Lebenslust
Mit verbissenem Ernst unterziehen wir uns Wahnsinns-Diäten, bräunen uns den Krebs in die Haut, laufen uns die Lunge aus dem Leib. Und doch haben wir das Gefühl: Du siehst nicht gut genug aus! Manfred Lütz' Polemik auf den Gesundheitswahn ist eine...
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Mit verbissenem Ernst unterziehen wir uns Wahnsinns-Diäten, bräunen uns den Krebs in die Haut, laufen uns die Lunge aus dem Leib. Und doch haben wir das Gefühl: Du siehst nicht gut genug aus! Manfred Lütz' Polemik auf den Gesundheitswahn ist eine intelligente und super-witzige Breitseite gegen Schönheitsfanatiker, Fitness-Gurus und Gesundheitsapostel!
"Manfred Lütz lehrt mit Witz die Kunst zu leben." FAZ
Lebenslust von Manfred Lütz
LESEPROBE
a) Von der Prozessionstradition zur Chefarztvisite - die neuen Riten
Wie die Römer nach der Eroberung Jerusalems die heiligen Geräte der Juden, etwaden siebenarmigen Leuchter und den Schaubrottisch, im Triumph vereinnahmten, sosind alle religiösen Formen und Riten inzwischen im Bereich desGesundheitskults heimisch. Wir erleben den bruchlosen Übergang von derkatholischen Prozessionstradition in die Chefarztvisite. Haben Sie eine solcheVeranstaltung einmal erlebt? Sicher, denn zwar hat nicht jeder schon eineFronleichnamsprozession gesehen, aber jeder war schon mal im Krankenhaus. DieChefarztvisite findet einmal die Woche statt. Sie ist in der Regel völligzwecklos, aber höchst sinnvoll, erfüllt also alle Voraussetzungen für eineKultveranstaltung. Zwecklos ist sie insofern, als der Chefarzt die nötigenInformationen viel schneller ohne den ganzen Zauber der Chefvisite erhalten undeventuelle therapeutische Anregungen in erheblich nüchternerer Form anbringenkönnte. Aber da sei Gott vor. Der Ritus muss sein und die Form stilisiert sicham sichersten zur höchsten Form, wenn sie allen Inhalt verloren hat. DiePatienten erwarten eine solche Visite, die Angehörigen erwarten sie - "War derChefarzt schon da?" -, die Station erwartet sie. Also muss sie stattfinden.
Vor dem Kommen des Herrn, also des Chefarztes, befindet sich die Station in derAdventszeit. Ich habe das in meiner Ausbildung selbst erlebt. Der gefürchteteChefarzt von altem Schrot und Korn trieb am üblichen Tag den Adrenalinspiegelaller Beteiligten in erhebliche Höhen. Die jüngste Schwesternschülerin wurdezeitig zum Parkplatz entsandt, um das Eintreffen "des Chefs" so schnell wiemöglich zu vermelden. Wie ein Eilfeuer ging dann die Nachricht durch dieAbteilung: "Der Chef ist da." Der mir zugeordnete Assistenzarzt wurderegelmässig kalkweiss, denn dieser Chef griff noch weit hinter die katholischeTradition zurück, bei ihm gab es Menschenopfer und sein Lieblingsopfer warjener Assistent. Es wäre schon eine eigene religionspsychologische Untersuchungwert, was so ein erwarteter, ersehnter, gefürchteter Heilsbringer, der nochvöllig abwesend ist, allein dadurch bewirkt, dass man mit seiner baldigenAnkunft rechnet.
Und dann trat er auf. Man kam ihm nicht mit Palmzweigen entgegen, dazu hättedie Schwesternschülerin auch wirklich keine Nerven gehabt, man breitete nichtdie Mäntel vor ihm aus, man zog vielmehr die Kittel an und dann formierte sichder Prozessionszug: Voran die Stationsschwester als Prozessionsleitung mit demKurvenwagen. Dann Schwesternschülerinnen als Ministrantinnen, Schwestern,Medizinstudenten, Studenten im Praktischen Jahr, Assistenzärzte, der Oberarztund schliesslich und endlich er: der Chef. Er wirkte ohnehin immer würdevoll,aber besonders würdevoll machte er sich aus mit dieser Begleitung. Die uralterömische Tradition weiss sehr gut, wie wichtig Assistenzfiguren sind. Beiöffentlichen Auftritten des Papstes sitzen in gebührendem Abstand immerwenigstens zwei Würdenträger links und rechts von ihm. Sie haben zwar nichts zutun, ausser dort zu sitzen, aber ihre Anwesenheit steigert wirksam die Bedeutungdes Ereignisses. So auch bei der Chefarztvisite. Angelangt im erstenPatientenzimmer griff die Stationsschwester zum Lektionarmit den "heiligen Texten", das heisst zur Kurve des Patienten. Der Chefarzt liesseinen eher gelangweilten, aber sehr souverän wirkenden Blick darüber gleitenund hörte sich dann gereizt die Ausführungen des Assistenzarztes zu dem "Fall"an. Einige stechende Fragen des Chefs brachten den Assistenzarzt wie üblich insSchleudern. Insgesamt das gleiche Ritual wie letzte Woche: die gleichen Fragen,die gleichen Antworten, nichts eigentlich Überraschendes. Der Patient, der -nachdem die Stationsschwester dem Chef ebenfalls wie letzte Woche den Namenzugezischt hatte - höchstens am Anfang kurz begrüsst wurde, dann aber alsGesprächspartner ausfiel, beobachtete die ganze Szene mit äussersterAufmerksamkeit. Ein unvermitteltes Lächeln des Chefs: eine Offenbarung; einRunzeln der Stirn: na Gott sei Dank, er hat nur eine Verschmutzung in der Kurvekritisiert. Bisweilen griff der Chefarzt auch auf die alte religiöseOrakeltradition zurück und redete unverständlich. Das war zwar für diePatienten sehr beruhigend, denn es strahlte Kompetenz aus, führte aberanschliessend zu den unvermeidlichen Anrufen bei den Angehörigen zu Hause, diedoch unbedingt mal in dem Gesundheitsbuch nachsehen sollten, was denneigentlich "idiopathisch" heisse. (Das heisst übrigens:Wir haben keine Ahnung, woran das alles liegt.) Dann noch ein kurzer Handschlagdes Chefarztes. Die körperliche Berührung, ein sakraler Vorgang, der es in sichhat. "Le roi te touche, Dieu teguerisse" (Der König berührt dich, so möge Gott dichheilen), verkündete der neue König beim französischen Krönungszeremoniell, wodem gerade Gesalbten stets einige Kranke zugeführt wurden, die er anfasste. AmSchluss der Chefvisite wurde dann noch der Assistenzarzt, der sich vorAufregung wieder sprachlich verhaspelt hatte, zum Opfer gebracht: "Sie wissenwieder mal gar nichts. Versuchen Sie doch einfach einmal, einen ganz normalenSatz auszusprechen: Subjekt, Prädikat, Objekt." Und mit diesen Worten schwebteder Chefarzt von der Station, die Prozession löste sich in ihre Einzelteileauf, die Schwestern zündeten sich eine Zigarette an, der Assistenzarztverschwand in seinem Zimmer und leckte seine Wunden. Nur der Oberarzt zog sicheigenartigerweise mit der Stationsschwester und dem Kurvenwagen in sein Zimmerzurück. Als ich später einmal vorsichtig danach fragte, was da eigentlich vorsich gehe, teilte mir die Stationsschwester unter dem Siegel derVerschwiegenheit mit, dass sie da die eigentliche Visite mit dem Oberarztmache. Die Anordnungen, die der Chef treffe, würden sie schon seit einiger Zeitnicht mehr ausführen. Der Chef merke das gar nicht, der Oberarzt sei fachlichkompetenter und den Patienten würde so besser geholfen. Aber der Ritus mussdennoch sein, er wird erwartet, vor allem von den Patienten. Deshalb merkeerneut: Die Form stilisiert sich am sichersten zur höchsten Form, wenn sieallen Inhalt verloren hat.
Ich bin übrigens sicher, dass es solche Chefärzte nicht mehr gibt. AlleChefärzte, die ich kenne, sind ausgesprochen nett. Aber dem Ritusbedürfnis sindsie nach wie vor ausgesetzt. Es handelt sich bei der religiösen Aufladung desGesundheitsbereichs nämlich nicht um eine raffinierte Erfindung der Ärzteschaftoder anderer möglicherweise Interessierter. Die Gesundheitsreligion ist einmachtvolles allgemein gesellschaftliches Phänomen und Ärzte sind dabeimindestens ebenso sehr Opfer wie Täter. Es soll nicht bestritten werden, dasses manch einen Kollegen geben mag, dem es Freude bereitet, ein wenig Halbgottzu spielen. Aber Halbgott zu sein ohne ein anbetungsfreudiges Publikum machtnun wirklich keinen Spass. Doch keine Sorge, ein solches glaubensbereitesPublikum liegt massenhaft vor. Ungestüm fordern die Menschen Ärzte alsHalbgötter.
Auf diese Weise werden alle Üblichkeiten der Religionen imitiert. Es gibtHäresien, Irrlehren, denen man mit inbrünstiger Gläubigkeit folgt und für dieman den letzten Groschen opfert. Es gibt begnadete charismatische Heiler, diekleine, verschworene Anhängerschaften um sich versammeln. Es gibt eine heiligeInquisition, die Ärztekammer, die den rechten Glauben - ungefähr identisch mitder Schulmedizin - verteidigt und Irrtümer verurteilt. Und es gibtWallfahrtsorte - der berühmte Professor -, die trotz weiter Entfernungaufgesucht werden. Das Ausmass der Hoffnungen, die man auf den ärztlichenHeilbringer richtet, ist direkt proportional zur in Kauf genommenen Entfernung."Wissen Sie, das kann man doch nicht hier in München behandeln lassen, dakommen wirklich nur die bekannten Spezialisten in Hannover in Frage. Wenn, dannwill man doch ganz sichergehen." - Patienten aus Hannover gehen dann möglicherweisenach München. Solche Wallfahrten sind übrigens höchst entbehrungsreicheVeranstaltungen. Mehrere Voruntersuchungen hunderte von Kilometern entfernterfordern immer wieder strapazenreiche Reisen. Am Ziel angelangt muss man dannlange in einem öden, weiss gekalkten Wartezimmer warten, weil viele andereWallfahrer zugegen sind. Zu essen gibt es nichts, zu trinken auch nicht.Irgendwelche unterhaltsamen Ablenkungen? Fehlanzeige! Welch himmelweiterUnterschied zu einer katholischen Wallfahrt in ein bayerischesBenediktinerkloster. Gewiss, der Weg ist beschwerlich, führt aber durch eineherrliche Landschaft. In Gottes schöner Natur wird gesungen und gebetet. AmZiel, einer prachtvoll ausgemalten barocken Wallfahrtskirche, wird einefeierliche heilige Messe gefeiert, ein ganzheitliches sinnliches Erlebnis fürAuge, Ohr und Nase (Weihrauch!). Was sich dann anschliesst, hat Wilhelm Busch inseiner Schilderung einer katholischen Wallfahrt angedeutet: "Hoch vongnadenreicher Stelle winkt die Schenke und Kapelle." Bei Busch in dieserReihenfolge! Im Klostergasthof also folgt der schöpfungstheologische Höhepunktdes Ganzen: köstliches Essen, Schweinshaxn oderBesseres, reichlich flüssige Nahrung, das weit bekannte Bier aus derKlosterbrauerei, und Blasmusik nach Herzenslust. Bei jenem ärztlichenWallfahrtsheiligtum dagegen kommt man nüchtern und geht man nüchtern undblutleer. Das Ergebnis ist im Übrigen oft auch nicht besser, als wenn man inder Nähe Hilfe gesucht hätte. Die Enttäuschung allerdings, wenn der so sehr erhoffteErfolg nicht eingetreten ist, ist riesengross. Die meisten Kollegen wissen dahersehr wohl, dass das freundliche Halbgottangebot der Patienten vergiftet ist.Die glühenden religiösen Heilswünsche, die damit verbunden sind, vermag keinArzt wirklich zu erfüllen. Denn zum Glück, zum Heil, zum Sinn des Lebens ist ervon Hause aus völlig inkompetent. So liegt in der Arztrolle heute einemerkwürdige Ambivalenz: der narzisstische Reiz, einige Stunden am Tag Halbgottzu sein einerseits, und die Gefahr, wie Prometheus, der Götterliebling,jederzeit gestürzt werden zu können, da man heimlich weiss, dass das erhoffteGold, das Heil, in der ärztlichen Alchimistenküche nicht zu haben ist. Wie dieHoffnungen in die Medizin grenzenlos sind, so ist die Erbitterung bei Enttäuschunggnadenlos: Bei Nichterfüllung - Klage.
© KnaurVerlag
- Autor: Manfred Lütz
- 2005, 288 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: DROEMER KNAUR
- ISBN-10: 3426776952
- ISBN-13: 9783426776957
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