen. »Das ist mir auch klar, Amir.«
»Sie haben die Situation also unter Kontrolle?«
Just in diesem offenbar vorherbestimmten Moment gab der Junge ein ohrenbetäubendes Knurren von sich und schlug seine vorpubertären Fangzähne in den (mittlerweile recht zerknitterten) Kragen meiner Bluse.
»Du kannst ein Kleidungsstück nicht aussaugen, du idiotischer ...« Ich war gezwungen, meinen kleinen Vortrag zu unterbrechen, weil der Junge mit einer unglaublichen Ge schwindigkeit die Beine um meine Taille geschlungen und mich zu Fall gebracht hatte.
Amir erreichte mich eine Sekunde später und versuchte, den Jungen von mir zu lösen, der wie ein übernatürlicher Blutegel an mir hing.
»Wie spät ist es?«, schrie ich über die wimmernden Laute hinweg, die der Junge machte, während er sich weiterhin bemühte, meinen Hals freizulegen. Ja, ja, die unerkannten Vorteile konservativer Blusen.
Amir hielt inne. Er wirkte ziemlich verblüfft, was mich trotz der widrigen Umstände außerordentlich freute. »Ist das Ihr Ernst?«, fragte er.
Ich schlug die Hand des Jungen weg, die noch immer in dem Fäustling steckte und nun über meine Brust wanderte, während ich den Rücken gegen die Steinbrüstung der Treppe presste. »Absolut.«
Es war Amir gelungen, einen Arm des Jungen zu ergreifen, daher musste er nun etwas unbeholfen mit der linken Hand nach einer Taschenuhr greifen, die vermutlich nur an Präsident Coolidge nicht deplaziert gewirkt hätte.
»Eine Minute nach acht«, sagte er. »Sollen wir dem blutgierigen Vampir erklären, dass Sie spät dran sind? Vielleicht ist er höflich genug, seine Attacke zu verschieben, bis Sie fertig sind.«
Ich funkelte ihn an. Doch bevor ich etwas Passendes erwidern konnte, spürte ich Zahnfleisch und schnell schärfer werdende Zähne, die über meinen plötzlich entblößten Hals kratzten. Ich fluchte und löste mich mühsam von dem suchenden Mund.
Amir hatte den Jungen inzwischen an der Taille gepackt und zog ihn von mir herunter. »Hat er Sie gebissen?«, stieß er hervor.
Übersetzung: Christiane Mayer
Copyright © 2010 für die deutschsprachige Ausgabe
bei Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der
Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
In diesem Moment sah ich es. Nur ein zusammengekauerter Schatten in einer unsagbar dreckigen Seitengasse, an der heute vermutlich schon Hunderte Menschen vorbeigelaufen waren, ohne etwas zu sagen. Auch ich fuhr erst daran vorbei, bevor ein unbestimmtes Gefühl mich dazu brachte, zu bremsen, umzudrehen und zurückzufahren. Es war nicht so, als hätte mein Nacken geprickelt, und es war auch kein vielsagendes Kribbeln über meinen Rücken gekrochen. Dieses Talent besitze ich nicht – was auch immer meine Schüler hinter meinem Rücken über mich sagen mögen. Aber ich habe die Gabe, extrem aufmerksam und geistesgegenwärtig zu sein. Es ist eine Fähigkeit, die mein Daddy gefördert hat, da ich kein bisschen mit der Pistole umgehen und nicht einmal einen Goldfisch im Glas erschießen kann. Er wollte, dass seine Älteste irgendetwas richtig gut beherrscht.
Um möglichst schnell anzuhalten und umzudrehen, trat ich also gegen die Speichen, riss den Lenker scharf nach rechts und steuerte gleich wieder gegen. Ich holperte über die Entwässerungsrinne und rutschte auf den abgelaufenen Sohlen meiner Stiefel über den Gehweg. Tief in den Schatten eines gigantischen, schmutzigen Fabrikgebäudes kam ich zum Stehen. Beim Anblick solcher Gebäude muss ich unwillkürlich an hohläugige Einwandererkinder denken, die von skrupellosen Aufsehern in einen Raum gesperrt werden, damit sie nicht flüchten können. Meistens übernahmen Vampire in solchen Drecklöchern die Aufgaben der Wächter. Ich erschauderte und warf instinktiv einen Blick zurück auf die Straße. Verlassen. Ich denke, die Härchen in meinem Nacken hätten sich in diesem Moment aufgerichtet, wenn der mustergültig gestärkte Kragen meiner Bluse sie nicht daran gehindert hätte.
Ich trat näher an den engen Spalt zwischen einem Mietshaus und dem ehemaligen Waffen- und Munitionslager heran – der Abstand war zu schmal, um als »Gasse« bezeichnet werden zu können. Eine Ratte, die über mein Näherkommen offenbar überrascht war, huschte über ein graues Häufchen, das von dem restlichen Unrat kaum zu unterscheiden war, und verschwand im Rinnstein neben meinem Fahrrad. Allmählich gewöhnten meine Augen sich an die Dunkelheit. Endlich konnte ich die schwachen Umrisse des auf den ersten Blick harmlos wirkenden kleinen Haufens erkennen, der meine Aufmerksamkeit geweckt hatte. Jetzt bemerkte ich, dass er mit einer Kinderjacke zugedeckt war, die nach nasser Wolle roch. Zitternd – denn ich werde mich bei Gott niemals an so etwas gewöhnen, egal wie lange ich schon in dieser Stadt lebe – zog ich die Jacke zur Seite. Ich erblickte einen kleinen Jungen, dessen Haar röter war als meine eigenen rötlich braunen Haare. Seine Haut war unter den unzähligen Sommersprossen so bleich, dass ich wusste, was geschehen war, noch ehe ich die verräterischen Spuren an seinem Hals entdeckte.
Ich hockte mich auf die Fersen und biss die Zähne zusammen. Am Hals des Jungen zählte ich nicht weniger als sieben Wunden: oberflächlich und ungleichmäßig, als hätten sie mit ihm gespielt. Sicherlich hätte ich, wenn ich das Kragenhemd und die Anzugjacke – aus feinem Stoff hergestellt, aber abgetragen – geöffnet hätte, noch mehr Wunden auf seinem Rücken und an den Armen gefunden. Es sah fast aus wie eine Folterung, gepaart mit Rache. Es sah aus wie eine Tat der Turn Boys. Ein Grund mehr für mich, sie zu verachten. Die Bande von jugendlichen Vampiren herrschte rücksichtslos über ihr selbstgewähltes Königreich, das sich von Little Italy bis zur Lower East Side erstreckte. Der Fundort dieses armen Kindes war für ihren Wirkungskreis eigentlich schon etwas zu weit die Lafayette Street hinab, aber ich zweifelte keinen Augenblick daran, wer dem Jungen das angetan hatte. Ich hatte genügend ihrer Opfer gesehen, um sicher sein zu können.
Ein vereinzeltes Auto raste hinter mir die Straße entlang und spritzte eisigen Schneematsch über mein Fahrrad und auf meinen blauen Tweedrock. Wieder sah ich auf meine Uhr: zehn vor acht. Verdammt! Mir würde gerade noch genug Zeit bleiben, um zur Polizeistation zu fahren, den Fund zu melden und zur Schule zu hetzen. Doch ich wusste, was die Polizei mit dem Jungen tun würde, wenn sie ihn in die Finger bekam. Man ging kein Risiko ein, vor allem nicht, wenn es sich um irgendein namenloses Immigrantenkind handelte. Zu viele Kinder wurden vermisst, um wertvolle Zeit damit zu vergeuden, in einem der unzähligen Mietshäuser in Lower Manhattan nach einer verzweifelten Mutter zu suchen, die vermutlich nicht einmal Englisch sprach. Also nahmen sie die Kinder mit in die Leichenhalle, schalteten das elektrische Licht an und pfählten sie. Manchmal trenn ten sie ihnen, um auf Nummer sicher zu gehen, auch noch den Kopf ab, wenn es wahrscheinlich war, dass das Kind sich wandeln würde.
Dieser Junge würde seinen Kopf auf jeden Fall verlieren.
Er erinnerte mich ein bisschen an meinen kleinen Bruder Harry, der noch immer in Montana lebte. Dieselben Sommersprossen, derselbe rote Haarschopf. Der Junge trug einen einzelnen blauen Fäustling, den anderen musste er im Kampf verloren haben.
»Zephyr«, sagte ich streng und versuchte, meinem vor Schreck gelähmten Hirn etwas Vernunft einzubleuen, »Harry lacht noch immer darüber, dass er dir mal ein Stückchen Bienenwabe in den Schlüpfer gelegt hat. Das hier ist nicht er.«
Obwohl ich so überaus überzeugend und mitreißend an meine Vernunft appelliert hatte, erwischte ich mich im nächsten Moment dabei, wie ich den jämmerlich leichten Körper vom Boden aufhob und zu meinem Fahrrad trug.
Ich wusste nicht genau, was ich da eigentlich tat. Ich schwöre, dass das meistens so ist – ich lasse mich eigentlich immer von meinen Instinkten und meinem gesunden Selbsterhaltungstrieb leiten. Kurz entschlossen legte ich mir den Jungen über die Schulter, richtete mit aller Kraft den Lenker aus und bog wieder auf die Straße. Ich konnte ihn erst einmal im Schulgebäude unterbringen. Dort sollte er sicher sein.
Ich schnaufte und trat fester in die Pedale. Vor Anstrengung begann ich zu schwitzen. Der Junge war nicht schwer, aber ich war nie besonders stark gewesen. Außerdem kam ich geradewegs von einem Zwischenfall auf der anderen Seite der Brücke in Brooklyn zurück. Eine russische Einwanderin mit Ehemann und Kindern, die vor einer Woche gewandelt worden war, hatte offenbar die Warnung vor Alkohol nicht mitbekommen. Oder vielleicht hatte sie sie auch gehört und sie zusammen mit dem Rest des himmelschreienden Unsinns der Abstinenzbewegung einfach ausgeblendet. Ich selbst mochte vielleicht wenig Erfahrung mit dem Dämon Alkohol haben, aber es war kein Vergleich zwischen dem, was er mit meiner kleinen Schwester angestellt hatte, als sie den Geheimvorrat meines Vaters entdeckt hatte, und dem, was er mit den Anderen machte, die unglücklich oder leichtsinnig genug waren, sich zu betrinken. Ein Kicheranfall und der Kater am Morgen danach waren nichts gegen ... nun ja, das.
Die Haut der russischen Vampirin war rot geworden, hatte man mir erzählt. Nicht nur leicht gerötet, wie man es von normalen Betrunkenen in einer Bar kannte. O nein, blutrot. Ihr Blut hatte Tröpfchen auf der Haut gebildet, fast wie Schweiß, und es war aus ihrem Mund geronnen. Ihre Kinder waren natürlich schockiert gewesen. Niemand hatte ihnen erzählt, was mit ihrer Mutter geschehen war, nur, dass sie krank war. Das legal erworbene Blut einer ganzen Woche war auf den Boden gelaufen und hatte eine Lache aus übel riechendem Gift gebildet, das sich durch das Holz gefressen hatte. Das älteste Kind und der Vater waren weggelaufen. Das jüngste Kind war scheinbar gelähmt gewesen – vor Schock, Angst, Ungläubigkeit, Gott weiß was –, denn es war bei seiner Mutter geblieben. Der Vater hatte es erst bemerkt, als es zu spät gewesen war. Die Mutter – blutdurstig, betrunken, gewandelt und mehr als nur ein bisschen rasend – hatte sich ihrem Kind zugewandt und von seinem Blut getrunken. Erst als sie satt gewesen war, hatte sie begriffen, was sie da getan hatte. Zu spät.
Troy Kavanaghs Defender waren die Ersten, die vor Ort gewesen waren. Er hatte mir erzählt, dass die Frau sie ange fleht hatte, sie zu pfählen. Sie hatten ihr den Gefallen getan und den Jungen gleich mit gepfählt. Es ist zu gefährlich, zuzulassen, dass Kinder sich wandeln. Das behaupten zumindest Defender wie Troy, den ich von früher kenne. Noch von vor meiner Zeit in New York. Bei einer großen, legendären Yeti-Jagd in Nordmontana hatte er Daddy kennengelernt. Als ich nach New York gekommen war, hatte ich eine Zeitlang mit ihm zusammengearbeitet. Ich weiß zwar nicht gut mit einer Pistole umzugehen, aber man kann nicht als älteste Tochter des besten Dämonenjägers von Montana aufwachsen, ohne ein paar Tricks zu lernen. Ich hatte meinen Beitrag geleistet, doch ich hatte die Defender verlassen müssen. Die Anderen mögen nicht menschlich sein, aber sie sind immer noch Geschöpfe dieser Welt, verstehen Sie? Troy schien das nicht zu begreifen.
Er hatte mich also während der Säuberungsaktion herbeigerufen, damit ich mich um den Witwer und seinen Sohn kümmerte. Er hatte gemeint, die Situation schreie geradezu nach einer »zarten Hand«. Troy denkt, dass eine maskuline Kinnpartie eine lausige Persönlichkeit wettmachen kann. Also war ich schon den ganzen Tag mit dem Fahrrad unterwegs, und mein Steißbein fühlte sich mittlerweile an, als hätte jemand es mit dem Holzhammer bearbeitet. Außerdem hatte ich einen toten Jungen über der Schulter hängen, der aussah wie ein vampirisches Nadelkissen und dessen Verwandlung man unter keinen Umständen zulassen durfte. Zumindest wenn es nach ignoranten Leuten wie Troy ging, die eine ausgeprägte Phobie vor den Anderen hatten. Es war also kein Wunder, dass ich einige verstörte Blicke auf mich zog, als ich schnaufend über die Kreuzung der belebten Canal Street fuhr. Warum passierten solche Dinge eigentlich immer mir?
Ich musste lachen und beobachtete, wie mein Atem in kleinen weißen Wölkchen im Schimmer der elektrischen Straßenbeleuchtung davontrieb.
Weil ich verrückt bin.
Um zwei Minuten vor acht schoss ich am Verkehrschaos in der Bowery vorbei und hielt an der Ecke Rivington und Chrystie. Schweiß rann mir den Nacken hinab, und meine Bluse klebte mir am Rücken. Mein Hintern war noch immer feucht, meine Zehen spürte ich kaum noch. Zitternd stützte ich mich auf den Lenker und rang keuchend nach Luft. Hinter mir erhob sich das heruntergekommene Gebäude der Chrystie-Elementary-Schule, vom Rauch der Fabrikschlote verkrustet und nur gelegentlich beheizt. Lediglich drei der Klassenräume waren mit elektrischem Licht ausgestattet, und auch das war so zuverlässig wie ein liebestoller Sukkubus. Eine Schule für Einwanderer, unter ihnen auch etliche Andere, war für unsere reizende Stadtverwaltung nicht gerade ein Projekt von höchster Dringlichkeit.
Der Junge auf meiner Schulter begann zu stöhnen. Es war kein normales Stöhnen – Sie wissen schon, gebildet aus Luft und mit Stimmbändern und nach natürlichen biologischen Gesetzen. Nein, dieses Stöhnen war eindeutig jenseitig. Es war ein Stöhnen, das ein kleines Kind wie dieses eigentlich nicht hätte ausstoßen sollen. Es war zu laut und klang fast wie das Nebelhorn eines Schiffes in meinen Ohren. Bis auf den Mund bewegte der Körper sich dabei überhaupt nicht. Keine Luft drang in die Lunge ein oder entwich. Ich erschauderte.
»Vampire sind auch Geschöpfe unserer Erde«, sagte ich leise, um mich zu beruhigen. Ich war nicht oft dabei gewesen, wenn Vampire erwachten, doch meine Kenntnisse reichten aus, um zu wissen, dass mir nicht mehr viel Zeit blieb, den Jungen sicher unterzubringen. Er war augenscheinlich nicht älter als elf Jahre und würde sicher wilder als die meisten anderen sein. Mühsam kletterte ich vom Fahrrad, als der Junge auch schon anfing, sich ernsthaft zu rühren. Seine Bewegungen erwischten mich unvorbereitet, und im nächsten Moment fand ich mich, mit einem zwar schwachen, aber dennoch wehrhaften Vampir ringend, der Länge nach auf dem vereisten Fußweg im Schatten der Schule liegend wieder.
»Oh, verdammter Mist«, murmelte ich. Gut, eins nach dem anderen. Steh auf, Zephyr. Du musst in einer Minute zum Unterricht erscheinen. Mit grimmiger Entschlossenheit stellte ich einen Fuß auf eine wie durch ein Wunder eisfreie Stelle des Gehwegs und kam schwankend in die Hocke. Ich begann, ein Schlaflied zu summen, das meine Mama so gern gesungen hatte, als ich noch ein Kind war – möglicherweise wirkte es ja genauso beruhigend auf kleine Vampire? Doch der Junge wurde stärker, und das Stöhnen entwickelte sich zu einer Art ersticktem Schrei. Die wenigen Leute, die in dieser düsteren, schlecht beleuchteten Gegend noch unterwegs waren, hasteten an mir vorbei und hielten den Blick fest auf den Gehweg gerichtet.
»Ich könnte hier gerade sterben!«, schrie ich ihnen hinterher. So. Verdammte, herzlose Stadt. Mit der linken Hand hielt ich den Jungen fest, der sich aus meinem Griff zu winden versuchte, während ich mit der anderen mein Fahrrad aus dem Rinnstein zog. Dann schleppte ich beide zur Treppe, die zum Eingang der Schule führte.
»Brauchen Sie vielleicht Hilfe, Miss Hollis?«
Einen Moment lang erstarrte ich. Unwillkürlich umklammerte ich den Lenker meines Fahrrades so fest, dass meine Fingerknöchel weiß hervortraten. Ich kannte diese Stimme. Und ich konnte nicht sagen, dass ich sehr erfreut war, sie zu hören. Mit einem Lächeln, das vermutlich mehr als ein bisschen gestresst wirkte, wandte ich mich zu ihm um.
Die Arme lässig vor der Brust verschränkt, lehnte er auf halber Höhe der Treppe an der Steinbrüstung. Amir, wie er sich vorgestellt hatte, als er in der letzten Woche zum ersten Mal in meinem Unterricht aufgetaucht war. Kein Nachname – oder jedenfalls keiner, den er mir nennen wollte.
Er erinnerte mich an Rudolph Valentino in Der Scheich: fremd, gutaussehend, gefährlich, aber dunkler, die Züge breiter und insgesamt ein bisschen attraktiver. Zwar hatte er einen sonderbaren Akzent, doch ansonsten sprach er makelloses Englisch. Bis auf ein einziges Mal: Als ich ihn nach der ersten Unterrichtsstunde gefragt hatte, warum um alles in der Welt ausgerechnet er einen Kurs in »Lesen, Schreiben und Rhetorik« bräuchte, hatte er nahezu perfekt einen russischen Einwanderer nachgeahmt, der erst vor zwei Monaten von Bord gegangen war.
»Der Junge ist gerade erst gewandelt worden«, stellte er nun fest und wies mit einem Nicken auf das Kind, ohne sich jedoch zu rühren.
Ich biss die Zähne zusammen. »Das ist mir auch klar, Amir.«
»Sie haben die Situation also unter Kontrolle?«
Just in diesem offenbar vorherbestimmten Moment gab der Junge ein ohrenbetäubendes Knurren von sich und schlug seine vorpubertären Fangzähne in den (mittlerweile recht zerknitterten) Kragen meiner Bluse.
»Du kannst ein Kleidungsstück nicht aussaugen, du idiotischer ...« Ich war gezwungen, meinen kleinen Vortrag zu unterbrechen, weil der Junge mit einer unglaublichen Ge schwindigkeit die Beine um meine Taille geschlungen und mich zu Fall gebracht hatte.
Amir erreichte mich eine Sekunde später und versuchte, den Jungen von mir zu lösen, der wie ein übernatürlicher Blutegel an mir hing.
»Wie spät ist es?«, schrie ich über die wimmernden Laute hinweg, die der Junge machte, während er sich weiterhin bemühte, meinen Hals freizulegen. Ja, ja, die unerkannten Vorteile konservativer Blusen.
Amir hielt inne. Er wirkte ziemlich verblüfft, was mich trotz der widrigen Umstände außerordentlich freute. »Ist das Ihr Ernst?«, fragte er.
Ich schlug die Hand des Jungen weg, die noch immer in dem Fäustling steckte und nun über meine Brust wanderte, während ich den Rücken gegen die Steinbrüstung der Treppe presste. »Absolut.«
Es war Amir gelungen, einen Arm des Jungen zu ergreifen, daher musste er nun etwas unbeholfen mit der linken Hand nach einer Taschenuhr greifen, die vermutlich nur an Präsident Coolidge nicht deplaziert gewirkt hätte.
»Eine Minute nach acht«, sagte er. »Sollen wir dem blutgierigen Vampir erklären, dass Sie spät dran sind? Vielleicht ist er höflich genug, seine Attacke zu verschieben, bis Sie fertig sind.«
Ich funkelte ihn an. Doch bevor ich etwas Passendes erwidern konnte, spürte ich Zahnfleisch und schnell schärfer werdende Zähne, die über meinen plötzlich entblößten Hals kratzten. Ich fluchte und löste mich mühsam von dem suchenden Mund.
Amir hatte den Jungen inzwischen an der Taille gepackt und zog ihn von mir herunter. »Hat er Sie gebissen?«, stieß er hervor.
Übersetzung: Christiane Mayer
Copyright © 2010 für die deutschsprachige Ausgabe
bei Knaur Taschenbuch. Ein Unternehmen der
Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.
... weniger
Autoren-Porträt von Alaya Johnson
Alaya Johnson, geboren 1982, machte 2004 ihren Abschluss in Ostasiatischer Sprache und Kultur an der Columbia University. Nach langen Aufenthalten in Japan, lebt und arbeitet sie heute wieder in New York. Sie hat eine Schwäche für exotisches Essen und liebt alle Arten von phantastischer und historischer Literatur. „Moonshine – Stadt der Dunkelheit“ ist ihr erstes in Deutschland veröffentlichtes Buch. Die Autorin schreibt bereits an einer Fortsetzung.
Bibliographische Angaben
- Autor: Alaya Johnson
- 2010, 425 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Christiane Meyer
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 3426507161
- ISBN-13: 9783426507162
- Erscheinungsdatum: 10.08.2010
Kommentare zu "Moonshine - Stadt der Dunkelheit"
0 Gebrauchte Artikel zu „Moonshine - Stadt der Dunkelheit“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
3.5 von 5 Sternen
5 Sterne 2Schreiben Sie einen Kommentar zu "Moonshine - Stadt der Dunkelheit".
Kommentar verfassen