Mensch ohne Hund / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.1
Roman. Ein Fall für Inspektor Barbarotti
Familie Hermansson hat sich versammelt, um zwei Geburtstage zu feiern: den 65. des gerade pensionierten Vaters Karl-Erik und den 40. der ältesten Tochter Ebba. Doch plötzlich verschwinden zwei Familienmitglieder spurlos, Sohn Walter und Enkel...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Mensch ohne Hund / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.1 “
Familie Hermansson hat sich versammelt, um zwei Geburtstage zu feiern: den 65. des gerade pensionierten Vaters Karl-Erik und den 40. der ältesten Tochter Ebba. Doch plötzlich verschwinden zwei Familienmitglieder spurlos, Sohn Walter und Enkel Henrik. Wurden Sie Opfer eines Verbrechens? Die scheinbar heile Familienwelt beginnt zu bröckeln. Inspektor Barbarotti ermittelt und stößt auf ziemlich unschöne Familiengeheimnisse und einen ungewöhnlichen Mörder.
Klappentext zu „Mensch ohne Hund / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.1 “
Der erste Fall für Inspektor Gunnar BarbarottiFamilie Hermansson hat sich versammelt, um zwei Geburtstage zu feiern: den 65. des gerade pensionierten Vaters Karl-Erik und den 40. der ältesten Tochter Ebba. Doch plötzlich verschwinden zwei Familienmitglieder spurlos, Sohn Walter und Enkel Henrik. Wurden Sie Opfer eines Verbrechens? Die scheinbar heile Familienwelt beginnt zu bröckeln - Inspektor Barbarotti ermittelt und stösst auf ziemlich unschöne Familiengeheimnisse und einen ungewöhnlichen Mörder ...
Der erste Fall für Inspektor Gunnar Barbarotti
Familie Hermansson hat sich versammelt, um zwei Geburtstage zu feiern: den 65. des gerade pensionierten Vaters Karl-Erik und den 40. der ältesten Tochter Ebba. Doch plötzlich verschwinden zwei Familienmitglieder spurlos, Sohn Walter und Enkel Henrik. Wurden Sie Opfer eines Verbrechens? Die scheinbar heile Familienwelt beginnt zu bröckeln - Inspektor Barbarotti ermittelt und stösst auf ziemlich unschöne Familiengeheimnisse und einen ungewöhnlichen Mörder ...
'Håkan Nessers Roman 'Mensch ohne Hund' ist mehr als ein Krimi' Süddeutsche Zeitung
'Tolle Charaktere, Spannung bis zum Ende: ein Meisterwerk.' Brigitte Extra
'Und wieder einmal muss man es sagen: Nie war Nesser besser.' Die Welt
Familie Hermansson hat sich versammelt, um zwei Geburtstage zu feiern: den 65. des gerade pensionierten Vaters Karl-Erik und den 40. der ältesten Tochter Ebba. Doch plötzlich verschwinden zwei Familienmitglieder spurlos, Sohn Walter und Enkel Henrik. Wurden Sie Opfer eines Verbrechens? Die scheinbar heile Familienwelt beginnt zu bröckeln - Inspektor Barbarotti ermittelt und stösst auf ziemlich unschöne Familiengeheimnisse und einen ungewöhnlichen Mörder ...
'Håkan Nessers Roman 'Mensch ohne Hund' ist mehr als ein Krimi' Süddeutsche Zeitung
'Tolle Charaktere, Spannung bis zum Ende: ein Meisterwerk.' Brigitte Extra
'Und wieder einmal muss man es sagen: Nie war Nesser besser.' Die Welt
Lese-Probe zu „Mensch ohne Hund / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.1 “
Mensch ohne Hund von Hakan Nesser1
Dezember
Als Rosemarie Wunderlich Hermansson am Sonntag, dem 18. Dezember erwachte, war es kurz nach sechs, und sie hatte noch ein ganz klares Bild vor Augen.
Sie stand in einer Türöffnung und schaute auf einen fremden Garten hinaus. Es war Sommer oder früher Herbst. In erster Linie betrachtete sie zwei kleine, dicke, gelbgrüne Vögel, welche auf einer Telefonleitung zehn, fünfzehn Meter von ihr entfernt saßen, und jeder hatte eine Sprechblase im Schnabel. Du musst dich umbringen, stand in der einen. Du musst Karl-Erik umbringen, stand in der anderen. Die Botschaft war an sie gerichtet. Es war sie, Rosemarie Wunderlich Hermansson, die sich umbringen sollte. Oder Karl-Erik töten. In diesem Punkt herrschte nicht der geringste Zweifel.
Letzterer war ihr Mann, und erst nach einigen Sekunden sah sie ein, dass diese beiden verrückten Aufforderungen natürlich aus etwas resultierten, das sie geträumt hatte – aber es war ein Traum gewesen, der sich schnell davongeschlichen und nur diese beiden bizarren Vögel auf der Leitung zurückgelassen hatte. Merkwürdig.
Für einen Moment blieb sie ganz ruhig auf der rechten Seite liegen und starrte in die Dunkelheit um sich herum, wartete auf eine fiktive Morgendämmerung, die sich wahrscheinlich im Augenblick noch im Bereich des Ural befand, und sah ein, dass es sich genau so verhielt. Die Vögel breiteten ihre abgerundeten Schwingen aus und flogen davon, während ihre Behauptung zurückblieb und nicht falsch verstanden werden konnte.
Sie oder Karl-Erik. So war das also. Es hatte ein oder zwischen den Sprechblasen gegeben, kein und. Das eine schloss das andere aus, und es erschien auch wie …wie eine zwingende Notwendigkeit, dass sie sich für eine der beiden Alternativen entschied. Jesus Christus, dachte sie, schwang die Beine über die Bettkante
... mehr
und setzte sich auf. Wie hatte es nur dazu kommen können? Als ob diese Familie nicht schon genug Probleme hätte.
Doch als sie ihren Rücken streckte und die vertrauten Morgenschmerzen zwischen dem dritten und vierten Lendenwirbel spürte, kamen auch die Alltagsgedanken angeschlichen. Ein sicherer, wenn auch ziemlich langweiliger Balsam für die Seele.
Sie empfing sie mit einer Art träger Dankbarkeit, schob die Hände in die Achseln und schlurfte ins Badezimmer. Man ist so schutzlos morgens, dachte sie. So nackt und bloß. Eine dreiundsechzigjährige Handarbeitslehrerin ermordet nicht ihren Mann, das ist vollkommen ausgeschlossen.
Sie war zwar außerdem auch noch Deutschlehrerin, aber das änderte die Tatsachen nicht nennenswert. Ließ sie in keiner Weise akzeptabler erscheinen. Was um alles in der Welt sollte es in dieser Frage für einen Unterschied machen, wenn sie Handarbeiten und Deutsch unterrichtete?
Das hieß dann wohl, der eigenen Wanderung im Jammertal ein Ende zu setzen, dachte Rosemarie Wunderlich Hermansson. Machte Licht, betrachtete ihr breites, glattes Gesicht im Spiegel und stellte fest, dass jemand ein Lächeln daraufgeklebt hatte.
Warum lächle ich?, fragte sie sich. Es gibt doch weiß Gott keinen Grund zum Lächeln. Mir ist es noch nie schlechter in meinem ganzen Leben gegangen, und in einer halben Stunde wacht Karl-Erik auf.Was hatte der Schulleiter gesagt? Das tief klingende Erz, das … das was? … das dem heranwachsenden Geschlecht den moralischen und wissenschaftlichen Resonanzboden verleiht? Wo zum Teufel hatte er das her? Dieses Gefasel. Jahrgang für Jahrgang, Generation für Generation, vierzig Jahre lang. Eine pädagogische Fichte.
Ja, Fläskbergson hatte Karl-Erik tatsächlich als pädagogische Fichte bezeichnet. Konnte darin ein Funken Ironie verborgen sein?
Vermutlich nicht, dachte Rosemarie Wunderlich Hermansson und pflügte mit ihrer elektrischen Zahnbürste tief in die rechte Wange hinein. Vera Ragnebjörk, ihre einzige Kollegin in Sachen Deutsch, das in der Kymlinge-Schule am Aussterben war, pflegte zu behaupten, dass Fläskbergson die ironische Dimension ganz und gar fehle. Weshalb man mit ihm nicht wie mit einem normalen Menschen sprechen konnte, und vermutlich war es diesem einzigartigen Mangel zu verdanken, dass er auch nach mehr als dreißig Jahren immer noch auf seinem Posten als Schulleiter saß.
Fläskbergson war nur ein Jahr jünger als Karl-Erik, aber gut und gern vierzig Kilo schwerer, und bis zu dem traurigen Tag vor fast acht Jahren, als seine Ehefrau Berit umgekommen war, nachdem sie in Kitzbühl aus einem Skilift gefallen war und sich das Genick gebrochen hatte, hatten sie miteinander verkehrt. Zu viert. Zu Bridgeabenden oder so. Eine Theaterreise nach Stockholm. Eine Katastrophenwoche auf Kreta. Rosemarie überlegte, dass sie Berit ein wenig vermisste, nicht jedoch Fläskbergson. Den Umgang mit ihm sozusagen.
Warum stehe ich eigentlich hier und verschwende meine kostbaren Morgenminuten damit, an diese eindimensionale Null zu denken?, fragte sie sich schließlich. Warum sehe ich nicht lieber zu, in aller Ruhe meine Morgenzeitung zu lesen? Offenbar bin ich dabei, die Kontrolle zu verlieren.
Aber auch bei Kaffee und Zeitung stellten sich keine besseren Gedanken ein. Es gab keine Lichtblicke. Als sie den Blick hob und auf die Küchenuhr schaute – ein Impulskauf bei IKEA für 49,50, vor langer Zeit, im Herbst 1979 und vermutlich unverwüstlich – zeigte diese zwanzig Minuten nach sechs, es würde noch mindestens siebzehn Stunden dauern, bis ihr die Gnade zuteil werden würde, wieder in ihr Bett kriechen zu dürfen und einen weiteren düsteren Tag mit seinen Ereignissen hinter sich zu legen. Und zu schlafen, nur zu schlafen.
Heute war Sonntag. Es war ihr zweiter Tag als glückliche Pensionärin, die letzte bedeutungsvolle Veränderung im Leben, bevor der Tod eintrat, wie eine freundliche Seele bemerkt hatte, und sie sagte sich, dass sie, hätte sie nur einen Zugang zu einer Waffe gehabt, bereits beim Aufwachen, als sie daran erstmals gedacht hatte, von ihr Gebrauch gemacht hätte. Sich eine Kugel in den Kopf geschossen, bevor Karl-Erik in seinem gestreiften Pyjama in die Küche gekommen wäre, bevor er sich gestreckt und erklärt hätte, er habe geschlafen wie ein Kind.
Wenn diese Nahtod-Schilderungen stimmten, die sie gelesen hatte, hätte es anschließend interessant sein können, unter der Decke zu schweben und sein Mienenspiel zu betrachten, wenn er sie fände, über dem Tisch zusammengebrochen, den Kopf in einer großen, warmen Blutlache liegend.
Aber so etwas tut man nicht. Schon gar nicht, wenn man keine gute Waffe hat und auch ein wenig an die Kinder denken muss. Sie trank einen Schluck Kaffee, verbrannte sich dabei die Zungenspitze und schaltete wieder ihr Alltagsgehirn ein. Was stand an diesem zweiten Tag nach einem langen Arbeitsleben auf dem Programm?
Das ganze Haus putzen. So einfach war das. Die Kinder und die Enkelkinder sollten am nächsten Tag eintrudeln, und am Dienstag war der große Tag.
Der Tag, der eigentlich in die Annalen der Familie hätte eingehen sollen, der aber in sonderbarer Art und Weise wegen Walter zu einer Art pompösem Anti-Ereignis zusammengeschrumpft war. Genau das. Den ganzen Herbst über war die Rede von einhundert bis einhundertzwanzig Personen gewesen; einzig das Fassungsvermögen der Svea-Speisesäle hatte die Sache beschränkt, und Karl-Erik hatte die Sache immer und immer wieder mit dem Kellermeister Brundin diskutiert, und gut hundert Leute sollten kein Problem darstellen.
Die dann aber nicht eingeladen werden sollten. Walters Skandal ereignete sich am 12. November, die Lokalitäten waren schon lange reserviert worden, aber es war noch nicht zu spät gewesen, um abzusagen. So um die siebzig Einladungskarten waren schon abgeschickt worden, um die zwanzig Zusagen waren bereits eingegangen, aber die Leute waren äußerst verständnisvoll, als man ihnen erklärte, dass man sich aufgrund der Umstände dazu entschlossen hatte, eine kleinere Familienfeier
zu arrangieren.
Durchgängig äußerst verständnisvoll waren sie gewesen. Die Sendung hatte eine Zuschauerzahl von fast zwei Millionen gehabt, und die, die sie nicht gesehen hatten, wurden am folgenden Tag über die Abendpresse informiert. WICHS-WALTER. Das Wort in den Schlagzeilen hatte sich in Rosemaries Mutterherz eingebrannt wie ein Brandzeichen auf einer borstigen Sau, und sie wusste, dass sieWalter für den Rest ihres Lebens nie wieder einen Gedanken widmen konnte, ohne diesen schrecklichen Zusatz hinzuzufügen. Sie hatte beschlossen, nie, nie wieder das Aftonbladet oder den Expressen zu lesen, ein Versprechen, das sie bisher noch nicht gebrochen hatte, ja, nicht einmal im Ansatz daran gedacht hatte, es zu brechen.
Also eine kleinere Familienfeier. Anschließend war es in der Schule das Gleiche gewesen. Der gleiche diskrete Vorhang der Barmherzigkeit war auch hier gefallen. Als das Ehepaar Hermansson sich nach zusammen sechsundsechzig Dienstjahren nunmehr gleichzeitig von der blutbesudelten Kampfbahn der Pädagogik zurückzog, wie ein schlauer Kopf, aber wohl kaum Fläskbergson, es formuliert hatte, war die Verabschiedung auf eine verlängerte Konferenz mit Kuchen reduziert worden, der entsprechenden Anzahl roter Rosen sowie einem Punschservice aus gehämmertem Kupfer – wobei Rosemarie sich bereits, als sie das Paket öffnete und einen ersten Blick darauf geworfen hatte, fragte, ob es nicht Elonsssons hoffnungslose Achte gewesen war, die man dazu gezwungen hatte, beim Metallwerken dieses Zeug zusammenzuhämmern, um die Note »Ungenügend« zu vermeiden. Elonsson hatte im Gegensatz zu Fläskbergson einen ausgeprägten Sinn für das Ironische im Leben.
Fünfundsechzig plus vierzig. Das war die zweite große Addition im Dezember, und es ergab hundertfünf. Rosemarie wusste, dass es Karl-Erik grämte, dass nicht exakt hundert dabei herauskam, aber an den Tatsachen war nicht zu rütteln. Karl-Erik rüttelte sowieso nie an den Tatsachen. Sie streckte zögerlich ein paar Mal ihren Rücken, ohne vom Stuhl aufzustehen, und dachte zurück an die Nacht vor vierzig Jahren, als es ihr gelungen war, zwei Presswehen zurückzuhalten, bis die Uhr die Zwölf überschritten hatte. Karl-Eriks nur schlecht getarntes Glück war nicht zu übersehen gewesen, Gott sei Dank.
Die erstgeborene Tochter war an seinem eigenen fünfundzwanzigsten Geburtstag aus dem Mutterleib in die Welt hinausgekrabbelt.
Es hatte immer ein außerordentlich starkes Band zwischen Ebba und Karl-Erik gegeben, und Rosemarie war klar, dass es bereits damals geknüpft worden war. Bereits damals, im Örebro-Krankenhaus, vier Minuten nach Mitternacht, am 20. Dezember 1965. Die Hebamme hieß Geraldine Tulpin, ein Name, den man nur schwer vergessen konnte. Die Weihnachtsfeiern in der Familie wiesen immer eine gewisse Schieflage auf. Rosemarie hatte nie darüber gesprochen, nicht einmal – aber diese Schieflage bestand. Normale Menschen, Christen wie Nichtchristen, sahen den 24. Dezember als die Nabe an, um die sich die Winterdunkelheit drehte, aber in der Familie Wunderlich Hermansson hatte der 20. mindestens ebensoviel Bedeutung. Karl-Eriks und Ebbas Geburtstag, der folgende Tag war der kürzeste im Jahr, das Herz der Finsternis, und auf irgendeine sonderbare Art und Weise war es Karl-Erik gelungen – ohne an den Tatsachen zu rütteln, aber viel fehlte nicht daran –, eine Verschiebung um einen Tag zustande zu bringen, so dass man eine Art Dreifaltigkeit hinbekam. Sein eigener Geburtstag. Ebbas Geburtstag. Die Rückkehr des Lichts auf die Erde.
Ebba war immer der Augenstern ihres Vaters und das Hätschelkind gewesen, an sie hatte er von Anfang an die größten Hoffnungen geknüpft. Hatte sich nie auch nur die Mühe gemacht, diese Tatsache zu verbergen, gewisse Kinder haben mehr Karat als andere, so geht es nun einmal im genetischen Schmelztiegel der Biologie zu, so hatte er bei irgendeiner Gelegenheit einmal erklärt, als er sich ganz gegen seine Gewohnheit einen Cognac zu viel gegönnt hatte. Ob man nun will oder nicht. Und wie es im Nachhinein aussah, dachte Rosemarie verbittert und ohne sich etwas vorzumachen – während sie sich eine zweite Tasse Kaffee einschenkte, ein verlässlicher Eckstein in dem nur langsam sich entwickelnden Projekt des Wachwerdens –, so schien er zweifellos auf das richtige Pferd gesetzt zu haben.
Ebba war ein Fels in der Brandung. Walter war schon immer das schwarze Schaf gewesen, und jetzt hatte er sich unbeschreiblich verhalten – wobei das möglicherweise viel weniger überraschend war, als alle taten. Und Kristina? Ja, über Kristina konnte man eigentlich nur sagen, dass sie so war, wie sie war, das Kind war in letzter Zeit ein wenig zur Ruhe gekommen, die letzten Jahre waren in einem deutlich ruhigeren Fahrwasser verlaufen als die vorhergehenden, auch wenn Karl-Erik beharrlich betonte, dass es noch zu früh war, um laut Hurra zu schreien, ganz eindeutig zu früh.
Wann hast du jemals Hurra geschrien, mein Holzprinz?, hatte Rosemarie jedes Mal gedacht, wenn er das sagte, und jetzt in ihrer Küche, in der die Dämmerung auf sich warten ließ, dachte sie wieder das Gleiche.
Genau in diesem Moment betrat er die Küche. »Guten Morgen«, sagte er. »Ist schon komisch. Trotz allem habe ich geschlafen wie ein Kind.«
»Ich finde, es hat einen Anschein von Panik«, sagte sie. »Wie meinst du das?«, fragte Karl-Erik Hermansson und schaltete den Wasserkocher ein. »Wohin hast du meinen neuen Tee gestellt?«
»Zweites Regal«, antwortete Rosemarie. »Nun, das Haus zu verkaufen und in diese Urbanisation zu ziehen natürlich. Das hat so etwas …ja, Panikartiges.Wie schon gesagt. Nein, weiter links.«
Er klapperte mit Tassen und Dosen. »Ur-ba-ni-sa-ción«, artikulierte er mit deutlich hörbarem spanischem Phonem. »Ich weiß, dass du so deine Zweifel hast, aber eines Tages wirst du mir noch danken.«
»Woran ich zweifle«, erklärte Rosemarie Wunderlich Hermansson. »Daran zweifle ich bis in den kleinen Zeh. Du musst dir die Nasenhaare schneiden.«
»Rosemarie«, sagte Karl-Erik und schob den Brustkorb vor.
»Ich kann den Leuten hier nicht mehr in die Augen sehen. Ein Mann muss aufrecht gehen und den Kopf oben tragen können.«
»Man muss sich auch mal beugen können«, konterte sie. »Das hier geht vorbei. Die Leute vergessen schnell, und alles bekommt seine angemessenen Prop …«
Er unterbrach sie, indem er seine neue Teedose mit einem Knall auf die Arbeitsplatte stellte. »Ich denke, wir haben lange genug darüber diskutiert. Lundgren hat zugesagt, dass wir die Papiere Mittwoch unterschreiben können. Ich bin fertig mit dieser Stadt. Basta. Es ist doch nur Feigheit und Trägheit, die uns hier noch halten.«
»Wir haben hier achtunddreißig Jahre gewohnt«, sagte Rosemarie. »Lange genug«, sagte Karl-Erik. »Hast du schon zwei Tassen Kaffee getrunken? Denk dran, ich habe dich gewarnt.«
»An einen Ort zu ziehen, der nicht einmal einen richtigen Namen hat. Ich finde, er sollte zumindest einen Namen haben.«
»Den wird er schon kriegen, sobald sich die spanischen Behörden entschieden haben. Was ist denn so schlecht an Estepona?«
»Nach Estepona sind es sieben Kilometer. Und vier Kilometer bis zum Meer.«
Er erwiderte nichts. Goss kochendes Wasser über seine gesunden grünen Teeblätter und holte das Sonnenblumenbrot aus dem Brotkasten. Sie seufzte. Sie diskutierten ihre Frühstücksgewohnheiten
seit fünfundzwanzig Jahren. Sie diskutierten den Hausverkauf und den Umzug nach Spanien seit fünfundzwanzig Tagen. Obwohl Diskussion dafür wohl kaum der richtige Begriff ist, dachte Rosemarie. Karl-Erik hatte einen Beschluss gefasst und anschließend seine gut geschmierte demokratische Gesinnung dazu benutzt, sie auf seine Seite zu ziehen. So hatte es jedes Mal ausgesehen. Er gab nie auf. Bei jeder Frage, die von einem gewissen Gewicht war, hatte er geredet, geredet und geredet, bis sie aus reiner Erschöpfung und aus reinem Überdruss das Handtuch warf. Die reinste Filibustertaktik. Das war beim Autokauf so gewesen. Das war bei den sauteuren Bücherregalen in ihrem gemeinsamen Arbeitszimmer so gewesen – das er gern als ihr gemeinsames Arbeitszimmer bezeichnete, er verbrachte darin vierzig Stunden die Woche, sie vier. Das war bei ihren Urlaubsreisen nach Island, nach Weißrussland und ins Ruhrgebiet so gewesen, denn wenn man Fachbereichsleiter für Gemeinschaftskunde und Geographie war, dann hatte man so seine Verpflichtungen.
Und er hatte bereits das Handgeld für dieses Haus zwischen Estepona und Fuengirola bezahlt, ohne sie zu fragen. Hatte die Verhandlungen mit Lundgren von der Bank über den Verkauf des Hauses eingeleitet, ohne zunächst den demokratischen Prozess daheim in Gang zu setzen. Das konnte er nicht leugnen und leugnete es auch gar nicht.
Aber vielleicht sollte sie ihm sogar dankbar sein. Ehrlich gesagt. Es hätte genauso gut Lahti oder Wuppertal sein können. Ich habe mit diesem Mann mein gesamtes erwachsenes Leben verbracht, dachte sie plötzlich. Ich dachte, etwas würde mit der Zeit reifen zwischen uns, aber dem war nicht so. Von Anfang an war da etwas Schimmliges zwischen uns, und mit jedem Jahr, das verging, wurde es schimmliger. Und warum war sie so unverbesserlich unselbstständig, dass sie ihr Leben mit ihm vergeuden musste? Ein höchstes Zeichen von Schwäche, oder etwa nicht?
»Woran denkst du?«, fragte er.
»An nichts«, antwortete sie.
»In einem halben Jahr haben wir alles hier vergessen«, sagte er.
»Was? Unser Leben? Unsere Kinder?«
»Red keinen Quatsch. Du weißt, was ich meine.«
»Nein, das tue ich nicht. Und übrigens, wäre es nicht besser, wenn Ebba und Leif ins Hotel gingen? Schließlich sind es vier Erwachsene, das wird bestimmt eng.«
Er zwinkerte ihr zu, als wäre sie eine Schülerin, die die dritte Stunde nacheinander vergessen hat, eine Arbeit abzuliefern, und sie wusste, dass sie das nur vorgeschlagen hatte, um ihn zu reizen. Denn natürlich hatte sie Recht damit, dass Ebba, Leif und ihre beiden Teenagersöhne mehr Platz beanspruchen würden, als es im Haus eigentlich gab, aber Ebba war nun einmal Ebba, und Karl-Erik würde lieber seinen letzten Schlips verpfänden, als seine Lieblingstochter irgendwo anders unterzubringen als daheim, in dem Zimmer, in dem sie aufgewachsen war. Und das erst recht jetzt, wo es das letzte Mal, das letzte Mal für alle Zeiten war.
Sie bekam einen Kloß im Hals und kippte den lauwarmen Kaffee hinunter. Und Walter? Ja, der arme Walter musste natürlich vor den Blicken der Welt so gut es nur ging versteckt werden, man konnte ihn nicht im Hotel herumlaufen lassen, wo ihn jeder begaffen und verhöhnen konnte. Wichs-Walter von Fucking Island. Als sie das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte, vorgestern Abend, hatte es fast geklungen, als wäre er kurz vorm Heulen.
Alsomussten Kristina, Jakob und der kleine Kelvin ins Hotel. Wie konnte man ein Kind nur Kelvin taufen? Der absolute Nullpunkt, wie Karl-Erik den frischgebackenen Eltern erklärt hatte, doch das hatte nichts genützt. Übrigens war sie sich ziemlich sicher, dass die Kleinfamilie das Hotel als Glückslos betrachten würde, die Gefühlslage, die Kristina gegenüber Rosemarie zu zeigen pflegte, seitdem sie erwachsen und von zu Hause ausgezogen war, bestand aus einer Mischung aus Schuldgefühl, Minderwertigkeitsgefühl und dem Gefühl, missraten zu sein. Und einen kurzen, jedoch umso klareren Moment lang war sie sich dessen bewusst, dass sie eigentlich nur für Walter Gefühle empfand und sich um ihn sorgte. Lag es daran, dass er ein Junge war? War es so einfach?
Aber vielleicht würde es früher oder später doch noch einen Zugang zu Kristina geben; was sie selbst betraf natürlich nur, kaum für Karl-Erik. Denn er war schon immer das Hauptziel für die Obstinenz des Mädchens gewesen. Gab es dieses Wort überhaupt? Obstinenz? Von den ersten Pubertätstagen an war es so gewesen, doch die pädagogische Fichte hatte aufrecht und im Schutz ihrer Rinde unzählige Streitereien, Zwiste und Dispute ausgehalten – und dabei gerade die Eigenschaften gezeigt, die derartigen rechtschaffenen Pflanzen zugeschrieben werden. Bleibe auf dem Fleck, auf dem du stehst, und rühre dich keinen Millimeter fort.
Ich bin ihm gegenüber ungerecht, dachte sie. Aber ich bin es so verflucht leid, dass ich auf das ganze Elend spucken könnte. Gerade in diesem Augenblick, als sich die Uhr den Sieben- Uhr-Nachrichten auf P1 näherte, führte Karl-Erik eine Reihe schwergewichtiger und unwiderlegbarer Argumente für die Selbstverständlichkeit an, dass Ebbas Familie im Haus untergebracht werden musste – und Rosemarie ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie am liebsten zu ihm gehen, ihm die Zunge
aus dem Mund ziehen und diese abschneiden würde.
Seine pädagogischen Aufgaben waren schließlich abgeschlossen, es war also an der Zeit. Und dann dieser automatisch auftauchende Gedanke, dass sie wieder einmal ungerecht war.
»All right, all right«, sagte sie. »Es spielt keine Rolle.«
»Na gut«, sagte er. »Wie schön, dass wir uns einig sind. Wir müssen auf jeden Fall versuchen, Walter genau wie immer zu behandeln. Ich möchte dieses Ereignis nicht erwähnt haben. Ich werde mit ihm ein Gespräch unter vier Augen führen, das muss reichen. Wann, sagte er, dass er kommen wollte?«
»Gegen Abend. Er kommt mit dem Wagen. Ja, genauer hat er das nicht gesagt.«
Karl-Erik Hermansson nickte nachdenklich, öffnete den Mund sperrangelweit und schaufelte einen gehäuften Löffel Joghurt mit grobem Müsli hinein, unberührt von Menschenhand und mit dem Zusatz von zweiunddreißig nützlichen Mineralien plus Selen.
Sie saugte im oberen Stockwerk Staub. Karl-Erik hatte sich in häuslicher Solidarität die Einkaufsliste und das Auto gegriffen und war zu dem uralten Coop-Palatz draußen im Industriegebiet Billundsberg gefahren, um dort fünfhundert Kilo Geburtstagsnotwendigkeiten sowie einen Tannenbaum einzukaufen.
Während Rosemarie den altmodischen alten Voltan herummanövrierte, gekauft bei Bröderna Erikssons Elektriska Maskiner, Hem&Hushåll bereits im Spätwinter 1983 und vermutlich unverwüstlich, überlegte sie, wie viele wichtige Entscheidungen sie eigentlich während ihres dreiundsechzigjährigen Lebens getroffen hatte.
Dass sie sich mit Karl-Erik, der Pädagogenfichte, verheiratet hatte? Wohl kaum. Sie hatten sich bereits während ihrer Schulzeit in der Karolinschen Lehranstalt kennen gelernt (sie eine verhuschte Anfängerin in der ersten Gymnasialklasse, er ein aufrechter Schüler der Abschlussklasse, ganz elegant in Anzug), und er hatte ihren Widerstand in der gleichen Form geknackt, wie er ihre Einwände in ihrem gesamten gemeinsamen Leben knacken sollte. Als er um ihre Hand anhielt, war ihr erstes Nein in ein zweites Vielleicht, wir können das ja noch hinausschieben, bis wir wenigstens unsere Prüfung gemacht haben verwässert worden, bis hin zum letztendlichen Okay, aber wir müssen erst eine gemeinsameWohnung finden. Sie hatten 1963 geheiratet, sie hatte den textilen Zweig des Seminars für häusliche Ausbildung im Juni 1965 abgeschlossen, und Ebba war ein halbes Jahr später zur Welt gekommen. Auch sie war nicht die Frucht eines Beschlusses gewesen, den Rosemarie gefasst hatte.
Die Laufbahn der Handarbeitslehrerin hatte sie gewählt, nachdem ihre beste (und einzige) Freundin im Gymnasium, Bodil Rönn, sich bereits dafür entschieden hatte. Sie hatten die Prüfung gemeinsam durchgestanden, Bodil hatte eine feste Stelle in Boden in einer Schule bekommen, die weniger als fünfhundert Meter vom Elternhaus ihres Freundes Sune entfernt lag, und soweit Rosemarie wusste, wohnten die beiden immer noch dort. Sie hatten eineinhalb Jahre lang Kontakt miteinander gepflegt und sich Briefe geschrieben, doch die letzte Weihnachtskarte war inzwischen sieben oder acht Jahre alt. Kein einziger wichtiger Beschluss, dachte sie und schleppte dasVoltanwunder über den Flur,umsich die Gästezimmer vorzunehmen.
Oder die alten Kinderzimmer, wie immer man sie nun bezeichnen wollte. Ebbas Zimmer, Walters Zimmer und Kristinas enge Kammer, die eigentlich nicht viel größer war als eine Vorratskammer – aber es war ja auch nie geplant gewesen, dass es mehr als zwei Kinder werden sollten, und erst recht nicht, wenn man bedachte, dass bereits mit zwei Versuchen eines von jedem Geschlecht zustande gebracht worden war, aber dann war es halt doch anders gekommen. Das Leben nahm eben seinen Lauf, und das nicht immer nach Plan; Kristina war 1974 geboren worden, Rosemarie hatte zehn Monate zuvor auf Anraten ihres Gynäkologen die Pille abgesetzt gehabt, und wenn die katastrophale Griechenlandreise mit Familie Fläskbergson keine lichteren Erinnerungen hervorgebracht hatte,
so zumindest eine nicht geplante Tochter. Karl-Erik hatte vergessen, Kondome zu kaufen, und es nicht rechtzeitig geschafft, sich zurückzuziehen. So war es nun einmal, shit happens auch in dieser besten aller Welten, genau wie in allen anderen. Was war das für eine Sprache, die ihre Gedanken an diesem nasskalten Dezembermorgen benutzten? God knows, holy cow, jedenfalls waren das Worte, die sie normalerweise nicht benutzte.
Wie war eigentlich das Wetter? Besser, sich neutralen Dingen zu widmen. Bis jetzt war nicht einmal ein Zentimeter Schnee in diesem westschwedischen Landesteil gefallen, und wenn sie aus dem Fenster schaute, kam es ihr vor, als ob sogar das Tageslicht aufgab und das Handtuch warf. Die Luft sah aus wie Haferschleim.
Erst als sie den langen Flurläufer zusammengerollt hatte und die Fußbodenleisten ohne den Aufsatz absaugte, fiel ihr ein entscheidender Beschluss ein. Verdammt noch mal.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007 by btb Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Übersetzung: Christel Hildebrandt
Doch als sie ihren Rücken streckte und die vertrauten Morgenschmerzen zwischen dem dritten und vierten Lendenwirbel spürte, kamen auch die Alltagsgedanken angeschlichen. Ein sicherer, wenn auch ziemlich langweiliger Balsam für die Seele.
Sie empfing sie mit einer Art träger Dankbarkeit, schob die Hände in die Achseln und schlurfte ins Badezimmer. Man ist so schutzlos morgens, dachte sie. So nackt und bloß. Eine dreiundsechzigjährige Handarbeitslehrerin ermordet nicht ihren Mann, das ist vollkommen ausgeschlossen.
Sie war zwar außerdem auch noch Deutschlehrerin, aber das änderte die Tatsachen nicht nennenswert. Ließ sie in keiner Weise akzeptabler erscheinen. Was um alles in der Welt sollte es in dieser Frage für einen Unterschied machen, wenn sie Handarbeiten und Deutsch unterrichtete?
Das hieß dann wohl, der eigenen Wanderung im Jammertal ein Ende zu setzen, dachte Rosemarie Wunderlich Hermansson. Machte Licht, betrachtete ihr breites, glattes Gesicht im Spiegel und stellte fest, dass jemand ein Lächeln daraufgeklebt hatte.
Warum lächle ich?, fragte sie sich. Es gibt doch weiß Gott keinen Grund zum Lächeln. Mir ist es noch nie schlechter in meinem ganzen Leben gegangen, und in einer halben Stunde wacht Karl-Erik auf.Was hatte der Schulleiter gesagt? Das tief klingende Erz, das … das was? … das dem heranwachsenden Geschlecht den moralischen und wissenschaftlichen Resonanzboden verleiht? Wo zum Teufel hatte er das her? Dieses Gefasel. Jahrgang für Jahrgang, Generation für Generation, vierzig Jahre lang. Eine pädagogische Fichte.
Ja, Fläskbergson hatte Karl-Erik tatsächlich als pädagogische Fichte bezeichnet. Konnte darin ein Funken Ironie verborgen sein?
Vermutlich nicht, dachte Rosemarie Wunderlich Hermansson und pflügte mit ihrer elektrischen Zahnbürste tief in die rechte Wange hinein. Vera Ragnebjörk, ihre einzige Kollegin in Sachen Deutsch, das in der Kymlinge-Schule am Aussterben war, pflegte zu behaupten, dass Fläskbergson die ironische Dimension ganz und gar fehle. Weshalb man mit ihm nicht wie mit einem normalen Menschen sprechen konnte, und vermutlich war es diesem einzigartigen Mangel zu verdanken, dass er auch nach mehr als dreißig Jahren immer noch auf seinem Posten als Schulleiter saß.
Fläskbergson war nur ein Jahr jünger als Karl-Erik, aber gut und gern vierzig Kilo schwerer, und bis zu dem traurigen Tag vor fast acht Jahren, als seine Ehefrau Berit umgekommen war, nachdem sie in Kitzbühl aus einem Skilift gefallen war und sich das Genick gebrochen hatte, hatten sie miteinander verkehrt. Zu viert. Zu Bridgeabenden oder so. Eine Theaterreise nach Stockholm. Eine Katastrophenwoche auf Kreta. Rosemarie überlegte, dass sie Berit ein wenig vermisste, nicht jedoch Fläskbergson. Den Umgang mit ihm sozusagen.
Warum stehe ich eigentlich hier und verschwende meine kostbaren Morgenminuten damit, an diese eindimensionale Null zu denken?, fragte sie sich schließlich. Warum sehe ich nicht lieber zu, in aller Ruhe meine Morgenzeitung zu lesen? Offenbar bin ich dabei, die Kontrolle zu verlieren.
Aber auch bei Kaffee und Zeitung stellten sich keine besseren Gedanken ein. Es gab keine Lichtblicke. Als sie den Blick hob und auf die Küchenuhr schaute – ein Impulskauf bei IKEA für 49,50, vor langer Zeit, im Herbst 1979 und vermutlich unverwüstlich – zeigte diese zwanzig Minuten nach sechs, es würde noch mindestens siebzehn Stunden dauern, bis ihr die Gnade zuteil werden würde, wieder in ihr Bett kriechen zu dürfen und einen weiteren düsteren Tag mit seinen Ereignissen hinter sich zu legen. Und zu schlafen, nur zu schlafen.
Heute war Sonntag. Es war ihr zweiter Tag als glückliche Pensionärin, die letzte bedeutungsvolle Veränderung im Leben, bevor der Tod eintrat, wie eine freundliche Seele bemerkt hatte, und sie sagte sich, dass sie, hätte sie nur einen Zugang zu einer Waffe gehabt, bereits beim Aufwachen, als sie daran erstmals gedacht hatte, von ihr Gebrauch gemacht hätte. Sich eine Kugel in den Kopf geschossen, bevor Karl-Erik in seinem gestreiften Pyjama in die Küche gekommen wäre, bevor er sich gestreckt und erklärt hätte, er habe geschlafen wie ein Kind.
Wenn diese Nahtod-Schilderungen stimmten, die sie gelesen hatte, hätte es anschließend interessant sein können, unter der Decke zu schweben und sein Mienenspiel zu betrachten, wenn er sie fände, über dem Tisch zusammengebrochen, den Kopf in einer großen, warmen Blutlache liegend.
Aber so etwas tut man nicht. Schon gar nicht, wenn man keine gute Waffe hat und auch ein wenig an die Kinder denken muss. Sie trank einen Schluck Kaffee, verbrannte sich dabei die Zungenspitze und schaltete wieder ihr Alltagsgehirn ein. Was stand an diesem zweiten Tag nach einem langen Arbeitsleben auf dem Programm?
Das ganze Haus putzen. So einfach war das. Die Kinder und die Enkelkinder sollten am nächsten Tag eintrudeln, und am Dienstag war der große Tag.
Der Tag, der eigentlich in die Annalen der Familie hätte eingehen sollen, der aber in sonderbarer Art und Weise wegen Walter zu einer Art pompösem Anti-Ereignis zusammengeschrumpft war. Genau das. Den ganzen Herbst über war die Rede von einhundert bis einhundertzwanzig Personen gewesen; einzig das Fassungsvermögen der Svea-Speisesäle hatte die Sache beschränkt, und Karl-Erik hatte die Sache immer und immer wieder mit dem Kellermeister Brundin diskutiert, und gut hundert Leute sollten kein Problem darstellen.
Die dann aber nicht eingeladen werden sollten. Walters Skandal ereignete sich am 12. November, die Lokalitäten waren schon lange reserviert worden, aber es war noch nicht zu spät gewesen, um abzusagen. So um die siebzig Einladungskarten waren schon abgeschickt worden, um die zwanzig Zusagen waren bereits eingegangen, aber die Leute waren äußerst verständnisvoll, als man ihnen erklärte, dass man sich aufgrund der Umstände dazu entschlossen hatte, eine kleinere Familienfeier
zu arrangieren.
Durchgängig äußerst verständnisvoll waren sie gewesen. Die Sendung hatte eine Zuschauerzahl von fast zwei Millionen gehabt, und die, die sie nicht gesehen hatten, wurden am folgenden Tag über die Abendpresse informiert. WICHS-WALTER. Das Wort in den Schlagzeilen hatte sich in Rosemaries Mutterherz eingebrannt wie ein Brandzeichen auf einer borstigen Sau, und sie wusste, dass sieWalter für den Rest ihres Lebens nie wieder einen Gedanken widmen konnte, ohne diesen schrecklichen Zusatz hinzuzufügen. Sie hatte beschlossen, nie, nie wieder das Aftonbladet oder den Expressen zu lesen, ein Versprechen, das sie bisher noch nicht gebrochen hatte, ja, nicht einmal im Ansatz daran gedacht hatte, es zu brechen.
Also eine kleinere Familienfeier. Anschließend war es in der Schule das Gleiche gewesen. Der gleiche diskrete Vorhang der Barmherzigkeit war auch hier gefallen. Als das Ehepaar Hermansson sich nach zusammen sechsundsechzig Dienstjahren nunmehr gleichzeitig von der blutbesudelten Kampfbahn der Pädagogik zurückzog, wie ein schlauer Kopf, aber wohl kaum Fläskbergson, es formuliert hatte, war die Verabschiedung auf eine verlängerte Konferenz mit Kuchen reduziert worden, der entsprechenden Anzahl roter Rosen sowie einem Punschservice aus gehämmertem Kupfer – wobei Rosemarie sich bereits, als sie das Paket öffnete und einen ersten Blick darauf geworfen hatte, fragte, ob es nicht Elonsssons hoffnungslose Achte gewesen war, die man dazu gezwungen hatte, beim Metallwerken dieses Zeug zusammenzuhämmern, um die Note »Ungenügend« zu vermeiden. Elonsson hatte im Gegensatz zu Fläskbergson einen ausgeprägten Sinn für das Ironische im Leben.
Fünfundsechzig plus vierzig. Das war die zweite große Addition im Dezember, und es ergab hundertfünf. Rosemarie wusste, dass es Karl-Erik grämte, dass nicht exakt hundert dabei herauskam, aber an den Tatsachen war nicht zu rütteln. Karl-Erik rüttelte sowieso nie an den Tatsachen. Sie streckte zögerlich ein paar Mal ihren Rücken, ohne vom Stuhl aufzustehen, und dachte zurück an die Nacht vor vierzig Jahren, als es ihr gelungen war, zwei Presswehen zurückzuhalten, bis die Uhr die Zwölf überschritten hatte. Karl-Eriks nur schlecht getarntes Glück war nicht zu übersehen gewesen, Gott sei Dank.
Die erstgeborene Tochter war an seinem eigenen fünfundzwanzigsten Geburtstag aus dem Mutterleib in die Welt hinausgekrabbelt.
Es hatte immer ein außerordentlich starkes Band zwischen Ebba und Karl-Erik gegeben, und Rosemarie war klar, dass es bereits damals geknüpft worden war. Bereits damals, im Örebro-Krankenhaus, vier Minuten nach Mitternacht, am 20. Dezember 1965. Die Hebamme hieß Geraldine Tulpin, ein Name, den man nur schwer vergessen konnte. Die Weihnachtsfeiern in der Familie wiesen immer eine gewisse Schieflage auf. Rosemarie hatte nie darüber gesprochen, nicht einmal – aber diese Schieflage bestand. Normale Menschen, Christen wie Nichtchristen, sahen den 24. Dezember als die Nabe an, um die sich die Winterdunkelheit drehte, aber in der Familie Wunderlich Hermansson hatte der 20. mindestens ebensoviel Bedeutung. Karl-Eriks und Ebbas Geburtstag, der folgende Tag war der kürzeste im Jahr, das Herz der Finsternis, und auf irgendeine sonderbare Art und Weise war es Karl-Erik gelungen – ohne an den Tatsachen zu rütteln, aber viel fehlte nicht daran –, eine Verschiebung um einen Tag zustande zu bringen, so dass man eine Art Dreifaltigkeit hinbekam. Sein eigener Geburtstag. Ebbas Geburtstag. Die Rückkehr des Lichts auf die Erde.
Ebba war immer der Augenstern ihres Vaters und das Hätschelkind gewesen, an sie hatte er von Anfang an die größten Hoffnungen geknüpft. Hatte sich nie auch nur die Mühe gemacht, diese Tatsache zu verbergen, gewisse Kinder haben mehr Karat als andere, so geht es nun einmal im genetischen Schmelztiegel der Biologie zu, so hatte er bei irgendeiner Gelegenheit einmal erklärt, als er sich ganz gegen seine Gewohnheit einen Cognac zu viel gegönnt hatte. Ob man nun will oder nicht. Und wie es im Nachhinein aussah, dachte Rosemarie verbittert und ohne sich etwas vorzumachen – während sie sich eine zweite Tasse Kaffee einschenkte, ein verlässlicher Eckstein in dem nur langsam sich entwickelnden Projekt des Wachwerdens –, so schien er zweifellos auf das richtige Pferd gesetzt zu haben.
Ebba war ein Fels in der Brandung. Walter war schon immer das schwarze Schaf gewesen, und jetzt hatte er sich unbeschreiblich verhalten – wobei das möglicherweise viel weniger überraschend war, als alle taten. Und Kristina? Ja, über Kristina konnte man eigentlich nur sagen, dass sie so war, wie sie war, das Kind war in letzter Zeit ein wenig zur Ruhe gekommen, die letzten Jahre waren in einem deutlich ruhigeren Fahrwasser verlaufen als die vorhergehenden, auch wenn Karl-Erik beharrlich betonte, dass es noch zu früh war, um laut Hurra zu schreien, ganz eindeutig zu früh.
Wann hast du jemals Hurra geschrien, mein Holzprinz?, hatte Rosemarie jedes Mal gedacht, wenn er das sagte, und jetzt in ihrer Küche, in der die Dämmerung auf sich warten ließ, dachte sie wieder das Gleiche.
Genau in diesem Moment betrat er die Küche. »Guten Morgen«, sagte er. »Ist schon komisch. Trotz allem habe ich geschlafen wie ein Kind.«
»Ich finde, es hat einen Anschein von Panik«, sagte sie. »Wie meinst du das?«, fragte Karl-Erik Hermansson und schaltete den Wasserkocher ein. »Wohin hast du meinen neuen Tee gestellt?«
»Zweites Regal«, antwortete Rosemarie. »Nun, das Haus zu verkaufen und in diese Urbanisation zu ziehen natürlich. Das hat so etwas …ja, Panikartiges.Wie schon gesagt. Nein, weiter links.«
Er klapperte mit Tassen und Dosen. »Ur-ba-ni-sa-ción«, artikulierte er mit deutlich hörbarem spanischem Phonem. »Ich weiß, dass du so deine Zweifel hast, aber eines Tages wirst du mir noch danken.«
»Woran ich zweifle«, erklärte Rosemarie Wunderlich Hermansson. »Daran zweifle ich bis in den kleinen Zeh. Du musst dir die Nasenhaare schneiden.«
»Rosemarie«, sagte Karl-Erik und schob den Brustkorb vor.
»Ich kann den Leuten hier nicht mehr in die Augen sehen. Ein Mann muss aufrecht gehen und den Kopf oben tragen können.«
»Man muss sich auch mal beugen können«, konterte sie. »Das hier geht vorbei. Die Leute vergessen schnell, und alles bekommt seine angemessenen Prop …«
Er unterbrach sie, indem er seine neue Teedose mit einem Knall auf die Arbeitsplatte stellte. »Ich denke, wir haben lange genug darüber diskutiert. Lundgren hat zugesagt, dass wir die Papiere Mittwoch unterschreiben können. Ich bin fertig mit dieser Stadt. Basta. Es ist doch nur Feigheit und Trägheit, die uns hier noch halten.«
»Wir haben hier achtunddreißig Jahre gewohnt«, sagte Rosemarie. »Lange genug«, sagte Karl-Erik. »Hast du schon zwei Tassen Kaffee getrunken? Denk dran, ich habe dich gewarnt.«
»An einen Ort zu ziehen, der nicht einmal einen richtigen Namen hat. Ich finde, er sollte zumindest einen Namen haben.«
»Den wird er schon kriegen, sobald sich die spanischen Behörden entschieden haben. Was ist denn so schlecht an Estepona?«
»Nach Estepona sind es sieben Kilometer. Und vier Kilometer bis zum Meer.«
Er erwiderte nichts. Goss kochendes Wasser über seine gesunden grünen Teeblätter und holte das Sonnenblumenbrot aus dem Brotkasten. Sie seufzte. Sie diskutierten ihre Frühstücksgewohnheiten
seit fünfundzwanzig Jahren. Sie diskutierten den Hausverkauf und den Umzug nach Spanien seit fünfundzwanzig Tagen. Obwohl Diskussion dafür wohl kaum der richtige Begriff ist, dachte Rosemarie. Karl-Erik hatte einen Beschluss gefasst und anschließend seine gut geschmierte demokratische Gesinnung dazu benutzt, sie auf seine Seite zu ziehen. So hatte es jedes Mal ausgesehen. Er gab nie auf. Bei jeder Frage, die von einem gewissen Gewicht war, hatte er geredet, geredet und geredet, bis sie aus reiner Erschöpfung und aus reinem Überdruss das Handtuch warf. Die reinste Filibustertaktik. Das war beim Autokauf so gewesen. Das war bei den sauteuren Bücherregalen in ihrem gemeinsamen Arbeitszimmer so gewesen – das er gern als ihr gemeinsames Arbeitszimmer bezeichnete, er verbrachte darin vierzig Stunden die Woche, sie vier. Das war bei ihren Urlaubsreisen nach Island, nach Weißrussland und ins Ruhrgebiet so gewesen, denn wenn man Fachbereichsleiter für Gemeinschaftskunde und Geographie war, dann hatte man so seine Verpflichtungen.
Und er hatte bereits das Handgeld für dieses Haus zwischen Estepona und Fuengirola bezahlt, ohne sie zu fragen. Hatte die Verhandlungen mit Lundgren von der Bank über den Verkauf des Hauses eingeleitet, ohne zunächst den demokratischen Prozess daheim in Gang zu setzen. Das konnte er nicht leugnen und leugnete es auch gar nicht.
Aber vielleicht sollte sie ihm sogar dankbar sein. Ehrlich gesagt. Es hätte genauso gut Lahti oder Wuppertal sein können. Ich habe mit diesem Mann mein gesamtes erwachsenes Leben verbracht, dachte sie plötzlich. Ich dachte, etwas würde mit der Zeit reifen zwischen uns, aber dem war nicht so. Von Anfang an war da etwas Schimmliges zwischen uns, und mit jedem Jahr, das verging, wurde es schimmliger. Und warum war sie so unverbesserlich unselbstständig, dass sie ihr Leben mit ihm vergeuden musste? Ein höchstes Zeichen von Schwäche, oder etwa nicht?
»Woran denkst du?«, fragte er.
»An nichts«, antwortete sie.
»In einem halben Jahr haben wir alles hier vergessen«, sagte er.
»Was? Unser Leben? Unsere Kinder?«
»Red keinen Quatsch. Du weißt, was ich meine.«
»Nein, das tue ich nicht. Und übrigens, wäre es nicht besser, wenn Ebba und Leif ins Hotel gingen? Schließlich sind es vier Erwachsene, das wird bestimmt eng.«
Er zwinkerte ihr zu, als wäre sie eine Schülerin, die die dritte Stunde nacheinander vergessen hat, eine Arbeit abzuliefern, und sie wusste, dass sie das nur vorgeschlagen hatte, um ihn zu reizen. Denn natürlich hatte sie Recht damit, dass Ebba, Leif und ihre beiden Teenagersöhne mehr Platz beanspruchen würden, als es im Haus eigentlich gab, aber Ebba war nun einmal Ebba, und Karl-Erik würde lieber seinen letzten Schlips verpfänden, als seine Lieblingstochter irgendwo anders unterzubringen als daheim, in dem Zimmer, in dem sie aufgewachsen war. Und das erst recht jetzt, wo es das letzte Mal, das letzte Mal für alle Zeiten war.
Sie bekam einen Kloß im Hals und kippte den lauwarmen Kaffee hinunter. Und Walter? Ja, der arme Walter musste natürlich vor den Blicken der Welt so gut es nur ging versteckt werden, man konnte ihn nicht im Hotel herumlaufen lassen, wo ihn jeder begaffen und verhöhnen konnte. Wichs-Walter von Fucking Island. Als sie das letzte Mal mit ihm gesprochen hatte, vorgestern Abend, hatte es fast geklungen, als wäre er kurz vorm Heulen.
Alsomussten Kristina, Jakob und der kleine Kelvin ins Hotel. Wie konnte man ein Kind nur Kelvin taufen? Der absolute Nullpunkt, wie Karl-Erik den frischgebackenen Eltern erklärt hatte, doch das hatte nichts genützt. Übrigens war sie sich ziemlich sicher, dass die Kleinfamilie das Hotel als Glückslos betrachten würde, die Gefühlslage, die Kristina gegenüber Rosemarie zu zeigen pflegte, seitdem sie erwachsen und von zu Hause ausgezogen war, bestand aus einer Mischung aus Schuldgefühl, Minderwertigkeitsgefühl und dem Gefühl, missraten zu sein. Und einen kurzen, jedoch umso klareren Moment lang war sie sich dessen bewusst, dass sie eigentlich nur für Walter Gefühle empfand und sich um ihn sorgte. Lag es daran, dass er ein Junge war? War es so einfach?
Aber vielleicht würde es früher oder später doch noch einen Zugang zu Kristina geben; was sie selbst betraf natürlich nur, kaum für Karl-Erik. Denn er war schon immer das Hauptziel für die Obstinenz des Mädchens gewesen. Gab es dieses Wort überhaupt? Obstinenz? Von den ersten Pubertätstagen an war es so gewesen, doch die pädagogische Fichte hatte aufrecht und im Schutz ihrer Rinde unzählige Streitereien, Zwiste und Dispute ausgehalten – und dabei gerade die Eigenschaften gezeigt, die derartigen rechtschaffenen Pflanzen zugeschrieben werden. Bleibe auf dem Fleck, auf dem du stehst, und rühre dich keinen Millimeter fort.
Ich bin ihm gegenüber ungerecht, dachte sie. Aber ich bin es so verflucht leid, dass ich auf das ganze Elend spucken könnte. Gerade in diesem Augenblick, als sich die Uhr den Sieben- Uhr-Nachrichten auf P1 näherte, führte Karl-Erik eine Reihe schwergewichtiger und unwiderlegbarer Argumente für die Selbstverständlichkeit an, dass Ebbas Familie im Haus untergebracht werden musste – und Rosemarie ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie am liebsten zu ihm gehen, ihm die Zunge
aus dem Mund ziehen und diese abschneiden würde.
Seine pädagogischen Aufgaben waren schließlich abgeschlossen, es war also an der Zeit. Und dann dieser automatisch auftauchende Gedanke, dass sie wieder einmal ungerecht war.
»All right, all right«, sagte sie. »Es spielt keine Rolle.«
»Na gut«, sagte er. »Wie schön, dass wir uns einig sind. Wir müssen auf jeden Fall versuchen, Walter genau wie immer zu behandeln. Ich möchte dieses Ereignis nicht erwähnt haben. Ich werde mit ihm ein Gespräch unter vier Augen führen, das muss reichen. Wann, sagte er, dass er kommen wollte?«
»Gegen Abend. Er kommt mit dem Wagen. Ja, genauer hat er das nicht gesagt.«
Karl-Erik Hermansson nickte nachdenklich, öffnete den Mund sperrangelweit und schaufelte einen gehäuften Löffel Joghurt mit grobem Müsli hinein, unberührt von Menschenhand und mit dem Zusatz von zweiunddreißig nützlichen Mineralien plus Selen.
Sie saugte im oberen Stockwerk Staub. Karl-Erik hatte sich in häuslicher Solidarität die Einkaufsliste und das Auto gegriffen und war zu dem uralten Coop-Palatz draußen im Industriegebiet Billundsberg gefahren, um dort fünfhundert Kilo Geburtstagsnotwendigkeiten sowie einen Tannenbaum einzukaufen.
Während Rosemarie den altmodischen alten Voltan herummanövrierte, gekauft bei Bröderna Erikssons Elektriska Maskiner, Hem&Hushåll bereits im Spätwinter 1983 und vermutlich unverwüstlich, überlegte sie, wie viele wichtige Entscheidungen sie eigentlich während ihres dreiundsechzigjährigen Lebens getroffen hatte.
Dass sie sich mit Karl-Erik, der Pädagogenfichte, verheiratet hatte? Wohl kaum. Sie hatten sich bereits während ihrer Schulzeit in der Karolinschen Lehranstalt kennen gelernt (sie eine verhuschte Anfängerin in der ersten Gymnasialklasse, er ein aufrechter Schüler der Abschlussklasse, ganz elegant in Anzug), und er hatte ihren Widerstand in der gleichen Form geknackt, wie er ihre Einwände in ihrem gesamten gemeinsamen Leben knacken sollte. Als er um ihre Hand anhielt, war ihr erstes Nein in ein zweites Vielleicht, wir können das ja noch hinausschieben, bis wir wenigstens unsere Prüfung gemacht haben verwässert worden, bis hin zum letztendlichen Okay, aber wir müssen erst eine gemeinsameWohnung finden. Sie hatten 1963 geheiratet, sie hatte den textilen Zweig des Seminars für häusliche Ausbildung im Juni 1965 abgeschlossen, und Ebba war ein halbes Jahr später zur Welt gekommen. Auch sie war nicht die Frucht eines Beschlusses gewesen, den Rosemarie gefasst hatte.
Die Laufbahn der Handarbeitslehrerin hatte sie gewählt, nachdem ihre beste (und einzige) Freundin im Gymnasium, Bodil Rönn, sich bereits dafür entschieden hatte. Sie hatten die Prüfung gemeinsam durchgestanden, Bodil hatte eine feste Stelle in Boden in einer Schule bekommen, die weniger als fünfhundert Meter vom Elternhaus ihres Freundes Sune entfernt lag, und soweit Rosemarie wusste, wohnten die beiden immer noch dort. Sie hatten eineinhalb Jahre lang Kontakt miteinander gepflegt und sich Briefe geschrieben, doch die letzte Weihnachtskarte war inzwischen sieben oder acht Jahre alt. Kein einziger wichtiger Beschluss, dachte sie und schleppte dasVoltanwunder über den Flur,umsich die Gästezimmer vorzunehmen.
Oder die alten Kinderzimmer, wie immer man sie nun bezeichnen wollte. Ebbas Zimmer, Walters Zimmer und Kristinas enge Kammer, die eigentlich nicht viel größer war als eine Vorratskammer – aber es war ja auch nie geplant gewesen, dass es mehr als zwei Kinder werden sollten, und erst recht nicht, wenn man bedachte, dass bereits mit zwei Versuchen eines von jedem Geschlecht zustande gebracht worden war, aber dann war es halt doch anders gekommen. Das Leben nahm eben seinen Lauf, und das nicht immer nach Plan; Kristina war 1974 geboren worden, Rosemarie hatte zehn Monate zuvor auf Anraten ihres Gynäkologen die Pille abgesetzt gehabt, und wenn die katastrophale Griechenlandreise mit Familie Fläskbergson keine lichteren Erinnerungen hervorgebracht hatte,
so zumindest eine nicht geplante Tochter. Karl-Erik hatte vergessen, Kondome zu kaufen, und es nicht rechtzeitig geschafft, sich zurückzuziehen. So war es nun einmal, shit happens auch in dieser besten aller Welten, genau wie in allen anderen. Was war das für eine Sprache, die ihre Gedanken an diesem nasskalten Dezembermorgen benutzten? God knows, holy cow, jedenfalls waren das Worte, die sie normalerweise nicht benutzte.
Wie war eigentlich das Wetter? Besser, sich neutralen Dingen zu widmen. Bis jetzt war nicht einmal ein Zentimeter Schnee in diesem westschwedischen Landesteil gefallen, und wenn sie aus dem Fenster schaute, kam es ihr vor, als ob sogar das Tageslicht aufgab und das Handtuch warf. Die Luft sah aus wie Haferschleim.
Erst als sie den langen Flurläufer zusammengerollt hatte und die Fußbodenleisten ohne den Aufsatz absaugte, fiel ihr ein entscheidender Beschluss ein. Verdammt noch mal.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007 by btb Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Übersetzung: Christel Hildebrandt
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Autoren-Porträt von Hakan Nesser
Nesser, HåkanHåkan Nesser, geboren 1950, ist einer der beliebtesten Schriftsteller Schwedens. Für seine Kriminalromane erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sie sind in über zwanzig Sprachen übersetzt und mehrmals erfolgreich verfilmt worden. Håkan Nesser lebt abwechselnd in Stockholm und auf Gotland.
Bibliographische Angaben
- Autor: Hakan Nesser
- 2009, Masse: 11,7 x 18,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Hildebrandt, Christel
- Übersetzer: Christel Hildebrandt
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 3442739322
- ISBN-13: 9783442739325
- Erscheinungsdatum: 25.05.2009
Rezension zu „Mensch ohne Hund / Inspektor Gunnar Barbarotti Bd.1 “
"Håkan Nessers Roman ,Mensch ohne Hund' ist mehr als ein Krimi"
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