Leichenspiel
Da ist selbst Cop Jack Murphy fassungslos:
Die Leiche der jungen Frau ist übel zugerichtet. Die linke Hand fehlt. Wenig später findet man ebendiese auf einem zweiten Opfer. Und nur Jack Murphy weiß, wie weit er gehen muss, um das Spiel des Mörders zu beenden.
Die Leiche der jungen Frau ist übel zugerichtet. Die linke Hand fehlt. Wenig später findet man ebendiese auf einem zweiten Opfer. Und nur Jack Murphy weiß, wie weit er gehen muss, um das Spiel des Mörders zu beenden.
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Produktinformationen zu „Leichenspiel “
Da ist selbst Cop Jack Murphy fassungslos:
Die Leiche der jungen Frau ist übel zugerichtet. Die linke Hand fehlt. Wenig später findet man ebendiese auf einem zweiten Opfer. Und nur Jack Murphy weiß, wie weit er gehen muss, um das Spiel des Mörders zu beenden.
Die Leiche der jungen Frau ist übel zugerichtet. Die linke Hand fehlt. Wenig später findet man ebendiese auf einem zweiten Opfer. Und nur Jack Murphy weiß, wie weit er gehen muss, um das Spiel des Mörders zu beenden.
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Leichenspiel von Rick Reed1
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Die Zweige der Kiefern und Zedern bogen sich unter dem Schnee, der dort, wo er nicht zu Matsch geschmolzen war, noch immer dreißig Zentimeter hoch lag. Der Schneesturm hatte alle überrascht, und der große, dunkelhaarige junge Mann, der im Zentrum des Dorfs aus dem Bus stieg, hörte aus allen Richtungen Generatoren brummen.
In Shawneetown, Illinois, hatte sich kaum etwas geändert. An der nächsten Straßenecke sah er immer noch Bertha's Diner, direkt gegenüber von Rambo's, einer Arbeiterkneipe, wo wegen vermeintlich beleidigender Bemerkungen und Blicke ständig Schlägereien ausbrachen. Daneben hatte sich früher ein Billigladen befunden. Er hatte durch die Schaufensterscheibe auf die Spielzeuge und Süßigkeiten gestarrt und sich gefragt, wie es sein musste, wenn man einen ganzen Dollar auf den Kopf hauen konnte.
Der Laden gehörte jetzt zu Dollar General, aber die Auslage im Schaufenster sah nicht anders aus als vor fünfzehn Jahren. Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben. Was natürlich nicht so war. Er hatte eine weite Fahrt auf sich genommen, um hierherzukommen, und er war aus einem bestimmten Grund in Shawneetown.
Da er als achtjähriger Junge nicht strafmündig war und nicht vor Gericht gestellt werden konnte, war er durch einen richterlichen Beschluss in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden, in der er fünfzehn Jahre verbracht hatte. Fünfzehn Jahre, in denen er lernte, was man wie sagen musste, um die Ärzte davon zu überzeugen, dass man geheilt war.
Vor der Einweisung hatte er in diesem Dorf noch etwas versteckt. An dem einzigen Ort, den er als Achtjähriger für sicher gehalten hatte. Fünfzehn Jahre hatte er von dem Tag geträumt, an dem er zurückkommen und holen würde, was rechtmäßig sein war.
Er hatte es für möglich gehalten, dass alle ihm neugierige Blicke zuwerfen und sich fragen würden, warum er wieder zu Hause sei und was er »außerhalb« getan habe. Aber das Dorf, das ihm mit acht Jahren so lebendig erschienen war, wirkte auf den Dreiundzwanzigjährigen öde und beinahe wie ausgestorben.
Es waren kaum Menschen zu sehen. Sie waren bleich und wirkten so, als würde das Leben bereits aus ihnen weichen. Er überquerte die Straße, wobei er in die Reifenspuren der Autos trat. In dem schmalen Gässchen zwischen dem Rambo's und dem Dollar-General-Laden stank es nach angebranntem Fett. Dieser Geruch hatte auch immer in den Klamotten seines Vaters gehangen, wenn er aus der Kneipe zurückkehrte, in deren Hinterzimmer er trank und spielte. Wegen seiner Leidenschaft für Blackjack und das Pokern hatte seiner Mutter oft das Geld für Lebensmittel und Kleidung gefehlt.
Hinter dem Gässchen lag eine große Wiese, dahinter der Wald. Auf der Wiese lagerte die Verkehrspolizei Streugut, doch wegen der jüngst stets vereisten Straßen war von dem riesigen Berg nichts mehr übrig.
In der Psychiatrie hatten sie ihm anlässlich seiner Entlassung neue Schuhe mit Gummisohlen, eine Hose, ein Hemd mit Button-down-Kragen und ein Tweed-Jackett gegeben, dessen Ärmel mehrere Zentimeter zu lang waren. Er besaß nur, was er am Leib trug.
Er fand die Stelle, wo sie als Kinder immer in den Wald gegangen waren. Ein paar Hundert Meter weiter südlich verliefen die Eisenbahnschienen, und eine Meile jenseits davon hatte er damals mit seiner Mutter, seinem Vater und seiner Schwester gewohnt.
In einem kleinen Haus, das es nun nicht mehr gab. Auf dem Weg nach Shawneetown war der Bus an dem Grundstück vorbeigefahren, auf dem jetzt ein paar billig gebaute Doppelhäuser standen. Er hatte auf das verschneite Land dahinter geblickt und sich an jene Nacht erinnert, als er das Haus durch die Hintertür verlassen hatte und blutüberströmt in den Wald gerannt war. Die Dornen von Brombeerbüschen hatten seine Arme und seinen nackten Oberkörper zerkratzt. Auch in dieser Nacht hatte es geschneit.
Er trat auf eine kleine Lichtung, wo ein Holzhaus stand. Das Holz war vom Alter geschwärzt, die Fensterläden waren von Vandalen abgerissen und zertrümmert worden. Als Kind hatte er immer gehört, in dem Haus würde es spuken. Tatsächlich war es so etwas wie eine historische Sehenswürdigkeit. Zurzeit des Amerikanischen Bürgerkriegs hatte hier ein bekannter General gewohnt.
Doch das war ihm egal. Er wollte nur holen, was er in dem Haus versteckt hatte, als er in jener Nacht blutüberströmt dorthin gerannt war. Das Blut war teilweise sein eigenes, zum Teil das seines Vaters gewesen. Er war benommen, aber doch noch klar genug, um zu wissen, dass er das Knochenbeil verstecken musste. Jenes Beil, mit dem er sich befreit hatte. Es durfte nicht in fremde Hände fallen. Es gehörte ihm.
Hinter der Eingangstür des Holzhauses blieb er stehen und schloss die Augen, um sich an jene Nacht zu erinnern. Unter seinen Füßen knarrte etwas. Er kniete nieder, fand die gelockerte Bodendiele und zog sie heraus. Seine Hand schloss sich um den kurzen Holzgriff des Beils mit der schweren, mittlerweile verrosteten scharfen Klinge, mit der man mühelos Knochen zertrümmern konnte.
Er hielt das Beil in der Hand. Mit acht Jahren war es ihm sehr viel größer und schwerer erschienen.
Er musste einen Ort finden, wo er bleiben konnte, zumindest für diese Nacht. Irgendwo außerhalb des Dorfs. Er würde das Beil mitnehmen und den Rost entfernen. Er hatte noch eine Menge damit vor. Der Mord an seinem Vater war erst der Anfang gewesen.
2
Fünf Jahre später, Evansville, Indiana
Jack Murphy, Detective der Mordkommission beim Evansville Police Department, war über eins achtzig groß, hatte einen kräftigen Körperbau und einen dunklen Haarschopf. Seine grauen Augen verdunkelten sich, wenn er wütend war oder bedroht wurde, doch ihr Blick wurde ganz weich, wenn er glücklich war. So wie jetzt. Er stand auf der Veranda seines Blockhauses und blickte auf den Ohio River, dessen anderes Ufer bereits zu Kentucky gehörte.
Es war Spätherbst, und die beide Ufer säumenden Bäume hatten schon die meisten ihrer Blätter verloren. Das grelle Licht der Morgensonne reflektierte sich auf dem schnell fließenden Wasser. Keine zweihundert Meter von seinem Haus entfernt gab es eine kleine sandige Landzunge, wo jüngere Bootsfahrer häufig Partys feierten. Er hatte auch schon an manchen langen Sommertagen beobachtet, wie sich dort gebräunte Schönheiten im Bikini mit Sonnenöl einrieben.
Unbewusst kratzte er an der weißlich verfärbten Narbe, die von seinem rechten Ohr über das Kinn und den Oberkörper verlief und fast bis zur linken Brustwarze reichte. Die heiße Dusche hatte einen Juckreiz ausgelöst, der kein Ende nehmen wollte.
»Noch einen Kaffee?«, hörte er Susan fragen.
Jack drehte sich um. Sie stand mit der Kaffeekanne in der Hand in der Tür und trug nichts als eines seiner weißen Oberhemden, das sie oben nicht zugeknöpft hatte. Er sah ihr Gesicht und das lange blonde Haar, und wieder mal verschlug es ihm die Sprache. Ihm wurde ganz heiß.
Als oberste Bewährungsbeamtin für das südliche Indiana hatte Susan Dinge gesehen, die manchen Mann dazu bewogen hätten, in Panik die Flucht zu ergreifen. Er hatte nie ganz begriffen, wie eine so intelligente und schöne Frau sich einen so gefährlichen Job aussuchen konnte.
»Du musst Gedanken lesen können.« Er hielt ihr seinen Kaffeebecher hin, damit sie nachschenken konnte.
»Wenn ich deine Gedanken lesen könnte, wären wir jetzt wieder im Bett, und du würdest zu spät zur Arbeit kommen, Mr. Detective«, sagte sie lächelnd.
»Nun, du hast zur Abwechslung mal einen Tag frei, und mir bleiben noch mindestens zehn Minuten, bevor ich zur Arbeit muss ...« Er vergewisserte sich mit einem Blick auf die Uhr.
»Komm nicht auf falsche Gedanken.« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals.
Als sie sich gerade küssen wollten, begann das auf dem Geländer der Veranda liegende Funkgerät zu knistern.
»An alle verfügbaren Kräfte. One William Four verfolgt im Bereich der Southeast Four und der Main Street zu Fuß einen bewaffneten Verdächtigen.«
»Lass uns heute Abend auf das Thema zurückkommen«, sagte er noch zu Susan, bevor er zu seinem Auto rannte.
Wie immer um sieben Uhr morgens war die Innenstadt von Evansville wegen des dichten Berufsverkehrs ziemlich verstopft. Jack Murphy fuhr einen silbernen Crown Vic ohne Polizeiemblem. Er manövrierte den Wagen auf den Bordstein vor den Hochhäusern, bremste vor der Einmündung einer Seitengasse, ließ die Fenster herab und stellte den Motor ab, um zu lauschen. Die anderen Autofahrer schienen sein Verhalten nicht weiter merkwürdig zu finden und setzten ihren Weg fort.
Das Geräusch schneller Schritte kam näher. Ledersohlen auf Asphalt. Er begann zu zählen. Eins, zwei, drei ...
Er ließ gleichzeitig den Motor an und trat das Gaspedal voll durch. Der Wagen machte einen Satz nach vorn und blockierte die Einmündung der Seitengasse, als er voll auf die Bremse trat. Der rennende Mann konnte nicht rechtzeitig anhalten, stieß gegen die Seitenwand des Autos und landete auf der Motorhaube, wobei sein Gesicht an die Windschutzscheibe schlug. Jack musste an ein zerquetschtes Insekt denken.
Er sprang aus dem Auto, zog den stöhnenden Mann auf den Bürgersteig und legte ihm Handschellen an. Er musste an das Motto des Evansville Police Department denken: Immer in Kontakt mit den Menschen. So konnte man es sagen. Auf seine Weise hatte er sich gerade daran gehalten.
Zwei uniformierte Polizisten kamen die Seitengasse hinabgerannt. Einer musste ein Neuling sein, weil er ihn nicht kannte, der andere war ein älterer Cop namens Wilson, der ein gutes Stück hinter dem Youngster her rannte und keuchend nach Luft schnappte, als er Jack erreichte und auf den zu seinen Füßen liegenden Mann blickte.
»Das ist er. Er hat gerade eine Apotheke ausgeraubt und den Inhaber mit einem Messer bedroht.«
»Er ist schnell«, sagte der jüngere Cop, der mindestens so groß war wie Jack, aber deutlich schlanker. Er hatte ein Babyface. »Aber ich hätte ihn geschnappt.«
Jack und Wilson tauschten einen Blick aus. Beide wussten, dass es diesem Typ eines Tages nach einer Verfolgungsjagd zu Fuß kotzübel werden würde und dass er es lernen musste, sich Zeit zu lassen.
»Okay, er gehört euch«, sagte Jack. »Gebt mir nur meine Handschellen wieder, bevor ihr ihn übernehmt.«
Auf dem Namensschild des jüngeren Cops stand OFFICER BLOOMBERG. Jack beobachtete, wie Bloomberg den Verdächtigen filzte und ihm seine Handschellen anlegte, nachdem er die von Jack abgenommen hatte.
»Danke, Detective Murphy«, sagte er, als er ihm die Handschellen zurückgab.
»Ich muss in die Ambulanz« jammerte der Mann.
Detective Liddell Blanchard war in jeder Umgebung eine imposante Erscheinung. Er war fast ein Zweimetermann und damit der größte Cop im Evansville Police Department. Er wog so viel wie ein »voll ausgewachsener Yeti«. Als Jack auf dem kleinen Parkplatz hinter der Polizeistation eintraf, entdeckte er Liddell, der auf dem Metallgeländer am Hinterausgang lehnte und ungeduldig auf ihn wartete.
Wegen der grellen Sonne musste Jack blinzeln. Er blickte zu dem Hünen hinüber. Seit fast sechs Jahren waren er und Liddell Partner. Liddells Spitzname bei der Polizei war »Cajun«, weil er in Louisiana aufgewachsen war und eine große Schwäche für die französische Küche der Nachfahren der ersten Siedler hatte. Jack nannte ihn aus naheliegenden Gründen »Bigfoot«. So hieß das amerikanische Gegenstück des Yeti.
»Du bist spät dran, Kollege«, sagte Liddell. »Sergeant Mattingly wird dich zur Sau machen.«
Jack schlenderte zur Tür. »Dich auch.« Sergeant Mattingly war ein kleiner, korpulenter Mann mit einem launischen Temperament.
»Was nichts daran ändert, dass du derjenige bist, der zu spät kommt.«
»Ich habe unterwegs jemanden über den Haufen gefahren.«
»Ja, ich hab's gehört. Und ich habe auch gehört, dass der Typ damit droht, dich zu verklagen. Es war auch von unserer Abteilung für Interne Angelegenheiten die Rede. Vielleicht kriegst du ein Disziplinarverfahren.«
»Vielleicht soll ich auch nur einen Privatparkplatz bekommen. «
»Komm jetzt, wir müssen uns beeilen.«
»Kann ich noch mal kurz aufs Klo gehen?«
»Na klar. Du wirst schon sehen, was du davon hast, wenn du Mattingly über den Weg läufst.«
Jack murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, und sie gingen zum Auto.
3
Der Anruf, durch den der Mord gemeldet wurde, kam aus dem Hotel Marriott am Highway in der Nähe des Flughafens. Der Anrufer hatte die Polizei um äußerste Diskretion gebeten und hinzugefügt: »Im Marriott passiert so was einfach nicht.«
Dem Einsatzleiter passte der Tonfall des Anrufers nicht, und deshalb schickte er vier Streifenwagen, Detectives, die Spurensicherung, Rechtsmediziner sowie Feuerwehr- und Krankenwagen. Als Jack und Liddell eintrafen, war der Eingang des Hotels durch all die Fahrzeuge komplett blockiert. Darunter befand sich auch der schwarze Suburban des Coroners. Es war erstaunlich, dass noch keine Fernsehreporter vor Ort waren.
Jack und Liddell nickten dem uniformierten Cop am Eingang zu und gingen an der Rezeption vorbei, wo eine verstört wirkende Frau mit einem älteren Polizisten sprach.
Sie fuhren mit dem Aufzug in den zweiten Stock. Das Zimmer befand sich fast am Ende des Korridors. In der Nähe der Tür lagen fünf offene schwarze Kunststoffkoffer auf dem Boden, in denen sich Kameras und andere Geräte der Spurensicherung befanden.
Liddell zeigte auf die Kameras. »Marcie will, dass ich einen neuen Fotoapparat kaufe.«
»Gefällt ihr deine hochmoderne Polaroidkamera nicht mehr?«
Tony Walker, der Chef der Spurensicherung, trat aus dem Hotelzimmer und bedeutete Jack und Liddell, sie sollten hereinkommen. »Bleiben Sie an meiner Seite«, sagte er.
Sergeant Tony Walker war fünfzig, wirkte aber, wenn man von seinem grauen Haar absah, eher wie fünfunddreißig. Sie folgten Walker in das Zimmer und blieben direkt vor der offenen Badezimmertür stehen. Jack sah zwei Männer in Schutzanzügen mit Kapuze. Einer schoss Digitalfotos, der andere fertigte eine Bleistiftzeichnung an, die kein Computer so hinbekommen hätte.
»Was haben Ihre Jungs bis jetzt herausbekommen?«, fragte Jack. Die Rücken der beiden Männer blockierten größtenteils den Blick auf die Badewanne, doch er sah einen schlanken Arm über deren Rand hängen. Einen Arm ohne Hand.
Walker zuckte die Achseln. »Sie ist in einem ziemlich üblen Zustand.« Er tippte einem seiner Männer auf die Schulter. »Lasst uns mal einen Augenblick allein, Jungs.«
Rötliches Wasser sickerte über den Rand der Badewanne und lief an ihrer Seite herab, dann über den gefliesten Fußboden. In der Wanne lag die Leiche einer rothaarigen Frau. Nur der obere Teil ihres Kopfes und der rechte Arm schauten aus dem Wasser hervor. Ihr rechter Arm hing über dem Rand der Wanne. Die Haut an ihrem Handgelenk war blutverschmiert. Auf dem Wannenrand hatte sich neben dem Arm ein bisschen Blut gesammelt, doch Jack vermutete, dass der größte Teil davon mit dem Wasser auf den Fußboden gespült worden war.
Da ihr das rote Haar nicht ins Gesicht hing, sah Jack, dass dieses übel zugerichtet worden war. Er hoffte, dass in dem Hotelzimmer irgendein Ausweis oder ein Führerschein gefunden werden würde, denn sonst würde es extrem schwierig werden, diese Frau zu identifizieren.
»Der Mörder hat ihr die Zähne herausgeschlagen«, bemerkte Walker.
»Was ist mit der anderen Hand?«, fragte Jack.
»Keine Ahnung. Wir werden es erst wissen, wenn wir sie bewegt haben.«
Jack schaute sich die Kopfwunden des Opfers genauer an. Das rote Haar klebte blutverschmiert am Schädel. Tiefe Schnittwunden in der Kopfhaut. Vielleicht hat sie sich gewehrt und wurde mit etwas auf den Kopf geschlagen, dachte er, aber sie ist nicht in diesem Bad ermordet worden.
Die Leiche war etwas zur gegenüberliegenden Wand gedreht, aber man konnte erkennen, dass von ihrem Gesicht nichts übrig war. Der Mörder hatte ihr sogar die Nase und die Lippen abgeschnitten. Es sah so aus, als hätte er mit einem scharfen Gegenstand von oben zugeschlagen. Was einst ein Gesicht gewesen war, war jetzt nur noch eine blutige Maske. Auch die Augäpfel waren verschwunden, man sah nur noch blutige leere Augenhöhlen.
»Ist es okay, wenn ich ein bisschen näher rangehe?«, fragte Jack.
Walker nickte. Jack trat näher und bemerkte, dass er nasse Füße bekam. Er beugte sich über den Kopf des Opfers und trat schnell wieder den Rückzug an.
»Haben Sie eine Waffe gefunden?«, fragte er.
Walker drehte sich um und sprach mit einem seiner Männer, der ihm eine mit einem roten Band verschlossene Kunststofftüte reichte. Darin befand sich ein blutverschmierter Teelöffel mit einem langen Griff.
»Der lag auf dem Rand des Waschbeckens«, sagte Walker.
»Kann man jemandem mit einem Löffel die Augen herausoperieren? «, fragte Liddell.
Walker zuckte die Achseln. »Ich würde das für ziemlich schwierig halten. Man müsste unglaubliche Kraft haben, um mit einem Teelöffel die Augenmuskeln zu durchtrennen.«
»Hat schon jemand überprüft, ob es in dem Hotel Videoüberwachung gibt?«, fragte Jack.
Liddell und Walker blickten sich an und schüttelten die Köpfe.
Liddell rief an der Rezeption an, um mit dem uniformierten Sergeant in der Eingangshalle zu sprechen. Er lauschte für ein paar Augenblicke. »Tatsächlich? Typisch.« Er wandte sich Jack zu. »Es gibt keine Videokamera am Eingang. Wir werden diesen Fall auf die altmodische Weise lösen müssen.«
»Sie haben gesagt, das Wasser sei immer noch in die Badewanne gelaufen, als die Hotelangestellte sie gefunden hat?«, fragte Liddell Walker.
»Das übergeflossene Wasser könnte eine Menge Blut weggespült haben, aber wie Sie sehen, hat das Wasser den Teppich hinter der Türschwelle des Bades durchtränkt.« Er zeigte auf einen roten Flecken auf dem Berberteppich. »Ein Gast aus dem ersten Stock hat sich bei einer Hotelangestellten beschwert - ich glaube, es ist die Managerin -, weil durch die Decke Wasser in ihr Zimmer tropfte. Sie ist dann hierhergekommen, fand die Leiche und hat das Wasser abgestellt.«
»Sehr kostenbewusst von ihr, an die Wasserrechnung zu denken «, sagte Liddell. Es trug ihm einen warnenden Blick seitens seines Partners ein.
»Meiner Ansicht nach wurde sie in dem Zimmer ermordet«, sagte Walker. »Die Tagesdecke des Bettes ist blutverschmiert, wie der ganze Raum. Auch am Fuß des Bettes haben wir eine Lache entdeckt. An der Wand in der Nähe der Tür findet sich Blut, das aus einer Arterie gespritzt seien muss.«
Er griff mit einer behandschuhten Hand in das Wasser und drehte den Kopf des Opfers leicht zur Seite. Blut strömte aus einer Wunde am Hals der Toten, ungefähr sechs Zentimeter unter ihrem rechten Ohr.
»Geben Sie Bescheid, sobald Sie irgendwas wissen«, sagte Jack.
»Ach übrigens, Caskins ist hier, aber sie ist nach unten gegangen, kurz bevor Sie kamen.« Lilly Caskins war Coroner, verantwortliche richterliche Beamtin für die Untersuchung der Todesursache in Fällen eines gewaltsamen oder unnatürlichen Todes. Sie war eine kleine übellaunige Frau mit einer Hornbrille mit extradicken dunklen Gläsern, wie sie schon seit Al Capones Zeiten aus der Mode war.
Jack respektierte ihre Arbeit größtenteils, aber sie hatte die ärgerliche Angewohnheit, sich an Tatorten mit Mordopfern sehr unverblümt auszudrücken. Er fand es erstaunlich, dass diese Frau absolut kein Mitgefühl mit den Verstorbenen empfand. Und keine Liebe für die Lebenden.
Er hörte ein Geräusch, und als er sich umdrehte, sah er Detective Larry Jansen in der Zimmertür stehen. Jansen war ein kleiner, untersetzter Mann, der Jack mit seinem zerknitterten, schmutzigen Trenchcoat, den abgestoßenen schwarzen Schuhen und dem ungekämmten, fettigen Haar an einen stümperhaften Privatdetektiv aus einer Fernsehserie denken ließ. Er befragte den Polizisten, der darüber Buch führte, wer am Tatort gewesen war. Er machte sich ein paar Notizen, bemerkte dann Jack und trat zu ihm.
»Sieh mal an, wen haben wir denn da?«
Jansen hatte gerade seine Arbeit wieder aufgenommen, nachdem er einen Monat ohne Gehaltsfortzahlung vom Dienst suspendiert gewesen war, weil er gegen Vorschriften verstoßen hatte. Ein Detective mit weniger guten Beziehungen wäre auf der Stelle gefeuert worden, aber Jansen wusste, wer alles eine Leiche im Keller hatte. An ihm schien alles abzugleiten, und fast alle waren erstaunt gewesen, dass er überhaupt vom Dienst suspendiert worden war.
»Wollen Sie den Fall übernehmen, Jansen?«, fragte Walker scherzhaft.
»Ja, wird gemacht. Ich war gerade in der Gegend.«
Doch dies war kein Fall, den man einem Detective wie Jansen anvertrauen konnte, denn der würde zweifellos schnell aufgeben und ihn zu den Akten legen. Tatsächlich konnte man ihm eigentlich gar keinen Fall anvertrauen.
»Zu spät, Larry«, sagte Jack. »Der Captain hat ihn gerade uns übertragen.« Was eine Lüge war.
Jansen warf Jack und Liddell mit zusammengekniffenen Lippen einen aggressiven Blick zu. Dann zuckte er die Achseln und verließ das Zimmer.
Jack zog sein Mobiltelefon aus der Tasche und wählte die Nummer von Captain Chuck Franklin, dem Chef der Mordkommission. Der würde dann wahrscheinlich mit dem Polizeipräsidenten sprechen, der mit dem Bürgermeister und der mit dem, nach dessen Pfeife er im Augenblick tanzte. Diese Machenschaften waren etwas Wunderbares. Niemand wollte mit heruntergelassenen Hosen erwischt werden, wenn die Medien von dieser Geschichte Wind bekamen.
Jansen stand mit seinem Handy vor dem Hotel und wählte ebenfalls eine Nummer. Seine Gedanken galten nicht dem Captain oder dem Polizeipräsidenten. Ich werde mir Murphy und seinen Cajun-Partner vorknöpfen, dachte er.
4
Blake James hatte seinen morgendlichen Dauerlauf am Fluss beendet und stand jetzt vor der Marmorsäule des Four Freedoms Monument, um Dehnübungen zu machen. Er wäre gern mehr als nur vier Meilen gelaufen, musste aber zur Arbeit, und er war noch nicht einen Tag zu spät gekommen, seit er vor drei Jahren Nachrichtenmoderator beim Fernsehsender Channel Six geworden war. Mit seinen sechsundzwanzig Jahren war er der jüngste Anchorman in der Geschichte des Senders. Das Laufen war mittlerweile für ihn zu einer Ersatzreligion geworden, und er war so gut in Form wie nie zuvor. Seine Muskeln schmerzten von der Anstrengung, die er ihnen gerade zugemutet hatte, aber es kümmert ihn nicht. Als sein Mobiltelefon piepte, war er nicht überrascht. Er war vierundzwanzig Stunden am Tag erreichbar. Wahrscheinlich war es der Sender.
Er blickte auf das Display und stöhnte laut. Zwei Icons - ablehnen und antworten. Nach kurzem Zögern drückte er auf antworten. »Hallo, Detective Jansen. Was kann ich so früh am Morgen für Sie tun?«
»Fragen Sie nicht, was Sie für Larry Jansen tun können, sondern fragen Sie, was Larry Jansen für Sie tun kann«, sagte der Detective kichernd. Seine Worte waren die Abwandlung eines berühmten Zitats des großen verstorbenen Präsidenten John Fitzgerald Kennedy. Es war ein Spiel, das er und Blake James spielten. James war so etwas wie ein wandelndes Lexikon.
»Freitag, 20. Januar 1961, die Amtseinführungsrede von John F. Kennedy«, sagte James. »Sein Vorgänger, Präsident Eisenhower, war anwesend bei der Zeremonie. Kennedy hatte zuvor die Holy Trinity Church besucht und war dann mit Eisenhower zum Kongress gefahren. In der Nacht zuvor hatte es geschneit, und man dachte daran, die Rede abzusagen. Der Wahlausgang war knapp gewesen, aber der Senator aus Massachusetts hatte Richard Nixon besiegt, den vormaligen Vizepräsidenten, und konnte es jetzt nicht abwarten, Unterstützung für seine politischen Positionen zu gewinnen. Earl Warren, der Präsident des obersten Bundesgerichts, nahm ihm den Amtseid ab, und Robert Frost rezitierte ein Gedicht.« James zögerte und fragte dann: »Wissen Sie, wie dieses Gedicht hieß?«
Wie immer reagierte Jansen übellaunig und gereizt. »Nein, keine Ahnung, was für ein Gedicht das war. Aber ich habe einen heißen Tipp für Sie. Sind Sie neugierig?«
»Das Gedicht war ›The Gift Outright‹, Larry. Das Poem, das er eigentlich speziell für die Amtseinführung geschrieben hatte, hieß ›Dedication‹. Niemand weiß, warum er stattdessen das kürzere Gedicht rezitiert hat. Beide Gedichte handeln von Macht, Kontrolle und der Ausbeutung der Unterschicht.« Blake trug das alles vor, als wäre er persönlich bei der Zeremonie dabei gewesen.
»Okay, James, ich bin ein elender Ignorant! Wollten Sie das hören? Nun, Sie können mich mal. Es wird sich schon noch jemand für den Tipp interessieren.«
Blake James lachte, und es war ein ansteckendes Lachen. Jansen konnte ihm so wenig böse sein wie James sich selbst. Es war kein Wunder, dass jemand mit einer Persönlichkeit wie er der populärste Anchorman in der Mediengeschichte von Evansville war. Auch Jansen musste lachen.
»Und, bleiben wir Freunde, Larry?«
»Ja, ich denke schon.«
»Dann ist ja alles in Ordnung«, sagte James, der schon wieder lachte.
»Ich habe da einen Mordfall für Sie«, verkündete Jansen.
»Tatsächlich? Leiten Sie die Ermittlungen?« Jansen antwortete nicht sofort.
»Nein, ich bin nicht der Ermittlungsleiter «, antwortete er dann. »Warum sollte das wichtig sein?«
»Dann also Murphy?«
Diesmal dauerte das Schweigen am anderen Ende sehr viel länger. James konnte sich gut vorstellen, dass Jansen vor Wut kochte. Es war kein Geheimnis, dass er Murphy hasste. Und es war ebenfalls kein Geheimnis, dass Jansen ein inkompetenter Detective war und mühelos alles vermasseln konnte, wenn man ihm einen Fall anvertraute.
»Okay, Sie haben recht, es spielt keine Rolle, Larry. Schießen Sie los. Und lassen Sie nichts aus.«
James war jetzt ganz der professionelle Journalist. Er ließ Jansen die komplette Story wiederholen, um sich zu vergewissern, dass er nichts ausgelassen hatte, und beendete das Telefonat. Dann wählte er die Nummer der Redaktion von Channel Six. Claudine Setera, die abwechselnd mit ihm die Nachrichtensendungen moderierte, nahm beim ersten Klingeln ab.
Larry Jansen blickte auf die Visitenkarte, die jetzt seit fast einer Woche in seiner Brieftasche steckte. Er fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, Claudine Setera statt Blake James anzurufen. Doch dann dachte er an seine Frau, und für einen Augenblick hatte er Gewissensbisse.
Er erinnerte sich an die Zeit, als seine Frau noch jung und begehrenswert gewesen war. Nicht so begehrenswert wie Claudine Setera, aber hübsch. Wirklich hübsch. Damals hatte ihn der Duft ihres Haares an Blumen erinnert, und wenn er ihre Lippen küsste, war es wie eine Droge, die ihn vor Verlangen erschaudern ließ. Aber seit sie krank war, roch sie nach getrocknetem Urin, und er wagte nicht zu atmen, wenn er ihr vor der Arbeit schnell einen Kuss auf die Wange drückte. Er fragte sich, wie es sein konnte, dass sich alles so schnell zum Schlechteren gewandelt hatte.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Übersetzung: Bernhard Liesen
Die Zweige der Kiefern und Zedern bogen sich unter dem Schnee, der dort, wo er nicht zu Matsch geschmolzen war, noch immer dreißig Zentimeter hoch lag. Der Schneesturm hatte alle überrascht, und der große, dunkelhaarige junge Mann, der im Zentrum des Dorfs aus dem Bus stieg, hörte aus allen Richtungen Generatoren brummen.
In Shawneetown, Illinois, hatte sich kaum etwas geändert. An der nächsten Straßenecke sah er immer noch Bertha's Diner, direkt gegenüber von Rambo's, einer Arbeiterkneipe, wo wegen vermeintlich beleidigender Bemerkungen und Blicke ständig Schlägereien ausbrachen. Daneben hatte sich früher ein Billigladen befunden. Er hatte durch die Schaufensterscheibe auf die Spielzeuge und Süßigkeiten gestarrt und sich gefragt, wie es sein musste, wenn man einen ganzen Dollar auf den Kopf hauen konnte.
Der Laden gehörte jetzt zu Dollar General, aber die Auslage im Schaufenster sah nicht anders aus als vor fünfzehn Jahren. Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben. Was natürlich nicht so war. Er hatte eine weite Fahrt auf sich genommen, um hierherzukommen, und er war aus einem bestimmten Grund in Shawneetown.
Da er als achtjähriger Junge nicht strafmündig war und nicht vor Gericht gestellt werden konnte, war er durch einen richterlichen Beschluss in eine psychiatrische Klinik eingewiesen worden, in der er fünfzehn Jahre verbracht hatte. Fünfzehn Jahre, in denen er lernte, was man wie sagen musste, um die Ärzte davon zu überzeugen, dass man geheilt war.
Vor der Einweisung hatte er in diesem Dorf noch etwas versteckt. An dem einzigen Ort, den er als Achtjähriger für sicher gehalten hatte. Fünfzehn Jahre hatte er von dem Tag geträumt, an dem er zurückkommen und holen würde, was rechtmäßig sein war.
Er hatte es für möglich gehalten, dass alle ihm neugierige Blicke zuwerfen und sich fragen würden, warum er wieder zu Hause sei und was er »außerhalb« getan habe. Aber das Dorf, das ihm mit acht Jahren so lebendig erschienen war, wirkte auf den Dreiundzwanzigjährigen öde und beinahe wie ausgestorben.
Es waren kaum Menschen zu sehen. Sie waren bleich und wirkten so, als würde das Leben bereits aus ihnen weichen. Er überquerte die Straße, wobei er in die Reifenspuren der Autos trat. In dem schmalen Gässchen zwischen dem Rambo's und dem Dollar-General-Laden stank es nach angebranntem Fett. Dieser Geruch hatte auch immer in den Klamotten seines Vaters gehangen, wenn er aus der Kneipe zurückkehrte, in deren Hinterzimmer er trank und spielte. Wegen seiner Leidenschaft für Blackjack und das Pokern hatte seiner Mutter oft das Geld für Lebensmittel und Kleidung gefehlt.
Hinter dem Gässchen lag eine große Wiese, dahinter der Wald. Auf der Wiese lagerte die Verkehrspolizei Streugut, doch wegen der jüngst stets vereisten Straßen war von dem riesigen Berg nichts mehr übrig.
In der Psychiatrie hatten sie ihm anlässlich seiner Entlassung neue Schuhe mit Gummisohlen, eine Hose, ein Hemd mit Button-down-Kragen und ein Tweed-Jackett gegeben, dessen Ärmel mehrere Zentimeter zu lang waren. Er besaß nur, was er am Leib trug.
Er fand die Stelle, wo sie als Kinder immer in den Wald gegangen waren. Ein paar Hundert Meter weiter südlich verliefen die Eisenbahnschienen, und eine Meile jenseits davon hatte er damals mit seiner Mutter, seinem Vater und seiner Schwester gewohnt.
In einem kleinen Haus, das es nun nicht mehr gab. Auf dem Weg nach Shawneetown war der Bus an dem Grundstück vorbeigefahren, auf dem jetzt ein paar billig gebaute Doppelhäuser standen. Er hatte auf das verschneite Land dahinter geblickt und sich an jene Nacht erinnert, als er das Haus durch die Hintertür verlassen hatte und blutüberströmt in den Wald gerannt war. Die Dornen von Brombeerbüschen hatten seine Arme und seinen nackten Oberkörper zerkratzt. Auch in dieser Nacht hatte es geschneit.
Er trat auf eine kleine Lichtung, wo ein Holzhaus stand. Das Holz war vom Alter geschwärzt, die Fensterläden waren von Vandalen abgerissen und zertrümmert worden. Als Kind hatte er immer gehört, in dem Haus würde es spuken. Tatsächlich war es so etwas wie eine historische Sehenswürdigkeit. Zurzeit des Amerikanischen Bürgerkriegs hatte hier ein bekannter General gewohnt.
Doch das war ihm egal. Er wollte nur holen, was er in dem Haus versteckt hatte, als er in jener Nacht blutüberströmt dorthin gerannt war. Das Blut war teilweise sein eigenes, zum Teil das seines Vaters gewesen. Er war benommen, aber doch noch klar genug, um zu wissen, dass er das Knochenbeil verstecken musste. Jenes Beil, mit dem er sich befreit hatte. Es durfte nicht in fremde Hände fallen. Es gehörte ihm.
Hinter der Eingangstür des Holzhauses blieb er stehen und schloss die Augen, um sich an jene Nacht zu erinnern. Unter seinen Füßen knarrte etwas. Er kniete nieder, fand die gelockerte Bodendiele und zog sie heraus. Seine Hand schloss sich um den kurzen Holzgriff des Beils mit der schweren, mittlerweile verrosteten scharfen Klinge, mit der man mühelos Knochen zertrümmern konnte.
Er hielt das Beil in der Hand. Mit acht Jahren war es ihm sehr viel größer und schwerer erschienen.
Er musste einen Ort finden, wo er bleiben konnte, zumindest für diese Nacht. Irgendwo außerhalb des Dorfs. Er würde das Beil mitnehmen und den Rost entfernen. Er hatte noch eine Menge damit vor. Der Mord an seinem Vater war erst der Anfang gewesen.
2
Fünf Jahre später, Evansville, Indiana
Jack Murphy, Detective der Mordkommission beim Evansville Police Department, war über eins achtzig groß, hatte einen kräftigen Körperbau und einen dunklen Haarschopf. Seine grauen Augen verdunkelten sich, wenn er wütend war oder bedroht wurde, doch ihr Blick wurde ganz weich, wenn er glücklich war. So wie jetzt. Er stand auf der Veranda seines Blockhauses und blickte auf den Ohio River, dessen anderes Ufer bereits zu Kentucky gehörte.
Es war Spätherbst, und die beide Ufer säumenden Bäume hatten schon die meisten ihrer Blätter verloren. Das grelle Licht der Morgensonne reflektierte sich auf dem schnell fließenden Wasser. Keine zweihundert Meter von seinem Haus entfernt gab es eine kleine sandige Landzunge, wo jüngere Bootsfahrer häufig Partys feierten. Er hatte auch schon an manchen langen Sommertagen beobachtet, wie sich dort gebräunte Schönheiten im Bikini mit Sonnenöl einrieben.
Unbewusst kratzte er an der weißlich verfärbten Narbe, die von seinem rechten Ohr über das Kinn und den Oberkörper verlief und fast bis zur linken Brustwarze reichte. Die heiße Dusche hatte einen Juckreiz ausgelöst, der kein Ende nehmen wollte.
»Noch einen Kaffee?«, hörte er Susan fragen.
Jack drehte sich um. Sie stand mit der Kaffeekanne in der Hand in der Tür und trug nichts als eines seiner weißen Oberhemden, das sie oben nicht zugeknöpft hatte. Er sah ihr Gesicht und das lange blonde Haar, und wieder mal verschlug es ihm die Sprache. Ihm wurde ganz heiß.
Als oberste Bewährungsbeamtin für das südliche Indiana hatte Susan Dinge gesehen, die manchen Mann dazu bewogen hätten, in Panik die Flucht zu ergreifen. Er hatte nie ganz begriffen, wie eine so intelligente und schöne Frau sich einen so gefährlichen Job aussuchen konnte.
»Du musst Gedanken lesen können.« Er hielt ihr seinen Kaffeebecher hin, damit sie nachschenken konnte.
»Wenn ich deine Gedanken lesen könnte, wären wir jetzt wieder im Bett, und du würdest zu spät zur Arbeit kommen, Mr. Detective«, sagte sie lächelnd.
»Nun, du hast zur Abwechslung mal einen Tag frei, und mir bleiben noch mindestens zehn Minuten, bevor ich zur Arbeit muss ...« Er vergewisserte sich mit einem Blick auf die Uhr.
»Komm nicht auf falsche Gedanken.« Sie schlang ihre Arme um seinen Hals.
Als sie sich gerade küssen wollten, begann das auf dem Geländer der Veranda liegende Funkgerät zu knistern.
»An alle verfügbaren Kräfte. One William Four verfolgt im Bereich der Southeast Four und der Main Street zu Fuß einen bewaffneten Verdächtigen.«
»Lass uns heute Abend auf das Thema zurückkommen«, sagte er noch zu Susan, bevor er zu seinem Auto rannte.
Wie immer um sieben Uhr morgens war die Innenstadt von Evansville wegen des dichten Berufsverkehrs ziemlich verstopft. Jack Murphy fuhr einen silbernen Crown Vic ohne Polizeiemblem. Er manövrierte den Wagen auf den Bordstein vor den Hochhäusern, bremste vor der Einmündung einer Seitengasse, ließ die Fenster herab und stellte den Motor ab, um zu lauschen. Die anderen Autofahrer schienen sein Verhalten nicht weiter merkwürdig zu finden und setzten ihren Weg fort.
Das Geräusch schneller Schritte kam näher. Ledersohlen auf Asphalt. Er begann zu zählen. Eins, zwei, drei ...
Er ließ gleichzeitig den Motor an und trat das Gaspedal voll durch. Der Wagen machte einen Satz nach vorn und blockierte die Einmündung der Seitengasse, als er voll auf die Bremse trat. Der rennende Mann konnte nicht rechtzeitig anhalten, stieß gegen die Seitenwand des Autos und landete auf der Motorhaube, wobei sein Gesicht an die Windschutzscheibe schlug. Jack musste an ein zerquetschtes Insekt denken.
Er sprang aus dem Auto, zog den stöhnenden Mann auf den Bürgersteig und legte ihm Handschellen an. Er musste an das Motto des Evansville Police Department denken: Immer in Kontakt mit den Menschen. So konnte man es sagen. Auf seine Weise hatte er sich gerade daran gehalten.
Zwei uniformierte Polizisten kamen die Seitengasse hinabgerannt. Einer musste ein Neuling sein, weil er ihn nicht kannte, der andere war ein älterer Cop namens Wilson, der ein gutes Stück hinter dem Youngster her rannte und keuchend nach Luft schnappte, als er Jack erreichte und auf den zu seinen Füßen liegenden Mann blickte.
»Das ist er. Er hat gerade eine Apotheke ausgeraubt und den Inhaber mit einem Messer bedroht.«
»Er ist schnell«, sagte der jüngere Cop, der mindestens so groß war wie Jack, aber deutlich schlanker. Er hatte ein Babyface. »Aber ich hätte ihn geschnappt.«
Jack und Wilson tauschten einen Blick aus. Beide wussten, dass es diesem Typ eines Tages nach einer Verfolgungsjagd zu Fuß kotzübel werden würde und dass er es lernen musste, sich Zeit zu lassen.
»Okay, er gehört euch«, sagte Jack. »Gebt mir nur meine Handschellen wieder, bevor ihr ihn übernehmt.«
Auf dem Namensschild des jüngeren Cops stand OFFICER BLOOMBERG. Jack beobachtete, wie Bloomberg den Verdächtigen filzte und ihm seine Handschellen anlegte, nachdem er die von Jack abgenommen hatte.
»Danke, Detective Murphy«, sagte er, als er ihm die Handschellen zurückgab.
»Ich muss in die Ambulanz« jammerte der Mann.
Detective Liddell Blanchard war in jeder Umgebung eine imposante Erscheinung. Er war fast ein Zweimetermann und damit der größte Cop im Evansville Police Department. Er wog so viel wie ein »voll ausgewachsener Yeti«. Als Jack auf dem kleinen Parkplatz hinter der Polizeistation eintraf, entdeckte er Liddell, der auf dem Metallgeländer am Hinterausgang lehnte und ungeduldig auf ihn wartete.
Wegen der grellen Sonne musste Jack blinzeln. Er blickte zu dem Hünen hinüber. Seit fast sechs Jahren waren er und Liddell Partner. Liddells Spitzname bei der Polizei war »Cajun«, weil er in Louisiana aufgewachsen war und eine große Schwäche für die französische Küche der Nachfahren der ersten Siedler hatte. Jack nannte ihn aus naheliegenden Gründen »Bigfoot«. So hieß das amerikanische Gegenstück des Yeti.
»Du bist spät dran, Kollege«, sagte Liddell. »Sergeant Mattingly wird dich zur Sau machen.«
Jack schlenderte zur Tür. »Dich auch.« Sergeant Mattingly war ein kleiner, korpulenter Mann mit einem launischen Temperament.
»Was nichts daran ändert, dass du derjenige bist, der zu spät kommt.«
»Ich habe unterwegs jemanden über den Haufen gefahren.«
»Ja, ich hab's gehört. Und ich habe auch gehört, dass der Typ damit droht, dich zu verklagen. Es war auch von unserer Abteilung für Interne Angelegenheiten die Rede. Vielleicht kriegst du ein Disziplinarverfahren.«
»Vielleicht soll ich auch nur einen Privatparkplatz bekommen. «
»Komm jetzt, wir müssen uns beeilen.«
»Kann ich noch mal kurz aufs Klo gehen?«
»Na klar. Du wirst schon sehen, was du davon hast, wenn du Mattingly über den Weg läufst.«
Jack murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, und sie gingen zum Auto.
3
Der Anruf, durch den der Mord gemeldet wurde, kam aus dem Hotel Marriott am Highway in der Nähe des Flughafens. Der Anrufer hatte die Polizei um äußerste Diskretion gebeten und hinzugefügt: »Im Marriott passiert so was einfach nicht.«
Dem Einsatzleiter passte der Tonfall des Anrufers nicht, und deshalb schickte er vier Streifenwagen, Detectives, die Spurensicherung, Rechtsmediziner sowie Feuerwehr- und Krankenwagen. Als Jack und Liddell eintrafen, war der Eingang des Hotels durch all die Fahrzeuge komplett blockiert. Darunter befand sich auch der schwarze Suburban des Coroners. Es war erstaunlich, dass noch keine Fernsehreporter vor Ort waren.
Jack und Liddell nickten dem uniformierten Cop am Eingang zu und gingen an der Rezeption vorbei, wo eine verstört wirkende Frau mit einem älteren Polizisten sprach.
Sie fuhren mit dem Aufzug in den zweiten Stock. Das Zimmer befand sich fast am Ende des Korridors. In der Nähe der Tür lagen fünf offene schwarze Kunststoffkoffer auf dem Boden, in denen sich Kameras und andere Geräte der Spurensicherung befanden.
Liddell zeigte auf die Kameras. »Marcie will, dass ich einen neuen Fotoapparat kaufe.«
»Gefällt ihr deine hochmoderne Polaroidkamera nicht mehr?«
Tony Walker, der Chef der Spurensicherung, trat aus dem Hotelzimmer und bedeutete Jack und Liddell, sie sollten hereinkommen. »Bleiben Sie an meiner Seite«, sagte er.
Sergeant Tony Walker war fünfzig, wirkte aber, wenn man von seinem grauen Haar absah, eher wie fünfunddreißig. Sie folgten Walker in das Zimmer und blieben direkt vor der offenen Badezimmertür stehen. Jack sah zwei Männer in Schutzanzügen mit Kapuze. Einer schoss Digitalfotos, der andere fertigte eine Bleistiftzeichnung an, die kein Computer so hinbekommen hätte.
»Was haben Ihre Jungs bis jetzt herausbekommen?«, fragte Jack. Die Rücken der beiden Männer blockierten größtenteils den Blick auf die Badewanne, doch er sah einen schlanken Arm über deren Rand hängen. Einen Arm ohne Hand.
Walker zuckte die Achseln. »Sie ist in einem ziemlich üblen Zustand.« Er tippte einem seiner Männer auf die Schulter. »Lasst uns mal einen Augenblick allein, Jungs.«
Rötliches Wasser sickerte über den Rand der Badewanne und lief an ihrer Seite herab, dann über den gefliesten Fußboden. In der Wanne lag die Leiche einer rothaarigen Frau. Nur der obere Teil ihres Kopfes und der rechte Arm schauten aus dem Wasser hervor. Ihr rechter Arm hing über dem Rand der Wanne. Die Haut an ihrem Handgelenk war blutverschmiert. Auf dem Wannenrand hatte sich neben dem Arm ein bisschen Blut gesammelt, doch Jack vermutete, dass der größte Teil davon mit dem Wasser auf den Fußboden gespült worden war.
Da ihr das rote Haar nicht ins Gesicht hing, sah Jack, dass dieses übel zugerichtet worden war. Er hoffte, dass in dem Hotelzimmer irgendein Ausweis oder ein Führerschein gefunden werden würde, denn sonst würde es extrem schwierig werden, diese Frau zu identifizieren.
»Der Mörder hat ihr die Zähne herausgeschlagen«, bemerkte Walker.
»Was ist mit der anderen Hand?«, fragte Jack.
»Keine Ahnung. Wir werden es erst wissen, wenn wir sie bewegt haben.«
Jack schaute sich die Kopfwunden des Opfers genauer an. Das rote Haar klebte blutverschmiert am Schädel. Tiefe Schnittwunden in der Kopfhaut. Vielleicht hat sie sich gewehrt und wurde mit etwas auf den Kopf geschlagen, dachte er, aber sie ist nicht in diesem Bad ermordet worden.
Die Leiche war etwas zur gegenüberliegenden Wand gedreht, aber man konnte erkennen, dass von ihrem Gesicht nichts übrig war. Der Mörder hatte ihr sogar die Nase und die Lippen abgeschnitten. Es sah so aus, als hätte er mit einem scharfen Gegenstand von oben zugeschlagen. Was einst ein Gesicht gewesen war, war jetzt nur noch eine blutige Maske. Auch die Augäpfel waren verschwunden, man sah nur noch blutige leere Augenhöhlen.
»Ist es okay, wenn ich ein bisschen näher rangehe?«, fragte Jack.
Walker nickte. Jack trat näher und bemerkte, dass er nasse Füße bekam. Er beugte sich über den Kopf des Opfers und trat schnell wieder den Rückzug an.
»Haben Sie eine Waffe gefunden?«, fragte er.
Walker drehte sich um und sprach mit einem seiner Männer, der ihm eine mit einem roten Band verschlossene Kunststofftüte reichte. Darin befand sich ein blutverschmierter Teelöffel mit einem langen Griff.
»Der lag auf dem Rand des Waschbeckens«, sagte Walker.
»Kann man jemandem mit einem Löffel die Augen herausoperieren? «, fragte Liddell.
Walker zuckte die Achseln. »Ich würde das für ziemlich schwierig halten. Man müsste unglaubliche Kraft haben, um mit einem Teelöffel die Augenmuskeln zu durchtrennen.«
»Hat schon jemand überprüft, ob es in dem Hotel Videoüberwachung gibt?«, fragte Jack.
Liddell und Walker blickten sich an und schüttelten die Köpfe.
Liddell rief an der Rezeption an, um mit dem uniformierten Sergeant in der Eingangshalle zu sprechen. Er lauschte für ein paar Augenblicke. »Tatsächlich? Typisch.« Er wandte sich Jack zu. »Es gibt keine Videokamera am Eingang. Wir werden diesen Fall auf die altmodische Weise lösen müssen.«
»Sie haben gesagt, das Wasser sei immer noch in die Badewanne gelaufen, als die Hotelangestellte sie gefunden hat?«, fragte Liddell Walker.
»Das übergeflossene Wasser könnte eine Menge Blut weggespült haben, aber wie Sie sehen, hat das Wasser den Teppich hinter der Türschwelle des Bades durchtränkt.« Er zeigte auf einen roten Flecken auf dem Berberteppich. »Ein Gast aus dem ersten Stock hat sich bei einer Hotelangestellten beschwert - ich glaube, es ist die Managerin -, weil durch die Decke Wasser in ihr Zimmer tropfte. Sie ist dann hierhergekommen, fand die Leiche und hat das Wasser abgestellt.«
»Sehr kostenbewusst von ihr, an die Wasserrechnung zu denken «, sagte Liddell. Es trug ihm einen warnenden Blick seitens seines Partners ein.
»Meiner Ansicht nach wurde sie in dem Zimmer ermordet«, sagte Walker. »Die Tagesdecke des Bettes ist blutverschmiert, wie der ganze Raum. Auch am Fuß des Bettes haben wir eine Lache entdeckt. An der Wand in der Nähe der Tür findet sich Blut, das aus einer Arterie gespritzt seien muss.«
Er griff mit einer behandschuhten Hand in das Wasser und drehte den Kopf des Opfers leicht zur Seite. Blut strömte aus einer Wunde am Hals der Toten, ungefähr sechs Zentimeter unter ihrem rechten Ohr.
»Geben Sie Bescheid, sobald Sie irgendwas wissen«, sagte Jack.
»Ach übrigens, Caskins ist hier, aber sie ist nach unten gegangen, kurz bevor Sie kamen.« Lilly Caskins war Coroner, verantwortliche richterliche Beamtin für die Untersuchung der Todesursache in Fällen eines gewaltsamen oder unnatürlichen Todes. Sie war eine kleine übellaunige Frau mit einer Hornbrille mit extradicken dunklen Gläsern, wie sie schon seit Al Capones Zeiten aus der Mode war.
Jack respektierte ihre Arbeit größtenteils, aber sie hatte die ärgerliche Angewohnheit, sich an Tatorten mit Mordopfern sehr unverblümt auszudrücken. Er fand es erstaunlich, dass diese Frau absolut kein Mitgefühl mit den Verstorbenen empfand. Und keine Liebe für die Lebenden.
Er hörte ein Geräusch, und als er sich umdrehte, sah er Detective Larry Jansen in der Zimmertür stehen. Jansen war ein kleiner, untersetzter Mann, der Jack mit seinem zerknitterten, schmutzigen Trenchcoat, den abgestoßenen schwarzen Schuhen und dem ungekämmten, fettigen Haar an einen stümperhaften Privatdetektiv aus einer Fernsehserie denken ließ. Er befragte den Polizisten, der darüber Buch führte, wer am Tatort gewesen war. Er machte sich ein paar Notizen, bemerkte dann Jack und trat zu ihm.
»Sieh mal an, wen haben wir denn da?«
Jansen hatte gerade seine Arbeit wieder aufgenommen, nachdem er einen Monat ohne Gehaltsfortzahlung vom Dienst suspendiert gewesen war, weil er gegen Vorschriften verstoßen hatte. Ein Detective mit weniger guten Beziehungen wäre auf der Stelle gefeuert worden, aber Jansen wusste, wer alles eine Leiche im Keller hatte. An ihm schien alles abzugleiten, und fast alle waren erstaunt gewesen, dass er überhaupt vom Dienst suspendiert worden war.
»Wollen Sie den Fall übernehmen, Jansen?«, fragte Walker scherzhaft.
»Ja, wird gemacht. Ich war gerade in der Gegend.«
Doch dies war kein Fall, den man einem Detective wie Jansen anvertrauen konnte, denn der würde zweifellos schnell aufgeben und ihn zu den Akten legen. Tatsächlich konnte man ihm eigentlich gar keinen Fall anvertrauen.
»Zu spät, Larry«, sagte Jack. »Der Captain hat ihn gerade uns übertragen.« Was eine Lüge war.
Jansen warf Jack und Liddell mit zusammengekniffenen Lippen einen aggressiven Blick zu. Dann zuckte er die Achseln und verließ das Zimmer.
Jack zog sein Mobiltelefon aus der Tasche und wählte die Nummer von Captain Chuck Franklin, dem Chef der Mordkommission. Der würde dann wahrscheinlich mit dem Polizeipräsidenten sprechen, der mit dem Bürgermeister und der mit dem, nach dessen Pfeife er im Augenblick tanzte. Diese Machenschaften waren etwas Wunderbares. Niemand wollte mit heruntergelassenen Hosen erwischt werden, wenn die Medien von dieser Geschichte Wind bekamen.
Jansen stand mit seinem Handy vor dem Hotel und wählte ebenfalls eine Nummer. Seine Gedanken galten nicht dem Captain oder dem Polizeipräsidenten. Ich werde mir Murphy und seinen Cajun-Partner vorknöpfen, dachte er.
4
Blake James hatte seinen morgendlichen Dauerlauf am Fluss beendet und stand jetzt vor der Marmorsäule des Four Freedoms Monument, um Dehnübungen zu machen. Er wäre gern mehr als nur vier Meilen gelaufen, musste aber zur Arbeit, und er war noch nicht einen Tag zu spät gekommen, seit er vor drei Jahren Nachrichtenmoderator beim Fernsehsender Channel Six geworden war. Mit seinen sechsundzwanzig Jahren war er der jüngste Anchorman in der Geschichte des Senders. Das Laufen war mittlerweile für ihn zu einer Ersatzreligion geworden, und er war so gut in Form wie nie zuvor. Seine Muskeln schmerzten von der Anstrengung, die er ihnen gerade zugemutet hatte, aber es kümmert ihn nicht. Als sein Mobiltelefon piepte, war er nicht überrascht. Er war vierundzwanzig Stunden am Tag erreichbar. Wahrscheinlich war es der Sender.
Er blickte auf das Display und stöhnte laut. Zwei Icons - ablehnen und antworten. Nach kurzem Zögern drückte er auf antworten. »Hallo, Detective Jansen. Was kann ich so früh am Morgen für Sie tun?«
»Fragen Sie nicht, was Sie für Larry Jansen tun können, sondern fragen Sie, was Larry Jansen für Sie tun kann«, sagte der Detective kichernd. Seine Worte waren die Abwandlung eines berühmten Zitats des großen verstorbenen Präsidenten John Fitzgerald Kennedy. Es war ein Spiel, das er und Blake James spielten. James war so etwas wie ein wandelndes Lexikon.
»Freitag, 20. Januar 1961, die Amtseinführungsrede von John F. Kennedy«, sagte James. »Sein Vorgänger, Präsident Eisenhower, war anwesend bei der Zeremonie. Kennedy hatte zuvor die Holy Trinity Church besucht und war dann mit Eisenhower zum Kongress gefahren. In der Nacht zuvor hatte es geschneit, und man dachte daran, die Rede abzusagen. Der Wahlausgang war knapp gewesen, aber der Senator aus Massachusetts hatte Richard Nixon besiegt, den vormaligen Vizepräsidenten, und konnte es jetzt nicht abwarten, Unterstützung für seine politischen Positionen zu gewinnen. Earl Warren, der Präsident des obersten Bundesgerichts, nahm ihm den Amtseid ab, und Robert Frost rezitierte ein Gedicht.« James zögerte und fragte dann: »Wissen Sie, wie dieses Gedicht hieß?«
Wie immer reagierte Jansen übellaunig und gereizt. »Nein, keine Ahnung, was für ein Gedicht das war. Aber ich habe einen heißen Tipp für Sie. Sind Sie neugierig?«
»Das Gedicht war ›The Gift Outright‹, Larry. Das Poem, das er eigentlich speziell für die Amtseinführung geschrieben hatte, hieß ›Dedication‹. Niemand weiß, warum er stattdessen das kürzere Gedicht rezitiert hat. Beide Gedichte handeln von Macht, Kontrolle und der Ausbeutung der Unterschicht.« Blake trug das alles vor, als wäre er persönlich bei der Zeremonie dabei gewesen.
»Okay, James, ich bin ein elender Ignorant! Wollten Sie das hören? Nun, Sie können mich mal. Es wird sich schon noch jemand für den Tipp interessieren.«
Blake James lachte, und es war ein ansteckendes Lachen. Jansen konnte ihm so wenig böse sein wie James sich selbst. Es war kein Wunder, dass jemand mit einer Persönlichkeit wie er der populärste Anchorman in der Mediengeschichte von Evansville war. Auch Jansen musste lachen.
»Und, bleiben wir Freunde, Larry?«
»Ja, ich denke schon.«
»Dann ist ja alles in Ordnung«, sagte James, der schon wieder lachte.
»Ich habe da einen Mordfall für Sie«, verkündete Jansen.
»Tatsächlich? Leiten Sie die Ermittlungen?« Jansen antwortete nicht sofort.
»Nein, ich bin nicht der Ermittlungsleiter «, antwortete er dann. »Warum sollte das wichtig sein?«
»Dann also Murphy?«
Diesmal dauerte das Schweigen am anderen Ende sehr viel länger. James konnte sich gut vorstellen, dass Jansen vor Wut kochte. Es war kein Geheimnis, dass er Murphy hasste. Und es war ebenfalls kein Geheimnis, dass Jansen ein inkompetenter Detective war und mühelos alles vermasseln konnte, wenn man ihm einen Fall anvertraute.
»Okay, Sie haben recht, es spielt keine Rolle, Larry. Schießen Sie los. Und lassen Sie nichts aus.«
James war jetzt ganz der professionelle Journalist. Er ließ Jansen die komplette Story wiederholen, um sich zu vergewissern, dass er nichts ausgelassen hatte, und beendete das Telefonat. Dann wählte er die Nummer der Redaktion von Channel Six. Claudine Setera, die abwechselnd mit ihm die Nachrichtensendungen moderierte, nahm beim ersten Klingeln ab.
Larry Jansen blickte auf die Visitenkarte, die jetzt seit fast einer Woche in seiner Brieftasche steckte. Er fragte sich, ob es nicht besser gewesen wäre, Claudine Setera statt Blake James anzurufen. Doch dann dachte er an seine Frau, und für einen Augenblick hatte er Gewissensbisse.
Er erinnerte sich an die Zeit, als seine Frau noch jung und begehrenswert gewesen war. Nicht so begehrenswert wie Claudine Setera, aber hübsch. Wirklich hübsch. Damals hatte ihn der Duft ihres Haares an Blumen erinnert, und wenn er ihre Lippen küsste, war es wie eine Droge, die ihn vor Verlangen erschaudern ließ. Aber seit sie krank war, roch sie nach getrocknetem Urin, und er wagte nicht zu atmen, wenn er ihr vor der Arbeit schnell einen Kuss auf die Wange drückte. Er fragte sich, wie es sein konnte, dass sich alles so schnell zum Schlechteren gewandelt hatte.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Übersetzung: Bernhard Liesen
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Bibliographische Angaben
- Autor: Rick Reed
- 2013, 1, 368 Seiten, Masse: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863658418
- ISBN-13: 9783863658410
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