Legenden der Traumzeit
Roman
Australien 1849: Ruby und ihr Mann James züchten Schafe. Als das Goldfieber ausbricht, sucht James in den Minen sein Glück. Ruby bleibt allein zurück. Da bietet ihr der junge Finn Hilfe an. Damit bahnt sich eine Katastrophe an.
- Kreditkarte, Paypal, Rechnungskauf
- 30 Tage Widerrufsrecht
Produktdetails
Produktinformationen zu „Legenden der Traumzeit “
Australien 1849: Ruby und ihr Mann James züchten Schafe. Als das Goldfieber ausbricht, sucht James in den Minen sein Glück. Ruby bleibt allein zurück. Da bietet ihr der junge Finn Hilfe an. Damit bahnt sich eine Katastrophe an.
Klappentext zu „Legenden der Traumzeit “
Begeistert schaute Ruby auf die ausgedehnten Weiden, die wogenden Hügel, mäandernden Bäche und die schattenspendenden Bäume. Im Gras spielte der Wind. Der Himmel war strahlend blau, die Sonne vergoldete die Wipfel. "Ein Garten Eden", hauchte sie. Noch ahnt Ruby nicht, dass in ihrem australischen Paradies Gefahren lauern. Das Goldfieber verführt ihren Mann James, der die junge Frau ganz allein auf ihrer Schaffarm zurücklässt. Nur weil Finn, ihre Jugendliebe, sie im Kampf
gegen die Naturgewalten unterstützt, meistert sie ihr entbehrungsreiches Leben. Aber dann kehrt James zurück und beschwört aus Eifersucht eine Katastrophe herauf ...
Lese-Probe zu „Legenden der Traumzeit “
Legenden der Traumzeit von Tamara McKinleyPROLOG
Tiefe Verbundenheit
Moonrakers Farm, New South Wales, 1835
... mehr
Nell Penhalligan erwiderte den Blick ihrer Enkelin und mühte sich vergeblich um eine finstere Miene. Ruby
war ein entzückendes Kind mit einem passenden Namen, denn sie hatte rotes Haar und ein aufbrausendes Temperament. Sie war so wissbegierig und herrisch, wie ihre Mutter Amy mit fünf Jahren gewesen war, und es fiel Nell schwer, angesichts Rubys entschlossenen forschenden Blicks nicht zu lächeln. »So zu starren ist unhöflich«, sagte sie milde.
»Du bist heute sehr alt geworden, Grandma, nicht wahr?« Sie legte den Kopf schief, und die blauen Augen musterten sie eindringlich.
Nell streckte den üppigen Busen vor. »Ich bin siebzig geworden«, sagte sie stolz.
»Das ist noch gar nichts«, schaltete Alice Quince sich ein. »Ich bin schon vierundsiebzig.«
Nell betrachtete die kleine Frau an ihrer Seite. »Ja, aber ich bin gesünder«, entgegnete sie. »Und ich arbeite noch von morgens bis abends.«
»Phh!« Alice schob einige verirrte weiße Haarsträhnen unter ihre Haube zurück. »Das bisschen Waschen und Bügeln ist doch keine Arbeit«, sagte sie herablassend. »Ich helfe noch immer bei der Schafschur mit.«
»Stehst im Weg rum, besser gesagt«, murmelte Nell.
Das Kind hörte neugierig zu. »Warum streitest du dich mit Tante Alice, Grandma?«
»Weil sie die meiste Zeit Unsinn redet«, schnaubte Nell und zog sich den dünnen Schal fester um die runden Schultern. Trotz der brennenden Sonne war ihr kalt. Sie hätte ihr dickeres Tuch mitnehmen sollen, doch sie würde nicht darum bitten - dann würde Alice garantiert spötteln, dass sie auch gar nichts aushalte.
»Und du nicht?«, höhnte Alice. »Du stopfst den Kopf des Kindes mit lauter Quatsch voll - Sachen, die es unmöglich begreifen kann.«
Nell blinzelte Ruby zu, die sie anstrahlte. »Ruby und ich verstehen uns blendend«, erklärte sie. »Besser, sie erfährt die Geschichten von mir als eine entstellte Version von Fremden.«
»Ich glaube kaum, dass es angebracht ist, ihr etwas über deine Zeit als Strafgefangene zu erzählen«, murmelte Alice vor sich hin, während sie die knochigen Schultern als Zeichen ihrer Missbilligung straffte. »Vor allem, wenn man bedenkt, warum du verschifft wurdest.« Ihr funkelnder Blick sprach Bände.
Nells Leben als Londoner Hure hatte mit ihrer Ankunft in Australien geendet. »Du weißt genau, dass ich ihr so was nicht erzähle«, fuhr sie Alice an.
Ruby kletterte auf Nells breiten Schoß und schmiegte sich an sie. »Mir gefallen Grandmas Geschichten.« Sie schaute zu Nell auf. »Erzähl mir, wie Tante Alice beinahe von einem Dingo gefressen wurde und wie du ihn totgeschossen hast! Das ist gruselig.«
Alice klappte ihren Fächer auf. »Ich erzähle die Geschichte viel besser als du«, brummte sie. »Schließlich hat der Dingo mich verfolgt.«
ja, aber du würdest heute nicht hier stehen, wenn ich nicht so eine gute Schützin wäre«, gab Nell zurück. »Wird es nicht Zeit für dein Nachmittagsschläfchen?«
Alice verengte die braunen Augen zu Schlitzen. »Nicht alle schnarchen sich durch den halben Tag«, konterte sie und erhob sich mühsam mit raschelnden Röcken, die im Sonnenlicht blauschwarz glänzten. »Ich bleibe nicht hier sitzen, während du dir das Ganze zurechtspinnst. Deine Tochter Sarah braucht Hilfe, sie teilt Tee aus.«
Nell sah ihrer Freundin nach, wie sie über die Lichtung humpelte und vorsichtig die Treppe vor dem Haus überwand. Sie wurden beide gebrechlich; obwohl keine von ihnen auch nur im Traum daran dachte, es zuzugeben. Ja, trotz ihres ständigen Gezänks hatte ihr Witwenstand sie im Laufe der Jahre einander nähergebracht, und inzwischen waren sie wie Schwestern. Das Kind auf ihrem Schoß bewegte sich, und sie zuckte zusammen. Ihre Gelenke schmerzten, selbst unter Rubys Fliegengewicht beklagten sie sich. »Gib mir einen Kuss zum Geburtstag, Ruby, und dann geh und hilf deiner Mum!«
»Aber ich will eine Geschichte hören«, schmollte sie. »Später«, versprach Nell.
»Ich hab dich lieb, Grandma, und Tante Alice auch. Bitte, sei nicht sauer auf sie, denn sie ist wirklich so alt! Bindi sagt, er hört, wie die Geister für sie singen.« Das Kind zog die Stirn kraus. »Aber ich höre niemanden singen, du, Grandma?«
Als Ruby ihr die Arme um den Hals schlang und ihre Wange küsste, überlief Nell ein kalter Schauer. Sie würde mit Bindi reden. Wie konnte dieser Aborigine es wagen, dem Kind mit seinem Aberglauben Angst einzujagen?
»Rugby, mein Liebes«, murmelte sie. »Den einzigen Gesang, den du heute hörst, ist der für mich, wenn ich meinen Kuchen anschneide.« Nell hielt sie fest und genoss die Vitalität des kleinen Mädchens, das sie liebte. »Und jetzt lauf!«, murmelte sie zerstreut.
Das Kind hüpfte auf bloßen Füßen durch das Gras, das rotblonde Haar glänzte, Bänder flatterten. Das Abenteuer des Lebens wartete auf Ruby, und Trauer überfiel Nell, Trauer um ihre eigene verlorene Jugend. Wo waren all die Jahre geblieben? Wie konnten sie entwischen und ihr nur traumähnliche Schnappschüsse eines Lebens hinterlassen, verbracht von einer Nell, die nur wenig Ähnlichkeit mit der alten Frau hatte, die hier saß und sich selbst bedauerte?
Nell ärgerte sich, weil sie ihren Gedanken freien Lauf gelassen hatte. Wild entschlossen, sich von Bindis Aberglauben nicht den Tag verderben zu lassen, lehnte sie sich in das Polster und beobachtete, wie die anderen im Schatten der Bäume Tische aufstellten und die Kinder der Eingeborenen mit Zuckerstangen bestachen und verscheuchten.
Bindi hockte mit den anderen Aborigines am Fluss; die Frauen der Eingeborenen schnatterten wie Kakadus und platschten im Wasser auf der Suche nach den Flusskrebsen, die sie yabbies nannten. Der kleine Junge, dem Nells Mann Billy das Leben gerettet hatte - seine letzte Heldentat -, war inzwischen ein Erwachsener mit grau durchsetztem Haar. Seufzend nahm Nell das Bild in sich auf.
Eukalyptusbäume neigten ihre hellen Stämme über ockergelbe Uferstreifen; ihre Blätter zitterten, wenn bunte Finken hin und her schossen. Der Himmel war klar, das Blau gebleicht von der Hitze, die über dem Horizont flimmerte, und in der Ferne hörte sie das Glucksen des Kookaburra und den traurigen Schrei einer Krähe. Die Szenerie war bezeichnend für das Wesen dieses uralten Landes, das Nell ihr Zuhause nannte; dieser Anblick war vertraut, aber gefährlich trügerisch, denn unter dem heiteren Äußeren verbarg sich eine Grausamkeit, die Nell und Alice zuweilen an den Rand der Verzweiflung getrieben hatte. Doch als Nell ihre Familie betrachtete, empfand sie Zufriedenheit. Das Bemühen, sich diese ursprüngliche Landschaft untertan zu machen, hatte ihrer Familie großen Segen gebracht, auch wenn das einen hohen Preis gefordert hatte.
Ihr Sohn Walter wäre seinem Vater noch ähnlicher, besäße er nicht dunkelrotes Haar. Ihr wurde schwer ums Herz, wenn sie seine geschmeidige, kräftige Figur und den silbrigen Glanz an den Schläfen sah - wie einst bei Billy. Aber trotz dieser Ähnlichkeit mit seinem Vater besaß Walter nicht dessen sorglose Lebenseinstellung; er nahm alles viel zu ernst. Und er bekam noch immer Wutanfälle, obwohl die mit zunehmender Reife seltener geworden waren. Aber wenn er erst einmal in Fahrt war, wahrte seine Familie wohlweislich Abstand. Walter war seit vier Jahren verwitwet und hielt die Zügel auf Moonrakers fest in der Hand. Offenbar war er nicht geneigt, wieder zu heiraten.
Walters vier Jungen rannten umher und standen allen im Weg. Nell lächelte, als deren kleine Kusine Rugby, die Hände in die Hüften gestemmt, mit ihnen schimpfte. Die Jungen waren unruhig wie Fohlen - nur gut, dass ihr Vater diese Energie für das Anwesen nutzbar machte und sie vor Unfug bewahrte.
Nells Blick richtete sich auf das Haus. Moonrakers hatte sich nicht groß verändert, und obwohl sie mit Alice in Jacks Hütte gezogen war, nachdem Walter geheiratet hatte, war es noch immer das Herzstück des Anwesens. Das Haus war als Schutz vor Überflutung und Termiten auf Stützpfeilern errichtet und ein paarmal erweitert worden, um Walters Familie unterzubringen. An der Vorderseite lief eine breite Veranda entlang, Fliegengitter und Fensterläden hielten die Insekten draußen, an den Pfosten und am Dach entlang rankten Rosen. Ein knorriger alter Pfefferbaum spendete zusätzlich Schatten.
Der Schurschuppen war stabil, und obwohl man einige Scheunen umgebaut und die Pferche vergrößert hatte, war ihr Zuhause im Wesentlichen unverändert geblieben. Während Nell dort saß, ein Ruhepol inmitten des Chaos, und die gegenwärtigen Vorgänge beobachtete, blickte sie zugleich in die Vergangenheit.
Die ersten Jahre, in denen sie sich abmühten, das Land zu roden, eine Unterkunft zu errichten, Getreide anzubauen und ihre Schafe zu versorgen, waren hart gewesen; doch Billy und sie sowie Alice und ihr Mann Jack hatten nie den Glauben verloren, dass sie eines Tages die beste Farm in ganz New South Wales haben würden. Sie spürte den vertrauten Schmerz, als sie sich an das Buschfeuer erinnerte, in dem Billy und Jack ihr Leben verloren hatten, und an die schreckliche Überschwemmung, der eine längere Dürreperiode gefolgt war. Alice und sie hatten all das überlebt; sie hatten ihre anfängliche Feindseligkeit zusammen mit ihren Männern zu Grabe getragen und sich auf der Suche nach Trost und Hilfe einander zugewandt.
Sie zwang sich, an glücklichere Zeiten zu denken. Ihr Blick blieb an Niall hängen, und sie lächelte. Der junge Ire hatte vor vielen Jahren ihrer ältesten Tochter Amy den Hof gemacht. Wie unbeholfen und schüchtern er damals in seiner geflickten Hose und den ausgetretenen Stiefeln doch gewesen war! Ein Jugendlicher noch, aber seine Augen hatten nach seinen Jahren als kindlicher Strafgefangener von den Erfahrungen eines misshandelten Menschen gezeugt - ganz anders als der wohlhabende Mann, der gerade mit seinem Schwager Walter sprach, während ihre Kinder um sie herumsprangen. Im Laufe der Jahre hatten Niall und Amy Freude und Leid erfahren, doch die Liebe hatte ihnen darüber hinweggeholfen, und jetzt wohnten sie in dem feinen Haus, das Niall vor kurzem hinter seiner neuen Schmiede in Parramatta gebaut hatte. Niall hatte bewiesen, dass der menschliche Geist, und sei er noch so gepeinigt, nicht zu besiegen war.
Sie betrachtete ihre Enkel, insgesamt zehn, eine beachtliche Zahl, doch damit war die Zukunft für Nialls Schmiede und Walters Moonrakers gesichert. Und die Kinder brachten wieder Leben in diesen alten Ort. Nell beobachtete Ruby, die Jüngste von Amys sechs überlebenden Kindern. Eigentlich sollte sie das Mädchen nicht bevorzugen, doch es hatte etwas an sich, bei dem Nell warm ums Herz wurde. Vielleicht lag es daran, dass die Kleine so gern die Geschichten hörte, die Nell und Alice ihr erzählten, oder daran, dass Ruby zu schätzen wusste, wenn sie beide sich Zeit für sie nahmen, wenn ihre Eltern beschäftigt waren. Wie auch immer, das Kind bereitete Nell und Alice eine Menge Freude.
»Alles in Ordnung, Mum?«
Nell schrak aus ihren Gedanken auf und blickte zu Sarah empor. »Ich zähle nur meine Nachkommen. Welch ein Segen«, antwortete sie. »Ich wünschte, ich hätte ihre Energie.«
Der Blick ihrer Tochter verschattete sich, als sie die Kinder über die Lichtung rennen sah.
Nell konnte Sarahs Bedauern nachvollziehen, denn ihre Jüngste hatte nie geheiratet. Sie sorgte für ihren verwitweten Zwillingsbruder und seine Jungen, und nun, mit zweiundvierzig, würde sie wahrscheinlich nie mehr die Freuden der Mutterschaft erleben. »Wo ist Alice?«
Sarah strich mit den Händen über die Schürze, die blauen Augen gegen die Sonne zusammengekniffen. »Sie erteilt vom Küchenstuhl aus Befehle wie ein Hauptfeldwebel«, antwortete sie kichernd. »Ich bin überrascht, dass du deinen Senf nicht auch noch dazugibst. Das machst du doch sonst auch.«
»Eigentlich sollte ich an meinem Geburtstag nicht arbeiten. Aber wenn Alice im Weg ist, schaffe ich sie raus.«
Sarah lachte. »Bleib, wo du bist, Mum! Wir brauchen keinen neuen Streit, wenn so viel zu tun ist.«
Nell machte es sich wieder in den Polstern bequem. Sie hatte eigentlich nicht die Kraft, mit Alice zu streiten, und es war angenehm, hier im Halbschatten zu sitzen. »Hol mir meinen dickeren Schal, Liebes! Der Wind ist ein bisschen frisch.«
Bald hatte Nell den flauschigen Schal um die Schultern, und sie wollte schon um eine Tasse Tee bitten, als von der anderen Seite des Flusses Rufe ertönten. Nialls Familie war zu Pferde oder mit Fuhrwerken angekommen, eine ganze Schar, begleitet von Dudelsack und Fiedeln. Sofort hob sich ihre Laune, denn die Iren hatten immer etwas zu erzählen, ein Lied auf den Lippen oder ein Instrument, mit dem sie aufspielten, und ihr gefiel, wie gern sie feierten.
Sie überquerten die Brücke über den Fluss, die in der letzten, fünf Jahre anhaltenden Trockenheit ziemlich in Mitleidenschaft gezogen worden war. Niall hatte seine Mutter oder seine Schwestern daheim nie vergessen; er hatte sie und seine Schwäger finanziell unterstützt, hatte ihnen die Überfahrt von Irland nach Australien bezahlt und ihnen Arbeit gesucht. Die meisten waren in Parramatta oder in der Umgebung der Stadt geblieben und waren regelmäßige, gern gesehene Besucher auf Moonrakers.
»Hilf mir aufstehen!«, befahl sie. »Es ist mein Fest, und ich sitze hier mutterseelenallein rum.«
Mühsam kam Nell auf die Beine. Sie brauchte eine Weile, um Atem zu schöpfen und ihre Haube zu richten. Es war eine alte, doch sie hatte die Bänder erneuert und sie mit ein paar Akazienzweigen geschmückt, die ihrem grünen Kleid schmeichelten. Sie war zwar alt, doch das war keine Entschuldigung, Maßstäbe herunterzuschrauben. Sie hatte nichts übrig für schwarze Trauerkleidung und schlichte Hauben, wie Alice sie bevorzugte, doch Alice hatte auch nie ein Auge für Abenteuer gehabt. Sie wartete, bis Sarah ihren Fächer und die gehäkelten Handschuhe aufgehoben hatte, hakte sich bei ihr unter und steuerte den Tisch an.
Übersetzung: Marion Balkenhol
Copyright © 2009 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG,
Bergisch Gladbach
Nell Penhalligan erwiderte den Blick ihrer Enkelin und mühte sich vergeblich um eine finstere Miene. Ruby
war ein entzückendes Kind mit einem passenden Namen, denn sie hatte rotes Haar und ein aufbrausendes Temperament. Sie war so wissbegierig und herrisch, wie ihre Mutter Amy mit fünf Jahren gewesen war, und es fiel Nell schwer, angesichts Rubys entschlossenen forschenden Blicks nicht zu lächeln. »So zu starren ist unhöflich«, sagte sie milde.
»Du bist heute sehr alt geworden, Grandma, nicht wahr?« Sie legte den Kopf schief, und die blauen Augen musterten sie eindringlich.
Nell streckte den üppigen Busen vor. »Ich bin siebzig geworden«, sagte sie stolz.
»Das ist noch gar nichts«, schaltete Alice Quince sich ein. »Ich bin schon vierundsiebzig.«
Nell betrachtete die kleine Frau an ihrer Seite. »Ja, aber ich bin gesünder«, entgegnete sie. »Und ich arbeite noch von morgens bis abends.«
»Phh!« Alice schob einige verirrte weiße Haarsträhnen unter ihre Haube zurück. »Das bisschen Waschen und Bügeln ist doch keine Arbeit«, sagte sie herablassend. »Ich helfe noch immer bei der Schafschur mit.«
»Stehst im Weg rum, besser gesagt«, murmelte Nell.
Das Kind hörte neugierig zu. »Warum streitest du dich mit Tante Alice, Grandma?«
»Weil sie die meiste Zeit Unsinn redet«, schnaubte Nell und zog sich den dünnen Schal fester um die runden Schultern. Trotz der brennenden Sonne war ihr kalt. Sie hätte ihr dickeres Tuch mitnehmen sollen, doch sie würde nicht darum bitten - dann würde Alice garantiert spötteln, dass sie auch gar nichts aushalte.
»Und du nicht?«, höhnte Alice. »Du stopfst den Kopf des Kindes mit lauter Quatsch voll - Sachen, die es unmöglich begreifen kann.«
Nell blinzelte Ruby zu, die sie anstrahlte. »Ruby und ich verstehen uns blendend«, erklärte sie. »Besser, sie erfährt die Geschichten von mir als eine entstellte Version von Fremden.«
»Ich glaube kaum, dass es angebracht ist, ihr etwas über deine Zeit als Strafgefangene zu erzählen«, murmelte Alice vor sich hin, während sie die knochigen Schultern als Zeichen ihrer Missbilligung straffte. »Vor allem, wenn man bedenkt, warum du verschifft wurdest.« Ihr funkelnder Blick sprach Bände.
Nells Leben als Londoner Hure hatte mit ihrer Ankunft in Australien geendet. »Du weißt genau, dass ich ihr so was nicht erzähle«, fuhr sie Alice an.
Ruby kletterte auf Nells breiten Schoß und schmiegte sich an sie. »Mir gefallen Grandmas Geschichten.« Sie schaute zu Nell auf. »Erzähl mir, wie Tante Alice beinahe von einem Dingo gefressen wurde und wie du ihn totgeschossen hast! Das ist gruselig.«
Alice klappte ihren Fächer auf. »Ich erzähle die Geschichte viel besser als du«, brummte sie. »Schließlich hat der Dingo mich verfolgt.«
ja, aber du würdest heute nicht hier stehen, wenn ich nicht so eine gute Schützin wäre«, gab Nell zurück. »Wird es nicht Zeit für dein Nachmittagsschläfchen?«
Alice verengte die braunen Augen zu Schlitzen. »Nicht alle schnarchen sich durch den halben Tag«, konterte sie und erhob sich mühsam mit raschelnden Röcken, die im Sonnenlicht blauschwarz glänzten. »Ich bleibe nicht hier sitzen, während du dir das Ganze zurechtspinnst. Deine Tochter Sarah braucht Hilfe, sie teilt Tee aus.«
Nell sah ihrer Freundin nach, wie sie über die Lichtung humpelte und vorsichtig die Treppe vor dem Haus überwand. Sie wurden beide gebrechlich; obwohl keine von ihnen auch nur im Traum daran dachte, es zuzugeben. Ja, trotz ihres ständigen Gezänks hatte ihr Witwenstand sie im Laufe der Jahre einander nähergebracht, und inzwischen waren sie wie Schwestern. Das Kind auf ihrem Schoß bewegte sich, und sie zuckte zusammen. Ihre Gelenke schmerzten, selbst unter Rubys Fliegengewicht beklagten sie sich. »Gib mir einen Kuss zum Geburtstag, Ruby, und dann geh und hilf deiner Mum!«
»Aber ich will eine Geschichte hören«, schmollte sie. »Später«, versprach Nell.
»Ich hab dich lieb, Grandma, und Tante Alice auch. Bitte, sei nicht sauer auf sie, denn sie ist wirklich so alt! Bindi sagt, er hört, wie die Geister für sie singen.« Das Kind zog die Stirn kraus. »Aber ich höre niemanden singen, du, Grandma?«
Als Ruby ihr die Arme um den Hals schlang und ihre Wange küsste, überlief Nell ein kalter Schauer. Sie würde mit Bindi reden. Wie konnte dieser Aborigine es wagen, dem Kind mit seinem Aberglauben Angst einzujagen?
»Rugby, mein Liebes«, murmelte sie. »Den einzigen Gesang, den du heute hörst, ist der für mich, wenn ich meinen Kuchen anschneide.« Nell hielt sie fest und genoss die Vitalität des kleinen Mädchens, das sie liebte. »Und jetzt lauf!«, murmelte sie zerstreut.
Das Kind hüpfte auf bloßen Füßen durch das Gras, das rotblonde Haar glänzte, Bänder flatterten. Das Abenteuer des Lebens wartete auf Ruby, und Trauer überfiel Nell, Trauer um ihre eigene verlorene Jugend. Wo waren all die Jahre geblieben? Wie konnten sie entwischen und ihr nur traumähnliche Schnappschüsse eines Lebens hinterlassen, verbracht von einer Nell, die nur wenig Ähnlichkeit mit der alten Frau hatte, die hier saß und sich selbst bedauerte?
Nell ärgerte sich, weil sie ihren Gedanken freien Lauf gelassen hatte. Wild entschlossen, sich von Bindis Aberglauben nicht den Tag verderben zu lassen, lehnte sie sich in das Polster und beobachtete, wie die anderen im Schatten der Bäume Tische aufstellten und die Kinder der Eingeborenen mit Zuckerstangen bestachen und verscheuchten.
Bindi hockte mit den anderen Aborigines am Fluss; die Frauen der Eingeborenen schnatterten wie Kakadus und platschten im Wasser auf der Suche nach den Flusskrebsen, die sie yabbies nannten. Der kleine Junge, dem Nells Mann Billy das Leben gerettet hatte - seine letzte Heldentat -, war inzwischen ein Erwachsener mit grau durchsetztem Haar. Seufzend nahm Nell das Bild in sich auf.
Eukalyptusbäume neigten ihre hellen Stämme über ockergelbe Uferstreifen; ihre Blätter zitterten, wenn bunte Finken hin und her schossen. Der Himmel war klar, das Blau gebleicht von der Hitze, die über dem Horizont flimmerte, und in der Ferne hörte sie das Glucksen des Kookaburra und den traurigen Schrei einer Krähe. Die Szenerie war bezeichnend für das Wesen dieses uralten Landes, das Nell ihr Zuhause nannte; dieser Anblick war vertraut, aber gefährlich trügerisch, denn unter dem heiteren Äußeren verbarg sich eine Grausamkeit, die Nell und Alice zuweilen an den Rand der Verzweiflung getrieben hatte. Doch als Nell ihre Familie betrachtete, empfand sie Zufriedenheit. Das Bemühen, sich diese ursprüngliche Landschaft untertan zu machen, hatte ihrer Familie großen Segen gebracht, auch wenn das einen hohen Preis gefordert hatte.
Ihr Sohn Walter wäre seinem Vater noch ähnlicher, besäße er nicht dunkelrotes Haar. Ihr wurde schwer ums Herz, wenn sie seine geschmeidige, kräftige Figur und den silbrigen Glanz an den Schläfen sah - wie einst bei Billy. Aber trotz dieser Ähnlichkeit mit seinem Vater besaß Walter nicht dessen sorglose Lebenseinstellung; er nahm alles viel zu ernst. Und er bekam noch immer Wutanfälle, obwohl die mit zunehmender Reife seltener geworden waren. Aber wenn er erst einmal in Fahrt war, wahrte seine Familie wohlweislich Abstand. Walter war seit vier Jahren verwitwet und hielt die Zügel auf Moonrakers fest in der Hand. Offenbar war er nicht geneigt, wieder zu heiraten.
Walters vier Jungen rannten umher und standen allen im Weg. Nell lächelte, als deren kleine Kusine Rugby, die Hände in die Hüften gestemmt, mit ihnen schimpfte. Die Jungen waren unruhig wie Fohlen - nur gut, dass ihr Vater diese Energie für das Anwesen nutzbar machte und sie vor Unfug bewahrte.
Nells Blick richtete sich auf das Haus. Moonrakers hatte sich nicht groß verändert, und obwohl sie mit Alice in Jacks Hütte gezogen war, nachdem Walter geheiratet hatte, war es noch immer das Herzstück des Anwesens. Das Haus war als Schutz vor Überflutung und Termiten auf Stützpfeilern errichtet und ein paarmal erweitert worden, um Walters Familie unterzubringen. An der Vorderseite lief eine breite Veranda entlang, Fliegengitter und Fensterläden hielten die Insekten draußen, an den Pfosten und am Dach entlang rankten Rosen. Ein knorriger alter Pfefferbaum spendete zusätzlich Schatten.
Der Schurschuppen war stabil, und obwohl man einige Scheunen umgebaut und die Pferche vergrößert hatte, war ihr Zuhause im Wesentlichen unverändert geblieben. Während Nell dort saß, ein Ruhepol inmitten des Chaos, und die gegenwärtigen Vorgänge beobachtete, blickte sie zugleich in die Vergangenheit.
Die ersten Jahre, in denen sie sich abmühten, das Land zu roden, eine Unterkunft zu errichten, Getreide anzubauen und ihre Schafe zu versorgen, waren hart gewesen; doch Billy und sie sowie Alice und ihr Mann Jack hatten nie den Glauben verloren, dass sie eines Tages die beste Farm in ganz New South Wales haben würden. Sie spürte den vertrauten Schmerz, als sie sich an das Buschfeuer erinnerte, in dem Billy und Jack ihr Leben verloren hatten, und an die schreckliche Überschwemmung, der eine längere Dürreperiode gefolgt war. Alice und sie hatten all das überlebt; sie hatten ihre anfängliche Feindseligkeit zusammen mit ihren Männern zu Grabe getragen und sich auf der Suche nach Trost und Hilfe einander zugewandt.
Sie zwang sich, an glücklichere Zeiten zu denken. Ihr Blick blieb an Niall hängen, und sie lächelte. Der junge Ire hatte vor vielen Jahren ihrer ältesten Tochter Amy den Hof gemacht. Wie unbeholfen und schüchtern er damals in seiner geflickten Hose und den ausgetretenen Stiefeln doch gewesen war! Ein Jugendlicher noch, aber seine Augen hatten nach seinen Jahren als kindlicher Strafgefangener von den Erfahrungen eines misshandelten Menschen gezeugt - ganz anders als der wohlhabende Mann, der gerade mit seinem Schwager Walter sprach, während ihre Kinder um sie herumsprangen. Im Laufe der Jahre hatten Niall und Amy Freude und Leid erfahren, doch die Liebe hatte ihnen darüber hinweggeholfen, und jetzt wohnten sie in dem feinen Haus, das Niall vor kurzem hinter seiner neuen Schmiede in Parramatta gebaut hatte. Niall hatte bewiesen, dass der menschliche Geist, und sei er noch so gepeinigt, nicht zu besiegen war.
Sie betrachtete ihre Enkel, insgesamt zehn, eine beachtliche Zahl, doch damit war die Zukunft für Nialls Schmiede und Walters Moonrakers gesichert. Und die Kinder brachten wieder Leben in diesen alten Ort. Nell beobachtete Ruby, die Jüngste von Amys sechs überlebenden Kindern. Eigentlich sollte sie das Mädchen nicht bevorzugen, doch es hatte etwas an sich, bei dem Nell warm ums Herz wurde. Vielleicht lag es daran, dass die Kleine so gern die Geschichten hörte, die Nell und Alice ihr erzählten, oder daran, dass Ruby zu schätzen wusste, wenn sie beide sich Zeit für sie nahmen, wenn ihre Eltern beschäftigt waren. Wie auch immer, das Kind bereitete Nell und Alice eine Menge Freude.
»Alles in Ordnung, Mum?«
Nell schrak aus ihren Gedanken auf und blickte zu Sarah empor. »Ich zähle nur meine Nachkommen. Welch ein Segen«, antwortete sie. »Ich wünschte, ich hätte ihre Energie.«
Der Blick ihrer Tochter verschattete sich, als sie die Kinder über die Lichtung rennen sah.
Nell konnte Sarahs Bedauern nachvollziehen, denn ihre Jüngste hatte nie geheiratet. Sie sorgte für ihren verwitweten Zwillingsbruder und seine Jungen, und nun, mit zweiundvierzig, würde sie wahrscheinlich nie mehr die Freuden der Mutterschaft erleben. »Wo ist Alice?«
Sarah strich mit den Händen über die Schürze, die blauen Augen gegen die Sonne zusammengekniffen. »Sie erteilt vom Küchenstuhl aus Befehle wie ein Hauptfeldwebel«, antwortete sie kichernd. »Ich bin überrascht, dass du deinen Senf nicht auch noch dazugibst. Das machst du doch sonst auch.«
»Eigentlich sollte ich an meinem Geburtstag nicht arbeiten. Aber wenn Alice im Weg ist, schaffe ich sie raus.«
Sarah lachte. »Bleib, wo du bist, Mum! Wir brauchen keinen neuen Streit, wenn so viel zu tun ist.«
Nell machte es sich wieder in den Polstern bequem. Sie hatte eigentlich nicht die Kraft, mit Alice zu streiten, und es war angenehm, hier im Halbschatten zu sitzen. »Hol mir meinen dickeren Schal, Liebes! Der Wind ist ein bisschen frisch.«
Bald hatte Nell den flauschigen Schal um die Schultern, und sie wollte schon um eine Tasse Tee bitten, als von der anderen Seite des Flusses Rufe ertönten. Nialls Familie war zu Pferde oder mit Fuhrwerken angekommen, eine ganze Schar, begleitet von Dudelsack und Fiedeln. Sofort hob sich ihre Laune, denn die Iren hatten immer etwas zu erzählen, ein Lied auf den Lippen oder ein Instrument, mit dem sie aufspielten, und ihr gefiel, wie gern sie feierten.
Sie überquerten die Brücke über den Fluss, die in der letzten, fünf Jahre anhaltenden Trockenheit ziemlich in Mitleidenschaft gezogen worden war. Niall hatte seine Mutter oder seine Schwestern daheim nie vergessen; er hatte sie und seine Schwäger finanziell unterstützt, hatte ihnen die Überfahrt von Irland nach Australien bezahlt und ihnen Arbeit gesucht. Die meisten waren in Parramatta oder in der Umgebung der Stadt geblieben und waren regelmäßige, gern gesehene Besucher auf Moonrakers.
»Hilf mir aufstehen!«, befahl sie. »Es ist mein Fest, und ich sitze hier mutterseelenallein rum.«
Mühsam kam Nell auf die Beine. Sie brauchte eine Weile, um Atem zu schöpfen und ihre Haube zu richten. Es war eine alte, doch sie hatte die Bänder erneuert und sie mit ein paar Akazienzweigen geschmückt, die ihrem grünen Kleid schmeichelten. Sie war zwar alt, doch das war keine Entschuldigung, Maßstäbe herunterzuschrauben. Sie hatte nichts übrig für schwarze Trauerkleidung und schlichte Hauben, wie Alice sie bevorzugte, doch Alice hatte auch nie ein Auge für Abenteuer gehabt. Sie wartete, bis Sarah ihren Fächer und die gehäkelten Handschuhe aufgehoben hatte, hakte sich bei ihr unter und steuerte den Tisch an.
Übersetzung: Marion Balkenhol
Copyright © 2009 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG,
Bergisch Gladbach
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Tamara McKinley
- 2011, 512 Seiten, Masse: 12,5 x 18,6 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Aus d. austral Engl. v. Marion Balkenhol
- Übersetzer: Marion Balkenhol
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404160452
- ISBN-13: 9783404160457
- Erscheinungsdatum: 22.07.2011
Kommentare zu "Legenden der Traumzeit"
0 Gebrauchte Artikel zu „Legenden der Traumzeit“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 3Schreiben Sie einen Kommentar zu "Legenden der Traumzeit".
Kommentar verfassen