Mitternachtssonne am Fjord
Ein Norwegenroman
Nach dem Tod von Andreas grosser Liebe bringt Jacob endlich wieder Leichtigkeit in ihr Leben. Doch er hat abgründige Seiten
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Mitternachtssonne am Fjord “
Nach dem Tod von Andreas grosser Liebe bringt Jacob endlich wieder Leichtigkeit in ihr Leben. Doch er hat abgründige Seiten
Klappentext zu „Mitternachtssonne am Fjord “
Andrea Sandberg hat ihre grosse Liebe Magnus verloren - er ist bei einem Segelunfall verunglückt. Nur ihr kleiner Sohn Lars hilft ihr, diesen schweren Schicksalsschlag zu ertragen. Als sie schliesslich den attraktiven Jacob kennenlernt, der sie charmant umwirbt, kehrt die Leichtigkeit langsam zurück. Was sie nicht ahnt: Jacob hat abgründige Seiten, die schon bald für sie und ihre Freunde auf den Lofoten zur Gefahr werden...
Lese-Probe zu „Mitternachtssonne am Fjord “
Mitternachtssonne am Fjord von Elfie LigensaKapitel 1
Aufgeregt kreischend flogen ein Dutzend Möwen dicht über ihren Kopf hinweg. Andrea glaubte den Luftzug zu spüren, den das hastige Flügelschlagen erzeugte. Ohne sich umzudrehen, wusste sie, dass in diesem Moment einer der vielen Fischtrawler in den Hafen von Stamsund einlief. Es war Anfang April - Dorschsaison auf den Lofoten!
Mit weit ausholenden Schritten ging Andrea weiter. Der feine Sprühregen, der von Norden kam und wie Nadelstiche auf ihrer Haut brannte, störte sie nicht. Und auch als der Wind stärker wurde und ihr die Kapuze der wattierten blauen Wetterjacke vom Kopf riss, reagierte sie nicht. Die Hände tief in den Jackentaschen vergraben, wanderte sie weiter.
Erst als sie den kleinen Strandabschnitt erreicht hatte, der sich am Südende des Ortes befand, wurden ihre Schritte langsamer. Tief atmete Andrea auf und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. War es nur der Regen, der ihr über die Wangen rann? Oder waren es Tränen?
Es war besser, sich darauf keine Antwort zu geben.
Wieder schossen ein paar Möwen im Sturzflug dicht an ihr vorbei, hinüber zu dem reichgedeckten Tisch im Hafen. Kiesel knirschten unter Andreas Füßen, sie glitt beinahe auf einem dichten Büschel Tang aus, das graugrün zwischen den feuchten Steinen lag. Ein paar Krabben, aufgescheucht durch den Menschen, der ihre Ruhe störte, hasteten zurück ins rettende Wasser.
Ein schmaler Strandabschnitt war auch heute das Ziel ihres Spaziergangs. Seit fünf Jahren, seit sie auf den Lofoten lebte, war diese kleine, versteckt liegende Bucht ihr Lieblingsplatz. Touristen verirrten sich nie hierher, und auch von den Einheimischen kam nur selten mal jemand an diesen Ort.
... mehr
Sie bemerkte die Fußspuren neben sich erst, als das Wasser ihre festen braunen Stiefeletten umspülte. Große Fußspuren waren es, Spuren von nackten Männerfüßen.
Andrea zuckte zusammen, als sie sich umdrehte und die letzten Meter zurückschaute. Dicht nebeneinander waren die Abdrücke in den feuchten Sand eingegraben - so, als wären zwei Menschen eng umschlungen am Strand spazieren gegangen.
Magnus und ich sind oft hier entlanggeschlendert. Dicht am Wasser, das unsere Füße umspülte. Magnus hat sich immer die Schuhe ausgezogen und ist barfuß gegangen, das kalte Wasser hat er nicht gescheut.
Magnus ... Sie spürte, wie ein heftiges Schluchzen in ihrer Kehle aufstieg. Es war, als säße der Schmerz, einem wilden Tier gleich, in ihrer Brust und dränge nun mit Macht heraus.
»Warum hast du mich allein gelassen? Warum nur? Warum?« Sie krümmte sich zusammen, als könne sie sich so vor dem Schmerz schützen, der sie mit eisernen Krallen packte. So war es seit anderthalb Jahren, seit dem Moment, in dem man ihr mitgeteilt hatte, dass Magnus bei einem Segeltörn verunglückt war.
Drei Jahre lang waren sie unendlich glücklich gewesen. Magnus hatte als Meeresbiologe sowohl auf den Lofoten als auch auf dem Festland gearbeitet. Intensiv forschte er in seinem privaten Labor, war aber auch etliche Male im Jahr mit Kollegen auf der Black Lady, einem perfekt ausgestatteten Forschungsschiff, unterwegs. Zudem hielt er im Ausland Vorträge. Sein Wissen war wertvoll und sehr gefragt. Doch am liebsten war er auf den Lofoten, bei seiner kleinen Familie.
Die kleine Familie ... die gab es nicht mehr. Ausgelöscht. Von einem Tag zum anderen. Zurückgeblieben waren sie und Lars. Lars ... wenn es ihn nicht gäbe, hätte ihr Leben kaum noch einen Sinn. Aber der quirlige, aufgeweckte Zweieinhalbjährige brauchte seine Mama, und Andrea bemühte sich, in seiner Gegenwart fröhlich und optimistisch zu wirken. So, wie sie sich auch während der Arbeit in ihrer Praxis ruhig und ausgeglichen gab.
Es war am Anfang nicht leicht gewesen für die deutsche Ärztin, das Vertrauen der Inselbewohner zu erringen. Dr. Andrea Sandberg, die eines Tages mit einem Postschiff angekommen und einfach geblieben war, hatte erst beweisen müssen, dass sie eine würdige Nachfolgerin für den alten Johan Ecklund war. Inzwischen jedoch war sie völlig etabliert, wurde geachtet und geschätzt.
Mit einer energischen Geste rieb sie sich Regen und Tränen aus den Augen und ging langsam weiter.
Die Fußspuren, eben noch ganz dicht neben den ihren, waren verschwunden.
Nein, da waren sie ja wieder, die großen Abdrücke von Männerfüßen! Aber nun waren es Spuren von derben Schuhen, und sie führten vom Strand fort, hinauf zu den Krüppelkiefern, die in zwanzig Metern Höhe am Hang standen und den Blick auf die Straße verstellten.
Es war wie ein Reflex, als Andrea der Spur folgte. Warum soll ich nicht mal einen anderen Weg gehen, sagte sie sich fast trotzig. Es ist Sonntag, Lars wird von Birgit Ecklund gehütet, und ich hab alle Zeit der Welt.
Es regnete nicht mehr, und auch der Wind hatte nachgelassen. Andrea schob die Kapuze nach hinten und strich sich eine feuchte Haarsträhne hinters Ohr. Der Wind, der ihr eben noch die Regentropfen wie kleine Nadelstiche auf die Haut geweht hatte, war jetzt wie ein Streicheln auf der Haut und trocknete endgültig das salzige Nass auf ihren Wangen.
Etwa vierzig Meter folgte Andrea der Spur, die dann aber, kurz bevor sie die ersten der Krüppelkiefern erreicht hatte, unvermutet nach links abbog. Felsbrocken, mehr als haushoch, türmten sich plötzlich vor ihr auf und nahmen Andrea die Sicht. Statt des feuchten Sandes hatte sie glattgewaschene Kiesel unter den Füßen. Sie hörte das Rauschen des Meeres, doch den Strand konnte sie nicht mehr sehen.
Sie kannte diese Felsformationen, da, wo sich die grauen Steinriesen bis zum Meer erstreckten, endete stets ihre Spazierstrecke. Langsam drehte sie sich um und sah zurück zum Sandstrand.
»Ob es einen Weg oberhalb der Felsen gibt?« Sie blieb stehen und sah sich stirnrunzelnd um. Wo waren die Fußspuren geblieben?
Eine Möwe flog so dicht über ihren Kopf hinweg, dass sie den Fisch, den der Vogel gefangen hatte, deutlich in seinem Schnabel sehen konnte.
Andrea ging weiter und kletterte vorsichtig über die feuchten Steine. Wenn ich abrutsche, muss ich ewig auf Hilfe warten, schoss es ihr durch den Sinn. Sie warf sich vor, wieder einmal ihr Handy nicht eingesteckt zu haben.
Zögernd blieb sie stehen. Sollte sie umkehren?
Die Möwe kam zurück, umflog den fast glatten Fels- brocken, der sich vor Andrea auftürmte, und man hörte nur noch das aufgeregte Kreischen des Vogels. Lockte er sie?
Vorsichtig setzte sie Fuß vor Fuß. Erst als sie die ersten der riesigen Steine umrundet hatte, begleitet vom wütenden Protest einiger Papageientaucher, die an den schroffen Felswänden brüteten, hatte sie wieder freie Sicht. Eine winzige Bucht tat sich vor ihr auf. Ihr weißer Sandstrand, höchstens fünf Meter breit, bildete einen krassen Kontrast zum fast schwarz anmutenden Wasser.
Andrea sah drei Papageientauchern zu, die über die Wellen flogen und nach Nahrung tauchten. Dass diese Vögel sich in dieser Gegend zum Brüten niedergelassen hatten, war ungewöhnlich. Ihre bevorzugten Brutplätze waren sonst eher die schroffen Klippen auf den Inseln Röst oder Væröy. Dort, auf den über zweihundert Meter hohen Felsen, lebten die Tiere in riesigen Kolonien.
»Sind eben auch Individualisten«, murmelte Andrea vor sich hin und setzte ihren Spazierweg fort. Diese kleine Bucht kannte sie noch nicht, und sie freute sich über ihre Entdeckung.
Sie bemerkte die kleine Hütte, die aus Natursteinen gebaut war und sich in den Schutz einiger Felsbrocken schmiegte, erst, als sie bis auf zehn Meter herangekommen war. Die verwitterte Holztür war nicht fest geschlossen, und trotz des Rauschens der Brandung konnte Andrea das Quietschen der Scharniere hören. Zögernd ging sie näher.
»Hallo, ist hier jemand?« Im Türrahmen blieb sie stehen und schaute vorsichtig ins Innere der Hütte. Diese bestand nur aus einem einzigen, spärlich möblierten Raum. Die beiden kleinen Fenster ließen nur wenig Licht herein. Doch es genügte, um sich vorsichtig umzusehen. In der Mitte stand ein grobgezimmerter, länglicher Holztisch und davor ein einzelner Stuhl, beide wirkten alt und verwittert. Unter den Fenstern bemerkte Andrea eine lackierte Truhe, auf der eine dunkelgrüne Wachsjacke lag. Von der einst bunten Bemalung der Truhe war kaum noch etwas zu erkennen, nur ein Boot in hohem Seegang und einen Walfisch konnte Andrea ausmachen.
»Hallo! Jemand zu Hause?« Bevor sie näher trat, rief sie noch einmal in den Raum hinein - keine Antwort.
Ein paar Gummistiefel lagen seitlich neben der Tür, Sand war von den groben Profilsohlen abgefallen.
Andrea bückte sich und hob einen der Stiefel auf - noch war der Sand feucht! Wer immer die Stiefel getragen hatte, er konnte noch nicht lange fort sein!
Weiter schweifte der Blick, blieb an einer Pritsche hängen, die rechts von der Tür stand. Auf dem schmalen Bett lagen ein Thermoschlafsack und ein Rucksack. Und auf der Erde, halb verdeckt von einer alten Wolldecke, bemerkte sie zwei blutgetränkte Handtücher und eine Rolle mit Leukoplast.
Wer immer hier hauste, hatte sich massiv verletzt!
Zögernd hob Andrea den Rucksack hoch. Ein blauer Norweger-Pulli, zwei Paar Socken, Shorts, ein Buch über Hochseefischerei im Nordatlantik, ein Notizblock und eine Brieftasche.
Andrea biss sich auf die Lippen. Sie war nicht neugierig, doch diese blutigen Lappen ... Vielleicht brauchte jemand Hilfe, und sie sollte wissen, wer das war.
Als sie die Brieftasche aufklappte, sah sie in einer Plastikhülle eine Kreditkarte und einen Führerschein. Gerade wollte sie die Brieftasche zurücklegen, da fielen ein paar Blätter heraus: eine kleinformatige Straßenkarte und zwei Fotos. Ein Farbfoto zeigte einen riesigen Pottwal, der mit seiner Finne das Wasser aufpeitschte. Es war ein toller Schnappschuss!
Das zweite Foto ... Andrea schrie unterdrückt auf. Auf dem zweiten Foto waren drei junge Männer beim Hochseeangeln zu sehen. Sie blickten strahlend auf einen riesigen Hai, der an einer Seilwinde hing. Obwohl das Foto schon leicht vergilbt war, erkannte sie einen der Männer sofort - es war Magnus!
»Nein!« Wimmernd fiel Andrea auf die Knie. Wie in einem Krampf hielt sie das Foto fest, starrte darauf und nahm nichts um sich herum wahr.
»Hey, kann ich dir helfen? Geht's dir nicht gut?«
Andrea zuckte zusammen. Langsam hob sie den Kopf. Zunächst sah sie nur nackte Beine und eine bis fast zu den Knien hochgekrempelte Cordhose.
»Nein! Nein! Magnus ...« Sie sprang auf, und das Foto entfiel ihren zitternden Fingern, ehe sie voller Panik aus der Hütte stürmte. Wie von allen teuflischen Mächten gehetzt rannte sie den Weg zurück, kletterte an den Felsen vorbei und hoch zu den Krüppelkiefern, die ihr zumindest ein wenig Schutz boten.
Schutz wovor?
Vor Magnus? Vor dem Trugbild, das ihr am helllichten Tag erschienen war?
Keuchend blieb sie stehen und sah sich um, es folgte ihr niemand mehr. Magnus - oder wer immer es gewesen war, der in die Hütte gekommen war - lief ihr nicht mehr nach.
Andrea hatte Seitenstechen, und auch das Gesicht brannte. In ihrer Panik war sie vom Weg abgekommen, einige der harten Kiefernzweige waren ihr ins Gesicht geschlagen und hatten schmerzhafte Kratzspuren auf ihren Wangen hinterlassen.
Schwer atmend beugte sie sich nach vorn, denn so wurde das Seitenstechen erträglicher. Ihre Gedanken wurden klarer, und sie versuchte sich das Bild, das sie im Rucksack gefunden hatte, noch einmal genau zu vergegenwärtigen.
War es wirklich Magnus gewesen?
»Nein, das kann gar nicht sein«, murmelte sie und strich sich über das blonde Haar, das ihr in feuchten Strähnen bis über die Schultern fiel. Während der Praxisstunden fasste sie ihre Haare meist in einem Pferdeschwanz zusammen oder steckte sie locker hoch. In der Freizeit aber ließ sie die langen Locken bis weit über die Schultern fallen. Magnus hatte sie so am liebsten gesehen.
Magnus ... nein, er war nicht der Mann auf dem Foto. Der Abgebildete war jünger. Viel jünger.
»Es kann ein altes Bild von ihm gewesen sein«, sagte sie aus ihren Überlegungen heraus. »Vor zehn, zwölf Jahren hat Magnus sicher so ausgesehen.«
Langsam und sich immer wieder umsehend, ob sie nicht doch verfolgt wurde, kletterte sie weiter nach oben. Vorsichtig jetzt, damit sie sich nicht noch mehr verletzte.
Den Mann, der sich in den Schutz einiger hoher Fels- brocken duckte und sie mit zusammengekniffenen Augen beobachtete, bemerkte sie nicht.
© Copyright: Ullstein Verlag, 2013.
Sie bemerkte die Fußspuren neben sich erst, als das Wasser ihre festen braunen Stiefeletten umspülte. Große Fußspuren waren es, Spuren von nackten Männerfüßen.
Andrea zuckte zusammen, als sie sich umdrehte und die letzten Meter zurückschaute. Dicht nebeneinander waren die Abdrücke in den feuchten Sand eingegraben - so, als wären zwei Menschen eng umschlungen am Strand spazieren gegangen.
Magnus und ich sind oft hier entlanggeschlendert. Dicht am Wasser, das unsere Füße umspülte. Magnus hat sich immer die Schuhe ausgezogen und ist barfuß gegangen, das kalte Wasser hat er nicht gescheut.
Magnus ... Sie spürte, wie ein heftiges Schluchzen in ihrer Kehle aufstieg. Es war, als säße der Schmerz, einem wilden Tier gleich, in ihrer Brust und dränge nun mit Macht heraus.
»Warum hast du mich allein gelassen? Warum nur? Warum?« Sie krümmte sich zusammen, als könne sie sich so vor dem Schmerz schützen, der sie mit eisernen Krallen packte. So war es seit anderthalb Jahren, seit dem Moment, in dem man ihr mitgeteilt hatte, dass Magnus bei einem Segeltörn verunglückt war.
Drei Jahre lang waren sie unendlich glücklich gewesen. Magnus hatte als Meeresbiologe sowohl auf den Lofoten als auch auf dem Festland gearbeitet. Intensiv forschte er in seinem privaten Labor, war aber auch etliche Male im Jahr mit Kollegen auf der Black Lady, einem perfekt ausgestatteten Forschungsschiff, unterwegs. Zudem hielt er im Ausland Vorträge. Sein Wissen war wertvoll und sehr gefragt. Doch am liebsten war er auf den Lofoten, bei seiner kleinen Familie.
Die kleine Familie ... die gab es nicht mehr. Ausgelöscht. Von einem Tag zum anderen. Zurückgeblieben waren sie und Lars. Lars ... wenn es ihn nicht gäbe, hätte ihr Leben kaum noch einen Sinn. Aber der quirlige, aufgeweckte Zweieinhalbjährige brauchte seine Mama, und Andrea bemühte sich, in seiner Gegenwart fröhlich und optimistisch zu wirken. So, wie sie sich auch während der Arbeit in ihrer Praxis ruhig und ausgeglichen gab.
Es war am Anfang nicht leicht gewesen für die deutsche Ärztin, das Vertrauen der Inselbewohner zu erringen. Dr. Andrea Sandberg, die eines Tages mit einem Postschiff angekommen und einfach geblieben war, hatte erst beweisen müssen, dass sie eine würdige Nachfolgerin für den alten Johan Ecklund war. Inzwischen jedoch war sie völlig etabliert, wurde geachtet und geschätzt.
Mit einer energischen Geste rieb sie sich Regen und Tränen aus den Augen und ging langsam weiter.
Die Fußspuren, eben noch ganz dicht neben den ihren, waren verschwunden.
Nein, da waren sie ja wieder, die großen Abdrücke von Männerfüßen! Aber nun waren es Spuren von derben Schuhen, und sie führten vom Strand fort, hinauf zu den Krüppelkiefern, die in zwanzig Metern Höhe am Hang standen und den Blick auf die Straße verstellten.
Es war wie ein Reflex, als Andrea der Spur folgte. Warum soll ich nicht mal einen anderen Weg gehen, sagte sie sich fast trotzig. Es ist Sonntag, Lars wird von Birgit Ecklund gehütet, und ich hab alle Zeit der Welt.
Es regnete nicht mehr, und auch der Wind hatte nachgelassen. Andrea schob die Kapuze nach hinten und strich sich eine feuchte Haarsträhne hinters Ohr. Der Wind, der ihr eben noch die Regentropfen wie kleine Nadelstiche auf die Haut geweht hatte, war jetzt wie ein Streicheln auf der Haut und trocknete endgültig das salzige Nass auf ihren Wangen.
Etwa vierzig Meter folgte Andrea der Spur, die dann aber, kurz bevor sie die ersten der Krüppelkiefern erreicht hatte, unvermutet nach links abbog. Felsbrocken, mehr als haushoch, türmten sich plötzlich vor ihr auf und nahmen Andrea die Sicht. Statt des feuchten Sandes hatte sie glattgewaschene Kiesel unter den Füßen. Sie hörte das Rauschen des Meeres, doch den Strand konnte sie nicht mehr sehen.
Sie kannte diese Felsformationen, da, wo sich die grauen Steinriesen bis zum Meer erstreckten, endete stets ihre Spazierstrecke. Langsam drehte sie sich um und sah zurück zum Sandstrand.
»Ob es einen Weg oberhalb der Felsen gibt?« Sie blieb stehen und sah sich stirnrunzelnd um. Wo waren die Fußspuren geblieben?
Eine Möwe flog so dicht über ihren Kopf hinweg, dass sie den Fisch, den der Vogel gefangen hatte, deutlich in seinem Schnabel sehen konnte.
Andrea ging weiter und kletterte vorsichtig über die feuchten Steine. Wenn ich abrutsche, muss ich ewig auf Hilfe warten, schoss es ihr durch den Sinn. Sie warf sich vor, wieder einmal ihr Handy nicht eingesteckt zu haben.
Zögernd blieb sie stehen. Sollte sie umkehren?
Die Möwe kam zurück, umflog den fast glatten Fels- brocken, der sich vor Andrea auftürmte, und man hörte nur noch das aufgeregte Kreischen des Vogels. Lockte er sie?
Vorsichtig setzte sie Fuß vor Fuß. Erst als sie die ersten der riesigen Steine umrundet hatte, begleitet vom wütenden Protest einiger Papageientaucher, die an den schroffen Felswänden brüteten, hatte sie wieder freie Sicht. Eine winzige Bucht tat sich vor ihr auf. Ihr weißer Sandstrand, höchstens fünf Meter breit, bildete einen krassen Kontrast zum fast schwarz anmutenden Wasser.
Andrea sah drei Papageientauchern zu, die über die Wellen flogen und nach Nahrung tauchten. Dass diese Vögel sich in dieser Gegend zum Brüten niedergelassen hatten, war ungewöhnlich. Ihre bevorzugten Brutplätze waren sonst eher die schroffen Klippen auf den Inseln Röst oder Væröy. Dort, auf den über zweihundert Meter hohen Felsen, lebten die Tiere in riesigen Kolonien.
»Sind eben auch Individualisten«, murmelte Andrea vor sich hin und setzte ihren Spazierweg fort. Diese kleine Bucht kannte sie noch nicht, und sie freute sich über ihre Entdeckung.
Sie bemerkte die kleine Hütte, die aus Natursteinen gebaut war und sich in den Schutz einiger Felsbrocken schmiegte, erst, als sie bis auf zehn Meter herangekommen war. Die verwitterte Holztür war nicht fest geschlossen, und trotz des Rauschens der Brandung konnte Andrea das Quietschen der Scharniere hören. Zögernd ging sie näher.
»Hallo, ist hier jemand?« Im Türrahmen blieb sie stehen und schaute vorsichtig ins Innere der Hütte. Diese bestand nur aus einem einzigen, spärlich möblierten Raum. Die beiden kleinen Fenster ließen nur wenig Licht herein. Doch es genügte, um sich vorsichtig umzusehen. In der Mitte stand ein grobgezimmerter, länglicher Holztisch und davor ein einzelner Stuhl, beide wirkten alt und verwittert. Unter den Fenstern bemerkte Andrea eine lackierte Truhe, auf der eine dunkelgrüne Wachsjacke lag. Von der einst bunten Bemalung der Truhe war kaum noch etwas zu erkennen, nur ein Boot in hohem Seegang und einen Walfisch konnte Andrea ausmachen.
»Hallo! Jemand zu Hause?« Bevor sie näher trat, rief sie noch einmal in den Raum hinein - keine Antwort.
Ein paar Gummistiefel lagen seitlich neben der Tür, Sand war von den groben Profilsohlen abgefallen.
Andrea bückte sich und hob einen der Stiefel auf - noch war der Sand feucht! Wer immer die Stiefel getragen hatte, er konnte noch nicht lange fort sein!
Weiter schweifte der Blick, blieb an einer Pritsche hängen, die rechts von der Tür stand. Auf dem schmalen Bett lagen ein Thermoschlafsack und ein Rucksack. Und auf der Erde, halb verdeckt von einer alten Wolldecke, bemerkte sie zwei blutgetränkte Handtücher und eine Rolle mit Leukoplast.
Wer immer hier hauste, hatte sich massiv verletzt!
Zögernd hob Andrea den Rucksack hoch. Ein blauer Norweger-Pulli, zwei Paar Socken, Shorts, ein Buch über Hochseefischerei im Nordatlantik, ein Notizblock und eine Brieftasche.
Andrea biss sich auf die Lippen. Sie war nicht neugierig, doch diese blutigen Lappen ... Vielleicht brauchte jemand Hilfe, und sie sollte wissen, wer das war.
Als sie die Brieftasche aufklappte, sah sie in einer Plastikhülle eine Kreditkarte und einen Führerschein. Gerade wollte sie die Brieftasche zurücklegen, da fielen ein paar Blätter heraus: eine kleinformatige Straßenkarte und zwei Fotos. Ein Farbfoto zeigte einen riesigen Pottwal, der mit seiner Finne das Wasser aufpeitschte. Es war ein toller Schnappschuss!
Das zweite Foto ... Andrea schrie unterdrückt auf. Auf dem zweiten Foto waren drei junge Männer beim Hochseeangeln zu sehen. Sie blickten strahlend auf einen riesigen Hai, der an einer Seilwinde hing. Obwohl das Foto schon leicht vergilbt war, erkannte sie einen der Männer sofort - es war Magnus!
»Nein!« Wimmernd fiel Andrea auf die Knie. Wie in einem Krampf hielt sie das Foto fest, starrte darauf und nahm nichts um sich herum wahr.
»Hey, kann ich dir helfen? Geht's dir nicht gut?«
Andrea zuckte zusammen. Langsam hob sie den Kopf. Zunächst sah sie nur nackte Beine und eine bis fast zu den Knien hochgekrempelte Cordhose.
»Nein! Nein! Magnus ...« Sie sprang auf, und das Foto entfiel ihren zitternden Fingern, ehe sie voller Panik aus der Hütte stürmte. Wie von allen teuflischen Mächten gehetzt rannte sie den Weg zurück, kletterte an den Felsen vorbei und hoch zu den Krüppelkiefern, die ihr zumindest ein wenig Schutz boten.
Schutz wovor?
Vor Magnus? Vor dem Trugbild, das ihr am helllichten Tag erschienen war?
Keuchend blieb sie stehen und sah sich um, es folgte ihr niemand mehr. Magnus - oder wer immer es gewesen war, der in die Hütte gekommen war - lief ihr nicht mehr nach.
Andrea hatte Seitenstechen, und auch das Gesicht brannte. In ihrer Panik war sie vom Weg abgekommen, einige der harten Kiefernzweige waren ihr ins Gesicht geschlagen und hatten schmerzhafte Kratzspuren auf ihren Wangen hinterlassen.
Schwer atmend beugte sie sich nach vorn, denn so wurde das Seitenstechen erträglicher. Ihre Gedanken wurden klarer, und sie versuchte sich das Bild, das sie im Rucksack gefunden hatte, noch einmal genau zu vergegenwärtigen.
War es wirklich Magnus gewesen?
»Nein, das kann gar nicht sein«, murmelte sie und strich sich über das blonde Haar, das ihr in feuchten Strähnen bis über die Schultern fiel. Während der Praxisstunden fasste sie ihre Haare meist in einem Pferdeschwanz zusammen oder steckte sie locker hoch. In der Freizeit aber ließ sie die langen Locken bis weit über die Schultern fallen. Magnus hatte sie so am liebsten gesehen.
Magnus ... nein, er war nicht der Mann auf dem Foto. Der Abgebildete war jünger. Viel jünger.
»Es kann ein altes Bild von ihm gewesen sein«, sagte sie aus ihren Überlegungen heraus. »Vor zehn, zwölf Jahren hat Magnus sicher so ausgesehen.«
Langsam und sich immer wieder umsehend, ob sie nicht doch verfolgt wurde, kletterte sie weiter nach oben. Vorsichtig jetzt, damit sie sich nicht noch mehr verletzte.
Den Mann, der sich in den Schutz einiger hoher Fels- brocken duckte und sie mit zusammengekniffenen Augen beobachtete, bemerkte sie nicht.
© Copyright: Ullstein Verlag, 2013.
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Autoren-Porträt von Elfie Ligensa
Ligensa, ElfieElfie Ligensa schreibt erfolgreich Romane und Drehbücher und lebt mit ihrem Mann und einer eigenwilligen Katze in der Nähe von Köln.
Bibliographische Angaben
- Autor: Elfie Ligensa
- 2013, 393 Seiten, Masse: 12 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 354828437X
- ISBN-13: 9783548284378
- Erscheinungsdatum: 09.08.2013
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