Minimum
Zu den knappen Rohstoffen der Zukunft wird etwas gehören, das man nicht sparen kann: soziale Bindungen. Eine wachsende Zahl von Kindern wird in ihrer eigenen Generation wenige oder gar keine Blutsverwandte mehr haben.
Damit werden unsere sozialen...
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Zu den knappen Rohstoffen der Zukunft wird etwas gehören, das man nicht sparen kann: soziale Bindungen. Eine wachsende Zahl von Kindern wird in ihrer eigenen Generation wenige oder gar keine Blutsverwandte mehr haben.
Damit werden unsere sozialen Beziehungen als Folge der Schrumpfung unserer Gesellschaft und vielfältiger Globalisierungseffekte grossen Belastungen ausgesetzt sein. Denn das private Versorgungsnetz innerhalb der Familie wird es so nicht mehr geben.
Wir werden gezwungen sein, unser alltägliches Zusammenleben von Grund auf neu zu organisieren. Nach Ansicht des Autors werden Frauen dabei eine alles entscheidende Rolle spielen.
Frank Schirrmacher, geboren 1959, ist seit 1994 Mitherausgeber der FAZ. Hier beweist er: Die erfolgreichsten Überlebensstrategien sind die der Familienverbände und nicht die der starken, jungen, männlichen Einzelkämpfer.
Unsere sozialen Beziehungen werden in den nächsten Jahrzehnten einer grossen Belastung ausgesetzt: Sie werden knapp werden wie ein kostbarer Rohstoff. Schon heute bewegen sie sich in Teilen des Landes auf ein historisch nie gekanntes Minimum zu. Als Ergebnis der unumstösslichen Schrumpfung unserer Gesellschaft und aufgrund vielfältiger Globalisierungseffekte wird es eine Reduzierung unserer kleinsten Welt, der unserer Freunde und Familien geben. Diese Revolution wird sich in allen Lebensbereichen Geltung verschaffen: in der Politik wie in der Kultur, in der Wissenschaft wie im Alltag.
Wer ist da, wenn niemand mehr da ist? Jeder hat gelernt, dass er für die Zukunft vorsorgen muss. Wir sollen sparen, Geld und Vorräte anlegen. Aber kann man eigentlich Kinder sparen, die man nie geboren hat? Zu den knappen Rohstoffen der Zukunft wird etwas gehören, das man nicht sparen kann: Verwandte, Freunde, Beziehungen, kurzum das, was man soziales Kapital nennt. In den kommenden Jahren wird sich unsere Lebensweise radikal verändern. In vielen Ländern Europas wird eine wachsende Zahl von Kindern in ihrer eigenen Generation wenige oder gar keine Blutsverwandte mehr haben. Künftig sehen sich ganze Landstriche, wie heute schon Teile Ostdeutschlands, mit einer Wanderungsbewegung junger Frauen konfrontiert; zurück bleiben Männer, deren Chancen, eine Partnerin zu finden, immer geringer werden.
Frank Schirrmacher zeigt, dass unsere Gesellschaften auf diese Entwertung ihres sozialen Kapitals nicht vorbereitet sind: Der Wohlfahrtsstaat zieht sich in einem Moment als grosser Ernährer zurück, in dem sich das private Versorgungsnetz aus Freundschaft, Verwandtschaft und Familie auflöst. Kann es in diesem Umfeld Uneigennützigkeit und Altruismus, selbstlose Hilfe und Unterstützung für den anderen überhaupt noch geben?
Der Zusammenbruch unserer sozialen Grundfesten zwingt uns, unser alltägliches Zusammenleben von Grund auf umzuorganisieren. Dabei
"Wenn du einen Jungen erziehst, erziehst du eine Person, wenn du ein Mädchen erziehst, erziehst du eine Familie und eine ganze Gemeinschaft - ja, eine Nation."
(JAMES D. WOLFENSOHN, EHEMALIGER WELTBANKPRÄSIDENT)
Der Tagesspiegel "Frank Schirrmacher - der Antreiber nationaler Grossdebatten."
Focus "Frank Schirrmacher öffnet seinen Werkzeugkasten: Darin liegt Neugier, die vor nichts Halt macht, sowie auf Zuspitzung trainierter Scharfsinn."Welt am Sonntag
Minimum von FrankSchirrmacher
LESEPROBE
Die Männer
Es ist eiskalt. Und so weit dasAuge reicht, liegt Schnee. Aus der Vogelperspektive betrachtet, sieht dieLandschaft aus wie ein riesiger weisser Bogen Papier, auf dem sechs abgezirkelteschwarze Kreise eingezeichnet sind. Diese Kreise markieren Lager, notdürftigerrichtet von den Menschen, die hier festsitzen. Insgesamt sind eseinundachtzig: mehrere grosse Familien, Alleinreisende und einige ortskundige Führer,die den Treck sicher durch die Sierra Nevada hätten bringen sollen. Doch nunist Ende November 1846, und die Siedler sind am Fusse eines Berges wiefestgefroren. Ohne entsprechende Ausrüstung und überwältigt von dem frühenWintereinbruch kommen sie mit ihren Planwagen nicht mehr weiter, der Schneeblockiert den Weg nach vorne und auch den Weg zurück. Schneestürme, die sich zuTornados auswachsen, fegen fast täglich über sie hinweg, decken ihreHabseligkeiten zu. Jenseits der Berge, wo man vergeblich auf die Ankunft derSiedler wartet, schickt man ein Rettungsteam los. Doch es kommt nicht durch undmuss umkehren. Die Retter wissen nicht, wie viel Vieh der Treck schon verlorenhat, und fälschlicherweise glauben sie, die Gruppe hätte noch Vorräte für vierMonate. Die Lage ist aussichtslos. Von einem kleinen Trupp, der einige Wochenspäter im Dezember ohne die Gruppe weitergezogen ist, hören dieZurückgebliebenen nichts mehr. Margaret Reed, eine der Siedlerinnen, zermürbenHunger und Kälte so sehr, dass sie beschliesst, zu Fuss über die verschneitenBerge zu fliehen. Zusammen mit ihrer dreizehnjährigen Tochter Virginia, einerBediensteten und einem Führer macht sie sich auf; ihre drei jüngeren Kinder lässtsie bei den anderen Familien zurück. Aber neue, noch heftigere Schneestürmezwingen den kleinen Trupp schon nach wenigen Kilometern zur Umkehr. Es ist, alswäre ein böses Märchen wahr geworden: Ein schrecklicher Bann liegt auf demLager - und niemand kann ihn brechen. Heute wissen wir: Dieser Bann schmiedetedie Menschen sechs Monate lang in der Eiswüste aneinander, und mit jedem Tag,der verging, näherten sie sich dem absoluten Minimum, das zum Überlebennotwendig war. Was sich zwischen ihnen abspielen wird, ist eine ziemlich schauerlicheGeschichte, in der bis zum Mord kein menschliches Verbrechen ausgelassen undbis zur aufopfernden Liebe über den Tod hinaus keine menschliche Grösseunverzeichnet bleibt. Das Schicksal dieser Menschen ist als die Tragödie vom Donner-Passtief in das amerikanische Gedächtnis eingegraben. Voller Optimismus hatten sichdie Siedler auf den Weg gemacht, die meisten von ihnen waren wohlhabend und stammtenaus Deutschland oder Österreich. Jakob Donner und sein Bruder George, die denEreignissen ihren Namen gaben, beides reiche Landbesitzer, hatten die Spitzedes Zugs gebildet. Sie waren mit Karren und Planwagen und grossen Vorräten für Körperund Geist losgezogen, mit Bibel und Gesangbüchern, mit Illusionen und Träumen vomfernen Kalifornien, das irgendwo jenseits des Horizonts liegen musste.
»Ich sitze im Gras in der Mittemeines Zeltes«, schreibt die fünfundvierzigjährige Tamsen Donner am Tag derAbreise an ihre Schwester und verkündet: »Morgen gehen wir nach Kalifornien, indie Bucht von Francisco. Die Reise dauert vier Monate. Wir haben drei Wagen,die mit Nahrung, Kleidung und solchen Dingen gefüllt sind. Ich bin entschlossenzu gehen und bin sicher, es wird für unsere Kinder von Vorteil sein.« TamsenDonner ist Lehrerin. Sie macht viele Notizen, sie plant, ein Buch über diePflanzenvielfalt des Wilden Westens zu schreiben. Ihr Notizbuch wurde niemalsgefunden. Nach allem, was ihre Mitreisenden später berichteten, wurde aus demBuch über die verschiedenen Arten der Pflanzen bald eines über dieverschiedenen Arten der Menschen in Zeiten der Not. Man darf sich dieReisegruppe nicht als eine Bande von Glücksrittern und Goldsuchern vorstellen.Sehr viele dieser Menschen sind als Bürger und Kaufleute in ihr neues Leben aufgebrochen.Virginia Reed wird sich später daran erinnern, dass ihre Eltern nicht nurenorme Vorräte an Hausrat und Nahrung auf die Wagen geladen hatten, sondern aucheine vollständige Bibliothek, bestehend aus Werken der Weltliteratur. Schonlange redet niemand mehr über Bücher. Noch ehe die Siedler hier festfroren,hatten sie bemerkenswerte Höhen und vor allem Tiefen erlebt. Im Sommer hattensie die Salzseen durchqueren müssen, und in der Hitze schmolzen die erstenBindungen dahin, und Misstrauen wuchs. Die Abkürzung, die sie genommen hatten,erwies sich als Verhängnis, denn der Weg war kaum befahrbar. Jetzt begann diePanik. Sie mussten den Bergpass vor den ersten Schneefällen erreichen. Am 6.Oktober 1846 fordert der Stress, dem der Treck ausgesetzt ist, sein erstesGewaltopfer. Der junge John Snyder wird erstochen. Der Mörder wird verbannt,obgleich Ludwig Keseberg, ein Einwanderer aus Westfalen, zur Lynchjustiz ruft.Das soziale Gerippe der Reisegruppe kommt zum Vorschein und erschrecktzuallererst die Kinder. Am 9. Oktober beginnt die Phase der angstgetriebenen Rücksichtslosigkeit:Ein ungefähr sechzig Jahre alter Mann namens Hardkoop, ein Einwanderer ausBelgien, wird von Ludwig Keseberg nach einem Streit vom Wagen gestossen. Keinanderer nimmt ihn auf. Der Mann fällt mehr und mehr zurück. Zuletzt wird ergesehen, wie er sich einfach an den Strassenrand setzt und dort sitzen bleibt.Nicht jeder wird Zeuge des Vorfalls; einige erfahren erst abends davon. Sieentzünden ein Feuer, um den Verstossenen ins Lager zu lotsen. Aber er bleibtverschollen. Am darauf folgenden Tag bittet Mrs. Reed mehrere Mitreisende umPferde, sie will den alten Mann suchen. Doch jeder, den sie fragt, lehnt ab.Alle führen Gründe der Selbsterhaltung an. Die Zeit drängt, sie müssen denGebirgspass überquert haben, ehe der Winter kommt, denn, wie alle wissen, dieSchneestürme brechen ohne Gnade und Vorwarnung über das Land herein. Verantwortungslosgeworden, zieht die Gruppe weiter, es sind knapp achtzig Menschen, die keineLiteratur mehr im Sinn haben und keine botanischen Studien und denen dieschöngeistige Metapher von der Lebensreise plötzlich etwas voraussagt, was siein wachsende Panik versetzt: Wenn die Reise hier endet, endet auch ihr Leben. Unddann beginnt es zu schneien. In der Sierra Nevada, weit entfernt von jeglichermenschlicher Behausung, bleiben sie im Schneesturm stecken. Wären sie einen Tagschneller gewesen, so heisst es seither in der Literatur, hätten sie womöglichgeschafft, die Wüste hinter sich zu lassen. Das ist der Augenblick, da dieseMenschen ganz auf sich selbst und aufeinander angewiesen sind. Wer sind sie? Essind Alte und Junge. Grosseltern sind dabei und Enkel, Mütter, Väter und Kinder,Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen, ausserdem Junggesellen und Einzelgänger.Auffallend ist die hohe Zahl allein reisender Männer. Es sind insgesamtfünfzehn, alle zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt. Sie sind stark,selbstbewusst und vertraut mit den Gefahren des Wilden Westens. Wenn es irgendwoWagehälse, Glücksritter und Goldsucher gibt, dann findet man sie unter ihnen.Es gibt aber auch das achtjährige Mädchen, das es schafft, seine kleineHolzpuppe bis zuletzt in den Kleidern zu verstecken, um sie so vor dem Verfeuernzu retten; den fünfundsechzigjährigen George Donner, der den Ereignissen ihrenNamen gegeben hat, und seine Ehefrau, Tamsen. Sie wird im Verlauf dieserGeschichte eine wichtige, manche sagen: eine heroische Rolle spielen. TamsenDonner nämlich wird zeigen, dass ein Mensch bis über den Tod hinaus zu einemanderen Menschen halten kann. Man sieht: Mit Blick auf Verwandtschaftsgrad,Alter, Geschlecht, Status und Charakter bestehen zwischen diesen Menschen fastalle erdenklichen sozialen und verwandtschaftlichen Querverbindungen. Von derFerne betrachtet, von dort, wo man nur die weisse Fläche und die markierten Lagererkennt, wirkt das Ganze wie der Mikrochip einer Gesellschaft - ein Prozessor,der Schicksale verarbeitet -, und jeder von uns hätte dabei gewesen seinkönnen. Geschichten sind Rollenspiele. Auch auf dem Donner-Pass wurden solcheSpiele ausgetragen. Virginia Reed, wie erstorben von der Langeweile desAusharrens im Eis, hatte ihre Bücher wieder und wieder gelesen. Doch jedesdieser Bücher wurde verbrannt, am Schluss blieb ihr nur ein Roman, den sie, wiesie später erzählte, wie eine Rolle nachspielte: Es war eine ArtRobinson-Crusoe-Roman, der die Geschichte des Überlebens eines starken undselbstbewussten Helden in der Wildnis erzählte. Spielen auch wir einRollenspiel. Wer mitspielt, kann sich nicht nur in eine fremde Welthineinträumen, sondern auch eine Art Wahrscheinlichkeitsrechnung mit demSchicksal aufstellen. Wählen wir die Person, unseren selbstbewussten Helden oderunsere Heldin, in deren Haut wir schlüpfen wollen - eine Person, von der wirglauben, dass sie die Kälte und den Hunger am Donner-Pass durchsteht. DochVorsicht bei der Wahl: Am Ende dieser Geschichte werden vierzig Menschengestorben sein. Was müsste man tun, um dort zu überleben? Oder bescheidener:Was müsste man tun, um möglichst lange am Leben zu bleiben? Auf wen kann man ineiner Gemeinschaft bauen? Wer müsste man sein? Die Erlebnisse derSchicksalsgemeinschaft am Donner- Pass geben auf jede dieser Fragen Auskunft. Wissenschaftlerfast aller Fakultäten haben sich mit der Tragödie in der Sierra Nevada befasst.Schriften wurden ausgewertet, Stammbäume erforscht und sogar Ausgrabungendurchgeführt. Aber nur einer, der Anthropologe Donald Grayson, beschäftigtesich mit der Frage, die unserem Rollenspiel zugrunde liegt. Keiner vor ihmhatte sie bisher gestellt, vielleicht weil keiner mit einer Antwort gerechnethatte. »Was erfahren wir«, fragte Grayson, »wenn wir dieses schrecklicheErlebnis nicht als Historie, sondern als biologischen Vorgang deuten?« Werüberlebt? Die meisten Menschen tippen bei der Beantwortung dieser Frage auf dieGruppe der fünfzehn erwachsenen, starken, unabhängigen und allein reisenden Männer.Der Held - er erscheint im klassischen Repertoire unserer Kultur stets inGestalt des Einzelkämpfers. Die Heldenmythologie, unsere Erziehung und dieKlischees und Stereotype in der Gesellschaft haben in uns die Vorstellung geweckt,dass der Einzelkämpfer Krisen am besten meistern kann; gleichgültig, ob vorhundertsechzig Jahren im Winter in der Schneewüste oder heute bei einerAutopanne in den Bergen. Gerade die Unabhängigkeit erscheint uns als seineStärke; Verantwortung für andere übernehmen zu müssen schwächt ihn. Der Held,so das Idealbild, findet irgendwann die junge, fortpflanzungsfähige Frau und schlägtsich fortan gemeinsam mit ihr durchs Leben - natürlich erfolgreich. Der Heldist, wie in Virginia Reeds letztem Buch, der Herrscher über das Schicksal, einMacher, der kleine Mädchen zum Staunen bringt. Die Ereignisse am Donner-Passallerdings verliefen ganz anders. Noch ehe die Siedlergruppe überhaupt vomSchnee überrascht wurde, waren schon vier dieser hoffnungsvollen, kräftigenMänner tot. Der fünfundzwanzigjährige Luke Halloran starb an Tuberkulose, dergleichaltrige John Snyder wurde erstochen, Jacob Wolfinger ermordet, William Pikeaus Versehen von seinem Bruder erschossen. Und schliesslich Hardkoop, der alsSechzigjähriger die Rolle des Ausgestossenen übernehmen musste. Es kam alsobereits zu einer Art Totentanz unter den Männern, bevor die eigentlicheKatastrophe begonnen hatte. Donald Grayson wundert sich über diejenigen, die sichdarüber wundern: So sterben vielfach junge, viel versprechende Männer, und sosterben auch ältere, ja, so sterben Männer überhaupt. Männer sterben früher alsFrauen. Und sie sterben deshalb früher als Frauen, weil sie über die MillionenJahre der Evolutionsgeschichte unzählige, unnatürliche Tode gestorben sind;durch Morde, Selbstmorde, Verkehrsunfälle und typische männlicheInfektionskrankheiten, bei denen genetische Faktoren und Anfälligkeiten einebesondere Rolle spielen. Und aus genau diesen Gründen starben auch die erstenfünf Opfer des Trecks: »Fünf Todesfälle, alles Männer, und alle kamen auftypisch männliche Weise um: durch ansteckende Krankheit, Aggression undGewalt.« Man ist also womöglich nicht gut beraten, sich in unserem Rollenspiel- und auch im wirklichen Leben - auf die starken, unabhängigen Männer zuverlassen. Oder, womöglich noch fataler: einer dieser Einzelkämpfer zu sein. Denn,um es kurz zu machen, von den fünfzehn allein reisenden Männern, diesenInbildern von Kraft und Herrlichkeit, überlebten die Tragödie am Donner-Passnur drei. Einige von ihnen starben natürlich auch deshalb, weil sie bis zurErschöpfung Holz fällen, in der Eiseskälte jagen oder fischen mussten. Daserklärt aber nicht, warum andere Männer, die in verheerender körperlicherVerfassung waren, überlebten. Und es erklärt auch nicht, warum manche älterenSiedler, zumal bei schlechter Kondition, sehr viel länger durchgehalten hattenals die jüngeren. Grayson wurde bald klar, dass hier ein anderesErklärungsmuster vorliegen musste. Nachdem er alle Todesfälle ausgewertet undTote mit Überlebenden verglichen hatte, wurde ihm klar, was entscheidend fürdas Durchkommen am Donner-Pass gewesen war: die Familie. Einzig und allein, obdie betreffende Person in einer Familie oder allein gereist war, entschieddarüber; mehr noch: Je grösser die Familie war, desto grösser war dieÜberlebenswahrscheinlichkeit des Einzelnen. Und nicht nur das: Auch wie lange jemanddurchhielt, hing von der Grösse seines verwandtschaftlichen Netzes ab. »Jegrösser die Familie, in der eine Person reiste«, so Grayson lakonisch, »destolänger überlebte diese Person.« Das galt übrigens auch für den Ältesten derGruppe, den fünfundsechzigjährigen George Donner, der, obwohl an der Handschwer verwundet, im Vergleich zu den anderen Männern nur deshalb so lange amLeben blieb, weil seine Frau Tamsen ihn aufopfernd gepflegt hatte. »DieseGruppen lehren uns«, schreibt Grayson, »was mit Gemeinschaften geschieht, diesich nicht gegen Kälte und Hunger wehren können und denen dennoch die Fähigkeitverblieben ist, sich innerhalb einer Familie auszutauschen.«10 Als sich am 23.März 1847 eine kleine Rettungstruppe zu den Verlorenen durchgekämpft hatte,weigerte Tamsen sich, mit ihr zu gehen - sie wollte ihren Mann nicht alleinezurücklassen und gab den Rettern ihre drei Töchter mit. George Donner, obwohlverwundet und der Älteste der Gruppe, schaffte es dank dieser Zuwendung bis zum26. März. Tamsen überlebte ihn nur um zwei Tage. Erst einen Monat später, am25. April 1847, wird das letzte Mitglied des Trecks gerettet. Von denEinzelreisenden waren fast alle umgekommen. Auch die Familien hatten Mitgliederverloren, doch in den meisten Fällen schien es wie ein Wunder, dass die Opfer -Ältere, Kranke oder Kleinkinder - überhaupt so lange überlebt hatten. FamilieEddy beispielsweise, bestehend aus vier Personen, beklagte drei Opfer; FamilieGraves bestand aus zwölf Personen, und es kamen acht durch; die Breens waren zuneunt, und alle überlebten. Das sagt nichts aus über Moral oder Charakter derEinzelgänger oder der unterschiedlichen Familien. Es war, wie Donald Grayson nachwies,viel mehr als das. Es war ein Gesetz.
© Karl Blessing Verlag
- Autor: Frank Schirrmacher
- 2006, 3, 185 Seiten, Masse: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Blessing
- ISBN-10: 3896672916
- ISBN-13: 9783896672919
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