Mein Weg
Ein politisches Bekenntnis
Putins Gefangener: Michail Chodorkowski erzählt sein Leben
Seit seiner Verhaftung im Jahr 2003 ist Michail Chodorkowski der bekannteste Häftling Russlands. 2011 wurde er erneut zu mehreren Jahren Haft verurteilt, in einem Prozess, den viele...
Seit seiner Verhaftung im Jahr 2003 ist Michail Chodorkowski der bekannteste Häftling Russlands. 2011 wurde er erneut zu mehreren Jahren Haft verurteilt, in einem Prozess, den viele...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch (Gebunden)
Fr. 30.90
inkl. MwSt.
- Kreditkarte, Paypal, Rechnungskauf
- 30 Tage Widerrufsrecht
Produktdetails
Produktinformationen zu „Mein Weg “
Putins Gefangener: Michail Chodorkowski erzählt sein Leben
Seit seiner Verhaftung im Jahr 2003 ist Michail Chodorkowski der bekannteste Häftling Russlands. 2011 wurde er erneut zu mehreren Jahren Haft verurteilt, in einem Prozess, den viele als Farce kritisieren.
In diesem Buch, das während des vergangenen Jahres in der Haft entstand und kapitelweise herausgeschmuggelt wurde, erzählt Chodorkowski erstmals ausführlich und offen von seiner Kindheit und Jugend, seinem Aufstieg zu einem der reichsten Ölunternehmer Russlands und von seinen Überzeugungen, die ihn zum Gegner Wladimir Putins werden ließen. Wir erleben einen Mann, der sich nicht leicht in eine Schublade stecken lässt, der sich mutig für eine offene Gesellschaft engagiert in einem Staat, in dem Regimekritiker gefährlich leben, und der sich auch in der Haft noch unbeugsam zeigt. Die russische Journalistin Natalija Geworkjan ergänzt die Aufzeichnungen Chodorkowskis um Kapitel, die die Hintergründe weiter ausleuchten.
Seit seiner Verhaftung im Jahr 2003 ist Michail Chodorkowski der bekannteste Häftling Russlands. 2011 wurde er erneut zu mehreren Jahren Haft verurteilt, in einem Prozess, den viele als Farce kritisieren.
In diesem Buch, das während des vergangenen Jahres in der Haft entstand und kapitelweise herausgeschmuggelt wurde, erzählt Chodorkowski erstmals ausführlich und offen von seiner Kindheit und Jugend, seinem Aufstieg zu einem der reichsten Ölunternehmer Russlands und von seinen Überzeugungen, die ihn zum Gegner Wladimir Putins werden ließen. Wir erleben einen Mann, der sich nicht leicht in eine Schublade stecken lässt, der sich mutig für eine offene Gesellschaft engagiert in einem Staat, in dem Regimekritiker gefährlich leben, und der sich auch in der Haft noch unbeugsam zeigt. Die russische Journalistin Natalija Geworkjan ergänzt die Aufzeichnungen Chodorkowskis um Kapitel, die die Hintergründe weiter ausleuchten.
Klappentext zu „Mein Weg “
Putins Gefangener: Michail Chodorkowski erzählt sein LebenSeit seiner Verhaftung im Jahr 2003 ist Michail Chodorkowski der bekannteste Häftling Russlands. 2011 wurde er erneut zu mehreren Jahren Haft verurteilt, in einem Prozess, den viele als Farce kritisieren.
In diesem Buch, das während des vergangenen Jahres in der Haft entstand und kapitelweise herausgeschmuggelt wurde, erzählt Chodorkowski erstmals ausführlich und offen von seiner Kindheit und Jugend, seinem Aufstieg zu einem der reichsten Ölunternehmer Russlands und von seinen Überzeugungen, die ihn zum Gegner Wladimir Putins werden liessen. Wir erleben einen Mann, der sich nicht leicht in eine Schublade stecken lässt, der sich mutig für eine offene Gesellschaft engagiert in einem Staat, in dem Regimekritiker gefährlich leben, und der sich auch in der Haft noch unbeugsam zeigt. Die russische Journalistin Natalija Geworkjan ergänzt die Aufzeichnungen Chodorkowskis um Kapitel, die die Hintergründe weiter ausleuchten.
Lese-Probe zu „Mein Weg “
Mein weg von Michail Chodorkowski & Natalija GeworkjanAus dem Russischen von Steffen Beilich
Michail Chodorkowski
Vorwort
Als mir 2004, nach knapp einem Jahr in der Gefängniszelle, zum ersten Mal angetragen wurde, meine Memoiren oder wenigstens eine ausführliche Selbstauskunft zu verfassen, lehnte ich nach kurzer Überlegung ab. In meinen Augen sind Memoiren vor allem eine Art Bilanz des eigenen Lebensweges, und das bedeutet unweigerlich, dass man sein innerstes, das, was man sein Leben lang in sich trägt, offenlegt - vorausgesetzt, man ist ehrlich mit sich selbst. Damals schien mir der Zeitpunkt dafür noch nicht gekommen.
Die Welle von Verhaftungen von Yukos-Mitarbeitern, die erzwungene Ausreise meiner Geschäftspartner und vieler mir nahestehender Freunde aus Russland, die enormen Steuerforderungen, die letztlich die erzwungene Pleite und Zerschlagung des Unternehmens zur Folge hatten - all das war noch zu »heiß«, und ich hatte das Gefühl, meine Offenheit könnte diejenigen gefährden, die noch in Freiheit waren. Und was ich am wenigsten mag, ist, meine Pflichten zu verletzen - auch wenn es in diesem Fall keine konkreten Verpflichtungen gab, den Inhalt von Gesprächen, Unterredungen etc. geheim zu halten.
Nachdem ich in die praktische Politik eingetaucht war, stellte ich mit einem vielleicht etwas naiven erstaunen fest, dass Moral hier wirklich keinen Platz hat, dass selbst elementarer Anstand nichts gilt, und dass Verrat und lüge ganz einfach die gängigen Verhaltensweisen sind. In der Politik wird ununterbrochen gelogen, mit und ohne Grund, es wird gelogen, weil es »so sein muss«, und je weiter oben in der Machtpyramide jemand steht, desto tiefer reißt ihn dieser Strudel der Lüge hinab.
Vorwort
... mehr
Auch jetzt, im neunten Jahr meiner Haft, fällt mir hier im Straflager in Karelien, während ich im Fernsehen den Ablauf der sogenannten »Wahlen« verfolge, unweigerlich auf, wie da eine Art Teufelskreis der Lüge entsteht, der »Lüge im Quadrat« oder sogar »im Kubik«, deren simple Winkelzüge auch ein Häftling ohne Zugang zum Internet erkennt. Die Abgeordneten der Staatsduma lauschen mit verständigem Blick den Ausführungen der Staatsführung zur Korruption. Dabei wissen sie nur zu gut, dass die Korruption längst sämtliche Bereiche unseres Lebens durchdringt und dass sich durch bloße Worte, und sei es der höchsten »Entscheidungsträger «, nichts ändern wird, solange es nicht zu einem Regimewechsel kommt und sich kein anderes Regierungssystem in Russland etabliert. Auch der Redner auf der großen Tribüne der Staatsduma weiß bestens über die Korruption Bescheid; ihm ist außerdem klar, dass die Abgeordneten ihm nicht glauben, sondern nur einen »verständigen Gesichtsausdruck« aufsetzen. Der Fernsehzuschauer, der diese neuerliche Lügenspirale verfolgt, erträgt das alles nicht mehr und schaltet, wann immer es geht, auf TV-Serien um. Aber das schlimmste ist, dass sowohl dem »Korruptionsbekämpfer « am Rednerpult als auch den Duma-Abgeordneten ebenso wie der gesamten Regierung nur allzu klar ist, dass der Fernsehzuschauer ihnen nicht glaubt und die Bevölkerung das alles nicht mehr sehen will. An die Effizienz einer solchen »Korruptionsbekämpfung« glaubt niemand mehr, aber alle reden sich ein, die Lüge sei ein integraler Bestandteil der Politik, und anders gehe es nun einmal nicht.
Für mich war es in meinem früheren Leben als Unternehmer unmöglich zu lügen: entgegen den vielen Gerüchten über meine angebliche »Unfähigkeit zu verhandeln« (und das ist einer der Lieblingsmythen des Kreml) wussten alle, mit denen ich in den Jahren meines Unternehmerdaseins direkt zu tun hatte, dass ich kein einfacher Verhandlungspartner war und sehr zäh sein konnte. aber niemals - niemals! - habe ich Verpflichtungen, die ich übernommen hatte, nicht erfüllt. ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie man unternehmerisch tätig sein kann, wenn man Vereinbarungen nicht einhält - schließlich kommt man dann entweder aus den Prozessen nicht mehr heraus, oder man stirbt keines natürlichen Todes ... das »eintauchen« in die Politik hat mich jedenfalls erschüttert: Worte und Verpflichtungen kamen den Politikern leicht über die Lippen, ebenso leicht wurden sie auch wieder gebrochen.
Und obwohl ich, wie schon erwähnt, niemandem gegenüber konkret verpflichtet war, Vereinbarungen und anderes geheim zu halten, bin ich heute nach wie vor überzeugt, dass ich, ehe ich von jemand anderem Berichte als mir selbst (und ohne das geht es in Memoiren nun einmal nicht), ihn zuvor fragen muss, ob es ihm recht ist, dass sein Handeln öffentlich wird, oder ob es dafür noch zu früh ist.
Der zweite Grund, warum ich 2004 noch nicht bereit war, meine Memoiren zu verfassen, hatte damit zu tun, dass ich, kurz nachdem ich ins Gefängnis gekommen war, zu schreiben begonnen hatte.Am Anfang war das sehr schwer. Artikel sind keine Interviews - hier will jeder Satz gut bedacht sein. angesichts meiner besonderen Lage war mir klar, dass meine Texte nicht nur von meinen Freunden gelesen würden - und alle anderen würden nach Schwachstellen suchen, um später umso schmerzhafter »zuzuschlagen«. Nach den ersten Artikeln gab es viele Zweifel: ob ich selber schreibe, wozu ich das mache und überhaupt ... es gab viele Fragen. umso wertvoller war da für mich die Unterstützung der Verlage (Wedomosti und Nowaja Gaseta), die als erste an mich glaubten und meine Arbeiten veröffentlichten. Gleichzeitig gab es auch unter meinen Angehörigen und Freunden viele Zweifler, denn der Autor Chodorkowski in meinen Artikeln entsprach oft nicht dem öffentlich verbreiteten Chodorkowski-Bild, das vor meiner Verhaftung geprägt worden war. Es war nicht einfach für mich, das alles über mich zu lesen und zu hören ... damals, im Jahr 2004, beschloss ich für mich, dass die Zeit für Memoiren noch nicht gekommen war. Ich muss den Leser aber gleich enttäuschen oder auch erfreuen: auch jetzt ist die Zeit nicht reif dafür. Es ist immer noch zu früh. Wann ich zu einer Autobiografie im eigentlichen Sinn bereit sein werde, kann ich nicht sagen. das hängt sowohl mit meiner derzeitigen Situation zusammen als auch damit, dass ich noch nicht Bilanz ziehen will - ich hoffe noch auf eine Zukunft!
Zu diesem Buch habe ich mich auch deshalb entschlossen, weil ich Natascha Geworkjan schon seit über 15 Jahren als wunderbare, aufrichtige Journalistin und einfach als guten Menschen kenne. Natascha, die zu den Journalisten zählt, deren Meinung mir äußerst wichtig ist, zweifelte zunächst selbst daran, ob die Beiträge, die in der Nowaja Gaseta unter meinem Namen veröffentlicht wurden, tatsächlich von mir waren. Ausgerechnet ihre 2004 formulierte kritische Haltung zu meinen literarischen »Talenten« und meiner Autorschaft haben sich die Kreml-Propagandisten zunutze gemacht und tun dies bis heute. als sie mir vorschlug, gemeinsam ein Buch zu schreiben, war mir deshalb auch gleich klar, dass dies keine leichte Aufgabe werden würde.
Das Buch hat zwei Autoren, die in der Bewertung, Auslegung und Beschreibung mancher Ereignisse oft unterschiedlicher Meinung sind. Das ist ganz normal. Auch in der Frage, inwieweit sie den Aussagen einzelner im Buch vorkommender Personen Glauben schenken, sind sich die Autoren nicht immer einig. Jeder von uns zeichnet für seinen Teil verantwortlich, für das, was er in der ich-Form sagt. Während der Arbeit an diesem Buch (in Form eines Briefwechsels) haben Natascha und ich viel gestritten, und das, was der Leser zu sehen bekommt, ist im Großen und Ganzen das Ergebnis eines Kompromisses. Das Wichtigste, was die Autoren dieses Buches eint, ist ihre Loyalität gegenüber den gemeinsamen Werten der europäischen Zivilisation, deren integraler Bestandteil auch mein Land ist - ungeachtet der vergeblichen Bemühungen kleiner und großer Politiker und Politintriganten, Russland in den verschiedenen Phasen seiner Entwicklung vom einmal gewählten Weg abzubringen.
Jetzt, da sie dieses Buch lesen, haben Platon Lebedew und ich nach Verbüßung der ersten Achtjahresfrist in Haft bereits eine zweite Haftstrafe erhalten und warten auf das Jahr 2016; reich sind wir längst nicht mehr. Wladimir Putin hat sich selbst erneut für das Amt des Präsidenten nominiert. Der Chefjurist unseres Unternehmens, Rechtsanwalt Wassja Alexanjan, ist gestorben, bevor er die Aussagen machen konnte, die die Ermittlungsbeamten von ihm wollten. Die Staatsanwälte, Richter und Ermittlungsbeamten, die an unserem Verfahren beteiligt waren, haben inzwischen weitere Beförderungen, Sternchen und Prämien erhalten. Die russische Forbes-Liste hat sich nicht wesentlich verändert; die Reichen sind im Landesdurchschnitt insgesamt noch reicher und die Armen noch ärmer geworden.
Aber man kann auch noch etwas anderes beobachten, und das ist selbst aus dem Fenster einer Gefängniszelle in Sibirien oder Karelien zu sehen: es gibt mit jedem Jahr, jedem Monat und Tag mehr aufrichtige Menschen, Menschen, die ein Gewissen haben, Menschen, die Veränderungen wollen. Bei aller Befangenheit wage ich zu behaupten: dass diese Veränderungen kommen, ist nur eine Frage der Zeit.
Ich selbst habe jedenfalls vor, zum wohl der Generationen zu wirken, die dieses Land schon sehr bald übernehmen werden. Der Generationen, die wirklich Veränderungen wollen. Der Generationen, mit denen neue Werte und neue Hoffnungen auf den Plan treten.
Natalija Geworkjan
Anstelle eines Vorworts
Es ging auf Weihnachten zu, und ich war auf der Suche nach einer passenden Karte. Der Einzigen, die ich verschicken wollte. Der Besitzer des Geschäfts in der Rue du Geoffroy kannte mich. Ich bin ganz vernarrt in dieses Pariser Geschäft, das wie aus einer anderen Welt ist: Mit Federhaltern, handgeschöpftem Papier und naiv gestalteten Karten. Er wies auf die Ecke, wo die Weihnachtskarten zu finden waren; ich setzte mich einfach auf den Fußboden und begann die Karten zu durchstöbern. Plötzlich fragte jemand neben mir: »Aber sagen sie mal, wozu denn noch Karten schicken, wenn alle schon E-Mails schreiben?« »Da, wo ich sie hinschicke, kommen keine Mails an«, sagte ich, ohne aufzublicken. Die junge Frau ließ nicht locker: »Wo soll das denn sein, wo keine Mails ankommen?« »In Sibirien, im Gefängnis«, antwortete ich, ohne meine Suche zu unterbrechen. eine Pause, unerwartete Stille. Endlich blickte ich auf und sah, wie die wenigen Kunden im Geschäft und auch der Besitzer mich irgendwie betreten ansahen. Die Frau war eine Reporterin von France 2, neben ihr stand ein junger Mann mit einer Kamera und noch einer mit einem Mikrofon. »Sibirien? Gulag?«, fragte die Frau weiter nach. »Ganz genau«, nickte ich. sie bat mich, das noch einmal in die Kamera zu sagen. Ich habe ein Prinzip: Journalistenkollegen schlage ich solche Bitten nicht aus. Also stand ich auf und wiederholte: »Ich möchte meinem Bekannten eine Karte nach Sibirien schicken. Er ist Geschäftsmann. Er sitzt dort im Gefängnis. Und ich hoffe sehr, dass er sie bekommt.« Die Kamera wurde ausgeschaltet. Die Leute im Geschäft traten nun näher und sagten, dass alles gut würde, dass die Karte auf jeden Fall ankäme und man ihn gewiss freilassen würde. Erstaunlicherweise fragte niemand, wofür mein Bekannter eigentlich einsitzt. Für diese Leute ist Sibirien, ist der Gulag ein Symbol der Ungerechtigkeit. Punkt. Der Besitzer des Geschäfts winkte ab, als ich zahlen wollte, und legte noch einen passenden Umschlag zur Karte und einige Blatt Papier mit handgearbeiteten Monogrammen dazu - für einen Brief. Die Journalistin holte mich draußen ein. »Darf ich fragen, wie er heißt, ihr Bekannter?« »Chodorkowski«, antwortete ich. Die junge Frau gab sich alle Mühe, den schwierigen Namen aufzuschreiben. Er sagte ihr nichts. Sie sah mich an: »Und wer ist das?« Ich überlegte. »Die einen sagen: ein Genie, die Anderen: ein Krimineller.«
Natalija Geworkjan
Einführung
Ein russischer Kafka
Ein Schwächling, Lügner, Volksbetrüger, als tatenloser Geck bekannt, durch Zufall nur berühmt als Sieger, beherrschte damals unser Land. Alexander s. Puschkin, Eugen Onegin*
MBC - so nennen ihn alle. Die drei Initialen von Michail Borissowitsch Chodorkowski. Er selbst unterschreibt auch so. Seine Freunde nennen ihn manchmal »Chaider«. außerdem war er bekannt als der reichste Russe, Eigentümer von Yukos, der besten Erdölgesellschaft im Land. Jetzt nennt man ihn »Russlands wichtigsten Gefangenen«. Die kürzeste Geschichte über MBC habe ich bei einem französischen Fremdenführer aufgeschnappt, der russischen Touristen in Vaux-le-Vicomte, einem nahe Paris gelegenen Schloss des 17. Jahrhunderts, von dessen einstigem Besitzer Fouquet erzählte - eben jenem Opernintendanten Fouquet, der auf Geheiß Ludwigs XIV. von D'Artagnan verhaftet wurde. Der Fremdenführer erzählte in etwa Folgendes: »Und so kam also der König in dieses prunkvolle Schloss. Über dem Eingang sah er das Motto, das, aus dem Lateinischen übersetzt, lautet: ›es gibt keine Höhen, die ich nicht erreichen könnte‹; er sah auch den wunderbaren Park, in dem ihm zu Ehren ein zauberhaftes Schauspiel inszeniert worden war. Colbert aber machte wegen Fouquets unehrlich erworbenen Reichtums Stimmung. Außerdem sagte man damals, er hätte es auf die Macht abgesehen. Der König war eine Zeitlang bei Fouquet zu Gast, danach gab er den Befehl, ihn zu verhaften. Und weiter verlief alles so wie in der Geschichte über Herrn Putin und Herrn Chodorkowski.«
Allerdings erlaubte man dem Häftling Fouquet im 17. Jahrhundert erst 15 Jahre nach dem Urteil einen Besuch seiner Gemahlin.D Häftling Chodorkowski erhielt im 21. Jahrhundert immerhin schon fünf Jahre nach Beginn des zweiten Strafverfahrens im Jahr 2006 einen längeren Besuch von seiner Familie. Wir waren gerade dabei, dieses Buch zu Ende zu schreiben, als er nach all diesen Jahren zum ersten Mal wieder seine Frau und seine Kinder in die Arme schließen konnte - in der Strafkolonie Nr. 7 im Kreis Segesha, Karelien, wo er, wenn kein Wunder geschieht, die verbleibenden fünf von vierzehn Jahren, zu denen er nach dem zweiten Verfahren verurteilt wurde, absitzen muss (abzüglich der zu diesem Zeitpunkt bereits verbüßten sieben Jahre). Segesha liegt rund 700 Kilometer nördlich von Petersburg, die Temperaturen schwanken zwischen -25 Grad im Winter und +25 Grad im Sommer. und doch ist das näher an Moskau und klimatisch schonender als in der Strafkolonie im sibirischen Krasnokamensk, wo er nach dem ersten, 2005 gefällten Urteil einsaß.
Inna, Chodorkowskis Frau, erzählte mir einmal von ihrem allerersten längeren wiedersehen nach der Verhaftung, in Sibirien: »Unsere Tochter war damals zwölf, die Zwillinge vier Jahre alt, ich nahm sie nicht mit dorthin. Jetzt, in Segesha, konnten sie ihren Papa besuchen. Aber nach Krasnokamensk... Dahin ist es fast wie mit der Postkutsche, man brauchte drei volle Tage für die Reise. Es war Oktober, dort war es schon kalt. Wie soll ich dir das erklären ... Seit seiner Verhaftung waren zwei Jahre vergangen. Und als wir zusammen waren, hatte ich das erste Mal seit zwei Jahren das Gefühl der Geborgenheit. Ich verschlief die ganzen drei Tage. Ich machte die Augen auf, hörte, dass jemand mit ihm spricht, und machte sie wieder zu. Ich konnte einfach nicht aufstehen. Ich musste ihm nichts erklären. Er machte Rührei, gab mir zu essen. Und ich schlief wieder ein. Ich hatte das Gefühl, mich entspannen zu können. Das war eine Art ›Loslassen‹ von dieser Anspannung, die seit der Verhaftung keinen Moment ausgesetzt hatte. Und auch danach lange nicht wegging.«
Von Dezember 2006 bis Juni 2011 war Chodorkowski permanent im Gefängnis oder im Gerichtssaal, in dieser Zeit waren Besuche nur einmal monatlich erlaubt. Zwei winzige Stühlchen vor einer vergitterten Glasscheibe, ein Telefon. und er auf der anderen Seite der Scheibe. Einmal im Monat kamen seine Eltern, im nächsten Monat seine Frau - entweder mit der Tochter oder den Söhnen. Die gesamte Familie in diesem winzigen Raum unterzubringen, wäre schlichtweg unmöglich gewesen.
Wie viel ist passiert, seit die Idee zu diesem Buch entstand! Und in all der Zeit nur ein freudiges Ereignis: Swetlana Bachmina, Juristin bei Yukos, kam wieder frei. Die Mutter von zwei kleinen Kindern, die in der Strafkolonie ein drittes zur Welt brachte, war im Jahr 2006, mit 37 jähren, einfach zwischen die Mühlsteine der einmal angeworfenen Repressionsmaschinerie geraten und zu sieben Jahren verurteilt worden, weil sie wer weiß was und zu wessen Gunsten unterschlagen haben sollte. Sie wurde 2009 entlassen, nach einem Begnadigungsgesuch und tausenden von Unterschriften, die im Internet für ihre Freilassung gesammelt worden waren.
Im Oktober 2011 verstarb, keine 40 Jahre alt, Wassili Alexanjan, ein schöner und kluger Mann, Absolvent der Universitäten Moskau und Harvard, der die Rechtsabteilung des Yukos-Konzerns geleitet hatte. Er hatte gegen Chodorkowski und Lebedew aussagen sollen. Aber er hatte nicht ausgesagt. Das Gefängnis hat ihn umgebracht: innerhalb von zwei Jahren wurde er dort zum invaliden, beinahe erblindet, an Krebs, Aids und Tuberkulose erkrankt. Zum Sterben ließ man ihn nach Hause - gegen eine Kaution von 50 Millionen Rubel.
In der Zeit, in der dieses Buch geschrieben wurde, ist die Hoffnung auf Präsident Medwedew als einen wirklichen Präsidenten und professionellen Juristen aufgekeimt und wieder erstorben. Chodorkowski war und bleibt Putins Gefangener, es ist Putin, der Chodorkowski seine Frist zumisst. Mit Recht hat diese ganze Geschichte nicht mehr zu tun als Putins Wahl für eine dritte Amtszeit mit einer Wahl im herkömmlichen Sinne des Wortes.
Als wir den Plan zu diesem Buch fassten, war Chodorkowskis Schlussplädoyer im zweiten Prozess noch nicht gesprochen, sein Satz »Ich schäme mich für mein Land« noch nicht gefallen. In seiner Rede hieß es weiter:
»Ich bin keineswegs ein idealer Mensch, aber ich bin ein Mensch der Ideen. Wie jedem fällt es mir schwer, im Gefängnis zu leben, und ich will nicht darin sterben. Aber wenn es sein muss, werde ich nicht schwanken. Meine Überzeugung ist mir mein Leben wert. Ich glaube, das bewiesen zu haben.
Und die ihre, meine Herren Opponenten? An was glauben sie? An das Recht der Obrigkeit? An das Geld? Daran, dass das »System« straflos ausgeht? Ich weiß es nicht, das müssen sie entscheiden.
Euer ehren!
In ihren Händen liegt sehr viel mehr als nur zwei Schicksale. Hier und jetzt wird über das Schicksal eines jeden Bürgers unseres Landes entschieden. Über das Schicksal derjenigen in Moskau und Tschita, Petersburg und Tomsk und in anderen Städten und Dörfern, die darauf zählen, nicht ein Opfer der Gesetzlosigkeit der Miliz zu werden, derjenigen, die ein eigenes Geschäft gegründet, ein Haus gebaut, Erfolg gehabt haben und möchten, dass dies ihren Kindern und nicht Plünderern in Uniform zugutekommt, und schließlich derjenigen, die ehrlich für ein gerechtes Gehalt ihre Pflicht tun wollen, ohne jede Minute befürchten zu müssen, unter einem beliebigen Vorwand von einer korrumpierten Obrigkeit entlassen zu werden.
Es geht nicht um Lebedew und mich, jedenfalls nicht nur. Es geht um die Hoffnung vieler unserer Mitbürger. Um die Hoffnung, dass das Gericht morgen ihre Rechte wird verteidigen können, sollte es irgendwelchen Bürokraten wieder in den Sinn kommen, diese Rechte dreist und demonstrativ zu verletzen.
Ich weiß, dass es Menschen gibt - ich habe ihre Namen während des Prozesses genannt -, die uns weiter im Gefängnis sehen wollen. Für immer! Und daraus machen sie auch keinen Hehl, nein, sie betonen sogar öffentlich, der Fall Yukos sei längst nicht abgeschlossen.
Warum sie das tun? Weil sie demonstrieren wollen: Sie stehen über dem Gesetz, sie erreichen immer das, was sie vorhaben. Bisher haben sie allerdings das Gegenteil erreicht: Sie haben aus gewöhnlichen Menschen ein Symbol des Widerstands gegen die Willkür gemacht. Das ist ihnen gelungen. Das ist nicht unser Verdienst, sondern ihres. Jetzt brauchen sie einen Schuldspruch, um nicht selbst zu ›Sündenböcken‹ zu werden.«*
Und dann kam das Schlusswort von Michails Mutter Marina Chodorkowskaja. knapp und schonungslos, dem Richter ins Gesicht: »Seien sie verflucht! Und ihre Nachkommen auch!«
Die Arbeit an diesem Buch begann, als der zweite Prozess in Moskau noch lief. in seiner Absurdität schien er der Fantasie eines Kafka entsprungen.
Wenn sie auf dem Smolenskaja-Platz in Moskau stehen, dem russischen Außenministerium dort den Rücken zukehren, ein Stückchen bergab Richtung Moskwa-Ufer gehen und dann nach links abbiegen, landen sie auf der Rostowski-Gasse. Dieser Gasse folgen sie bis zu dem unscheinbaren Haus mit der Nr. 21. und wenn sie nun noch einen Pass dabei haben (egal welchen Landes), gehen sie einfach durch die Eingangstür dieses Hauses, bringen die diskrete Prozedur der Durchsuchung und Anmeldung am Eingang hinter sich, versichern, dass sie keine Foto- oder Videotechnik bei sich haben und begeben sich in die zweite Etage.Sie sind nun im Gericht des Stadtteils Chamowniki. Gerichtssaal Nr. 7 - dort müssen sie hin. Genau hier standen Michail Chodorkowski und sein Freund und Partner Platon Lebedew von März 2009 bis Dezember 2010 vor Gericht.
Gegen 10 Uhr früh oder etwa 14 Uhr konnte man beobachten, wie im Treppenhaus zwei Männer, die mit Handschellen an zwei weitere Männer in Uniform gekettet waren, mit leichtem, munterem Schritt den Weg von der dritten in die zweite Etage zurücklegten. Manchmal wurden die beiden Männer zur Abwechslung auch aneinandergekettet, dann gingen die Uniformierten vorneweg und hinterher. Die Männer in Uniform wechselten. Die Männer in Handschellen waren stets dieselben.
Der größere und ältere von beiden, der völlig ergraut war und gewöhnlich eine Sportjacke trug, war Platon Lebedew. Er war 54 Jahre alt. Der jüngere, mit Brille und sehr kurz geschnittenem Haar, der normalerweise Jeans, ein T-Shirt, eine Jacke oder einen Pullover trug, war Michail Chodorkowski. Er war 47 Jahre alt.
Das war auch der einzige Augenblick, in dem man die beiden bekanntesten Häftlinge Russlands nicht hinter Gittern, nicht hinter kugelsicherem Glas, sondern sozusagen »real« zu sehen bekam - in den kurzen Minuten, in denen sie unter Bewachung in den Gerichtssaal und wieder hinausgebracht wurden. Diese beiden Inhaftierten waren ehemalige Teilhaber der ehemaligen Erdölgesellschaft Yukos.
Im Jahr 2003 errechnete Forbes, dass Michail Chodorkowski acht Milliarden Dollar »wert« sei. Der 40-jährige Geschäftsmann wurde nun als reichster Russe geführt. Im Jahr 2003 lag sein Unternehmen bei der Ölfördermenge erstmals vor dem russischen Ölgiganten Lukoil, in puncto Börsenkapitalisierung sogar noch vor Gazprom. damals auch listete die Zeitschrift Fortune Yukos hinsichtlich der Kapitalrendite als das in der Weltwirtschaft führende Unternehmen, beim Verkaufserlös kam es auf Rang zwei; Yukos hatte damit in diesen Kategorien selbst Microsoft, die Citigroup und den Pharmakonzern Pfizer hinter sich gelassen. Chodorkowski führte dieses Unternehmen, das zwei Prozent der Ölmenge der Welt und 20 Prozent des russischen Erdöls lieferte. Zum 2. September 2003, anderthalb Monate vor Chodorkowskis Verhaftung, wurde der Börsenwert von Yukos mit 32,8 Milliarden Dollar veranschlagt.
Dieser junge aus einer durchschnittlichen sowjetischen Ingenieursfamilie, der zu dem Zeitpunkt, als Gorbatschow an die Macht kam, 22 Jahre alt war, hatte den Weg von einem einser-Komsomolzen der späten 1980er zum Ölmagnaten der späten 1990er Jahre zurückgelegt. Er war einer von denen, die auf der Welle der jelzinschen Reformen »mitgeritten« waren und die 1990er Jahre in Russland mit all den Möglichkeiten, Vorzügen und Nachteilen dieses stürmischen Jahrzehnts höchst effektiv genutzt hatten. Den Einen brachte dieses Jahrzehnt tränen und Verluste, den anderen Milliarden und den Beinamen »Oligarchen«, der ihnen wohl auf ewig anhaften wird.
Im Jahr 2003, als der Ölpreis gestiegen war und sich das Preisniveau für Öl der Marke Urals bei knapp unter 30 Dollar pro Barrel einpendelte, belief sich der Reingewinn von Yukos in den ersten neun Monaten auf 3,546 Milliarden Dollar (gegenüber 2,07 Milliarden Dollar im gleichen Zeitraum des Jahres 2002), der Erlös stieg sprunghaft von 7,95 auf 12,2 Milliarden Dollar an. Chodorkowski verhandelte mit großen ausländischen Mineralölkonzernen über eine mögliche Fusion. Praktisch abgeschlossen war das Geschäft für eine Fusion mit einem anderen russischen Konzern: Sibneft.
Das Jahr 2003 sollte zum erfolgreichsten und gleichzeitig letzten Jahr von Yukos unter Chodorkowski werden. Heute existiert die Gesellschaft nicht mehr. und so seltsam es klingt: auch das Land, in dem es ein solches Unternehmen gab, existiert nicht mehr. Die Verhaftung Chodorkowskis im Jahr 2003 markiert die Linie, die das Russland Jelzins von Putins Russland trennt. Putin, der 2000 ins Amt des Präsidenten gekommen war, proklamierte eine stärkere Rolle des Staates, die untergeordnete Position der Wirtschaft, den Aufbau einer Machtvertikale und die Schaffung von Stabilität, wie er und sein engeres Umfeld sie auffasste. Iin Putins Russland wurde nicht nur Chodorkowskis Unternehmen zugrunde gerichtet, sondern auch seine gemeinnützige gesellschaftliche Bildungsorganisation »offenes Russland«, wie übrigens auch viele andere Nichtregierungsorganisationen, die dem ehemaligen KGB-Mann Wladimir Putin verdächtig waren. Während seiner Amtszeit schrumpfte die Zivilgesellschaft auf ein Minimum. Die größten Medienunternehmen, allen voran das Fernsehen, gerieten unter die Kontrolle des Staates. ein Parlament im eigentlichen Sinn gibt es nicht mehr. die Gouverneurswahlen wurden abgeschafft.
Chodorkowski war kein Revolutionär. Er kannte die Spielregeln unter Putin nur allzu gut. Und er verstand es, nach diesen Regeln zu spielen. Jedenfalls bis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Alle wichtigen Projekte stimmte er mit dem Kreml oder sogar persönlich mit Putin ab, angefangen von geschäftlichen Dingen bis hin zur Unterstützung, auch der finanziellen, von oppositionellen Parteien. in der Spätphase der Jelzin-Ära hatte es eine derartige direkte Abhängigkeit der Unternehmer vom Kreml nicht gegeben. Später aber wurde sie zu einer notwendigen und, wie es schien, auch hinreichenden Bedingung für den reibungslosen Betrieb eines jeden großen Unternehmens, so auch für Yukos.
Von Außen betrachtet hatte es den Anschein, als sei mit Yukos alles in bester Ordnung: Noch im April 2003 gratulierte Präsident Putin herzlich zum zehnjährigen Bestehen des Unternehmens. das Grußwort des Präsidenten verlas der Chef der Präsidialadministration, Alexander Woloschin: »Dank einer effektiven Arbeitsorganisation, einem hohen Maß an Professionalität und dem verantwortungsbewussten Handeln der Mitarbeiter kann das Unternehmen seine Positionen auf dem heimischen und dem internationalen Markt nicht nur halten, sondern auch weiter ausbauen «, zitierte Woloschin den Präsidenten. doch schon zwei Monate später wurde der Leiter der Abteilung für interne Wirtschaftssicherheit bei Yukos, Alexej Pitschugin, festgenommen. Im Juli wurde einer der Hauptgesellschafter von Yukos, Platon Lebedew, verhaftet. Niemand zweifelte nun mehr daran, dass dies ein echter »Angriff« war, wie man in Russland sagt. Im Oktober 2003 kam Chodorkowski in Haft.
Bis dahin war Chodorkowski nicht interessanter gewesen als jeder andere der sieben führenden Oligarchen, die mit der Welle des Jahres 1996 hochgespült worden waren - damals hatten sie, nach dem Motto »alles oder nichts«, trotz des unübersehbaren Vorsprungs der Kommunisten unter Gennadi Sjuganow in allen Umfragen bei den Präsidentschaftswahlen auf Boris Jelzin gesetzt. Im weiteren Verlauf gestaltete sich das Schicksal dieser Geschäftsleute mehr als glücklich. Jelzin blieb als Präsident im Amt, und den Unternehmern wurde zum Zeichen der Dankbarkeit die Möglichkeit eingeräumt, überaus vielversprechende Stücke vom Kuchen des staatlichen Eigentums zu privatisieren, das nun, unter anderem im Rohstoffbereich, zum Verkauf stand. die oligarchen schienen die Macht in Händen zu halten, bis sie sich 1997, ein Jahr nach der Wahl, wegen unterschiedlicher Interessen zerstritten und zerstreuten. Dieses effektive Bündnis der Oligarchen, die bereit waren, zugunsten einer gemeinsamen politischen Richtungsentscheidung alles, selbst ihr leben und ihren gesamten Besitz, aufs Spiel zu setzen, sollte in der Geschichte des Landes einmalig bleiben. Als Chodorkowski verhaftet wurde, war von einem gemeinsamen Willen der Oligarchen, ihm beizuspringen, nichts mehr zu spüren.
Wer nach seiner Verhaftung zu verstehen versuchte, warum gerade er zum Vorzeigeopfer der nachjelzinschen Machthaber gekürt worden war, und sich etwas mehr in die details vertiefte, der erkannte, dass Chodorkowski trotz aller nach außen bezeigten Loyalität der neuen Macht gegenüber anders als die anderen war. Aus irgendeinem Grund hatte er die Eigentumsstruktur des Unternehmens transparent gemacht, was in Russland unüblich war. Aus irgendeinem Grund bemühte er sich im Ausland ernsthaft und durchaus erfolgreich um sein eigenes Image und das des Konzerns. er begann, gemeinnützige Organisationen zu gründen. Er kümmerte sich um einen verbesserten Zugang der Menschen zu Computern, um die Modernisierung des Landes. Aus irgendeinem Grund lag ihm die Bildung und der Erhalt des geistigen Potenzials in Russland am Herzen. Und aus irgendeinem Grund hatte er sich in den Kopf gesetzt, eine Pipeline nach China zu bauen. Er stand in Verhandlungen mit einem großen westlichen Partner und hatte damit faktisch die Expansion des russischen Business gen Westen eingeleitet.
Michail Chodorkowski: »Nachdem die Krise vom August 1998 wie ein Wirbelwind vorübergezogen war, richteten sich in der ersten Zeit all unsere Gedanken darauf, Yukos zu retten und die Unternehmen, mit denen die Menatep-Gruppe zu tun hatte, noch einmal aus dem Abgrund zu holen.
Dann kam der 31. Dezember 1998, und es wurde klar, dass unsere Schulden zwar nicht beglichen waren, doch der Horizont war immerhin schon zu sehen. Heute wird das wohl niemand glauben wollen, aber damals war die gemeinsame Menatep-Kasse leer. Hätte sich also die Frage gestellt, was unter den Teilhabern aufgeteilt werden sollte, wäre lediglich die Verantwortung für die Schulden zu teilen gewesen. Trotzdem waren wir grundsätzlich optimistisch, und es zeichnete sich ab, dass wir durchkommen würden, obwohl wir buchstäblich an allem sparen mussten. Alle Investitionsanträge, die nicht vorher schon ordnungsgemäß genehmigt worden waren, wurden nun abgewiesen.
Just zu diesem Zeitpunkt schafften es ein paar junge Leute, trotz Sekretariat, Stellvertretern und Assistenten zu mir durchzudringen - Leute, die weder äußerlich noch innerlich viel mit denen gemeinsam hatten, mit denen wir Yukos aus Ruinen auferstehen lassen und eine neue russische Industrie aufbauen wollten. In einer großen bürokratischen Struktur das Spalier der ›Sperrverbände‹ zu durchbrechen, war sehr schwer, aber diese Leute waren durchgekommen. Heute sind sie bekannte Journalisten, Top-Blogger, Politiker und einige sogar Duma- Abgeordnete...
Es gab mehrere Vorschläge, alle voneinander unabhängig: die Gründung einer Internet-Zeitung, die Einrichtung einer gemeinnützigen Organisation zur Verbreitung und Entwicklung des Internet in Russland unter besonderer Berücksichtigung der Regionen, und die Einrichtung von Computerklassen. Damals, Ende der 1990er Jahre, war es so gut wie unmöglich, auch nur irgendeinem Unternehmer in Russland die kommerziellen Vorzüge von Internetprojekten klarzumachen. Angesichts des allgegenwärtigen Fernsehens erschien die Idee, eine alternative Informationsquelle zu entwickeln, als Verwegenheit und Hirngespinst.
Ich habe dennoch daran geglaubt. An die Menschen, und an ihre Ideen. Auch wenn es mir persönlich keinen kommerziellen Nutzen brachte: In der russischen Provinz wurden nun erste Internet-Kurse eingerichtet, das Internet wurde propagiert, und im Jahr 2000 entstand die gemeinnützige Organisation ›Föderation Internet-Bildung‹, die heute für viele ihrer Aufklärungsprojekte bekannt ist. Genau zu dieser Zeit, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, wurde auch die Netzzeitung gazeta.ru ins Leben gerufen, deren Lektüre heute praktisch allen, die ihre Informationen aus dem Netz beziehen, unverzichtbar geworden ist.
Ich hätte selbst nicht erwartet, dass die Aufgaben und Ziele, die seinerzeit formuliert wurden, schon jetzt Früchte tragen. Die Entwicklung des Internet hat dem ganzen Land genützt, das Netz ist heute eine eigenständige alternative Informationsquelle. Und was besonders erfreulich ist: In einer bestimmten Phase wurden die Projekte selbstständig und konnten sich ›freischwimmen‹. Das Internet ist inzwischen ein Teil unseres Lebens, unserer Politik; es ist ein neuer Stein im Fundament für den Aufbau einer Zivilgesellschaft in Russland.«
wWären alle seine Pläne umgesetzt worden, Chodorkowski hätte eine sehr starke und einflussreiche Figur in Russland werden können, und nicht nur dort. Zu stark und zu einflussreich, um ihn noch an der kurzen Leine zu halten, wie die neuen Machthaber das in ihren Beziehungen mit den Großunternehmern bevorzugten. Zu stark und einflussreich, als dass dies den anderen Oligarchen und geschäftlichen Konkurrenten hätte gefallen können. und dazu kam dieser Satz, den er irgendwann einmal in einem Interview hatte fallen lassen: mit 45 wolle er aus der Wirtschaft aussteigen. Aber wohin wollte er gehen? In die Politik? Außerdem gab es auch noch die von ihm gegründete Organisation »Offenes Russland« mit ihren Aufklärungs- und Bildungsprojekten im ganzen Land, eine Organisation, die ganz offensichtlich ein Modernisierungsvorhaben war und Chodorkowski in intellektuellen Kreisen sehr werbewirksam ins Licht rückte. Chodorkowski hatte aufgehört, mit dem Strom zu schwimmen. Er tat sich hervor, machte auf sich aufmerksam, war seinem Umfeld und seiner Zeit voraus. seine Führungsqualitäten offenbarten sich nun immer deutlicher auch außerhalb der Firma, die er aufgebaut hatte. Die einzige Möglichkeit, Chodorkowskis Expansion im in- und Ausland zu stoppen, bestand darin, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Und das taten die Machthaber auch: Sie brachten ihn hinter Gitter.
Warum aber wählten sie gerade diesen weg? Der Gedanke stammt nicht von mir, dass die Entstehung von Putins Regime mit einem ursprünglichen Gewaltakt zusammenhängt, mit dem Blutvergießen im Tschetschenienkrieg, und dass das dazu beitrug, »Gewalt als eines der grundlegenden Elemente sozialer Beziehungen zu sanktionieren«, schreibt Tatjana Woroshejkina in der Zeitung Wedomosti. »Gewalt, verübt in pseudorechtlichen Formen, [...] ist in Putins Jahrzehnt zu einem Hauptfaktor der Demodernisierung, der Retraditionalisierung der Herrschaftsbeziehungen geworden. Die auf Gewalt beruhende politische Herrschaft repressiver Strukturen, auf die sich [...] autoritäre Regime stützen, hinterlässt in der Psyche von Menschen, die es gewohnt sind, sich als untergebene zu betrachten, in ihren Beziehungen zum Staat eine Spur, die kaum zu tilgen ist.«*
Zum Instrument der Selbstbehauptung an der Macht wurden unter Putin natürlich die Sicherheitsministerien, die ihm als Präsidenten direkt unterstellt waren. Die scheinbar schon vergessene Praxis, Verhaftungen und formale Strafverfahren im Kampf gegen die unbequemen, die unbotmäßigen und »anderen « einzusetzen, kehrte zurück. Gegenüber sowjetischen Zeiten kam hier jedoch eine Neuerung hinzu: das ausplündern von Unternehmen, die gewaltsame Aneignung von Firmen, deren Eigentümer mithilfe der Sicherheitsressorts neutralisiert wurden, faktisch also die Umverteilung von Eigentum, wurde nach dem Yukos-Verfahren zur gängigen Praxis. Nach Berechnungen von Spezialisten sitzt ein Drittel der inhaftierten in Russland heute wegen Wirtschaftsdelikten ein. Das sind etwa dreihunderttausend Menschen, deren unternehmen entweder zerstört oder enteignet wurden. Das »telefonrecht«, also die direkte Einflussnahme der exekutive auf die Entscheidungsfindung der Gerichte als der letzten Instanz, die die gewaltsamen Lösungen legitimieren soll, hat seine Aktualität in Russland nie verloren.
In der »Risikogruppe« fanden sich natürlich die Großunternehmer, die in den neunziger Jahren zu Geld und Einfluss gekommen waren. In ihrem Besitz befanden sich nun die besten Rohstoffassets des Landes. Gleichzeitig waren die Ergebnisse der jelzinschen Privatisierungen noch immer nicht juristisch festgeschrieben, weshalb die Oligarchen mit all ihrem Vermögen vom willen des Staates abhängig blieben. Die Frage war nur, ob der Staat den Status quo verletzen und sich diese Gesetzeslücke zunutze machen wollte. Jelzin tat das nicht, aus welchen Gründen auch immer. Putin tat genau das und erinnerte die Unternehmer einmal mehr daran, dass der Staat alles kann. Das hatten alle schnell begriffen.
In der Staatsanwaltschaft tauchte nun eine ziemlich interessante Figur auf: Salawat Karimow, Ermittler der russischen Generalstaatsanwaltschaft in besonders wichtigen Verfahren, seit Beginn der 2000er Jahre bekannt unter dem Namen »Oligarchenkiller«. Heute bekleidet er das auf den ersten Blick bescheidene Amt eines Beraters des russischen Generalstaatsanwalts Juri Tschaika, allerdings unter Beibehaltung seines Büros und seines Dienstwagens, was in Russland Macht und Einfluss symbolisiert.
Es war Karimow, der das Verfahren gegen den Medienmagnaten Wladimir Gussinski leitete, den Inhaber von NTW, dem größten privaten Fernsehsender. NTW gehört heute Gazprom, und Gussinski hat, anders als Chodorkowski, alles unterschrieben, was der Staat von ihm verlangte, und nach einigen Tagen im Gefängnis das Land verlassen. Chodorkowski war übrigens unter denjenigen, die seinerzeit die Forderung nach Freilassung Gussinskis unterzeichnet hatten. interessant ist auch, dass Gussinski unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis warnte, es werde ein »Angriff« auf weitere Oligarchen vorbereitet, darunter »einige Leute im Management von Yukos«. Er sollte recht behalten.
Derselbe Karimow leitete auch die Ermittlungen gegen den ehemaligen Verkehrsminister Nikolai Axjonenko, der im Jahre 2000 im Kampf um das Präsidentenamt gegen Putin angetreten war. Axjonenko starb 2003 an Krebs. Er stand unter Hausarrest, auch zu den Behandlungen ließ man ihn nicht; als er schließlich (angeblich nach persönlicher Intervention Jelzins) doch noch in die Schweiz ausreisen durfte, war es bereits zu spät.
Ein weiterer Karimow-Fall war das Verfahren gegen Jakow Goldowski, den Inhaber des Öl- und Gasunternehmens Sibur. im Jahr 2002 wurde Goldowski direkt im Gazprom-Gebäude verhaftet. Er legte seine Vollmachten als Chef des Unternehmens nieder und willigte in eine Übertragung der Sibur-anteile an Gazprom ein. Daraufhin wurde er aus dem Gefängnis entlassen und reiste nach Österreich aus.
Ebenfalls unter Karimows Leitung stand das Strafverfahren gegen einen derjenigen, die Wladimir Putin gemacht und protegiert hatten: den späteren erbitterten Putin-Kritiker Boris Beresowski. Beresowski wurde vorgeworfen, Gelder des Automobilkonzerns Awtowas, der ihm seinerzeit unterstanden hatte, unterschlagen zu haben. Es war dieses Verfahren, das die russischen Behörden mehrfach in ihren erfolglosen Bemühungen um eine Auslieferung Beresowskis aus Großbritannien ins Feld führten. An Russland ausgeliefert wurde bis heute übrigens keiner der russischen Unternehmer, die aus politischen Gründen das Land verlassen haben.
Und Karimow war es schließlich auch, der die erste und die zweite Anklageschrift gegen Chodorkowski und Lebedew unterschrieb. Sein Name findet sich auf beinahe allen Prozessunter- lagen, bis in das Jahr 2007 hinein. De facto zeichnet er für die operative Leitung der staatlichen Ankläger sowohl im ersten als auch im zweiten Prozess gegen Chodorkowski und Lebedew verantwortlich. Es ist kein Geheimnis, dass Karimow in direktem Kontakt zu dem Mann steht und von ihm Anweisungen erhält, der - nicht dem Amt, aber dem Einfluss nach - die dritte Stelle im Staat einnimmt: Igor Setschin.
Der 1960 geborene Setschin war früher als Militärdolmetscher in Mosambik tätig. Er ist studierter Romanist, spricht Portugiesisch und Französisch. seit er 1990 Putin kennenlernte, sind die beiden unzertrennlich. Gemeinsam arbeiteten sie in der Petersburger Stadtverwaltung, gemeinsam kamen sie auch nach Moskau. Während Putins Präsidentschaft bekleidete Setschin das Amt des stellvertretenden Leiters der Präsidialadministration und Präsidentenberaters. Unter Premierminister Putin ist Setschin nach wie vor dessen rechte Hand - im Amt eines Vizepremierministers. Bis 2003 war Setschin eine überaus einflussreiche, wenngleich nur im Schatten agierende Figur aus Putins Umfeld. Publik wurde sein Name just im Zusammenhang mit dem Yukos- Prozess: Er gilt als Organisator und Pate dieser Geschichte, und er kontrolliert seither auch Chodorkowskis ehemaliges unternehmen. Setschin selbst bemüht sich, dieses Thema zu meiden, er kommentiert es öffentlich nicht. Die einzige Ausnahme war ein Interview mit der Financial Times vom 21. 6. 2010, in dem Setschin den Journalisten empfahl, die Wahrheit im Fall Chodorkowski bei den Staatsanwälten zu suchen - und nicht etwa beim Gericht, wo der Prozess gegen Chodorkowski und Lebedew zu dieser Zeit gerade lief.
Inzwischen erinnert Chodorkowskis Geschichte immer mehr an die Geschichte des »Mannes mit der eisernen Maske« - nicht, weil sie so geheimnisvoll wäre, sondern weil auch hier auf Geheiß von oben ein Häftling für lange Zeit oder gar für immer »weggesperrt « wird. Sobald nur der Name Chodorkowski fällt, ist Putin außerstande, seine Gereiztheit zu verbergen; er bemüht sich gar nicht erst, unparteiisch zu wirken. Vielleicht glaubt er ja tatsächlich an eine Verschwörung der Oligarchen gegen ihn - ein Gerücht, das der bis dahin nicht sonderlich bekannte Pr-Mann Stanislaw Belkowski (Direktor und Gründer des Instituts für nationale Strategien, heute Kritiker Putins und Autor zweier Bücher über ihn: »Wladimir Putins Geschäfte« und »Wladimir Putins Imperium«) 2003 in Umlauf brachte. Laut dieser Version soll der Hauptverschwörer Chodorkowski vorgehabt haben, das russische Parlament zu kaufen und einen Staatsstreich zu veranstalten. Die Vorstellung, im russischen Parlament säßen 300 käufliche abgeordnete, die der Oligarch angeblich ohne weiteres kaufen könne, schien erstaunlicherweise niemand abwegig zu finden. diese Geschichte hat absurd angefangen, und sie geht ebenso absurd weiter.
Trotz seiner juristischen Ausbildung erlaubt sich der ehemalige Präsident, heutige Premierminister und wahrscheinlich abermals zukünftige Präsident des Landes, Chodorkowski öffentlich mit Mordfällen in Verbindung zu bringen, wegen derer er nie angeklagt wurde. Zugleich gab er sich noch im zweiten Jahr des zweiten Prozesses gegen Chodorkowski in einem Interview mit der Zeitung Kommersant erstaunt über das Zustandekommen dieses Verfahrens.* Zehn Tage später aber, während eines Treffens mit russischen und ausländischen Politikexperten, schlug er einen radikal anderen Ton an. Adam Michnik, der den Premierminister nach Chodorkowskis Schicksal gefragt hatte, berichtete nach der Begegnung: »Mich verblüffte, wie sich sein Gesicht plötzlich veränderte, wie es rot anlief. leidenschaftlich fing er zu sprechen an: ›der Chef seiner Wachmannschaft hat Menschen umgebracht. und das soll er nicht gewusst haben?! Wir sind doch keine Kinder!‹ Bis dahin war er in Bestform gewesen, entspannt, geistreich. Aber dann wurde er plötzlich sehr hart, sehr emotional: das Thema hat ihn persönlich tief getroffen.«**
In Russland, wo kein Wort Putins ungehört bleibt, kann man eine solche Erklärung während eines laufenden Gerichtsverfahrens wohl kaum als Nichteinmischung in die Angelegenheiten des Gerichts betrachten - zumal, da es nicht die erste ihrer Art ist. Über den Fall Alexej Pitschugins, des erwähnten »Chefs der Wachmannschaft «, der ohne Beweise für seine schuld an der Ermordung mehrerer Menschen zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, wissen noch weniger Menschen Bescheid als über Chodorkowskis Fall - ein Umstand, den Putin in Gesprächen mit dem »Volk« und mit Ausländern immer wieder geschickt zu nutzen weiß.
Dieser ganzen Geschichte haftet etwas zutiefst Persönliches an. Viele Beobachter hegen denn auch keinen Zweifel, dass Chodorkowski Putins persönlicher Gefangener ist. Oder, wenn man so will, der persönliche Gefangene einer von Putin angeführten Vereinigung der Silowiki.*
Seit 2003 sitzen Michail Chodorkowski und Platon Lebedew hinter Gittern. In dieser Zeit sind ihre Kinder herangewachsen, Chodorkowski wurde eine Enkelin geboren. Platon Lebedews jüngste Tochter war zwei Wochen alt, als er verhaftet wurde. Er hat vier Kinder aus zwei Ehen, wie auch Chodorkowski. Chodorkowskis jüngste Kinder, die Zwillinge, waren 2003 vier Jahre alt. In den Erinnerungen der jüngeren Kinder sind ihre Papas ganz und gar keine Oligarchen, sondern einfach nur Inhaftierte.
Das Urteil im ersten Verfahren lautete auf acht Jahre Freiheitsentzug wegen Betrugs und Steuerhinterziehung. Davon verbüßten Chodorkowski und Lebedew wenig mehr als ein Jahr im Lager, also einer Sonderzone für verurteilte Straftäter, den Rest der Zeit verbrachten sie in Gefängniszellen. Nach dem Urteil im zweiten Verfahren sind sie seit Juli 2011 abermals im Lager. insgesamt rund 17 Milliarden Rubel fordern die Behörden von Chodorkowski und Lebedew, und das, obwohl ihnen gleichzeitig Yukos genommen und das Unternehmen anschließend zerschlagen wurde.
Die Gesamtsumme der Steuerforderungen gegenüber Yukos einschließlich der Bußgelder und Säumniszuschläge belief sich für den Zeitraum von 2000 bis 2003 auf 582 Milliarden Rubel; berücksichtigt man darüber hinaus die Forderungen gegenüber den Tochtergesellschaften, sogar auf 703 Milliarden Rubel oder über 25 Milliarden Dollar zum damaligen Kurs. Dabei erreichten die Steuerforderungen gegenüber dem Unternehmen einschließlich Bußgeldern allein für das Jahr 2002 einen Wert von 111 Prozent der Bruttoeinnahmen des Unternehmens. Laut Angaben von Yukos lagen die Forderungen für 2004 wesentlich über den für dieses Jahr verbuchten Erträgen des Unternehmens. Diese unglaublichen Summen lassen sich mit den exorbitanten Bußgeldern erklären, die gegenüber Chodorkowskis unternehmen zur Anwendung gebracht wurden, nämlich 40 Prozent der Hauptschuld anstelle der sonst üblichen 20 Prozent. Geldstrafen in dieser atemberaubenden Höhe hatte es in der Geschichte Russlands zuvor noch nie gegeben.
Das Urteil im ersten Verfahren gegen Chodorkowski und Lebedew wurde am 31. Mai 2005 gesprochen. Offensichtlich um den angeklagten den Rest zu geben, erklärte Putin im Juni 2004, noch vor dem Urteilsspruch, die Firma werde nicht zerschlagen, aber schon am 24. Juli 2004 wurde der Zwangsverkauf des Ölförderunternehmens Yuganskneftegaz (YuNG), der Perle von Yukos, angekündigt. Dabei war das Konkursverfahren zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal eröffnet. Das lukrativste Yukos-Asset ging an das staatliche Unternehmen Rosneft, in dessen Direktorium* selbstverständlich sogleich eben jener Igor Setschin den Vorsitz übernahm.
Das Konkursverfahren sollte erst später, im Jahr 2006, eröffnet werden, zu einem Zeitpunkt, da das Guthaben von Yukos, und dies wurde von russischen Gerichten bestätigt, nach wie vor die Verbindlichkeiten des Unternehmens überstieg, wodurch das Verfahren von vornherein gesetzeswidrig war. doch der Kreml war bestrebt, den Namen Yukos so schnell wie möglich aus der Geschichte, aus den Meldungen, aus der Presse zu tilgen. Mit demselben Eifer wurde der Firmenname denn auch von allen Produkten der Marke Yukos gestrichen, in Neftejugansk wurden Tafeln übermalt, Werbeplakate abgerissen, Uniformen ausgewechselt und auf den großen Plakatwänden oberhalb des übertünchten »Yukos« der Schriftzug »Rosneft« angebracht. Ob das, was da geschah, legal oder illegal war, wurde nicht bei Gericht entschieden, sondern einzig und allein an einem Ort und von einer Person: Im Kreml, von Putin.
Selbst bei unbeteiligten Beobachtern, die Chodorkowski keine Sympathien entgegenbrachten, kamen Zweifel auf: Ging es hier wirklich um nicht gezahlte Steuern, oder war dies im Grunde eine politische Geschichte mit einer ausgeprägten kommerziellen Komponente? Schließlich war Yukos jährlich, eigentlich sogar mehrmals pro Jahr, von staatlicher Seite geprüft worden. Woher kamen also die Milliarden nicht gezahlter steuern? Und warum wurden die Steuerprüfer nicht belangt, die entweder Berichte gefälscht oder schlecht gearbeitet hatten? Und wenn dem Staat tatsächlich daran gelegen war, die Steuerschuld des Ölkonzerns einzutreiben, dann war es doch einfach dumm, ihn auf der Welle eines steigenden Ölpreises zugrunde zu richten. Und schon gar keinen Sinn hatte es, ein Unternehmen ausbluten zu lassen, indem man ihm das beste Asset zur Tilgung der Schulden nahm, wenn es auch andere Aktiva gab und auf den Konten nach wie vor Geld vorhanden war. Doch das galt nur, wenn es wirklich um Steuern ging. Wenn das Ziel dagegen war, die Eigentümer beiseite zu schaffen und ihre Besitzstände an sich zu bringen, dann war es natürlich richtig, diese Eigentümer einzusperren und unverhältnismäßige Forderungen an sie zu stellen, dann musste das beste Asset eingezogen, die Firma in Einzelteile zerlegt und unter Freunden und Bekannten aufgeteilt werden. Das war keine Verstaatlichung (in diesem Fall hätte der Staat ja eine Entschädigung zahlen müssen), sondern de facto eine Enteignung im Interesse einer kleinen Gruppe »natürlicher Personen«, die »schon viele Jahre im Bereich der Energiewirtschaft tätig sind«, wie Putin selbst während eines Besuchs in Deutschland im Dezember 2004 den Wechsel der Eigentümer von YUNG kommentierte. Genau genommen war das gelogen, denn eines der besten Öl-Assets des Landes gelangte über eine Tarnfirma in den Besitz des staatlichen Unternehmens Rosneft. und gleichzeitig sagte der Präsident im Grunde die Wahrheit: dieses Asset unterstand nun der direkten Kontrolle zumindest einer natürlichen und Putin sehr nahestehenden Person: Igor Setschin.
Der Westen hat diese Geschichte geschluckt, ohne sich daran zu verschlucken. Zunächst unterband Putin mit einem einzigen Zuruf die zugegebenermaßen Recht kläglichen Versuche russischer Unternehmer, ihrem Kollegen beizuspringen. Danach lud er ausländische Investoren zu sich ein und beschwichtigte: Chodorkowski sei ein besonderer, ein Einzelfall. Ziemlich treffend beschrieb Erik Berglöf, Direktor des Stockholmer Instituts für Transformationsökonomie, die Reaktion des Westens auf das erste Verfahren gegen Chodorkowski: »die internationale Businesswelt nickte die offizielle Version des Chodorkowski-Falls, die die russischen Behörden präsentierten, erstaunlich schnell ab. Ja, man ist vielleicht nicht begeistert, wie das Gerichtsverfahren selbst gelaufen ist, aber die Erklärung, Chodorkowski sei zweifelsfrei ein Krimineller, wurde akzeptiert. Wir sind freilich daran gewöhnt, dass Geschäftsleute ihre Meinung schnell ändern können, aber mit welcher Geschwindigkeit sie das dieses Mal fertiggebracht haben, ist einfach verblüffend. das ist Pragmatismus in Reinform und höchster Konzentration. [...] Ich nehme an, die [westlichen] Unternehmer werden nun bemüht sein, in Russland mit den staatlichen statt mit den privaten Strukturen zu arbeiten, besonders im Rohstoffbereich. Zumal wir sehen, dass die russische Regierung selbst immer aktiver versucht, sich als Hauptakteur auf diesem Markt zu etablieren. Unter diesen Bedingungen ist eine engere Zusammenarbeit mit dem Staat eine durchaus natürliche Reaktion seitens der westlichen Unternehmer.«*
Da Yukos im Gegensatz zu anderen russischen Erdölkonzernen im Jahr 2002 seine Eigentumsstrukturen offengelegt hatte, sind die Inhaber, denen man die Firma nahm, auch namentlich bekannt. Den größten Teil der Yukos-Aktien besaß die Menatep- Gruppe, deren Gesellschafter sieben natürliche Personen waren. Namentlich genannt wurden Michail Chodorkowski (der 59,5 % der Aktien kontrollierte), Leonid Newslin (8 %), Platon Lebedew (7 %), Wladimir Dubow (7 %), Michail Brudno (7 %) und Wassili Schachnowski (7 %). Ich erinnere mich noch genau an diese Liste mit den entsprechenden Anteilen neben jedem Namen, weil sie in der Zeitung Kommersant, wo ich damals arbeitete, veröffentlicht wurde und eine Sensation werden sollte. Kein russisches Unternehmen dieser Größenordnung hatte sich bis dahin »geöffnet«. jemand, der nicht benannt wurde, verbarg sich hinter der Zahl 4,5%, neben der kein Name stand. Später erfuhr ich, dass es Alexej Golubowitsch war, der 2001 die Firma verlassen hatte, aber Aktionär geblieben war.
Und so interessant gestaltete sich das Schicksal der Aktionäre: Zwei von ihnen, Chodorkowski und Lebedew, sitzen im Gefängnis. Vier sind im Ausland. Sie sind im Einvernehmen mit Chodorkowski ausgereist, die einen noch vor seiner Verhaftung, die anderen erst danach. Chodorkowski hatte offenbar gehofft, den Konzern erhalten und die Kontrolle der Eigentümer über das Unternehmen bewahren zu können, und sei es auch vom Ausland aus. Golubowitsch ist der einzige der Gesellschafter, der bereit war, gegen Chodorkowski auszusagen.
Alles in allem verfolgte und verfolgt die russische Staatsanwaltschaft im Rahmen des Yukos-Verfahrens über 60 Personen (sowohl Mitarbeiter von Yukos als auch andere), darunter sämtliche Gesellschafter mit Ausnahme Golubowitschs, der als einziger unbehelligt in Russland leben und seinen geschäftlichen Aktivitäten nachgehen kann.
Platon Lebedew wurde nach dem Urteil im ersten Prozess in eine Strafkolonie mit strengen Haftbedingungen gebracht, in der Siedlung Charp im Kreis der Jamalen und Nenzen. Charp liegt in Westsibirien, 60 Kilometer nördlich des Polarkreises. Acht Monate im Jahr ist dort Winter, die Tiefsttemperaturen können bis auf -59 Grad absinken, im Sommer steigen die Temperaturen auf +30 Grad. Chodorkowski wurde nach Krasnokamensk verbannt. Das ist in der Region Transbaikal, Ostsibirien, nur 90 Kilometer von der chinesischen Grenze entfernt. Vom Verwaltungszentrum der Region, der Stadt Tschita, trennen Krasnokamensk fast 600 Kilometer. Die Flugzeit von Moskau nach Tschita beträgt sechs Stunden. Unweit der Stelle, wo die Strafkolonie Krasnokamensk entstand, wurden in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Uranvorkommen entdeckt. Für die Förderung und Verarbeitung, die extrem gesundheitsschädigend sind, wurden Arbeitskräfte gebraucht. daher auch die Strafkolonie: das Leben der Häftlinge hatte keinen Wert. Heute werden die Gefangenen nicht mehr in den Gruben eingesetzt, der Tagebau scheint stillgelegt zu sein, obwohl die Halden noch immer nicht verwahrt sind und ganz in der Nähe wagen für den Abtransport des Urans stehen, mit dem Warnschild »Vorsicht, radioaktiv!«. der Untertagebau geht weiter. und die Strafkolonie ist immer noch an derselben Stelle - ungefähr eintausend Häftlinge, die hauptsächlich wegen Diebstahls einsitzen, zwischen drei und fünf Jahren.
Bis auf ein Jahr und neun Monate in der Strafkolonie (stand Januar 2012) haben Chodorkowski und Lebedew ihre gesamte Haft, also fast sechs Jahre, im Gefängnis verbracht - zunächst in Moskau, dann in Tschita, dann wieder in Moskau, in verschiedenen Gebäudekomplexen des Gefängnisses Matrosskaja Tischina, wo die Haftbedingungen viel härter sind als in der Kolonie. Chodorkowski spricht nur ungern über Einzelheiten
Seines alltags.
Michail Chodorkowski: »Hier, im Untersuchungsgefängnis 99/1, sind die Lebensbedingungen ›Sahne‹, selbst im Vergleich mit Tschita, wo man extra für Platon Lebedew und mich eine eigene Wohneinheit eingerichtet hatte.
Wir sind zu dritt (normal sind vier Häftlinge in einer Zelle). Die Zelle ist 16 bis 18 Quadratmeter groß (einschließlich Sanitärbereich). Der Sanitärbereich ist durch eine Trennwand (allerdings nicht bis zur Decke und ohne Tür) mit Vorhang abgetrennt. Dort gibt es eine normale Kloschüssel, ein Waschbecken mit warmem und kaltem Wasser. Alles ist ziemlich neu und sauber. Ein (kleiner) Fernseher, ein (alter, aber anständiger) Kühlschrank, ein Ventilator. 4 Bettstellen auf 2 Etagen. Metallbetten. Wie im Zugabteil, nur aus Metall. Das Fenster ist mit einer undurchsichtigen Folie beklebt, 2 Gitter (vor und hinter der Scheibe). Das kleine Lüftungsfenster lässt sich öffnen. Einmal pro Woche duschen. Es ist alles sauber. Die Bettwäsche wird gewechselt. Sie ist auch schon etwas alt, aber sauber.
Zum Kiosk darf man einmal pro Monat. Keine ›Delikatessen‹, aber es gibt alles. Milch, Kefir, saure Sahne, Äpfel, Möhren, Orangen usw. Das ist das einzige, was in anderen Gefängnissen besser ist, weil dort mehr Insassen sind und es ›interessierte Personen‹ gibt. Außerdem gibt es noch die Päckchen von zu Hause, aber da ist fast nichts erlaubt, und das, was geht, wird erbarmungslos ›portioniert‹, also in kleine Stücke geschnitten. Das einzig Gute daran ist also, dass es von zu Hause kommt. Aber das allein ist schon sehr wichtig.
Im Gericht kein Essen, sonst wird man schläfrig. Ich esse abends. Ausgang ist zweimal in der Woche, je eine Stunde (wegen der Verhandlungen). Ich laufe wie eine Katze umher: auf dem Dach unseres Gebäudes. Aber das ist noch überdacht. Also keine Sonne. Leider. Ein Radio läuft. Die billige Popmusik und diese idiotischen ›Hörerzuschriften‹ machen mich wahnsinnig.
Beim Arbeiten stört niemand, nur mit dem Zugang zu Informationen sieht es schlecht aus.
Ein Telefon macht der Verwaltung hier viel mehr Angst als ein Putin- Porträt auf dem Toilettenpapier. Das ist empirisch bewiesen, wenn auch nicht von mir persönlich.
Jeden Tag Leibesvisitation und Durchsuchung der Zelle. Höflich, aber gründlich. Kurz, ein vorbildliches Gefängnis.
Ich werde nicht ›bedrängt‹, das wird hier nicht gern gemacht. Wenn jemand ›bedrängt‹ werden muss, wird er rausgebracht. Beispiele gibt es. Zurück kommt man erst, wenn keine blauen Flecken mehr da sind.
Nachts brennt Licht.
Der Gefängnisfraß ist Mist. Ich habe natürlich keine Zweifel, dass da genug Fette und Kohlenhydrate drin sind, aber wie die hier kochen... Deshalb nehmen wir nur selten davon, obwohl das auch vorkommt. Aber das sind Kleinigkeiten. Im Lager habe ich von der sprichwörtlichen Wassersuppe gelebt und alles war bestens. Allerdings bei frischer Luft. Wassersuppe und Zelle - ich denke, das wäre schwierig.«
Der zweite Prozess gegen Chodorkowski und Lebedew begann am 3. März 2009. dieses Mal versuchte man ihnen vor Publikum, in einem öffentlichen Verfahren, einzureden, sie hätten sich selbst im Zeitraum von 1998 bis 2003 »als organisierte kriminelle Gruppe« 350 Millionen Tonnen Öl gestohlen. Und sie versuchten ihrerseits, nach dem Studium von 188 Bänden der Strafakte, bei Gericht in Erfahrung zu bringen, was denn die Anklage genau damit meint und wie sie sich das vorstellt.
Es fällt schwer, die Anschuldigungen ernst zu nehmen. Zum Vergleich: im Jahr 2001 wurden in Russland 341 Millionen Tonnen gefördert. Yukos und seine drei Tochterunternehmen hatten nach offiziellen Angaben im Zeitraum von 1998 bis 2003 345,44 Millionen Tonnen gefördert. Das heißt, dass diese Herren, so die Version der Anklage, alles »gemopst« haben sollen, was sie gefördert hatten und noch ein kleines bisschen mehr. Darüber hinaus hatten sie angeblich irgendwie - wie genau, ist wohl ihrem Umfeld und selbst der Regierung entgangen - knapp ein Fünftel des im selben Zeitraum in Russland insgesamt geförderten Öls (2014 Millionen Tonnen) gestohlen. Und zwar sich selbst. Entweder sitzen in der Regierung Idioten - oder sie sitzen bei der Staatsanwaltschaft. 350 Millionen Tonnen Öl zu stehlen und dabei das Unternehmen weiter Profite erwirtschaften und Dividende auszahlen zu lassen ist, beim besten Willen physisch unmöglich. Erst recht unter den wachsamen Augen der Wirtschafts- und Steuerprüfer.
Zugleich hätten die neuen Anschuldigungen, sofern man sie für nachvollziehbar und begründet hielte, automatisch das Urteil wegen Steuerhinterziehung aufgehoben, nachdem die angeklagten schon fast ihr ganzes Strafmaß abgesessen hatten. Denn wenn sie sich selbst alles so virtuos gestohlen hatten - worauf waren dann nach der ersten Anklage all die Milliarden steuern angerechnet worden, wie konnten sie all diese Steuern hinterziehen, und wofür sitzen sie dann überhaupt ein? Die Anklage im zweiten Verfahren widersprach nicht nur einem Teil der Anklage im ersten Verfahren, sondern auch der offiziellen Position der russischen Föderation in Straßburg (Yukos gegen die russische Föderation). »die Grundkonstruktion ist hier die: auch wenn das erste Verfahren, wegen Steuerhinterziehung, eine ziemlich harte Strafe nach sich zog, so war doch die unternehmerische Tätigkeit, auf die die steuern nicht gezahlt wurden, zweifelsfrei legal und kann nicht als Unterschlagung, Diebstahl und so weiter angesehen werden«, bemerkte dazu ganz folgerichtig Alexander Schochin, der Vorsitzende des russischen Verbandes der Industriellen und Unternehmer.
Michail Kassjanow, der zum Zeitpunkt der Verhaftung Chodorkowskis Premierminister gewesen war und im Sommer 2010 als Zeuge Chodorkowskis und Lebedews aussagte, erklärte beim Verlassen des Gerichtssaals, ein Diebstahl von 350 Millionen Tonnen Erdöl sei eine absurde Vorstellung: »es ist der reinste Hohn, diese Frage ernsthaft diskutieren zu müssen«. Wiktor Gerastschenko, der zweimal Vorsitzender der Zentralbank Russlands und daneben im Jahr 2004 auch Vorsitzender des Direktoriums von Yukos war, wurde vor Gericht noch deutlicher, als er die neuerlichen Anschuldigungen gegen Chodorkowski und Lebedew als »Schwachsinn« bezeichnete. weder der vormalige Minister für Wirtschaftsentwicklung und heutige Zentralbankchef German Gref noch der ehemalige Vizepremierminister und heutige Minister für Industrie und Handel, Wiktor Christenko, die auf Drängen der Verteidiger Chodorkowskis als Zeugen geladen wurden, hatten jemals etwas davon gehört, dass in Russland 350 Millionen Tonnen Öl verschwunden wären. Die Vorladung von Premierminister Putin, seinem Stellvertreter Igor Setschin und Finanzminister Kudrin - von Personen also, mit denen der heute inhaftierte Chodorkowski mehrfach geschäftlich zu tun hatte -, lehnte Richter Wiktor Danilkin ab.
Der Zeitplan, nach dem die Strafsachen gegen Chodorkowski und Lebedew auftauchen, richtet sich nicht nach neuen, gerade erst bekannt gewordenen Umständen oder irgendeiner Logik der Ermittlungen. Täuschen wir uns nicht: selbst wenn ein Wunder geschehen und die Geschichte mit den angeblich gestohlenen 350 Millionen Tonnen Öl in sich zusammengebrochen wäre, könnte es jederzeit eine neue, genauso exotische Geschichte und einen weiteren Prozess geben. Das Schicksal der beiden Geschäftsleute hängt im Wesentlichen von einer einfachen Frage ab: ob Putin glaubt, dass sie, wenn sie wieder in Freiheit wären, keine Gefahr für diejenigen darstellen würden, die sie hinter Gitter gebracht haben, und auch nicht für diejenigen, die sich das Yukos-Vermögen angeeignet haben - wobei erstere und letztere identisch sind. Der Einsatz ist wirklich hoch: das staatliche Unternehmen Rosneft, das heute die besten Yukos-Assets besitzt, ist über Nacht von einem ziemlich durchschnittlichen Unternehmen zum Marktführer aufgestiegen. Zum Vergleich: Von 1998 bis 2003 stiegen die Kennziffern des Unternehmens in puncto Ölförderung von 12,5 auf 19,6 Millionen Tonnen pro Jahr. Aber schon 2005 konnte die Firma ein Ergebnis von 74,6 Millionen Tonnen jährlich vorweisen. Was war 2004 geschehen? Richtig, Rosneft hatte Yuganskneftegaz erhalten. In einem Interview mit der Sunday Times vom Mai 2008 sprach Chodorkowski denn auch Klartext und benannte Igor Setschin, den Vorsitzenden des Direktoriums von Rosneft, als Organisator des »Angriffs« auf Yukos und seine Inhaber: »Das erste Verfahren gegen mich hat er aus Gier angezettelt, das zweite aus Feigheit.«
Ende 2011 legte der beim Präsidenten Russlands angesiedelte Rat für Menschenrechte ein unabhängiges Gutachten zum zweiten Strafverfahren gegen Chodorkowski und Lebedew vor. Die Experten empfahlen Präsident Medwedew eine Revision des Verfahrens. Sie begründeten dies damit, Dass Beweise für eine Schuld der Unternehmer fehlten, gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung verstoßen worden sei und das Gericht einfach die Positionen der Anklage übernommen habe.
Die Verfolgung Chodorkowskis fällt auf eigentümliche Weise mit den politischen Zyklen in Russland zusammen. Seine Verhaftung 2003, im Jahr vor den Wahlen, bescherte Putin politischen Erfolg bei einem Volk, das Reiche nicht mag. Außerdem hatte diese Gewaltmaßnahme noch eine Reihe weiterer Vorzüge, darunter die Loyalität der aufgeschreckten Unternehmer und die Ausschaltung der demokratischen Opposition, von der sich nach der Geschichte mit Chodorkowski alle Sponsoren erschreckt abwandten und die sie auch heute noch fürchten wie die Pest.
Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH alle Rechte vorbehalten
Auch jetzt, im neunten Jahr meiner Haft, fällt mir hier im Straflager in Karelien, während ich im Fernsehen den Ablauf der sogenannten »Wahlen« verfolge, unweigerlich auf, wie da eine Art Teufelskreis der Lüge entsteht, der »Lüge im Quadrat« oder sogar »im Kubik«, deren simple Winkelzüge auch ein Häftling ohne Zugang zum Internet erkennt. Die Abgeordneten der Staatsduma lauschen mit verständigem Blick den Ausführungen der Staatsführung zur Korruption. Dabei wissen sie nur zu gut, dass die Korruption längst sämtliche Bereiche unseres Lebens durchdringt und dass sich durch bloße Worte, und sei es der höchsten »Entscheidungsträger «, nichts ändern wird, solange es nicht zu einem Regimewechsel kommt und sich kein anderes Regierungssystem in Russland etabliert. Auch der Redner auf der großen Tribüne der Staatsduma weiß bestens über die Korruption Bescheid; ihm ist außerdem klar, dass die Abgeordneten ihm nicht glauben, sondern nur einen »verständigen Gesichtsausdruck« aufsetzen. Der Fernsehzuschauer, der diese neuerliche Lügenspirale verfolgt, erträgt das alles nicht mehr und schaltet, wann immer es geht, auf TV-Serien um. Aber das schlimmste ist, dass sowohl dem »Korruptionsbekämpfer « am Rednerpult als auch den Duma-Abgeordneten ebenso wie der gesamten Regierung nur allzu klar ist, dass der Fernsehzuschauer ihnen nicht glaubt und die Bevölkerung das alles nicht mehr sehen will. An die Effizienz einer solchen »Korruptionsbekämpfung« glaubt niemand mehr, aber alle reden sich ein, die Lüge sei ein integraler Bestandteil der Politik, und anders gehe es nun einmal nicht.
Für mich war es in meinem früheren Leben als Unternehmer unmöglich zu lügen: entgegen den vielen Gerüchten über meine angebliche »Unfähigkeit zu verhandeln« (und das ist einer der Lieblingsmythen des Kreml) wussten alle, mit denen ich in den Jahren meines Unternehmerdaseins direkt zu tun hatte, dass ich kein einfacher Verhandlungspartner war und sehr zäh sein konnte. aber niemals - niemals! - habe ich Verpflichtungen, die ich übernommen hatte, nicht erfüllt. ich kann mir nicht einmal vorstellen, wie man unternehmerisch tätig sein kann, wenn man Vereinbarungen nicht einhält - schließlich kommt man dann entweder aus den Prozessen nicht mehr heraus, oder man stirbt keines natürlichen Todes ... das »eintauchen« in die Politik hat mich jedenfalls erschüttert: Worte und Verpflichtungen kamen den Politikern leicht über die Lippen, ebenso leicht wurden sie auch wieder gebrochen.
Und obwohl ich, wie schon erwähnt, niemandem gegenüber konkret verpflichtet war, Vereinbarungen und anderes geheim zu halten, bin ich heute nach wie vor überzeugt, dass ich, ehe ich von jemand anderem Berichte als mir selbst (und ohne das geht es in Memoiren nun einmal nicht), ihn zuvor fragen muss, ob es ihm recht ist, dass sein Handeln öffentlich wird, oder ob es dafür noch zu früh ist.
Der zweite Grund, warum ich 2004 noch nicht bereit war, meine Memoiren zu verfassen, hatte damit zu tun, dass ich, kurz nachdem ich ins Gefängnis gekommen war, zu schreiben begonnen hatte.Am Anfang war das sehr schwer. Artikel sind keine Interviews - hier will jeder Satz gut bedacht sein. angesichts meiner besonderen Lage war mir klar, dass meine Texte nicht nur von meinen Freunden gelesen würden - und alle anderen würden nach Schwachstellen suchen, um später umso schmerzhafter »zuzuschlagen«. Nach den ersten Artikeln gab es viele Zweifel: ob ich selber schreibe, wozu ich das mache und überhaupt ... es gab viele Fragen. umso wertvoller war da für mich die Unterstützung der Verlage (Wedomosti und Nowaja Gaseta), die als erste an mich glaubten und meine Arbeiten veröffentlichten. Gleichzeitig gab es auch unter meinen Angehörigen und Freunden viele Zweifler, denn der Autor Chodorkowski in meinen Artikeln entsprach oft nicht dem öffentlich verbreiteten Chodorkowski-Bild, das vor meiner Verhaftung geprägt worden war. Es war nicht einfach für mich, das alles über mich zu lesen und zu hören ... damals, im Jahr 2004, beschloss ich für mich, dass die Zeit für Memoiren noch nicht gekommen war. Ich muss den Leser aber gleich enttäuschen oder auch erfreuen: auch jetzt ist die Zeit nicht reif dafür. Es ist immer noch zu früh. Wann ich zu einer Autobiografie im eigentlichen Sinn bereit sein werde, kann ich nicht sagen. das hängt sowohl mit meiner derzeitigen Situation zusammen als auch damit, dass ich noch nicht Bilanz ziehen will - ich hoffe noch auf eine Zukunft!
Zu diesem Buch habe ich mich auch deshalb entschlossen, weil ich Natascha Geworkjan schon seit über 15 Jahren als wunderbare, aufrichtige Journalistin und einfach als guten Menschen kenne. Natascha, die zu den Journalisten zählt, deren Meinung mir äußerst wichtig ist, zweifelte zunächst selbst daran, ob die Beiträge, die in der Nowaja Gaseta unter meinem Namen veröffentlicht wurden, tatsächlich von mir waren. Ausgerechnet ihre 2004 formulierte kritische Haltung zu meinen literarischen »Talenten« und meiner Autorschaft haben sich die Kreml-Propagandisten zunutze gemacht und tun dies bis heute. als sie mir vorschlug, gemeinsam ein Buch zu schreiben, war mir deshalb auch gleich klar, dass dies keine leichte Aufgabe werden würde.
Das Buch hat zwei Autoren, die in der Bewertung, Auslegung und Beschreibung mancher Ereignisse oft unterschiedlicher Meinung sind. Das ist ganz normal. Auch in der Frage, inwieweit sie den Aussagen einzelner im Buch vorkommender Personen Glauben schenken, sind sich die Autoren nicht immer einig. Jeder von uns zeichnet für seinen Teil verantwortlich, für das, was er in der ich-Form sagt. Während der Arbeit an diesem Buch (in Form eines Briefwechsels) haben Natascha und ich viel gestritten, und das, was der Leser zu sehen bekommt, ist im Großen und Ganzen das Ergebnis eines Kompromisses. Das Wichtigste, was die Autoren dieses Buches eint, ist ihre Loyalität gegenüber den gemeinsamen Werten der europäischen Zivilisation, deren integraler Bestandteil auch mein Land ist - ungeachtet der vergeblichen Bemühungen kleiner und großer Politiker und Politintriganten, Russland in den verschiedenen Phasen seiner Entwicklung vom einmal gewählten Weg abzubringen.
Jetzt, da sie dieses Buch lesen, haben Platon Lebedew und ich nach Verbüßung der ersten Achtjahresfrist in Haft bereits eine zweite Haftstrafe erhalten und warten auf das Jahr 2016; reich sind wir längst nicht mehr. Wladimir Putin hat sich selbst erneut für das Amt des Präsidenten nominiert. Der Chefjurist unseres Unternehmens, Rechtsanwalt Wassja Alexanjan, ist gestorben, bevor er die Aussagen machen konnte, die die Ermittlungsbeamten von ihm wollten. Die Staatsanwälte, Richter und Ermittlungsbeamten, die an unserem Verfahren beteiligt waren, haben inzwischen weitere Beförderungen, Sternchen und Prämien erhalten. Die russische Forbes-Liste hat sich nicht wesentlich verändert; die Reichen sind im Landesdurchschnitt insgesamt noch reicher und die Armen noch ärmer geworden.
Aber man kann auch noch etwas anderes beobachten, und das ist selbst aus dem Fenster einer Gefängniszelle in Sibirien oder Karelien zu sehen: es gibt mit jedem Jahr, jedem Monat und Tag mehr aufrichtige Menschen, Menschen, die ein Gewissen haben, Menschen, die Veränderungen wollen. Bei aller Befangenheit wage ich zu behaupten: dass diese Veränderungen kommen, ist nur eine Frage der Zeit.
Ich selbst habe jedenfalls vor, zum wohl der Generationen zu wirken, die dieses Land schon sehr bald übernehmen werden. Der Generationen, die wirklich Veränderungen wollen. Der Generationen, mit denen neue Werte und neue Hoffnungen auf den Plan treten.
Natalija Geworkjan
Anstelle eines Vorworts
Es ging auf Weihnachten zu, und ich war auf der Suche nach einer passenden Karte. Der Einzigen, die ich verschicken wollte. Der Besitzer des Geschäfts in der Rue du Geoffroy kannte mich. Ich bin ganz vernarrt in dieses Pariser Geschäft, das wie aus einer anderen Welt ist: Mit Federhaltern, handgeschöpftem Papier und naiv gestalteten Karten. Er wies auf die Ecke, wo die Weihnachtskarten zu finden waren; ich setzte mich einfach auf den Fußboden und begann die Karten zu durchstöbern. Plötzlich fragte jemand neben mir: »Aber sagen sie mal, wozu denn noch Karten schicken, wenn alle schon E-Mails schreiben?« »Da, wo ich sie hinschicke, kommen keine Mails an«, sagte ich, ohne aufzublicken. Die junge Frau ließ nicht locker: »Wo soll das denn sein, wo keine Mails ankommen?« »In Sibirien, im Gefängnis«, antwortete ich, ohne meine Suche zu unterbrechen. eine Pause, unerwartete Stille. Endlich blickte ich auf und sah, wie die wenigen Kunden im Geschäft und auch der Besitzer mich irgendwie betreten ansahen. Die Frau war eine Reporterin von France 2, neben ihr stand ein junger Mann mit einer Kamera und noch einer mit einem Mikrofon. »Sibirien? Gulag?«, fragte die Frau weiter nach. »Ganz genau«, nickte ich. sie bat mich, das noch einmal in die Kamera zu sagen. Ich habe ein Prinzip: Journalistenkollegen schlage ich solche Bitten nicht aus. Also stand ich auf und wiederholte: »Ich möchte meinem Bekannten eine Karte nach Sibirien schicken. Er ist Geschäftsmann. Er sitzt dort im Gefängnis. Und ich hoffe sehr, dass er sie bekommt.« Die Kamera wurde ausgeschaltet. Die Leute im Geschäft traten nun näher und sagten, dass alles gut würde, dass die Karte auf jeden Fall ankäme und man ihn gewiss freilassen würde. Erstaunlicherweise fragte niemand, wofür mein Bekannter eigentlich einsitzt. Für diese Leute ist Sibirien, ist der Gulag ein Symbol der Ungerechtigkeit. Punkt. Der Besitzer des Geschäfts winkte ab, als ich zahlen wollte, und legte noch einen passenden Umschlag zur Karte und einige Blatt Papier mit handgearbeiteten Monogrammen dazu - für einen Brief. Die Journalistin holte mich draußen ein. »Darf ich fragen, wie er heißt, ihr Bekannter?« »Chodorkowski«, antwortete ich. Die junge Frau gab sich alle Mühe, den schwierigen Namen aufzuschreiben. Er sagte ihr nichts. Sie sah mich an: »Und wer ist das?« Ich überlegte. »Die einen sagen: ein Genie, die Anderen: ein Krimineller.«
Natalija Geworkjan
Einführung
Ein russischer Kafka
Ein Schwächling, Lügner, Volksbetrüger, als tatenloser Geck bekannt, durch Zufall nur berühmt als Sieger, beherrschte damals unser Land. Alexander s. Puschkin, Eugen Onegin*
MBC - so nennen ihn alle. Die drei Initialen von Michail Borissowitsch Chodorkowski. Er selbst unterschreibt auch so. Seine Freunde nennen ihn manchmal »Chaider«. außerdem war er bekannt als der reichste Russe, Eigentümer von Yukos, der besten Erdölgesellschaft im Land. Jetzt nennt man ihn »Russlands wichtigsten Gefangenen«. Die kürzeste Geschichte über MBC habe ich bei einem französischen Fremdenführer aufgeschnappt, der russischen Touristen in Vaux-le-Vicomte, einem nahe Paris gelegenen Schloss des 17. Jahrhunderts, von dessen einstigem Besitzer Fouquet erzählte - eben jenem Opernintendanten Fouquet, der auf Geheiß Ludwigs XIV. von D'Artagnan verhaftet wurde. Der Fremdenführer erzählte in etwa Folgendes: »Und so kam also der König in dieses prunkvolle Schloss. Über dem Eingang sah er das Motto, das, aus dem Lateinischen übersetzt, lautet: ›es gibt keine Höhen, die ich nicht erreichen könnte‹; er sah auch den wunderbaren Park, in dem ihm zu Ehren ein zauberhaftes Schauspiel inszeniert worden war. Colbert aber machte wegen Fouquets unehrlich erworbenen Reichtums Stimmung. Außerdem sagte man damals, er hätte es auf die Macht abgesehen. Der König war eine Zeitlang bei Fouquet zu Gast, danach gab er den Befehl, ihn zu verhaften. Und weiter verlief alles so wie in der Geschichte über Herrn Putin und Herrn Chodorkowski.«
Allerdings erlaubte man dem Häftling Fouquet im 17. Jahrhundert erst 15 Jahre nach dem Urteil einen Besuch seiner Gemahlin.D Häftling Chodorkowski erhielt im 21. Jahrhundert immerhin schon fünf Jahre nach Beginn des zweiten Strafverfahrens im Jahr 2006 einen längeren Besuch von seiner Familie. Wir waren gerade dabei, dieses Buch zu Ende zu schreiben, als er nach all diesen Jahren zum ersten Mal wieder seine Frau und seine Kinder in die Arme schließen konnte - in der Strafkolonie Nr. 7 im Kreis Segesha, Karelien, wo er, wenn kein Wunder geschieht, die verbleibenden fünf von vierzehn Jahren, zu denen er nach dem zweiten Verfahren verurteilt wurde, absitzen muss (abzüglich der zu diesem Zeitpunkt bereits verbüßten sieben Jahre). Segesha liegt rund 700 Kilometer nördlich von Petersburg, die Temperaturen schwanken zwischen -25 Grad im Winter und +25 Grad im Sommer. und doch ist das näher an Moskau und klimatisch schonender als in der Strafkolonie im sibirischen Krasnokamensk, wo er nach dem ersten, 2005 gefällten Urteil einsaß.
Inna, Chodorkowskis Frau, erzählte mir einmal von ihrem allerersten längeren wiedersehen nach der Verhaftung, in Sibirien: »Unsere Tochter war damals zwölf, die Zwillinge vier Jahre alt, ich nahm sie nicht mit dorthin. Jetzt, in Segesha, konnten sie ihren Papa besuchen. Aber nach Krasnokamensk... Dahin ist es fast wie mit der Postkutsche, man brauchte drei volle Tage für die Reise. Es war Oktober, dort war es schon kalt. Wie soll ich dir das erklären ... Seit seiner Verhaftung waren zwei Jahre vergangen. Und als wir zusammen waren, hatte ich das erste Mal seit zwei Jahren das Gefühl der Geborgenheit. Ich verschlief die ganzen drei Tage. Ich machte die Augen auf, hörte, dass jemand mit ihm spricht, und machte sie wieder zu. Ich konnte einfach nicht aufstehen. Ich musste ihm nichts erklären. Er machte Rührei, gab mir zu essen. Und ich schlief wieder ein. Ich hatte das Gefühl, mich entspannen zu können. Das war eine Art ›Loslassen‹ von dieser Anspannung, die seit der Verhaftung keinen Moment ausgesetzt hatte. Und auch danach lange nicht wegging.«
Von Dezember 2006 bis Juni 2011 war Chodorkowski permanent im Gefängnis oder im Gerichtssaal, in dieser Zeit waren Besuche nur einmal monatlich erlaubt. Zwei winzige Stühlchen vor einer vergitterten Glasscheibe, ein Telefon. und er auf der anderen Seite der Scheibe. Einmal im Monat kamen seine Eltern, im nächsten Monat seine Frau - entweder mit der Tochter oder den Söhnen. Die gesamte Familie in diesem winzigen Raum unterzubringen, wäre schlichtweg unmöglich gewesen.
Wie viel ist passiert, seit die Idee zu diesem Buch entstand! Und in all der Zeit nur ein freudiges Ereignis: Swetlana Bachmina, Juristin bei Yukos, kam wieder frei. Die Mutter von zwei kleinen Kindern, die in der Strafkolonie ein drittes zur Welt brachte, war im Jahr 2006, mit 37 jähren, einfach zwischen die Mühlsteine der einmal angeworfenen Repressionsmaschinerie geraten und zu sieben Jahren verurteilt worden, weil sie wer weiß was und zu wessen Gunsten unterschlagen haben sollte. Sie wurde 2009 entlassen, nach einem Begnadigungsgesuch und tausenden von Unterschriften, die im Internet für ihre Freilassung gesammelt worden waren.
Im Oktober 2011 verstarb, keine 40 Jahre alt, Wassili Alexanjan, ein schöner und kluger Mann, Absolvent der Universitäten Moskau und Harvard, der die Rechtsabteilung des Yukos-Konzerns geleitet hatte. Er hatte gegen Chodorkowski und Lebedew aussagen sollen. Aber er hatte nicht ausgesagt. Das Gefängnis hat ihn umgebracht: innerhalb von zwei Jahren wurde er dort zum invaliden, beinahe erblindet, an Krebs, Aids und Tuberkulose erkrankt. Zum Sterben ließ man ihn nach Hause - gegen eine Kaution von 50 Millionen Rubel.
In der Zeit, in der dieses Buch geschrieben wurde, ist die Hoffnung auf Präsident Medwedew als einen wirklichen Präsidenten und professionellen Juristen aufgekeimt und wieder erstorben. Chodorkowski war und bleibt Putins Gefangener, es ist Putin, der Chodorkowski seine Frist zumisst. Mit Recht hat diese ganze Geschichte nicht mehr zu tun als Putins Wahl für eine dritte Amtszeit mit einer Wahl im herkömmlichen Sinne des Wortes.
Als wir den Plan zu diesem Buch fassten, war Chodorkowskis Schlussplädoyer im zweiten Prozess noch nicht gesprochen, sein Satz »Ich schäme mich für mein Land« noch nicht gefallen. In seiner Rede hieß es weiter:
»Ich bin keineswegs ein idealer Mensch, aber ich bin ein Mensch der Ideen. Wie jedem fällt es mir schwer, im Gefängnis zu leben, und ich will nicht darin sterben. Aber wenn es sein muss, werde ich nicht schwanken. Meine Überzeugung ist mir mein Leben wert. Ich glaube, das bewiesen zu haben.
Und die ihre, meine Herren Opponenten? An was glauben sie? An das Recht der Obrigkeit? An das Geld? Daran, dass das »System« straflos ausgeht? Ich weiß es nicht, das müssen sie entscheiden.
Euer ehren!
In ihren Händen liegt sehr viel mehr als nur zwei Schicksale. Hier und jetzt wird über das Schicksal eines jeden Bürgers unseres Landes entschieden. Über das Schicksal derjenigen in Moskau und Tschita, Petersburg und Tomsk und in anderen Städten und Dörfern, die darauf zählen, nicht ein Opfer der Gesetzlosigkeit der Miliz zu werden, derjenigen, die ein eigenes Geschäft gegründet, ein Haus gebaut, Erfolg gehabt haben und möchten, dass dies ihren Kindern und nicht Plünderern in Uniform zugutekommt, und schließlich derjenigen, die ehrlich für ein gerechtes Gehalt ihre Pflicht tun wollen, ohne jede Minute befürchten zu müssen, unter einem beliebigen Vorwand von einer korrumpierten Obrigkeit entlassen zu werden.
Es geht nicht um Lebedew und mich, jedenfalls nicht nur. Es geht um die Hoffnung vieler unserer Mitbürger. Um die Hoffnung, dass das Gericht morgen ihre Rechte wird verteidigen können, sollte es irgendwelchen Bürokraten wieder in den Sinn kommen, diese Rechte dreist und demonstrativ zu verletzen.
Ich weiß, dass es Menschen gibt - ich habe ihre Namen während des Prozesses genannt -, die uns weiter im Gefängnis sehen wollen. Für immer! Und daraus machen sie auch keinen Hehl, nein, sie betonen sogar öffentlich, der Fall Yukos sei längst nicht abgeschlossen.
Warum sie das tun? Weil sie demonstrieren wollen: Sie stehen über dem Gesetz, sie erreichen immer das, was sie vorhaben. Bisher haben sie allerdings das Gegenteil erreicht: Sie haben aus gewöhnlichen Menschen ein Symbol des Widerstands gegen die Willkür gemacht. Das ist ihnen gelungen. Das ist nicht unser Verdienst, sondern ihres. Jetzt brauchen sie einen Schuldspruch, um nicht selbst zu ›Sündenböcken‹ zu werden.«*
Und dann kam das Schlusswort von Michails Mutter Marina Chodorkowskaja. knapp und schonungslos, dem Richter ins Gesicht: »Seien sie verflucht! Und ihre Nachkommen auch!«
Die Arbeit an diesem Buch begann, als der zweite Prozess in Moskau noch lief. in seiner Absurdität schien er der Fantasie eines Kafka entsprungen.
Wenn sie auf dem Smolenskaja-Platz in Moskau stehen, dem russischen Außenministerium dort den Rücken zukehren, ein Stückchen bergab Richtung Moskwa-Ufer gehen und dann nach links abbiegen, landen sie auf der Rostowski-Gasse. Dieser Gasse folgen sie bis zu dem unscheinbaren Haus mit der Nr. 21. und wenn sie nun noch einen Pass dabei haben (egal welchen Landes), gehen sie einfach durch die Eingangstür dieses Hauses, bringen die diskrete Prozedur der Durchsuchung und Anmeldung am Eingang hinter sich, versichern, dass sie keine Foto- oder Videotechnik bei sich haben und begeben sich in die zweite Etage.Sie sind nun im Gericht des Stadtteils Chamowniki. Gerichtssaal Nr. 7 - dort müssen sie hin. Genau hier standen Michail Chodorkowski und sein Freund und Partner Platon Lebedew von März 2009 bis Dezember 2010 vor Gericht.
Gegen 10 Uhr früh oder etwa 14 Uhr konnte man beobachten, wie im Treppenhaus zwei Männer, die mit Handschellen an zwei weitere Männer in Uniform gekettet waren, mit leichtem, munterem Schritt den Weg von der dritten in die zweite Etage zurücklegten. Manchmal wurden die beiden Männer zur Abwechslung auch aneinandergekettet, dann gingen die Uniformierten vorneweg und hinterher. Die Männer in Uniform wechselten. Die Männer in Handschellen waren stets dieselben.
Der größere und ältere von beiden, der völlig ergraut war und gewöhnlich eine Sportjacke trug, war Platon Lebedew. Er war 54 Jahre alt. Der jüngere, mit Brille und sehr kurz geschnittenem Haar, der normalerweise Jeans, ein T-Shirt, eine Jacke oder einen Pullover trug, war Michail Chodorkowski. Er war 47 Jahre alt.
Das war auch der einzige Augenblick, in dem man die beiden bekanntesten Häftlinge Russlands nicht hinter Gittern, nicht hinter kugelsicherem Glas, sondern sozusagen »real« zu sehen bekam - in den kurzen Minuten, in denen sie unter Bewachung in den Gerichtssaal und wieder hinausgebracht wurden. Diese beiden Inhaftierten waren ehemalige Teilhaber der ehemaligen Erdölgesellschaft Yukos.
Im Jahr 2003 errechnete Forbes, dass Michail Chodorkowski acht Milliarden Dollar »wert« sei. Der 40-jährige Geschäftsmann wurde nun als reichster Russe geführt. Im Jahr 2003 lag sein Unternehmen bei der Ölfördermenge erstmals vor dem russischen Ölgiganten Lukoil, in puncto Börsenkapitalisierung sogar noch vor Gazprom. damals auch listete die Zeitschrift Fortune Yukos hinsichtlich der Kapitalrendite als das in der Weltwirtschaft führende Unternehmen, beim Verkaufserlös kam es auf Rang zwei; Yukos hatte damit in diesen Kategorien selbst Microsoft, die Citigroup und den Pharmakonzern Pfizer hinter sich gelassen. Chodorkowski führte dieses Unternehmen, das zwei Prozent der Ölmenge der Welt und 20 Prozent des russischen Erdöls lieferte. Zum 2. September 2003, anderthalb Monate vor Chodorkowskis Verhaftung, wurde der Börsenwert von Yukos mit 32,8 Milliarden Dollar veranschlagt.
Dieser junge aus einer durchschnittlichen sowjetischen Ingenieursfamilie, der zu dem Zeitpunkt, als Gorbatschow an die Macht kam, 22 Jahre alt war, hatte den Weg von einem einser-Komsomolzen der späten 1980er zum Ölmagnaten der späten 1990er Jahre zurückgelegt. Er war einer von denen, die auf der Welle der jelzinschen Reformen »mitgeritten« waren und die 1990er Jahre in Russland mit all den Möglichkeiten, Vorzügen und Nachteilen dieses stürmischen Jahrzehnts höchst effektiv genutzt hatten. Den Einen brachte dieses Jahrzehnt tränen und Verluste, den anderen Milliarden und den Beinamen »Oligarchen«, der ihnen wohl auf ewig anhaften wird.
Im Jahr 2003, als der Ölpreis gestiegen war und sich das Preisniveau für Öl der Marke Urals bei knapp unter 30 Dollar pro Barrel einpendelte, belief sich der Reingewinn von Yukos in den ersten neun Monaten auf 3,546 Milliarden Dollar (gegenüber 2,07 Milliarden Dollar im gleichen Zeitraum des Jahres 2002), der Erlös stieg sprunghaft von 7,95 auf 12,2 Milliarden Dollar an. Chodorkowski verhandelte mit großen ausländischen Mineralölkonzernen über eine mögliche Fusion. Praktisch abgeschlossen war das Geschäft für eine Fusion mit einem anderen russischen Konzern: Sibneft.
Das Jahr 2003 sollte zum erfolgreichsten und gleichzeitig letzten Jahr von Yukos unter Chodorkowski werden. Heute existiert die Gesellschaft nicht mehr. und so seltsam es klingt: auch das Land, in dem es ein solches Unternehmen gab, existiert nicht mehr. Die Verhaftung Chodorkowskis im Jahr 2003 markiert die Linie, die das Russland Jelzins von Putins Russland trennt. Putin, der 2000 ins Amt des Präsidenten gekommen war, proklamierte eine stärkere Rolle des Staates, die untergeordnete Position der Wirtschaft, den Aufbau einer Machtvertikale und die Schaffung von Stabilität, wie er und sein engeres Umfeld sie auffasste. Iin Putins Russland wurde nicht nur Chodorkowskis Unternehmen zugrunde gerichtet, sondern auch seine gemeinnützige gesellschaftliche Bildungsorganisation »offenes Russland«, wie übrigens auch viele andere Nichtregierungsorganisationen, die dem ehemaligen KGB-Mann Wladimir Putin verdächtig waren. Während seiner Amtszeit schrumpfte die Zivilgesellschaft auf ein Minimum. Die größten Medienunternehmen, allen voran das Fernsehen, gerieten unter die Kontrolle des Staates. ein Parlament im eigentlichen Sinn gibt es nicht mehr. die Gouverneurswahlen wurden abgeschafft.
Chodorkowski war kein Revolutionär. Er kannte die Spielregeln unter Putin nur allzu gut. Und er verstand es, nach diesen Regeln zu spielen. Jedenfalls bis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Alle wichtigen Projekte stimmte er mit dem Kreml oder sogar persönlich mit Putin ab, angefangen von geschäftlichen Dingen bis hin zur Unterstützung, auch der finanziellen, von oppositionellen Parteien. in der Spätphase der Jelzin-Ära hatte es eine derartige direkte Abhängigkeit der Unternehmer vom Kreml nicht gegeben. Später aber wurde sie zu einer notwendigen und, wie es schien, auch hinreichenden Bedingung für den reibungslosen Betrieb eines jeden großen Unternehmens, so auch für Yukos.
Von Außen betrachtet hatte es den Anschein, als sei mit Yukos alles in bester Ordnung: Noch im April 2003 gratulierte Präsident Putin herzlich zum zehnjährigen Bestehen des Unternehmens. das Grußwort des Präsidenten verlas der Chef der Präsidialadministration, Alexander Woloschin: »Dank einer effektiven Arbeitsorganisation, einem hohen Maß an Professionalität und dem verantwortungsbewussten Handeln der Mitarbeiter kann das Unternehmen seine Positionen auf dem heimischen und dem internationalen Markt nicht nur halten, sondern auch weiter ausbauen «, zitierte Woloschin den Präsidenten. doch schon zwei Monate später wurde der Leiter der Abteilung für interne Wirtschaftssicherheit bei Yukos, Alexej Pitschugin, festgenommen. Im Juli wurde einer der Hauptgesellschafter von Yukos, Platon Lebedew, verhaftet. Niemand zweifelte nun mehr daran, dass dies ein echter »Angriff« war, wie man in Russland sagt. Im Oktober 2003 kam Chodorkowski in Haft.
Bis dahin war Chodorkowski nicht interessanter gewesen als jeder andere der sieben führenden Oligarchen, die mit der Welle des Jahres 1996 hochgespült worden waren - damals hatten sie, nach dem Motto »alles oder nichts«, trotz des unübersehbaren Vorsprungs der Kommunisten unter Gennadi Sjuganow in allen Umfragen bei den Präsidentschaftswahlen auf Boris Jelzin gesetzt. Im weiteren Verlauf gestaltete sich das Schicksal dieser Geschäftsleute mehr als glücklich. Jelzin blieb als Präsident im Amt, und den Unternehmern wurde zum Zeichen der Dankbarkeit die Möglichkeit eingeräumt, überaus vielversprechende Stücke vom Kuchen des staatlichen Eigentums zu privatisieren, das nun, unter anderem im Rohstoffbereich, zum Verkauf stand. die oligarchen schienen die Macht in Händen zu halten, bis sie sich 1997, ein Jahr nach der Wahl, wegen unterschiedlicher Interessen zerstritten und zerstreuten. Dieses effektive Bündnis der Oligarchen, die bereit waren, zugunsten einer gemeinsamen politischen Richtungsentscheidung alles, selbst ihr leben und ihren gesamten Besitz, aufs Spiel zu setzen, sollte in der Geschichte des Landes einmalig bleiben. Als Chodorkowski verhaftet wurde, war von einem gemeinsamen Willen der Oligarchen, ihm beizuspringen, nichts mehr zu spüren.
Wer nach seiner Verhaftung zu verstehen versuchte, warum gerade er zum Vorzeigeopfer der nachjelzinschen Machthaber gekürt worden war, und sich etwas mehr in die details vertiefte, der erkannte, dass Chodorkowski trotz aller nach außen bezeigten Loyalität der neuen Macht gegenüber anders als die anderen war. Aus irgendeinem Grund hatte er die Eigentumsstruktur des Unternehmens transparent gemacht, was in Russland unüblich war. Aus irgendeinem Grund bemühte er sich im Ausland ernsthaft und durchaus erfolgreich um sein eigenes Image und das des Konzerns. er begann, gemeinnützige Organisationen zu gründen. Er kümmerte sich um einen verbesserten Zugang der Menschen zu Computern, um die Modernisierung des Landes. Aus irgendeinem Grund lag ihm die Bildung und der Erhalt des geistigen Potenzials in Russland am Herzen. Und aus irgendeinem Grund hatte er sich in den Kopf gesetzt, eine Pipeline nach China zu bauen. Er stand in Verhandlungen mit einem großen westlichen Partner und hatte damit faktisch die Expansion des russischen Business gen Westen eingeleitet.
Michail Chodorkowski: »Nachdem die Krise vom August 1998 wie ein Wirbelwind vorübergezogen war, richteten sich in der ersten Zeit all unsere Gedanken darauf, Yukos zu retten und die Unternehmen, mit denen die Menatep-Gruppe zu tun hatte, noch einmal aus dem Abgrund zu holen.
Dann kam der 31. Dezember 1998, und es wurde klar, dass unsere Schulden zwar nicht beglichen waren, doch der Horizont war immerhin schon zu sehen. Heute wird das wohl niemand glauben wollen, aber damals war die gemeinsame Menatep-Kasse leer. Hätte sich also die Frage gestellt, was unter den Teilhabern aufgeteilt werden sollte, wäre lediglich die Verantwortung für die Schulden zu teilen gewesen. Trotzdem waren wir grundsätzlich optimistisch, und es zeichnete sich ab, dass wir durchkommen würden, obwohl wir buchstäblich an allem sparen mussten. Alle Investitionsanträge, die nicht vorher schon ordnungsgemäß genehmigt worden waren, wurden nun abgewiesen.
Just zu diesem Zeitpunkt schafften es ein paar junge Leute, trotz Sekretariat, Stellvertretern und Assistenten zu mir durchzudringen - Leute, die weder äußerlich noch innerlich viel mit denen gemeinsam hatten, mit denen wir Yukos aus Ruinen auferstehen lassen und eine neue russische Industrie aufbauen wollten. In einer großen bürokratischen Struktur das Spalier der ›Sperrverbände‹ zu durchbrechen, war sehr schwer, aber diese Leute waren durchgekommen. Heute sind sie bekannte Journalisten, Top-Blogger, Politiker und einige sogar Duma- Abgeordnete...
Es gab mehrere Vorschläge, alle voneinander unabhängig: die Gründung einer Internet-Zeitung, die Einrichtung einer gemeinnützigen Organisation zur Verbreitung und Entwicklung des Internet in Russland unter besonderer Berücksichtigung der Regionen, und die Einrichtung von Computerklassen. Damals, Ende der 1990er Jahre, war es so gut wie unmöglich, auch nur irgendeinem Unternehmer in Russland die kommerziellen Vorzüge von Internetprojekten klarzumachen. Angesichts des allgegenwärtigen Fernsehens erschien die Idee, eine alternative Informationsquelle zu entwickeln, als Verwegenheit und Hirngespinst.
Ich habe dennoch daran geglaubt. An die Menschen, und an ihre Ideen. Auch wenn es mir persönlich keinen kommerziellen Nutzen brachte: In der russischen Provinz wurden nun erste Internet-Kurse eingerichtet, das Internet wurde propagiert, und im Jahr 2000 entstand die gemeinnützige Organisation ›Föderation Internet-Bildung‹, die heute für viele ihrer Aufklärungsprojekte bekannt ist. Genau zu dieser Zeit, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, wurde auch die Netzzeitung gazeta.ru ins Leben gerufen, deren Lektüre heute praktisch allen, die ihre Informationen aus dem Netz beziehen, unverzichtbar geworden ist.
Ich hätte selbst nicht erwartet, dass die Aufgaben und Ziele, die seinerzeit formuliert wurden, schon jetzt Früchte tragen. Die Entwicklung des Internet hat dem ganzen Land genützt, das Netz ist heute eine eigenständige alternative Informationsquelle. Und was besonders erfreulich ist: In einer bestimmten Phase wurden die Projekte selbstständig und konnten sich ›freischwimmen‹. Das Internet ist inzwischen ein Teil unseres Lebens, unserer Politik; es ist ein neuer Stein im Fundament für den Aufbau einer Zivilgesellschaft in Russland.«
wWären alle seine Pläne umgesetzt worden, Chodorkowski hätte eine sehr starke und einflussreiche Figur in Russland werden können, und nicht nur dort. Zu stark und zu einflussreich, um ihn noch an der kurzen Leine zu halten, wie die neuen Machthaber das in ihren Beziehungen mit den Großunternehmern bevorzugten. Zu stark und einflussreich, als dass dies den anderen Oligarchen und geschäftlichen Konkurrenten hätte gefallen können. und dazu kam dieser Satz, den er irgendwann einmal in einem Interview hatte fallen lassen: mit 45 wolle er aus der Wirtschaft aussteigen. Aber wohin wollte er gehen? In die Politik? Außerdem gab es auch noch die von ihm gegründete Organisation »Offenes Russland« mit ihren Aufklärungs- und Bildungsprojekten im ganzen Land, eine Organisation, die ganz offensichtlich ein Modernisierungsvorhaben war und Chodorkowski in intellektuellen Kreisen sehr werbewirksam ins Licht rückte. Chodorkowski hatte aufgehört, mit dem Strom zu schwimmen. Er tat sich hervor, machte auf sich aufmerksam, war seinem Umfeld und seiner Zeit voraus. seine Führungsqualitäten offenbarten sich nun immer deutlicher auch außerhalb der Firma, die er aufgebaut hatte. Die einzige Möglichkeit, Chodorkowskis Expansion im in- und Ausland zu stoppen, bestand darin, ihn aus dem Verkehr zu ziehen. Und das taten die Machthaber auch: Sie brachten ihn hinter Gitter.
Warum aber wählten sie gerade diesen weg? Der Gedanke stammt nicht von mir, dass die Entstehung von Putins Regime mit einem ursprünglichen Gewaltakt zusammenhängt, mit dem Blutvergießen im Tschetschenienkrieg, und dass das dazu beitrug, »Gewalt als eines der grundlegenden Elemente sozialer Beziehungen zu sanktionieren«, schreibt Tatjana Woroshejkina in der Zeitung Wedomosti. »Gewalt, verübt in pseudorechtlichen Formen, [...] ist in Putins Jahrzehnt zu einem Hauptfaktor der Demodernisierung, der Retraditionalisierung der Herrschaftsbeziehungen geworden. Die auf Gewalt beruhende politische Herrschaft repressiver Strukturen, auf die sich [...] autoritäre Regime stützen, hinterlässt in der Psyche von Menschen, die es gewohnt sind, sich als untergebene zu betrachten, in ihren Beziehungen zum Staat eine Spur, die kaum zu tilgen ist.«*
Zum Instrument der Selbstbehauptung an der Macht wurden unter Putin natürlich die Sicherheitsministerien, die ihm als Präsidenten direkt unterstellt waren. Die scheinbar schon vergessene Praxis, Verhaftungen und formale Strafverfahren im Kampf gegen die unbequemen, die unbotmäßigen und »anderen « einzusetzen, kehrte zurück. Gegenüber sowjetischen Zeiten kam hier jedoch eine Neuerung hinzu: das ausplündern von Unternehmen, die gewaltsame Aneignung von Firmen, deren Eigentümer mithilfe der Sicherheitsressorts neutralisiert wurden, faktisch also die Umverteilung von Eigentum, wurde nach dem Yukos-Verfahren zur gängigen Praxis. Nach Berechnungen von Spezialisten sitzt ein Drittel der inhaftierten in Russland heute wegen Wirtschaftsdelikten ein. Das sind etwa dreihunderttausend Menschen, deren unternehmen entweder zerstört oder enteignet wurden. Das »telefonrecht«, also die direkte Einflussnahme der exekutive auf die Entscheidungsfindung der Gerichte als der letzten Instanz, die die gewaltsamen Lösungen legitimieren soll, hat seine Aktualität in Russland nie verloren.
In der »Risikogruppe« fanden sich natürlich die Großunternehmer, die in den neunziger Jahren zu Geld und Einfluss gekommen waren. In ihrem Besitz befanden sich nun die besten Rohstoffassets des Landes. Gleichzeitig waren die Ergebnisse der jelzinschen Privatisierungen noch immer nicht juristisch festgeschrieben, weshalb die Oligarchen mit all ihrem Vermögen vom willen des Staates abhängig blieben. Die Frage war nur, ob der Staat den Status quo verletzen und sich diese Gesetzeslücke zunutze machen wollte. Jelzin tat das nicht, aus welchen Gründen auch immer. Putin tat genau das und erinnerte die Unternehmer einmal mehr daran, dass der Staat alles kann. Das hatten alle schnell begriffen.
In der Staatsanwaltschaft tauchte nun eine ziemlich interessante Figur auf: Salawat Karimow, Ermittler der russischen Generalstaatsanwaltschaft in besonders wichtigen Verfahren, seit Beginn der 2000er Jahre bekannt unter dem Namen »Oligarchenkiller«. Heute bekleidet er das auf den ersten Blick bescheidene Amt eines Beraters des russischen Generalstaatsanwalts Juri Tschaika, allerdings unter Beibehaltung seines Büros und seines Dienstwagens, was in Russland Macht und Einfluss symbolisiert.
Es war Karimow, der das Verfahren gegen den Medienmagnaten Wladimir Gussinski leitete, den Inhaber von NTW, dem größten privaten Fernsehsender. NTW gehört heute Gazprom, und Gussinski hat, anders als Chodorkowski, alles unterschrieben, was der Staat von ihm verlangte, und nach einigen Tagen im Gefängnis das Land verlassen. Chodorkowski war übrigens unter denjenigen, die seinerzeit die Forderung nach Freilassung Gussinskis unterzeichnet hatten. interessant ist auch, dass Gussinski unmittelbar nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis warnte, es werde ein »Angriff« auf weitere Oligarchen vorbereitet, darunter »einige Leute im Management von Yukos«. Er sollte recht behalten.
Derselbe Karimow leitete auch die Ermittlungen gegen den ehemaligen Verkehrsminister Nikolai Axjonenko, der im Jahre 2000 im Kampf um das Präsidentenamt gegen Putin angetreten war. Axjonenko starb 2003 an Krebs. Er stand unter Hausarrest, auch zu den Behandlungen ließ man ihn nicht; als er schließlich (angeblich nach persönlicher Intervention Jelzins) doch noch in die Schweiz ausreisen durfte, war es bereits zu spät.
Ein weiterer Karimow-Fall war das Verfahren gegen Jakow Goldowski, den Inhaber des Öl- und Gasunternehmens Sibur. im Jahr 2002 wurde Goldowski direkt im Gazprom-Gebäude verhaftet. Er legte seine Vollmachten als Chef des Unternehmens nieder und willigte in eine Übertragung der Sibur-anteile an Gazprom ein. Daraufhin wurde er aus dem Gefängnis entlassen und reiste nach Österreich aus.
Ebenfalls unter Karimows Leitung stand das Strafverfahren gegen einen derjenigen, die Wladimir Putin gemacht und protegiert hatten: den späteren erbitterten Putin-Kritiker Boris Beresowski. Beresowski wurde vorgeworfen, Gelder des Automobilkonzerns Awtowas, der ihm seinerzeit unterstanden hatte, unterschlagen zu haben. Es war dieses Verfahren, das die russischen Behörden mehrfach in ihren erfolglosen Bemühungen um eine Auslieferung Beresowskis aus Großbritannien ins Feld führten. An Russland ausgeliefert wurde bis heute übrigens keiner der russischen Unternehmer, die aus politischen Gründen das Land verlassen haben.
Und Karimow war es schließlich auch, der die erste und die zweite Anklageschrift gegen Chodorkowski und Lebedew unterschrieb. Sein Name findet sich auf beinahe allen Prozessunter- lagen, bis in das Jahr 2007 hinein. De facto zeichnet er für die operative Leitung der staatlichen Ankläger sowohl im ersten als auch im zweiten Prozess gegen Chodorkowski und Lebedew verantwortlich. Es ist kein Geheimnis, dass Karimow in direktem Kontakt zu dem Mann steht und von ihm Anweisungen erhält, der - nicht dem Amt, aber dem Einfluss nach - die dritte Stelle im Staat einnimmt: Igor Setschin.
Der 1960 geborene Setschin war früher als Militärdolmetscher in Mosambik tätig. Er ist studierter Romanist, spricht Portugiesisch und Französisch. seit er 1990 Putin kennenlernte, sind die beiden unzertrennlich. Gemeinsam arbeiteten sie in der Petersburger Stadtverwaltung, gemeinsam kamen sie auch nach Moskau. Während Putins Präsidentschaft bekleidete Setschin das Amt des stellvertretenden Leiters der Präsidialadministration und Präsidentenberaters. Unter Premierminister Putin ist Setschin nach wie vor dessen rechte Hand - im Amt eines Vizepremierministers. Bis 2003 war Setschin eine überaus einflussreiche, wenngleich nur im Schatten agierende Figur aus Putins Umfeld. Publik wurde sein Name just im Zusammenhang mit dem Yukos- Prozess: Er gilt als Organisator und Pate dieser Geschichte, und er kontrolliert seither auch Chodorkowskis ehemaliges unternehmen. Setschin selbst bemüht sich, dieses Thema zu meiden, er kommentiert es öffentlich nicht. Die einzige Ausnahme war ein Interview mit der Financial Times vom 21. 6. 2010, in dem Setschin den Journalisten empfahl, die Wahrheit im Fall Chodorkowski bei den Staatsanwälten zu suchen - und nicht etwa beim Gericht, wo der Prozess gegen Chodorkowski und Lebedew zu dieser Zeit gerade lief.
Inzwischen erinnert Chodorkowskis Geschichte immer mehr an die Geschichte des »Mannes mit der eisernen Maske« - nicht, weil sie so geheimnisvoll wäre, sondern weil auch hier auf Geheiß von oben ein Häftling für lange Zeit oder gar für immer »weggesperrt « wird. Sobald nur der Name Chodorkowski fällt, ist Putin außerstande, seine Gereiztheit zu verbergen; er bemüht sich gar nicht erst, unparteiisch zu wirken. Vielleicht glaubt er ja tatsächlich an eine Verschwörung der Oligarchen gegen ihn - ein Gerücht, das der bis dahin nicht sonderlich bekannte Pr-Mann Stanislaw Belkowski (Direktor und Gründer des Instituts für nationale Strategien, heute Kritiker Putins und Autor zweier Bücher über ihn: »Wladimir Putins Geschäfte« und »Wladimir Putins Imperium«) 2003 in Umlauf brachte. Laut dieser Version soll der Hauptverschwörer Chodorkowski vorgehabt haben, das russische Parlament zu kaufen und einen Staatsstreich zu veranstalten. Die Vorstellung, im russischen Parlament säßen 300 käufliche abgeordnete, die der Oligarch angeblich ohne weiteres kaufen könne, schien erstaunlicherweise niemand abwegig zu finden. diese Geschichte hat absurd angefangen, und sie geht ebenso absurd weiter.
Trotz seiner juristischen Ausbildung erlaubt sich der ehemalige Präsident, heutige Premierminister und wahrscheinlich abermals zukünftige Präsident des Landes, Chodorkowski öffentlich mit Mordfällen in Verbindung zu bringen, wegen derer er nie angeklagt wurde. Zugleich gab er sich noch im zweiten Jahr des zweiten Prozesses gegen Chodorkowski in einem Interview mit der Zeitung Kommersant erstaunt über das Zustandekommen dieses Verfahrens.* Zehn Tage später aber, während eines Treffens mit russischen und ausländischen Politikexperten, schlug er einen radikal anderen Ton an. Adam Michnik, der den Premierminister nach Chodorkowskis Schicksal gefragt hatte, berichtete nach der Begegnung: »Mich verblüffte, wie sich sein Gesicht plötzlich veränderte, wie es rot anlief. leidenschaftlich fing er zu sprechen an: ›der Chef seiner Wachmannschaft hat Menschen umgebracht. und das soll er nicht gewusst haben?! Wir sind doch keine Kinder!‹ Bis dahin war er in Bestform gewesen, entspannt, geistreich. Aber dann wurde er plötzlich sehr hart, sehr emotional: das Thema hat ihn persönlich tief getroffen.«**
In Russland, wo kein Wort Putins ungehört bleibt, kann man eine solche Erklärung während eines laufenden Gerichtsverfahrens wohl kaum als Nichteinmischung in die Angelegenheiten des Gerichts betrachten - zumal, da es nicht die erste ihrer Art ist. Über den Fall Alexej Pitschugins, des erwähnten »Chefs der Wachmannschaft «, der ohne Beweise für seine schuld an der Ermordung mehrerer Menschen zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, wissen noch weniger Menschen Bescheid als über Chodorkowskis Fall - ein Umstand, den Putin in Gesprächen mit dem »Volk« und mit Ausländern immer wieder geschickt zu nutzen weiß.
Dieser ganzen Geschichte haftet etwas zutiefst Persönliches an. Viele Beobachter hegen denn auch keinen Zweifel, dass Chodorkowski Putins persönlicher Gefangener ist. Oder, wenn man so will, der persönliche Gefangene einer von Putin angeführten Vereinigung der Silowiki.*
Seit 2003 sitzen Michail Chodorkowski und Platon Lebedew hinter Gittern. In dieser Zeit sind ihre Kinder herangewachsen, Chodorkowski wurde eine Enkelin geboren. Platon Lebedews jüngste Tochter war zwei Wochen alt, als er verhaftet wurde. Er hat vier Kinder aus zwei Ehen, wie auch Chodorkowski. Chodorkowskis jüngste Kinder, die Zwillinge, waren 2003 vier Jahre alt. In den Erinnerungen der jüngeren Kinder sind ihre Papas ganz und gar keine Oligarchen, sondern einfach nur Inhaftierte.
Das Urteil im ersten Verfahren lautete auf acht Jahre Freiheitsentzug wegen Betrugs und Steuerhinterziehung. Davon verbüßten Chodorkowski und Lebedew wenig mehr als ein Jahr im Lager, also einer Sonderzone für verurteilte Straftäter, den Rest der Zeit verbrachten sie in Gefängniszellen. Nach dem Urteil im zweiten Verfahren sind sie seit Juli 2011 abermals im Lager. insgesamt rund 17 Milliarden Rubel fordern die Behörden von Chodorkowski und Lebedew, und das, obwohl ihnen gleichzeitig Yukos genommen und das Unternehmen anschließend zerschlagen wurde.
Die Gesamtsumme der Steuerforderungen gegenüber Yukos einschließlich der Bußgelder und Säumniszuschläge belief sich für den Zeitraum von 2000 bis 2003 auf 582 Milliarden Rubel; berücksichtigt man darüber hinaus die Forderungen gegenüber den Tochtergesellschaften, sogar auf 703 Milliarden Rubel oder über 25 Milliarden Dollar zum damaligen Kurs. Dabei erreichten die Steuerforderungen gegenüber dem Unternehmen einschließlich Bußgeldern allein für das Jahr 2002 einen Wert von 111 Prozent der Bruttoeinnahmen des Unternehmens. Laut Angaben von Yukos lagen die Forderungen für 2004 wesentlich über den für dieses Jahr verbuchten Erträgen des Unternehmens. Diese unglaublichen Summen lassen sich mit den exorbitanten Bußgeldern erklären, die gegenüber Chodorkowskis unternehmen zur Anwendung gebracht wurden, nämlich 40 Prozent der Hauptschuld anstelle der sonst üblichen 20 Prozent. Geldstrafen in dieser atemberaubenden Höhe hatte es in der Geschichte Russlands zuvor noch nie gegeben.
Das Urteil im ersten Verfahren gegen Chodorkowski und Lebedew wurde am 31. Mai 2005 gesprochen. Offensichtlich um den angeklagten den Rest zu geben, erklärte Putin im Juni 2004, noch vor dem Urteilsspruch, die Firma werde nicht zerschlagen, aber schon am 24. Juli 2004 wurde der Zwangsverkauf des Ölförderunternehmens Yuganskneftegaz (YuNG), der Perle von Yukos, angekündigt. Dabei war das Konkursverfahren zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal eröffnet. Das lukrativste Yukos-Asset ging an das staatliche Unternehmen Rosneft, in dessen Direktorium* selbstverständlich sogleich eben jener Igor Setschin den Vorsitz übernahm.
Das Konkursverfahren sollte erst später, im Jahr 2006, eröffnet werden, zu einem Zeitpunkt, da das Guthaben von Yukos, und dies wurde von russischen Gerichten bestätigt, nach wie vor die Verbindlichkeiten des Unternehmens überstieg, wodurch das Verfahren von vornherein gesetzeswidrig war. doch der Kreml war bestrebt, den Namen Yukos so schnell wie möglich aus der Geschichte, aus den Meldungen, aus der Presse zu tilgen. Mit demselben Eifer wurde der Firmenname denn auch von allen Produkten der Marke Yukos gestrichen, in Neftejugansk wurden Tafeln übermalt, Werbeplakate abgerissen, Uniformen ausgewechselt und auf den großen Plakatwänden oberhalb des übertünchten »Yukos« der Schriftzug »Rosneft« angebracht. Ob das, was da geschah, legal oder illegal war, wurde nicht bei Gericht entschieden, sondern einzig und allein an einem Ort und von einer Person: Im Kreml, von Putin.
Selbst bei unbeteiligten Beobachtern, die Chodorkowski keine Sympathien entgegenbrachten, kamen Zweifel auf: Ging es hier wirklich um nicht gezahlte Steuern, oder war dies im Grunde eine politische Geschichte mit einer ausgeprägten kommerziellen Komponente? Schließlich war Yukos jährlich, eigentlich sogar mehrmals pro Jahr, von staatlicher Seite geprüft worden. Woher kamen also die Milliarden nicht gezahlter steuern? Und warum wurden die Steuerprüfer nicht belangt, die entweder Berichte gefälscht oder schlecht gearbeitet hatten? Und wenn dem Staat tatsächlich daran gelegen war, die Steuerschuld des Ölkonzerns einzutreiben, dann war es doch einfach dumm, ihn auf der Welle eines steigenden Ölpreises zugrunde zu richten. Und schon gar keinen Sinn hatte es, ein Unternehmen ausbluten zu lassen, indem man ihm das beste Asset zur Tilgung der Schulden nahm, wenn es auch andere Aktiva gab und auf den Konten nach wie vor Geld vorhanden war. Doch das galt nur, wenn es wirklich um Steuern ging. Wenn das Ziel dagegen war, die Eigentümer beiseite zu schaffen und ihre Besitzstände an sich zu bringen, dann war es natürlich richtig, diese Eigentümer einzusperren und unverhältnismäßige Forderungen an sie zu stellen, dann musste das beste Asset eingezogen, die Firma in Einzelteile zerlegt und unter Freunden und Bekannten aufgeteilt werden. Das war keine Verstaatlichung (in diesem Fall hätte der Staat ja eine Entschädigung zahlen müssen), sondern de facto eine Enteignung im Interesse einer kleinen Gruppe »natürlicher Personen«, die »schon viele Jahre im Bereich der Energiewirtschaft tätig sind«, wie Putin selbst während eines Besuchs in Deutschland im Dezember 2004 den Wechsel der Eigentümer von YUNG kommentierte. Genau genommen war das gelogen, denn eines der besten Öl-Assets des Landes gelangte über eine Tarnfirma in den Besitz des staatlichen Unternehmens Rosneft. und gleichzeitig sagte der Präsident im Grunde die Wahrheit: dieses Asset unterstand nun der direkten Kontrolle zumindest einer natürlichen und Putin sehr nahestehenden Person: Igor Setschin.
Der Westen hat diese Geschichte geschluckt, ohne sich daran zu verschlucken. Zunächst unterband Putin mit einem einzigen Zuruf die zugegebenermaßen Recht kläglichen Versuche russischer Unternehmer, ihrem Kollegen beizuspringen. Danach lud er ausländische Investoren zu sich ein und beschwichtigte: Chodorkowski sei ein besonderer, ein Einzelfall. Ziemlich treffend beschrieb Erik Berglöf, Direktor des Stockholmer Instituts für Transformationsökonomie, die Reaktion des Westens auf das erste Verfahren gegen Chodorkowski: »die internationale Businesswelt nickte die offizielle Version des Chodorkowski-Falls, die die russischen Behörden präsentierten, erstaunlich schnell ab. Ja, man ist vielleicht nicht begeistert, wie das Gerichtsverfahren selbst gelaufen ist, aber die Erklärung, Chodorkowski sei zweifelsfrei ein Krimineller, wurde akzeptiert. Wir sind freilich daran gewöhnt, dass Geschäftsleute ihre Meinung schnell ändern können, aber mit welcher Geschwindigkeit sie das dieses Mal fertiggebracht haben, ist einfach verblüffend. das ist Pragmatismus in Reinform und höchster Konzentration. [...] Ich nehme an, die [westlichen] Unternehmer werden nun bemüht sein, in Russland mit den staatlichen statt mit den privaten Strukturen zu arbeiten, besonders im Rohstoffbereich. Zumal wir sehen, dass die russische Regierung selbst immer aktiver versucht, sich als Hauptakteur auf diesem Markt zu etablieren. Unter diesen Bedingungen ist eine engere Zusammenarbeit mit dem Staat eine durchaus natürliche Reaktion seitens der westlichen Unternehmer.«*
Da Yukos im Gegensatz zu anderen russischen Erdölkonzernen im Jahr 2002 seine Eigentumsstrukturen offengelegt hatte, sind die Inhaber, denen man die Firma nahm, auch namentlich bekannt. Den größten Teil der Yukos-Aktien besaß die Menatep- Gruppe, deren Gesellschafter sieben natürliche Personen waren. Namentlich genannt wurden Michail Chodorkowski (der 59,5 % der Aktien kontrollierte), Leonid Newslin (8 %), Platon Lebedew (7 %), Wladimir Dubow (7 %), Michail Brudno (7 %) und Wassili Schachnowski (7 %). Ich erinnere mich noch genau an diese Liste mit den entsprechenden Anteilen neben jedem Namen, weil sie in der Zeitung Kommersant, wo ich damals arbeitete, veröffentlicht wurde und eine Sensation werden sollte. Kein russisches Unternehmen dieser Größenordnung hatte sich bis dahin »geöffnet«. jemand, der nicht benannt wurde, verbarg sich hinter der Zahl 4,5%, neben der kein Name stand. Später erfuhr ich, dass es Alexej Golubowitsch war, der 2001 die Firma verlassen hatte, aber Aktionär geblieben war.
Und so interessant gestaltete sich das Schicksal der Aktionäre: Zwei von ihnen, Chodorkowski und Lebedew, sitzen im Gefängnis. Vier sind im Ausland. Sie sind im Einvernehmen mit Chodorkowski ausgereist, die einen noch vor seiner Verhaftung, die anderen erst danach. Chodorkowski hatte offenbar gehofft, den Konzern erhalten und die Kontrolle der Eigentümer über das Unternehmen bewahren zu können, und sei es auch vom Ausland aus. Golubowitsch ist der einzige der Gesellschafter, der bereit war, gegen Chodorkowski auszusagen.
Alles in allem verfolgte und verfolgt die russische Staatsanwaltschaft im Rahmen des Yukos-Verfahrens über 60 Personen (sowohl Mitarbeiter von Yukos als auch andere), darunter sämtliche Gesellschafter mit Ausnahme Golubowitschs, der als einziger unbehelligt in Russland leben und seinen geschäftlichen Aktivitäten nachgehen kann.
Platon Lebedew wurde nach dem Urteil im ersten Prozess in eine Strafkolonie mit strengen Haftbedingungen gebracht, in der Siedlung Charp im Kreis der Jamalen und Nenzen. Charp liegt in Westsibirien, 60 Kilometer nördlich des Polarkreises. Acht Monate im Jahr ist dort Winter, die Tiefsttemperaturen können bis auf -59 Grad absinken, im Sommer steigen die Temperaturen auf +30 Grad. Chodorkowski wurde nach Krasnokamensk verbannt. Das ist in der Region Transbaikal, Ostsibirien, nur 90 Kilometer von der chinesischen Grenze entfernt. Vom Verwaltungszentrum der Region, der Stadt Tschita, trennen Krasnokamensk fast 600 Kilometer. Die Flugzeit von Moskau nach Tschita beträgt sechs Stunden. Unweit der Stelle, wo die Strafkolonie Krasnokamensk entstand, wurden in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts Uranvorkommen entdeckt. Für die Förderung und Verarbeitung, die extrem gesundheitsschädigend sind, wurden Arbeitskräfte gebraucht. daher auch die Strafkolonie: das Leben der Häftlinge hatte keinen Wert. Heute werden die Gefangenen nicht mehr in den Gruben eingesetzt, der Tagebau scheint stillgelegt zu sein, obwohl die Halden noch immer nicht verwahrt sind und ganz in der Nähe wagen für den Abtransport des Urans stehen, mit dem Warnschild »Vorsicht, radioaktiv!«. der Untertagebau geht weiter. und die Strafkolonie ist immer noch an derselben Stelle - ungefähr eintausend Häftlinge, die hauptsächlich wegen Diebstahls einsitzen, zwischen drei und fünf Jahren.
Bis auf ein Jahr und neun Monate in der Strafkolonie (stand Januar 2012) haben Chodorkowski und Lebedew ihre gesamte Haft, also fast sechs Jahre, im Gefängnis verbracht - zunächst in Moskau, dann in Tschita, dann wieder in Moskau, in verschiedenen Gebäudekomplexen des Gefängnisses Matrosskaja Tischina, wo die Haftbedingungen viel härter sind als in der Kolonie. Chodorkowski spricht nur ungern über Einzelheiten
Seines alltags.
Michail Chodorkowski: »Hier, im Untersuchungsgefängnis 99/1, sind die Lebensbedingungen ›Sahne‹, selbst im Vergleich mit Tschita, wo man extra für Platon Lebedew und mich eine eigene Wohneinheit eingerichtet hatte.
Wir sind zu dritt (normal sind vier Häftlinge in einer Zelle). Die Zelle ist 16 bis 18 Quadratmeter groß (einschließlich Sanitärbereich). Der Sanitärbereich ist durch eine Trennwand (allerdings nicht bis zur Decke und ohne Tür) mit Vorhang abgetrennt. Dort gibt es eine normale Kloschüssel, ein Waschbecken mit warmem und kaltem Wasser. Alles ist ziemlich neu und sauber. Ein (kleiner) Fernseher, ein (alter, aber anständiger) Kühlschrank, ein Ventilator. 4 Bettstellen auf 2 Etagen. Metallbetten. Wie im Zugabteil, nur aus Metall. Das Fenster ist mit einer undurchsichtigen Folie beklebt, 2 Gitter (vor und hinter der Scheibe). Das kleine Lüftungsfenster lässt sich öffnen. Einmal pro Woche duschen. Es ist alles sauber. Die Bettwäsche wird gewechselt. Sie ist auch schon etwas alt, aber sauber.
Zum Kiosk darf man einmal pro Monat. Keine ›Delikatessen‹, aber es gibt alles. Milch, Kefir, saure Sahne, Äpfel, Möhren, Orangen usw. Das ist das einzige, was in anderen Gefängnissen besser ist, weil dort mehr Insassen sind und es ›interessierte Personen‹ gibt. Außerdem gibt es noch die Päckchen von zu Hause, aber da ist fast nichts erlaubt, und das, was geht, wird erbarmungslos ›portioniert‹, also in kleine Stücke geschnitten. Das einzig Gute daran ist also, dass es von zu Hause kommt. Aber das allein ist schon sehr wichtig.
Im Gericht kein Essen, sonst wird man schläfrig. Ich esse abends. Ausgang ist zweimal in der Woche, je eine Stunde (wegen der Verhandlungen). Ich laufe wie eine Katze umher: auf dem Dach unseres Gebäudes. Aber das ist noch überdacht. Also keine Sonne. Leider. Ein Radio läuft. Die billige Popmusik und diese idiotischen ›Hörerzuschriften‹ machen mich wahnsinnig.
Beim Arbeiten stört niemand, nur mit dem Zugang zu Informationen sieht es schlecht aus.
Ein Telefon macht der Verwaltung hier viel mehr Angst als ein Putin- Porträt auf dem Toilettenpapier. Das ist empirisch bewiesen, wenn auch nicht von mir persönlich.
Jeden Tag Leibesvisitation und Durchsuchung der Zelle. Höflich, aber gründlich. Kurz, ein vorbildliches Gefängnis.
Ich werde nicht ›bedrängt‹, das wird hier nicht gern gemacht. Wenn jemand ›bedrängt‹ werden muss, wird er rausgebracht. Beispiele gibt es. Zurück kommt man erst, wenn keine blauen Flecken mehr da sind.
Nachts brennt Licht.
Der Gefängnisfraß ist Mist. Ich habe natürlich keine Zweifel, dass da genug Fette und Kohlenhydrate drin sind, aber wie die hier kochen... Deshalb nehmen wir nur selten davon, obwohl das auch vorkommt. Aber das sind Kleinigkeiten. Im Lager habe ich von der sprichwörtlichen Wassersuppe gelebt und alles war bestens. Allerdings bei frischer Luft. Wassersuppe und Zelle - ich denke, das wäre schwierig.«
Der zweite Prozess gegen Chodorkowski und Lebedew begann am 3. März 2009. dieses Mal versuchte man ihnen vor Publikum, in einem öffentlichen Verfahren, einzureden, sie hätten sich selbst im Zeitraum von 1998 bis 2003 »als organisierte kriminelle Gruppe« 350 Millionen Tonnen Öl gestohlen. Und sie versuchten ihrerseits, nach dem Studium von 188 Bänden der Strafakte, bei Gericht in Erfahrung zu bringen, was denn die Anklage genau damit meint und wie sie sich das vorstellt.
Es fällt schwer, die Anschuldigungen ernst zu nehmen. Zum Vergleich: im Jahr 2001 wurden in Russland 341 Millionen Tonnen gefördert. Yukos und seine drei Tochterunternehmen hatten nach offiziellen Angaben im Zeitraum von 1998 bis 2003 345,44 Millionen Tonnen gefördert. Das heißt, dass diese Herren, so die Version der Anklage, alles »gemopst« haben sollen, was sie gefördert hatten und noch ein kleines bisschen mehr. Darüber hinaus hatten sie angeblich irgendwie - wie genau, ist wohl ihrem Umfeld und selbst der Regierung entgangen - knapp ein Fünftel des im selben Zeitraum in Russland insgesamt geförderten Öls (2014 Millionen Tonnen) gestohlen. Und zwar sich selbst. Entweder sitzen in der Regierung Idioten - oder sie sitzen bei der Staatsanwaltschaft. 350 Millionen Tonnen Öl zu stehlen und dabei das Unternehmen weiter Profite erwirtschaften und Dividende auszahlen zu lassen ist, beim besten Willen physisch unmöglich. Erst recht unter den wachsamen Augen der Wirtschafts- und Steuerprüfer.
Zugleich hätten die neuen Anschuldigungen, sofern man sie für nachvollziehbar und begründet hielte, automatisch das Urteil wegen Steuerhinterziehung aufgehoben, nachdem die angeklagten schon fast ihr ganzes Strafmaß abgesessen hatten. Denn wenn sie sich selbst alles so virtuos gestohlen hatten - worauf waren dann nach der ersten Anklage all die Milliarden steuern angerechnet worden, wie konnten sie all diese Steuern hinterziehen, und wofür sitzen sie dann überhaupt ein? Die Anklage im zweiten Verfahren widersprach nicht nur einem Teil der Anklage im ersten Verfahren, sondern auch der offiziellen Position der russischen Föderation in Straßburg (Yukos gegen die russische Föderation). »die Grundkonstruktion ist hier die: auch wenn das erste Verfahren, wegen Steuerhinterziehung, eine ziemlich harte Strafe nach sich zog, so war doch die unternehmerische Tätigkeit, auf die die steuern nicht gezahlt wurden, zweifelsfrei legal und kann nicht als Unterschlagung, Diebstahl und so weiter angesehen werden«, bemerkte dazu ganz folgerichtig Alexander Schochin, der Vorsitzende des russischen Verbandes der Industriellen und Unternehmer.
Michail Kassjanow, der zum Zeitpunkt der Verhaftung Chodorkowskis Premierminister gewesen war und im Sommer 2010 als Zeuge Chodorkowskis und Lebedews aussagte, erklärte beim Verlassen des Gerichtssaals, ein Diebstahl von 350 Millionen Tonnen Erdöl sei eine absurde Vorstellung: »es ist der reinste Hohn, diese Frage ernsthaft diskutieren zu müssen«. Wiktor Gerastschenko, der zweimal Vorsitzender der Zentralbank Russlands und daneben im Jahr 2004 auch Vorsitzender des Direktoriums von Yukos war, wurde vor Gericht noch deutlicher, als er die neuerlichen Anschuldigungen gegen Chodorkowski und Lebedew als »Schwachsinn« bezeichnete. weder der vormalige Minister für Wirtschaftsentwicklung und heutige Zentralbankchef German Gref noch der ehemalige Vizepremierminister und heutige Minister für Industrie und Handel, Wiktor Christenko, die auf Drängen der Verteidiger Chodorkowskis als Zeugen geladen wurden, hatten jemals etwas davon gehört, dass in Russland 350 Millionen Tonnen Öl verschwunden wären. Die Vorladung von Premierminister Putin, seinem Stellvertreter Igor Setschin und Finanzminister Kudrin - von Personen also, mit denen der heute inhaftierte Chodorkowski mehrfach geschäftlich zu tun hatte -, lehnte Richter Wiktor Danilkin ab.
Der Zeitplan, nach dem die Strafsachen gegen Chodorkowski und Lebedew auftauchen, richtet sich nicht nach neuen, gerade erst bekannt gewordenen Umständen oder irgendeiner Logik der Ermittlungen. Täuschen wir uns nicht: selbst wenn ein Wunder geschehen und die Geschichte mit den angeblich gestohlenen 350 Millionen Tonnen Öl in sich zusammengebrochen wäre, könnte es jederzeit eine neue, genauso exotische Geschichte und einen weiteren Prozess geben. Das Schicksal der beiden Geschäftsleute hängt im Wesentlichen von einer einfachen Frage ab: ob Putin glaubt, dass sie, wenn sie wieder in Freiheit wären, keine Gefahr für diejenigen darstellen würden, die sie hinter Gitter gebracht haben, und auch nicht für diejenigen, die sich das Yukos-Vermögen angeeignet haben - wobei erstere und letztere identisch sind. Der Einsatz ist wirklich hoch: das staatliche Unternehmen Rosneft, das heute die besten Yukos-Assets besitzt, ist über Nacht von einem ziemlich durchschnittlichen Unternehmen zum Marktführer aufgestiegen. Zum Vergleich: Von 1998 bis 2003 stiegen die Kennziffern des Unternehmens in puncto Ölförderung von 12,5 auf 19,6 Millionen Tonnen pro Jahr. Aber schon 2005 konnte die Firma ein Ergebnis von 74,6 Millionen Tonnen jährlich vorweisen. Was war 2004 geschehen? Richtig, Rosneft hatte Yuganskneftegaz erhalten. In einem Interview mit der Sunday Times vom Mai 2008 sprach Chodorkowski denn auch Klartext und benannte Igor Setschin, den Vorsitzenden des Direktoriums von Rosneft, als Organisator des »Angriffs« auf Yukos und seine Inhaber: »Das erste Verfahren gegen mich hat er aus Gier angezettelt, das zweite aus Feigheit.«
Ende 2011 legte der beim Präsidenten Russlands angesiedelte Rat für Menschenrechte ein unabhängiges Gutachten zum zweiten Strafverfahren gegen Chodorkowski und Lebedew vor. Die Experten empfahlen Präsident Medwedew eine Revision des Verfahrens. Sie begründeten dies damit, Dass Beweise für eine Schuld der Unternehmer fehlten, gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung verstoßen worden sei und das Gericht einfach die Positionen der Anklage übernommen habe.
Die Verfolgung Chodorkowskis fällt auf eigentümliche Weise mit den politischen Zyklen in Russland zusammen. Seine Verhaftung 2003, im Jahr vor den Wahlen, bescherte Putin politischen Erfolg bei einem Volk, das Reiche nicht mag. Außerdem hatte diese Gewaltmaßnahme noch eine Reihe weiterer Vorzüge, darunter die Loyalität der aufgeschreckten Unternehmer und die Ausschaltung der demokratischen Opposition, von der sich nach der Geschichte mit Chodorkowski alle Sponsoren erschreckt abwandten und die sie auch heute noch fürchten wie die Pest.
Copyright © 2012 der deutschsprachigen Ausgabe Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH alle Rechte vorbehalten
... weniger
Autoren-Porträt von Michail Chodorkowski, Natalija Geworkjan
Michail Borissowitsch Chodorkowski, geboren 1963 in Moskau, studierte Chemie und Volkswirtschaft, war zunächst Funktionär in der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol und gründete 1989 eine der ersten Privatbanken Russlands mit. 1997 wird er Vorstandsvorsitzender des Ölkonzerns Jukos, im Jahr 2001 initiiert er die Stiftung Offenes Russland , die u.a. Schulen und Waisenhäuser unterhält. 1992 gehörte er zum Beraterstab von Boris Jelzin, 1993 war er stellvertretender Energieminister. Seit 2003 ist er wegen angeblicher Steuerhinterziehung und Diebstahl von Ölfördermengen in Sibirien und Moskau in Haft. Chodorkowski ist mit Inna Chodorkowskaja verheiratet und Vater von vier Kindern.Natalia Geworkjan, 1956 in Moskau geboren, arbeitet seit 1996 für die angesehene russische Zeitung Kommersant, zunächst als Sonderkorrespondentin für Politik und Wirtschaft, heute als Pariser Korrespondentin des Blatts. 1991 erhielt sie die amerikanischen Auszeichnung Freedom of Press .
Bibliographische Angaben
- Autoren: Michail Chodorkowski , Natalija Geworkjan
- 2012, 1, 380 Seiten, Masse: 14,8 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Russ. v. Steffen Beilich
- Übersetzer: Steffen Beilich
- Verlag: DVA
- ISBN-10: 3421045100
- ISBN-13: 9783421045102
- Erscheinungsdatum: 22.10.2012
Rezension zu „Mein Weg “
"Chodorkowskijs Autobiografie ist keine neue Verteidigungsschrift. [...] Dafür lesen sich die mehr als 640 Seiten wie ein Wirtschaftsabenteuerbuch [...] des frühen Wildost-Kapitalismus [...]." Süddeutsche Zeitung, 22.10.2012
Kommentar zu "Mein Weg"
0 Gebrauchte Artikel zu „Mein Weg“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Mein Weg".
Kommentar verfassen