Leg dich nicht mit Mutti an
Roman
Annabell hat Stress. Die verwitwete 44-jährige Journalistin hat nicht nur Trubel mit ihren drei Kindern und der Haussanierung. Es kommt noch schlimmer: Da stehen nämlich plötzlich Annabells Mutter und ihre Schwiegermutter vor der Tür. Na, großartig!
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Leg dich nicht mit Mutti an “
Annabell hat Stress. Die verwitwete 44-jährige Journalistin hat nicht nur Trubel mit ihren drei Kindern und der Haussanierung. Es kommt noch schlimmer: Da stehen nämlich plötzlich Annabells Mutter und ihre Schwiegermutter vor der Tür. Na, großartig!
Klappentext zu „Leg dich nicht mit Mutti an “
"Ich liebe dieses Haus mehr als mein Leben!", sagte ich verzweifelt. "Ich würde eher sterben, als es aufzugeben!"Der Bankdirektor betrachtete mich mitleidig. "Glauben Sie mir, manche alten Häuser stösst man besser ab, statt sich dafür Schulden aufzuhalsen.""Was heisst alt?! Es ist genauso alt wie ich!"Er blätterte den Kreditantrag durch und legte den Finger auf die Stelle mit meinem Geburtsdatum. "Äh, ja. Nun, ich fürchte, dann ist es schlimmer als ich dachte."Annabells Nerven liegen blank. Nicht, dass die anstehende Haussanierung und der Alltag als alleinerziehende Mutter dreier ebenso liebenswerter wie nervtötender Kinder schon aufreibend genug wären ... Nein, jetzt taucht plötzlich ihre chaotische Hippie-Mutter auf, um zu "helfen". Und dann droht auch noch zusätzliche familiäre Unterstützung - von Annabells äusserst resoluter Schwiegermutter ...
Lese-Probe zu „Leg dich nicht mit Mutti an “
Leg dich nicht mit Mutti an von Eva VöllerMy home is my castle
(Edward Coke, 16. Jh., englischer Jurist und Politiker)
... mehr
»Du solltest jetzt lieber das Haus verlassen«, warnte mich Leonardo di Caprio, »es könnte jeden Moment zusammenbrechen.«
Tatsächlich rieselte schon der Putz von der Decke. Von ferne war ein Rumpeln zu spüren, das ständig näher kam. Schließlich erfasste es die Mauern des Hauses und brachte es zum Wanken. Es war nur noch eine Sache von Sekunden, bis es einstürzen würde. Leonardo DiCaprio schien sich nicht daran zu stören. Für mich war jedoch alles bitterer Ernst. Um mich herum wackelte und dröhnte es, Putz fiel von den Wänden, Mauerstücke lösten sich, ganze Betonplatten barsten heraus und krachten direkt vor meinen Füßen zu Boden. Ich schmeckte den staubigen Mörtel auf der Zunge.
Es war mir peinlich, aber ich musste vor Leonardo ausspucken, der Geschmack war einfach zu eklig. Zum Glück schaute er gerade nicht hin, sondern verfolgte mit Interesse, wie meine Habseligkeiten nach und nach unter den herabstürzenden Trümmerstücken begraben wurden und das Haus sich stückweise in eine Ruine verwandelte. Mein Kleiderschrank hielt noch eine Weile stand, dann brach er auseinander und versank im Schutt. Ein paar Schuhe flogen durch die Gegend und landeten verdreckt und zerfetzt in der Ecke. Es waren die teuren italienischen Pumps, die ich mir neulich in einem Anfall von Leichtsinn gegönnt hatte.
»Hilf mir! «, flehte ich Leonardo an.
Doch er lächelte nur bedauernd und strich sich mit beiden Händen den Mörtelstaub von seinem makellosen Smoking. »Da musst du jetzt durch«, sagte er. »Nur aus dem Zusammenbruch kann Neues entstehen. Du weißt schon, wie Phönix aus der Asche und so.«
Während ich noch überlegte, was er mir damit sagen wollte, knallte ein riesiges Trümmerstück aus der Decke auf meinen Kopf.
Vor meinem geistigen Auge blinkte eine Schlagzeile auf.
Frau im Schlaf von einstürzendem Dach erschlagen - sie ahnte nichts Böses und war sofort tot.
*
Ruckartig fuhr ich hoch, ich musste ein paar Mal heftig Luft holen, bis ich die Benommenheit abgeschüttelt hatte.
Es hatte sich so echt angefühlt! Das war leider der Fehler an den wirklich guten Filmen. Sie beeindruckten einen so sehr, dass sie einen bis in die Träume verfolgten. Eine Zeit lang hatte ich beispielsweise geträumt, mit einem gut aussehenden, muskulösen Avatar auf einem feuerroten Drachen über Pandora zu fliegen. Einmal hatte der Drache Schlagseite bekommen, weil ich zu viel wog, jedenfalls behauptete der Avatar das, während wir trotz der geringen Schwerkraft des Planeten rasend schnell an Höhe verloren.
Gleich am nächsten Tag hatte ich mit Saftfasten angefangen.
Im Jahr darauf gingen die Albträume über die zusammenbrechenden Häuser los, gleich nachdem ich Inception gesehen hatte. Diese Träume hatte ich leider immer noch ziemlich oft, vielleicht auch deshalb, weil ich mir den Film nicht nur im Kino, sondern später auch noch einmal auf DVD angeschaut hatte. Meine Freundin Berit meinte, wenn ich weiter solche Albträume hätte, müsse ich in Betracht ziehen, mich in Therapie zu begeben. Doch ich hoffte, dass es von allein nachließ. Allerdings gab es Grund, daran zu zweifeln, denn gerade der Ruinen-Traum hatte starke Bezüge zur Realität.
Ich setzte mich im Bett auf, knipste die Nachttischlampe an und wischte mir den Mörtelstaub ab, der über Nacht auf mich herabgerieselt war. In meinem Zimmer war die Decke nicht tapeziert, sondern mit Feinputz versehen, der seine besten Jahre schon lange hinter sich hatte. Er löste sich allmählich in Wohlgefallen auf, nur dass diese Floskel in dem Fall nicht wirklich passte, denn von gefallen konnte keine Rede sein, es sei denn im Sinne von runtergefallen. Ich hatte mein Bett schon ein paar Mal verschoben, doch die Rieselstellen breiteten sich aus. Fast so, als verfolgten sie mich.
Mühsam kämpfte ich mich aus dem Bett und tastete gleichzeitig nach der Nachttischlampe. Die Leuchtziffern auf dem Wecker zeigten halb sechs. Ich hätte mich noch für eine halbe Stunde aufs Ohr legen können, doch es war besser, wenn ich als Erste ins Bad ging. Später könnte es knapp werden. Wenn sich vier Personen ein Badezimmer teilen mussten, hatten nur Frühaufsteher gute Karten. Wer unbedingt länger schlafen wollte, musste ohne zu duschen aus dem Haus. Neuerdings konnte der ungeduschte Zustand allerdings auch mit dem Boiler zusammenhängen. Irgendetwas hinderte ihn daran, zuverlässig warmes Wasser auszuspucken, man musste sich auf minutenlange Wartezeiten einstellen.
Auf dem Weg ins Bad stieß ich mit dem Fuß gegen die Schüssel, die ich am Vorabend aufgestellt hatte. Eisiges Wasser platschte bis zu meinen Knien hoch, ich schrie auf und hüpfte fluchend auf einem Bein herum. Die Schüssel war voll, oder genauer: Sie war voll gewesen, bevor ich dagegengetreten hatte. Die Wetterfrösche hatten recht gehabt. Es hatte geregnet. Und zwar durchs Dach. Genau an derselben Stelle wie beim letzten Mal. Da seither niemand das Loch geflickt hatte, war es nur eine Frage der Zeit gewesen, dass es wieder passierte.
Während ich mit nassen Füßen zum Bad tappte, schwang im Flur wie von Geisterhand ein Fenster auf. Der Wind drückte es nach innen, weil es nicht mehr richtig schloss. Der Griff war kaputt, seit ... vier Wochen ungefähr. Ich hatte den exakten Zeitpunkt vergessen, aber er fiel in etwa zusammen mit dem ersten Klopfen. Das Klopfen kam aus dem Badezimmer, wahrscheinlich aus den Leitungen. Oder aus dem Boiler. So genau wollte ich es gar nicht wissen.
Merkwürdig war dabei nur, dass alles auf einmal zu kommen schien. Sonst war immer alles nach und nach passiert, hübsch der Reihe nach, gerade in so großen Abständen, dass man sich daran gewöhnen konnte. Das lockere Geländer, die losen Bodendielen. Zuerst ein bisschen lästig, dann aber irgendwie, na ja, charmant. Alte Häuser sind halt so. Die haben ihre kleinen Verschleißerscheinungen. Da bröckelt schon mal der Putz, da klopfen die Leitungen, da knarren die Türen.
Die knarrten übrigens ganz schrecklich. Timo war der Meinung, wir hätten Geister im Haus, die nichts anderes zu tun hätten, als den ganzen Tag die Türen knarren zu lassen. Er war davon überzeugt, dass diese Geister in den Türangeln wohnten. Neulich hatte er ganz ernsthaft von den »Geistern in der Tür« gesprochen, und er hatte sehr ängstlich dabei ausgesehen. Ich hatte ihm das Knarren erklärt und es sogar vorgeführt (»Siehst du, jetzt mache ich die Tür auf, und sie knarrt. Und nun mache ich sie zu, und sie knarrt noch mal - das liegt an dem alten Holz. Es ist krumm geworden, daher kommt das! «), doch er blieb dabei, dass Geister ihre Hände im Spiel hatten. Ich hatte die Angeln geölt, aber das hatte die Geister leider nicht beeindruckt.
Im Bad stieg ich in die Duschkabine und drängte mich dicht an die Wand, als ich das Wasser andrehte. Das Klopfen wurde lauter, es verwandelte sich in ein Hämmern. Das Wasser rauschte, meist dauerte es eine Weile, bis es heiß wurde. Doch diesmal wurde es nicht einmal lauwarm. Irgendetwas im System hatte endgültig versagt. Es war so weit. Das Haus brach zusammen, der Albtraum hatte prophetischen Charakter gehabt. Leonardo hatte mich gewarnt, doch ich hatte nicht hören wollen.
Ich fing an zu weinen, weil mir der Fuß von der blöden Schüssel wehtat. Und weil das Wasser nicht warm wurde. Und weil alles so furchtbar war.
Mit Todesverachtung duschte ich mich kalt ab, auch das Gesicht, damit ich nachher beim Frühstück nicht verheult aussah. Nicht, dass die Kinder sonderlich darauf achteten, wie ich aussah. Aber wenn es mir so richtig mies ging, merkten sie es merkwürdigerweise sofort. Dafür hatten sie eingebaute Antennen.
An diesem Tag half auch das kalte Wasser im Gesicht nicht viel. Als ich aus der Duschkabine stieg, flossen die Tränen immer noch. So konnte es nicht weitergehen! Wie sollten wir ohne warmes Wasser auskommen? Wie lange wollte ich noch tatenlos den rieselnden Putz, die tropfenden Löcher im Dach, die kaputte Dusche ertragen? Den Kindern schien es nicht viel auszumachen, man konnte schon fast sagen, dass sie es gar nicht anders kannten (obwohl Sophie und Benedikt die kaputte Dusche garantiert nicht auf Dauer dulden würden!), und allein diese Tatsache machte alles noch viel schlimmer. Wie konnte ich meiner Familie das nur zumuten? Wie hatte ich es so weit kommen lassen können? Wie konnte ich länger hinnehmen, dass mein geliebtes Zuhause derartig herunterkam?
Na schön, ich hatte kein Geld für die nötigen Reparaturen. Aber war das ein Argument? Nein!
Schließlich lebten wir im Zeitalter der Immobilienblasen. Die ganze Welt drehte sich um Grundstückskredite; Hypotheken waren quasi ein Must-have. Ich ging bloß mit der Zeit, wenn ich mir auch eine zulegte.
Ich musste an meinen Albtraum mit Leonardo denken, an Phönix aus der Asche. Der Traum war ein Zeichen, ganz klar. Er hatte mir sagen wollen: Handle, bevor es zu spät ist!
»Heute!«, schwor ich meinem Spiegelbild mit lauter Stimme. »Heute tu ich es! «
Noch an diesem Tag würde ich die Weichen für die Zukunft neu stellen.
*
Ich ging im Bademantel nach unten und überlegte, was ich zur Weichenstellung anziehen sollte. Nicht, dass ich mir je Gedanken gemacht hätte, in welchen Klamotten ich zur Arbeit ging. Es war meist das Übliche, Jeans, T-Shirts, Blusen, Pullis, im Sommer Sandalen oder Ballerinas, im Winter Stiefeletten oder warme Schuhe.
Doch an diesem besonderen Tag, dem Tag meines großen Entschlusses, war seriöse Kleidung ein Muss.
Rock und Pumps waren das Mindeste. Ich musste aussehen wie eine Frau, der man gern Geld lieh, weil bereits ihr Äußeres ein grundsolides Wesen signalisierte.
Ich deckte eilig den Frühstückstisch und warf die Kaffeemaschine an, dann ging ich wieder nach oben.
Eine Viertelstunde später stand ich fertig geschminkt und angezogen vor dem Spiegel in meinem Schlafzimmer. Gerade geschnittener Rock, Bluse, Blazer. Zeitlos und gediegen, von der Sorte, die auch nach zehn Jahren noch ordentlich aussieht. Alles in vertrauenerweckend dezenten Farbtönen. Dazu suchte ich passende Schuhe aus, geschmackvolle, aber nicht zu elegante Pumps. Auf keinen Fall die neuen italienischen, ich wollte nicht den Eindruck erwecken, verschwendungssüchtig zu sein.
Als ich wieder nach unten ging, röhrte durch die geschlossene Tür von Benedikts Zimmer die Stereoanlage.
Ich atmete tief durch, während ich im Arbeitszimmer die Klarsichthülle mit den Bankunterlagen raussuchte. Meine Hände zitterten ein bisschen, als ich sie hervorzog und alles noch einmal durchging.
Ich musste nicht oft zur Bank, nur hin und wieder zum Abholen meiner Kontoauszüge oder um mir Geld am Automaten zu ziehen. Als ich das letzte Mal dort gewesen war, hatte ich in einem Anfall von spontanem Größenwahn am Schalter nach Formularen für eine Hypothek gefragt. Eine nette junge Frau hatte mir einen ganzen Stapel in die Hand gedrückt. »Sie können jederzeit zu einem Beratungsgespräch vorbeikommen, Frau ...?«
»Wingenfeld. Annabell Wingenfeld.«
»Angenehm! Unser Herr Kleinlich nimmt sich für unsere Grundschuld-Kunden gern persönlich Zeit! Wollen Sie vielleicht gleich schon zu ihm ins Büro?«
Unser Herr Kleinlich war der Filialleiter der Bank, wie ich dem Aufdruck des Briefkopfes entnehmen konnte. Harald Kleinlich, um genau zu sein.
»Ich rufe dann lieber mal an und mache einen Termin aus«, hatte ich hastig erwidert und mit den Formularen die Flucht angetreten. Natürlich war es schwachsinnig, aus dem Namen eines Bankdirektors irgendwelche Rückschlüsse zu ziehen. Ich hatte auch nicht etwa deswegen das Weite gesucht, sondern weil ... hm, keine Ahnung. Vielleicht, weil die Zeit noch nicht reif gewesen war. Jetzt aber war sie es. Überreif sogar. Ich hatte die Unterlagen ja sogar schon ausgefüllt, es fehlte nur noch der blöde Termin! Jetzt oder nie!
Ich nahm mein Handy und rief bei der Bank an.
»Guten Morgen«, zwitscherte es aus dem Hörer. »Sie rufen leider außerhalb unserer Geschäftszeiten an. Unsere Geschäftszeiten sind montags bis freitags von acht Uhr dreißig bis ... «
Durch die Terrassentür konnte ich in den Garten blicken. Sie stand offen; irgendwer hatte am Vorabend vergessen, sie zu schließen, wahrscheinlich ich, weil ich noch spät draußen gewesen war, um die Auflagen von den Terrassenstühlen ins Haus zu holen.
Unter der Kastanie war Spikes wackelndes Hinterteil zu sehen. Sein buschiger Schwanz wedelte unternehmungslustig. Erdklumpen flogen hoch, er war wieder dabei, irgendetwas ein- oder auszugraben ... Moment mal, was hatte er denn da zwischen den Zähnen?
»Spike!«, schrie ich entsetzt. Ich rannte hinaus. Der Rasen war pitschnass, die Beete schlammig. Doch darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen.
»Gib das her! «, rief ich. »Böser Hund! Böser Hund!« Ich packte Spike beim Halsband und zerrte ihm ein zerbissenes Blatt Papier aus dem Maul. Weitere Blätter lagen überall am Fuß der Hecke verstreut, ein oder zwei davon wirbelten hoch, als ein Windstoß sie erfasste. Ich ließ Spike los und rannte den Blättern nach, bevor der Wind sie auf die Straße wehen konnte. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn jemand sie in die Finger kriegte! Heutzutage wimmelte die Welt nur so von verkannten Schriftstellern. Sogar Frau Schmalenberg, die drei Häuer weiter wohnte, hatte neulich erst gesagt, dass sie demnächst, wenn sie in Rente ging, als Erstes einen Roman schreiben wollte! Dass die Entwicklung eines romanfähigen Stoffs das Allerschwierigste daran war, wusste sie vermutlich noch gar nicht. Aber damit würde sie sich womöglich auch nie herumplagen müssen, wenn der Wind ihr ein paar passende, fertig ausformulierte Ideen vor die Füße wehte. Meine Ideen!
Ich grabschte mir ein Blatt nach dem anderen, bis ich endlich mit meiner matschigen, zerrissenen Ausbeute wieder zum Haus zurückstolpern konnte. Das Handy lag auf dem Rasen, es war genauso dreckig wie meine Schuhe. Spike hatte sich flach auf den Bauch gelegt. Alle viere ausgestreckt, robbte er winselnd auf mich zu. Jeder, der das zufällig sah, musste mich für das fieseste, gewalttätigste Frauchen der Welt halten. Zwischendurch fiepte er wie ein kleiner Welpe, eine echte Leistung für einen ausgewachsenen Riesenhund wie ihn. Als Schauspieler war er oscarverdächtig, sozusagen der Leonardo DiCaprio unter den Berner Sennenhunden. Er mochte es nicht, wenn ich mit ihm schimpfte, und griff daher zu allen Tricks, damit ich wieder lieb zu ihm war.
Er fing an zu jaulen. Laut und durchdringend, als würde er gefoltert. Bei den Hegemanns nebenan ging ein Fenster auf.
»Schon gut!«, rief ich entnervt. »Braver Hund.«
Spike wuffte und kam mit ein paar Riesensätzen begeistert auf mich zugesprungen. Bevor ich zurückweichen konnte, hatte er mir seine gewaltigen Vorderpranken auf die Schultern gelegt und leckte mir das Gesicht ab. Als ich hinterher ins Haus zurückkam, sah ich aus wie nach einem Schlammbad.
Sophie saß schon am Frühstückstisch, sie tippte auf ihrem iPod herum und trank zwischendurch Kaffee. Ihr dicker blonder Zopf hob sich hell von ihrem blauen Top ab.
Sie blickte nicht auf, als ich Spike draußen vor der offenen Terrassentür die Pfoten säuberte und ihm dann Trockenfutter in den Hundenapf füllte.
»Scheißdusche, das Wasser wird höchstens lauwarm«, sagte sie bloß und tippte weiter. Ich konnte sie verstehen. Mit siebzehn interessierte man sich für wichtigere Dinge als für Mütter, die sich bei dem Versuch, ein künstlerisches Meisterwerk zu retten, im Schlamm wälzten.
»Ich geh dann mal rauf, mich umziehen«, sagte ich, doch auch das brachte sie nicht dazu hochzuschauen.
Ich wechselte die Kleidung. Die Dreckspuren an meinen Armen würde ich im Gästeklo oder in der Küche abwaschen müssen; Benedikt blockierte immer noch das Bad.
Höchste Zeit, Timo zu wecken und ihn für den Kindergarten fertig zu machen. Mein Jüngster öffnete verschlafen die Augen, als ich ihn sacht streichelte und auf die Wange küsste. Mir ging das Herz auf bei dem Anblick seines runden Kindergesichts und der verwuschelten Haartolle, und wie so oft gab es mir auch diesmal wieder einen Stich, weil sein Vater, dem er so unglaublich ähnlich sah, ihn nie hatte kennenlernen können. Martin war acht Monate vor Timos Geburt bei einem Autounfall ums Leben gekommen und hatte eine Lücke hinterlassen, die bei solchen Gelegenheiten noch manchmal zu spüren war.
»Ich hab was Blödes geträumt«, sagte Timo.
»Da sagst du was«, meinte ich mitfühlend. »Worum ging es denn in deinem Traum?«
»Dass ich Bauchweh hab«, sagte Timo. Er verzog das Gesicht. »In echt hab ich auch Bauchweh, nicht bloß im Traum.«
Das war nichts Neues; in letzter Zeit klagte er öfters darüber, ich war schon mehrmals mit ihm beim Arzt gewesen, der allerdings bisher nichts hatte finden können.
»Kinder in diesem Alter haben oft Bauchweh, wenn ihnen was quersteckt. Nicht im anatomischen Sinne, sondern emotional. Gab es in der letzten Zeit in Ihrer Familie viel Stress?«
»Nicht mehr als sonst.«
»Oder im Kindergarten?«
»Ich werde mal nachfragen.«
Das hatte ich getan, aber die Kindergartentante aus der Pusteblumen- Gruppe, zu der Timo gehörte, hatte behauptet, dass alles ganz supi wäre mit Timo. Genau das waren ihre Worte gewesen. »Mit Timo ist alles ganz supi hier. Er ist gerne im Kindergarten. Er liebt den Kindergarten! « Aufmunternd hatte sie zu Timo hinuntergeblickt. »Stimmt doch, Timo, oder?«
Timo nickte artig. Die Kindergartentante beugte sich vertraulich zu mir, sodass Timo nicht hören konnte, was sie zu mir sagte: »Wenn Timo Stress hat, dann liegt es garantiert daran, dass er bald in die Schule muss. Er fürchtet sich vor der Einschulung, denn er würde viel lieber im Kindergarten bleiben, weil er sich hier so wohlfühlt.«
Auf der Heimfahrt fragte ich: »Stimmt das? Liebst du den Kindergarten wirklich?«
Timo nickte entschieden. »Am allermeisten liebe ich die Chantal. «
Chantal war die Tochter von Janin (Janin ohne e), der Friseurin, zu der wir immer gingen. Sie - nicht Chantal, sondern Janin ohne e - hatte jede Menge Tattoos und ungefähr drei Dutzend Piercings, und das waren nur die, die man sehen konnte. Janins Freund Olaf, der allerdings nicht Chantals Vater war, verprügelte Janin regelmäßig, und einmal hätte er auch mich fast verprügelt, als er zufällig im Hinterzimmer des Friseurladens gesessen und mitgekriegt hatte, wie ich Janin die Anschrift vom Frauenhaus geben wollte, nachdem ich ihr zugeschwollenes Auge bemerkt hatte.
»Ey, die braucht die Schläge! Alle Frauen brauchen das ab und zu«, hatte er mir erklärt und dazu beweiskräftig die Fäuste geballt. Ich war zum Glück sowieso gerade auf dem Weg nach draußen gewesen. Später hatte ich im Laden angerufen und Janin doch noch die Adresse durchgegeben. Sie hatte mir unaufgefordert geschworen, dass ihr Freund nicht die Kleine schlug; sie wusste genau, dass ich anderenfalls das Jugendamt informiert hätte.
Chantal war das süßeste kleine Mädchen, das man sich vorstellen konnte, mit blonden Ringellöckchen und Augen, die fast zu groß für das zarte Gesichtchen waren. Wäre ich mein kleiner Sohn gewesen, hätte ich sie auch von allen Mädchen in der Pusteblumen-Gruppe am liebsten gehabt. Die Vorstellung, dass sie vielleicht ein Fall für die Super-Nanny war, machte mich traurig.
Timo war inzwischen bereit zum Aufstehen, Bauchweh hin oder her. Als er die Decke zurückschlug, bemerkte ich sofort die Bescherung, aber ich sagte nichts. Der Arzt hatte gemeint, es komme vor, dass Vorschulkinder noch gelegentlich einnässten, man solle dem nicht zu viel Gewicht beimessen, das würde es nur schlimmer machen. Also sagte ich nichts, sondern zog nur rasch das Bett ab und legte frische Wäsche und eine Reservedecke bereit.
»Eines schönen Tages«, hatte der Arzt lächelnd gemeint, »sind alle Kinder trocken. Sehen Sie mich an, ich mache auch nicht mehr ins Bett.« Seitdem versuchte ich immer, mir Timo als etablierten und emotional stabilen Kinderarzt vorzustellen, wenn ihm mal wieder ein nächtliches Malheur passiert war.
Benedikt war immer noch im Bad, also musste Timo sich am Waschbecken im Gästeklo die Zähne putzen und das Gesicht waschen. Beim Kämmen half ich ihm, aber das Anziehen schaffte er allein, sogar die Schuhe konnte er schon selbstständig zubinden, worauf wir beide sehr stolz waren.
Zum Frühstück gab es für Timo Toast und Ovomaltine, für mich Kaffee; ich hatte selten vor zehn Uhr Appetit. Sophie war bereits aufgebrochen, sie hatte zur ersten Stunde Schule.
»Kann's losgehen?«, fragte ich Timo, nachdem er sich in der Diele die Jacke angezogen hatte.
»Kann losgehen«, bestätigte er. Ich hängte ihm das Kindergartentäschchen um den Hals, und gemeinsam gingen wir nach draußen in die Einfahrt zum Wagen. Ich hatte Timo gerade auf dem Rücksitz angeschnallt und wollte selbst einsteigen, als im Obergeschoss das Fenster aufflog und Benedikt rausschaute.
»Ich brauche heute das Auto!«, schrie er.
»Wann denn genau?«
»So um elf.«
»Musst du nicht in die Schule? Du kannst doch den Bus nehmen!«
»Ich meine heute Abend!«
»Was hast du denn so spät noch vor?«
Frau Hegemann schob nebenan ihren Kopf aus dem Küchenfenster.
»Mama!«, rief Benedikt mit nach oben verdrehten Augen. Mehr musste er nicht sagen, als Mutter beherrschte ich die Kunst des Gedankenlesens: Wieso stellt sie sich so an? Um elf Uhr abends pennt sie doch schon seit Stunden, sie kapiert in ihrem Alter sowieso nicht mehr, dass die Party dann erst richtig losgeht. Und was soll immer diese Einmischung in mein Privatleben!
»Meinetwegen, aber fahr bloß nicht wieder den Tank leer!«, rief ich zu ihm hoch. Was hätte ich auch sonst sagen sollen? Etwa: Geht nicht, ich brauche das Auto selbst, obwohl es gar nicht stimmte? Während Frau Hegemann nebenan die Ohren aufspannte und sofort überall herumerzählen würde, dass ich neuerdings nachts um die Häuser zog? In manchen Dingen gab man besser sofort nach.
...
Copyright © 2012 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln
»Du solltest jetzt lieber das Haus verlassen«, warnte mich Leonardo di Caprio, »es könnte jeden Moment zusammenbrechen.«
Tatsächlich rieselte schon der Putz von der Decke. Von ferne war ein Rumpeln zu spüren, das ständig näher kam. Schließlich erfasste es die Mauern des Hauses und brachte es zum Wanken. Es war nur noch eine Sache von Sekunden, bis es einstürzen würde. Leonardo DiCaprio schien sich nicht daran zu stören. Für mich war jedoch alles bitterer Ernst. Um mich herum wackelte und dröhnte es, Putz fiel von den Wänden, Mauerstücke lösten sich, ganze Betonplatten barsten heraus und krachten direkt vor meinen Füßen zu Boden. Ich schmeckte den staubigen Mörtel auf der Zunge.
Es war mir peinlich, aber ich musste vor Leonardo ausspucken, der Geschmack war einfach zu eklig. Zum Glück schaute er gerade nicht hin, sondern verfolgte mit Interesse, wie meine Habseligkeiten nach und nach unter den herabstürzenden Trümmerstücken begraben wurden und das Haus sich stückweise in eine Ruine verwandelte. Mein Kleiderschrank hielt noch eine Weile stand, dann brach er auseinander und versank im Schutt. Ein paar Schuhe flogen durch die Gegend und landeten verdreckt und zerfetzt in der Ecke. Es waren die teuren italienischen Pumps, die ich mir neulich in einem Anfall von Leichtsinn gegönnt hatte.
»Hilf mir! «, flehte ich Leonardo an.
Doch er lächelte nur bedauernd und strich sich mit beiden Händen den Mörtelstaub von seinem makellosen Smoking. »Da musst du jetzt durch«, sagte er. »Nur aus dem Zusammenbruch kann Neues entstehen. Du weißt schon, wie Phönix aus der Asche und so.«
Während ich noch überlegte, was er mir damit sagen wollte, knallte ein riesiges Trümmerstück aus der Decke auf meinen Kopf.
Vor meinem geistigen Auge blinkte eine Schlagzeile auf.
Frau im Schlaf von einstürzendem Dach erschlagen - sie ahnte nichts Böses und war sofort tot.
*
Ruckartig fuhr ich hoch, ich musste ein paar Mal heftig Luft holen, bis ich die Benommenheit abgeschüttelt hatte.
Es hatte sich so echt angefühlt! Das war leider der Fehler an den wirklich guten Filmen. Sie beeindruckten einen so sehr, dass sie einen bis in die Träume verfolgten. Eine Zeit lang hatte ich beispielsweise geträumt, mit einem gut aussehenden, muskulösen Avatar auf einem feuerroten Drachen über Pandora zu fliegen. Einmal hatte der Drache Schlagseite bekommen, weil ich zu viel wog, jedenfalls behauptete der Avatar das, während wir trotz der geringen Schwerkraft des Planeten rasend schnell an Höhe verloren.
Gleich am nächsten Tag hatte ich mit Saftfasten angefangen.
Im Jahr darauf gingen die Albträume über die zusammenbrechenden Häuser los, gleich nachdem ich Inception gesehen hatte. Diese Träume hatte ich leider immer noch ziemlich oft, vielleicht auch deshalb, weil ich mir den Film nicht nur im Kino, sondern später auch noch einmal auf DVD angeschaut hatte. Meine Freundin Berit meinte, wenn ich weiter solche Albträume hätte, müsse ich in Betracht ziehen, mich in Therapie zu begeben. Doch ich hoffte, dass es von allein nachließ. Allerdings gab es Grund, daran zu zweifeln, denn gerade der Ruinen-Traum hatte starke Bezüge zur Realität.
Ich setzte mich im Bett auf, knipste die Nachttischlampe an und wischte mir den Mörtelstaub ab, der über Nacht auf mich herabgerieselt war. In meinem Zimmer war die Decke nicht tapeziert, sondern mit Feinputz versehen, der seine besten Jahre schon lange hinter sich hatte. Er löste sich allmählich in Wohlgefallen auf, nur dass diese Floskel in dem Fall nicht wirklich passte, denn von gefallen konnte keine Rede sein, es sei denn im Sinne von runtergefallen. Ich hatte mein Bett schon ein paar Mal verschoben, doch die Rieselstellen breiteten sich aus. Fast so, als verfolgten sie mich.
Mühsam kämpfte ich mich aus dem Bett und tastete gleichzeitig nach der Nachttischlampe. Die Leuchtziffern auf dem Wecker zeigten halb sechs. Ich hätte mich noch für eine halbe Stunde aufs Ohr legen können, doch es war besser, wenn ich als Erste ins Bad ging. Später könnte es knapp werden. Wenn sich vier Personen ein Badezimmer teilen mussten, hatten nur Frühaufsteher gute Karten. Wer unbedingt länger schlafen wollte, musste ohne zu duschen aus dem Haus. Neuerdings konnte der ungeduschte Zustand allerdings auch mit dem Boiler zusammenhängen. Irgendetwas hinderte ihn daran, zuverlässig warmes Wasser auszuspucken, man musste sich auf minutenlange Wartezeiten einstellen.
Auf dem Weg ins Bad stieß ich mit dem Fuß gegen die Schüssel, die ich am Vorabend aufgestellt hatte. Eisiges Wasser platschte bis zu meinen Knien hoch, ich schrie auf und hüpfte fluchend auf einem Bein herum. Die Schüssel war voll, oder genauer: Sie war voll gewesen, bevor ich dagegengetreten hatte. Die Wetterfrösche hatten recht gehabt. Es hatte geregnet. Und zwar durchs Dach. Genau an derselben Stelle wie beim letzten Mal. Da seither niemand das Loch geflickt hatte, war es nur eine Frage der Zeit gewesen, dass es wieder passierte.
Während ich mit nassen Füßen zum Bad tappte, schwang im Flur wie von Geisterhand ein Fenster auf. Der Wind drückte es nach innen, weil es nicht mehr richtig schloss. Der Griff war kaputt, seit ... vier Wochen ungefähr. Ich hatte den exakten Zeitpunkt vergessen, aber er fiel in etwa zusammen mit dem ersten Klopfen. Das Klopfen kam aus dem Badezimmer, wahrscheinlich aus den Leitungen. Oder aus dem Boiler. So genau wollte ich es gar nicht wissen.
Merkwürdig war dabei nur, dass alles auf einmal zu kommen schien. Sonst war immer alles nach und nach passiert, hübsch der Reihe nach, gerade in so großen Abständen, dass man sich daran gewöhnen konnte. Das lockere Geländer, die losen Bodendielen. Zuerst ein bisschen lästig, dann aber irgendwie, na ja, charmant. Alte Häuser sind halt so. Die haben ihre kleinen Verschleißerscheinungen. Da bröckelt schon mal der Putz, da klopfen die Leitungen, da knarren die Türen.
Die knarrten übrigens ganz schrecklich. Timo war der Meinung, wir hätten Geister im Haus, die nichts anderes zu tun hätten, als den ganzen Tag die Türen knarren zu lassen. Er war davon überzeugt, dass diese Geister in den Türangeln wohnten. Neulich hatte er ganz ernsthaft von den »Geistern in der Tür« gesprochen, und er hatte sehr ängstlich dabei ausgesehen. Ich hatte ihm das Knarren erklärt und es sogar vorgeführt (»Siehst du, jetzt mache ich die Tür auf, und sie knarrt. Und nun mache ich sie zu, und sie knarrt noch mal - das liegt an dem alten Holz. Es ist krumm geworden, daher kommt das! «), doch er blieb dabei, dass Geister ihre Hände im Spiel hatten. Ich hatte die Angeln geölt, aber das hatte die Geister leider nicht beeindruckt.
Im Bad stieg ich in die Duschkabine und drängte mich dicht an die Wand, als ich das Wasser andrehte. Das Klopfen wurde lauter, es verwandelte sich in ein Hämmern. Das Wasser rauschte, meist dauerte es eine Weile, bis es heiß wurde. Doch diesmal wurde es nicht einmal lauwarm. Irgendetwas im System hatte endgültig versagt. Es war so weit. Das Haus brach zusammen, der Albtraum hatte prophetischen Charakter gehabt. Leonardo hatte mich gewarnt, doch ich hatte nicht hören wollen.
Ich fing an zu weinen, weil mir der Fuß von der blöden Schüssel wehtat. Und weil das Wasser nicht warm wurde. Und weil alles so furchtbar war.
Mit Todesverachtung duschte ich mich kalt ab, auch das Gesicht, damit ich nachher beim Frühstück nicht verheult aussah. Nicht, dass die Kinder sonderlich darauf achteten, wie ich aussah. Aber wenn es mir so richtig mies ging, merkten sie es merkwürdigerweise sofort. Dafür hatten sie eingebaute Antennen.
An diesem Tag half auch das kalte Wasser im Gesicht nicht viel. Als ich aus der Duschkabine stieg, flossen die Tränen immer noch. So konnte es nicht weitergehen! Wie sollten wir ohne warmes Wasser auskommen? Wie lange wollte ich noch tatenlos den rieselnden Putz, die tropfenden Löcher im Dach, die kaputte Dusche ertragen? Den Kindern schien es nicht viel auszumachen, man konnte schon fast sagen, dass sie es gar nicht anders kannten (obwohl Sophie und Benedikt die kaputte Dusche garantiert nicht auf Dauer dulden würden!), und allein diese Tatsache machte alles noch viel schlimmer. Wie konnte ich meiner Familie das nur zumuten? Wie hatte ich es so weit kommen lassen können? Wie konnte ich länger hinnehmen, dass mein geliebtes Zuhause derartig herunterkam?
Na schön, ich hatte kein Geld für die nötigen Reparaturen. Aber war das ein Argument? Nein!
Schließlich lebten wir im Zeitalter der Immobilienblasen. Die ganze Welt drehte sich um Grundstückskredite; Hypotheken waren quasi ein Must-have. Ich ging bloß mit der Zeit, wenn ich mir auch eine zulegte.
Ich musste an meinen Albtraum mit Leonardo denken, an Phönix aus der Asche. Der Traum war ein Zeichen, ganz klar. Er hatte mir sagen wollen: Handle, bevor es zu spät ist!
»Heute!«, schwor ich meinem Spiegelbild mit lauter Stimme. »Heute tu ich es! «
Noch an diesem Tag würde ich die Weichen für die Zukunft neu stellen.
*
Ich ging im Bademantel nach unten und überlegte, was ich zur Weichenstellung anziehen sollte. Nicht, dass ich mir je Gedanken gemacht hätte, in welchen Klamotten ich zur Arbeit ging. Es war meist das Übliche, Jeans, T-Shirts, Blusen, Pullis, im Sommer Sandalen oder Ballerinas, im Winter Stiefeletten oder warme Schuhe.
Doch an diesem besonderen Tag, dem Tag meines großen Entschlusses, war seriöse Kleidung ein Muss.
Rock und Pumps waren das Mindeste. Ich musste aussehen wie eine Frau, der man gern Geld lieh, weil bereits ihr Äußeres ein grundsolides Wesen signalisierte.
Ich deckte eilig den Frühstückstisch und warf die Kaffeemaschine an, dann ging ich wieder nach oben.
Eine Viertelstunde später stand ich fertig geschminkt und angezogen vor dem Spiegel in meinem Schlafzimmer. Gerade geschnittener Rock, Bluse, Blazer. Zeitlos und gediegen, von der Sorte, die auch nach zehn Jahren noch ordentlich aussieht. Alles in vertrauenerweckend dezenten Farbtönen. Dazu suchte ich passende Schuhe aus, geschmackvolle, aber nicht zu elegante Pumps. Auf keinen Fall die neuen italienischen, ich wollte nicht den Eindruck erwecken, verschwendungssüchtig zu sein.
Als ich wieder nach unten ging, röhrte durch die geschlossene Tür von Benedikts Zimmer die Stereoanlage.
Ich atmete tief durch, während ich im Arbeitszimmer die Klarsichthülle mit den Bankunterlagen raussuchte. Meine Hände zitterten ein bisschen, als ich sie hervorzog und alles noch einmal durchging.
Ich musste nicht oft zur Bank, nur hin und wieder zum Abholen meiner Kontoauszüge oder um mir Geld am Automaten zu ziehen. Als ich das letzte Mal dort gewesen war, hatte ich in einem Anfall von spontanem Größenwahn am Schalter nach Formularen für eine Hypothek gefragt. Eine nette junge Frau hatte mir einen ganzen Stapel in die Hand gedrückt. »Sie können jederzeit zu einem Beratungsgespräch vorbeikommen, Frau ...?«
»Wingenfeld. Annabell Wingenfeld.«
»Angenehm! Unser Herr Kleinlich nimmt sich für unsere Grundschuld-Kunden gern persönlich Zeit! Wollen Sie vielleicht gleich schon zu ihm ins Büro?«
Unser Herr Kleinlich war der Filialleiter der Bank, wie ich dem Aufdruck des Briefkopfes entnehmen konnte. Harald Kleinlich, um genau zu sein.
»Ich rufe dann lieber mal an und mache einen Termin aus«, hatte ich hastig erwidert und mit den Formularen die Flucht angetreten. Natürlich war es schwachsinnig, aus dem Namen eines Bankdirektors irgendwelche Rückschlüsse zu ziehen. Ich hatte auch nicht etwa deswegen das Weite gesucht, sondern weil ... hm, keine Ahnung. Vielleicht, weil die Zeit noch nicht reif gewesen war. Jetzt aber war sie es. Überreif sogar. Ich hatte die Unterlagen ja sogar schon ausgefüllt, es fehlte nur noch der blöde Termin! Jetzt oder nie!
Ich nahm mein Handy und rief bei der Bank an.
»Guten Morgen«, zwitscherte es aus dem Hörer. »Sie rufen leider außerhalb unserer Geschäftszeiten an. Unsere Geschäftszeiten sind montags bis freitags von acht Uhr dreißig bis ... «
Durch die Terrassentür konnte ich in den Garten blicken. Sie stand offen; irgendwer hatte am Vorabend vergessen, sie zu schließen, wahrscheinlich ich, weil ich noch spät draußen gewesen war, um die Auflagen von den Terrassenstühlen ins Haus zu holen.
Unter der Kastanie war Spikes wackelndes Hinterteil zu sehen. Sein buschiger Schwanz wedelte unternehmungslustig. Erdklumpen flogen hoch, er war wieder dabei, irgendetwas ein- oder auszugraben ... Moment mal, was hatte er denn da zwischen den Zähnen?
»Spike!«, schrie ich entsetzt. Ich rannte hinaus. Der Rasen war pitschnass, die Beete schlammig. Doch darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen.
»Gib das her! «, rief ich. »Böser Hund! Böser Hund!« Ich packte Spike beim Halsband und zerrte ihm ein zerbissenes Blatt Papier aus dem Maul. Weitere Blätter lagen überall am Fuß der Hecke verstreut, ein oder zwei davon wirbelten hoch, als ein Windstoß sie erfasste. Ich ließ Spike los und rannte den Blättern nach, bevor der Wind sie auf die Straße wehen konnte. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn jemand sie in die Finger kriegte! Heutzutage wimmelte die Welt nur so von verkannten Schriftstellern. Sogar Frau Schmalenberg, die drei Häuer weiter wohnte, hatte neulich erst gesagt, dass sie demnächst, wenn sie in Rente ging, als Erstes einen Roman schreiben wollte! Dass die Entwicklung eines romanfähigen Stoffs das Allerschwierigste daran war, wusste sie vermutlich noch gar nicht. Aber damit würde sie sich womöglich auch nie herumplagen müssen, wenn der Wind ihr ein paar passende, fertig ausformulierte Ideen vor die Füße wehte. Meine Ideen!
Ich grabschte mir ein Blatt nach dem anderen, bis ich endlich mit meiner matschigen, zerrissenen Ausbeute wieder zum Haus zurückstolpern konnte. Das Handy lag auf dem Rasen, es war genauso dreckig wie meine Schuhe. Spike hatte sich flach auf den Bauch gelegt. Alle viere ausgestreckt, robbte er winselnd auf mich zu. Jeder, der das zufällig sah, musste mich für das fieseste, gewalttätigste Frauchen der Welt halten. Zwischendurch fiepte er wie ein kleiner Welpe, eine echte Leistung für einen ausgewachsenen Riesenhund wie ihn. Als Schauspieler war er oscarverdächtig, sozusagen der Leonardo DiCaprio unter den Berner Sennenhunden. Er mochte es nicht, wenn ich mit ihm schimpfte, und griff daher zu allen Tricks, damit ich wieder lieb zu ihm war.
Er fing an zu jaulen. Laut und durchdringend, als würde er gefoltert. Bei den Hegemanns nebenan ging ein Fenster auf.
»Schon gut!«, rief ich entnervt. »Braver Hund.«
Spike wuffte und kam mit ein paar Riesensätzen begeistert auf mich zugesprungen. Bevor ich zurückweichen konnte, hatte er mir seine gewaltigen Vorderpranken auf die Schultern gelegt und leckte mir das Gesicht ab. Als ich hinterher ins Haus zurückkam, sah ich aus wie nach einem Schlammbad.
Sophie saß schon am Frühstückstisch, sie tippte auf ihrem iPod herum und trank zwischendurch Kaffee. Ihr dicker blonder Zopf hob sich hell von ihrem blauen Top ab.
Sie blickte nicht auf, als ich Spike draußen vor der offenen Terrassentür die Pfoten säuberte und ihm dann Trockenfutter in den Hundenapf füllte.
»Scheißdusche, das Wasser wird höchstens lauwarm«, sagte sie bloß und tippte weiter. Ich konnte sie verstehen. Mit siebzehn interessierte man sich für wichtigere Dinge als für Mütter, die sich bei dem Versuch, ein künstlerisches Meisterwerk zu retten, im Schlamm wälzten.
»Ich geh dann mal rauf, mich umziehen«, sagte ich, doch auch das brachte sie nicht dazu hochzuschauen.
Ich wechselte die Kleidung. Die Dreckspuren an meinen Armen würde ich im Gästeklo oder in der Küche abwaschen müssen; Benedikt blockierte immer noch das Bad.
Höchste Zeit, Timo zu wecken und ihn für den Kindergarten fertig zu machen. Mein Jüngster öffnete verschlafen die Augen, als ich ihn sacht streichelte und auf die Wange küsste. Mir ging das Herz auf bei dem Anblick seines runden Kindergesichts und der verwuschelten Haartolle, und wie so oft gab es mir auch diesmal wieder einen Stich, weil sein Vater, dem er so unglaublich ähnlich sah, ihn nie hatte kennenlernen können. Martin war acht Monate vor Timos Geburt bei einem Autounfall ums Leben gekommen und hatte eine Lücke hinterlassen, die bei solchen Gelegenheiten noch manchmal zu spüren war.
»Ich hab was Blödes geträumt«, sagte Timo.
»Da sagst du was«, meinte ich mitfühlend. »Worum ging es denn in deinem Traum?«
»Dass ich Bauchweh hab«, sagte Timo. Er verzog das Gesicht. »In echt hab ich auch Bauchweh, nicht bloß im Traum.«
Das war nichts Neues; in letzter Zeit klagte er öfters darüber, ich war schon mehrmals mit ihm beim Arzt gewesen, der allerdings bisher nichts hatte finden können.
»Kinder in diesem Alter haben oft Bauchweh, wenn ihnen was quersteckt. Nicht im anatomischen Sinne, sondern emotional. Gab es in der letzten Zeit in Ihrer Familie viel Stress?«
»Nicht mehr als sonst.«
»Oder im Kindergarten?«
»Ich werde mal nachfragen.«
Das hatte ich getan, aber die Kindergartentante aus der Pusteblumen- Gruppe, zu der Timo gehörte, hatte behauptet, dass alles ganz supi wäre mit Timo. Genau das waren ihre Worte gewesen. »Mit Timo ist alles ganz supi hier. Er ist gerne im Kindergarten. Er liebt den Kindergarten! « Aufmunternd hatte sie zu Timo hinuntergeblickt. »Stimmt doch, Timo, oder?«
Timo nickte artig. Die Kindergartentante beugte sich vertraulich zu mir, sodass Timo nicht hören konnte, was sie zu mir sagte: »Wenn Timo Stress hat, dann liegt es garantiert daran, dass er bald in die Schule muss. Er fürchtet sich vor der Einschulung, denn er würde viel lieber im Kindergarten bleiben, weil er sich hier so wohlfühlt.«
Auf der Heimfahrt fragte ich: »Stimmt das? Liebst du den Kindergarten wirklich?«
Timo nickte entschieden. »Am allermeisten liebe ich die Chantal. «
Chantal war die Tochter von Janin (Janin ohne e), der Friseurin, zu der wir immer gingen. Sie - nicht Chantal, sondern Janin ohne e - hatte jede Menge Tattoos und ungefähr drei Dutzend Piercings, und das waren nur die, die man sehen konnte. Janins Freund Olaf, der allerdings nicht Chantals Vater war, verprügelte Janin regelmäßig, und einmal hätte er auch mich fast verprügelt, als er zufällig im Hinterzimmer des Friseurladens gesessen und mitgekriegt hatte, wie ich Janin die Anschrift vom Frauenhaus geben wollte, nachdem ich ihr zugeschwollenes Auge bemerkt hatte.
»Ey, die braucht die Schläge! Alle Frauen brauchen das ab und zu«, hatte er mir erklärt und dazu beweiskräftig die Fäuste geballt. Ich war zum Glück sowieso gerade auf dem Weg nach draußen gewesen. Später hatte ich im Laden angerufen und Janin doch noch die Adresse durchgegeben. Sie hatte mir unaufgefordert geschworen, dass ihr Freund nicht die Kleine schlug; sie wusste genau, dass ich anderenfalls das Jugendamt informiert hätte.
Chantal war das süßeste kleine Mädchen, das man sich vorstellen konnte, mit blonden Ringellöckchen und Augen, die fast zu groß für das zarte Gesichtchen waren. Wäre ich mein kleiner Sohn gewesen, hätte ich sie auch von allen Mädchen in der Pusteblumen-Gruppe am liebsten gehabt. Die Vorstellung, dass sie vielleicht ein Fall für die Super-Nanny war, machte mich traurig.
Timo war inzwischen bereit zum Aufstehen, Bauchweh hin oder her. Als er die Decke zurückschlug, bemerkte ich sofort die Bescherung, aber ich sagte nichts. Der Arzt hatte gemeint, es komme vor, dass Vorschulkinder noch gelegentlich einnässten, man solle dem nicht zu viel Gewicht beimessen, das würde es nur schlimmer machen. Also sagte ich nichts, sondern zog nur rasch das Bett ab und legte frische Wäsche und eine Reservedecke bereit.
»Eines schönen Tages«, hatte der Arzt lächelnd gemeint, »sind alle Kinder trocken. Sehen Sie mich an, ich mache auch nicht mehr ins Bett.« Seitdem versuchte ich immer, mir Timo als etablierten und emotional stabilen Kinderarzt vorzustellen, wenn ihm mal wieder ein nächtliches Malheur passiert war.
Benedikt war immer noch im Bad, also musste Timo sich am Waschbecken im Gästeklo die Zähne putzen und das Gesicht waschen. Beim Kämmen half ich ihm, aber das Anziehen schaffte er allein, sogar die Schuhe konnte er schon selbstständig zubinden, worauf wir beide sehr stolz waren.
Zum Frühstück gab es für Timo Toast und Ovomaltine, für mich Kaffee; ich hatte selten vor zehn Uhr Appetit. Sophie war bereits aufgebrochen, sie hatte zur ersten Stunde Schule.
»Kann's losgehen?«, fragte ich Timo, nachdem er sich in der Diele die Jacke angezogen hatte.
»Kann losgehen«, bestätigte er. Ich hängte ihm das Kindergartentäschchen um den Hals, und gemeinsam gingen wir nach draußen in die Einfahrt zum Wagen. Ich hatte Timo gerade auf dem Rücksitz angeschnallt und wollte selbst einsteigen, als im Obergeschoss das Fenster aufflog und Benedikt rausschaute.
»Ich brauche heute das Auto!«, schrie er.
»Wann denn genau?«
»So um elf.«
»Musst du nicht in die Schule? Du kannst doch den Bus nehmen!«
»Ich meine heute Abend!«
»Was hast du denn so spät noch vor?«
Frau Hegemann schob nebenan ihren Kopf aus dem Küchenfenster.
»Mama!«, rief Benedikt mit nach oben verdrehten Augen. Mehr musste er nicht sagen, als Mutter beherrschte ich die Kunst des Gedankenlesens: Wieso stellt sie sich so an? Um elf Uhr abends pennt sie doch schon seit Stunden, sie kapiert in ihrem Alter sowieso nicht mehr, dass die Party dann erst richtig losgeht. Und was soll immer diese Einmischung in mein Privatleben!
»Meinetwegen, aber fahr bloß nicht wieder den Tank leer!«, rief ich zu ihm hoch. Was hätte ich auch sonst sagen sollen? Etwa: Geht nicht, ich brauche das Auto selbst, obwohl es gar nicht stimmte? Während Frau Hegemann nebenan die Ohren aufspannte und sofort überall herumerzählen würde, dass ich neuerdings nachts um die Häuser zog? In manchen Dingen gab man besser sofort nach.
...
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Autoren-Porträt von Eva Völler
Eva Völler hat sich schon als Kind gern Geschichten ausgedacht. Trotzdem hat sie zuerst als Richterin und später als Rechtsanwältin ihre Brötchen verdient, bevor sie Juristerei und Robe schließlich endgültig an den Nagel hängte. „Vom Bücherschreiben kriegt man auf Dauer einfach bessere Laune als von Rechtsstreitigkeiten. Und man kann jedes Mal selbst bestimmen, wie es am Ende ausgeht." Die Autorin lebt mit ihren Kindern am Rande der Rhön in Hessen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Eva Völler
- 2012, 5. Aufl., 336 Seiten, Masse: 12,5 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404166485
- ISBN-13: 9783404166480
- Erscheinungsdatum: 07.04.2012
Rezension zu „Leg dich nicht mit Mutti an “
"Alles Chaos, oder was? Sie werden Tränen lachen." Frankfurter Stadtkurier "Flott geschriebener, launiger Unterhaltungsroman." buchjournal "Möchten Sie mal wieder laut loslachen beim Lesen? Dann greifen Sie zu diesem herrlichen Gute-Laune-Roman." Das Neue Blatt
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