Lamento
Im Bann der Feenkönigin. Roman
Eigentlich ist Deirdre eine ganz normale Sechzehnjährige. Doch dann hat sie immer öfter seltsame Träume. Darin taucht ein faszinierender Junge auf, dessen geheimnisvolle Augen Deirdre verzaubern. Als ihr Luke eines Tages leibhaftig gegenübersteht, wird ihr...
Leider schon ausverkauft
versandkostenfrei
Buch
Fr. 21.90
inkl. MwSt.
- Kreditkarte, Paypal, Rechnungskauf
- 30 Tage Widerrufsrecht
Produktdetails
Produktinformationen zu „Lamento “
Eigentlich ist Deirdre eine ganz normale Sechzehnjährige. Doch dann hat sie immer öfter seltsame Träume. Darin taucht ein faszinierender Junge auf, dessen geheimnisvolle Augen Deirdre verzaubern. Als ihr Luke eines Tages leibhaftig gegenübersteht, wird ihr Leben ausgesprochen aufregend, aber gleichzeitig schwebt sie nun in grosser Gefahr. Sind ihre Gefühle für Luke stark genug, um einen uralten Fluch zu brechen? Spannend, geheimnisvoll, romantisch: Eine wunderbare Geschichte über geheime Wünsche und die Macht der Liebe!
Klappentext zu „Lamento “
Luke flüsterte mir ins Ohr, so nah, dass seine Lippen mein Haarstreiften: "Sag mir, dass du mich wiedersehen willst."
Eigentlich ist Deirdre eine ganz normale Sechzehnjährige und ganz ehrlich: Sie findet ihr Leben gerade ein bisschen langweilig. Doch dann hat sie immer öfter seltsame Träume. Immer wieder taucht darin ein faszinierender Junge auf, dessen geheimnisvolle Augen Deirdre verzaubern. Als ihr Luke eines Tages leibhaftig gegenübersteht, wird Deirdres Leben ausgesprochen aufregend aber gleichzeitig schwebt sie nun in grosser Gefahr. Sind ihre Gefühle für Luke stark genug, um einen uralten Fluch zu brechen?
Spannend, geheimnisvoll, romantisch: Eine wunderbare Geschichte über geheime Wünsche und die Macht der Liebe!
Lese-Probe zu „Lamento “
Lamento – Im Bann der Feenkönigin von Maggie StiefvaterProlog
Wie lange er sich schon hier festklammerte, wusste er nicht. Jedenfalls lange genug, um seine Beine in dem eiskalten Wasser nicht mehr spüren zu können. Lange genug, um Mühe zu haben, den Kopf über Wasser zu halten. Das unheimliche Heulen der Hunde irgendwo in der Ferne beschleunigte seinen Herzschlag.
Er schloss die Augen, konzentrierte sich darauf, den Halt an der zerklüfteten Mauer des alten Brunnens nicht zu verlieren, und befahl seinem Herzen, langsamer zu schlagen. Hier drin können sie dich nicht riechen. Sie werden deine Spur im Bach verlieren, und hier werden sie dich niemals fi nden. Die eisige Berührung des Wassers kroch weiter seinen Nacken hinauf. Er klammerte sich fester an die rauhen Steine und blickte mit einem erschöpften Seufzer in den klaren Nachthimmel auf. Wie lange schon? So lange, wie er sich erinnern konnte. Draußen verklang das Geheul; die Hunde hatten die Spur verloren.
Lasst mich einfach in Ruhe. Habe ich noch nicht teuer genug bezahlt?
Er betete darum, sie mögen dorthin zurückkehren, woher sie kamen, doch er erwartete keine Antwort. Gottes Aufmerksamkeit galt jenen, die eine Seele hatten, etwas, das ihm seit tausend Jahren oder gar noch länger fehlte. Er schluckte. Tief in seiner Brust spürte er das zarte, eigenartige Rascheln, das bedeutete, dass sie das Käfi gzimmer betreten hatten. Er tauchte die Hand ins Wasser und zog zwei rostige alte Nägel aus der Tasche, die er gut festhielt. Nur nicht schreien. Mehr brauchte er nicht zu tun. Er würde es schaffen.
Irgendwo in einer kleinen runden, grauen Kammer aus Stein und Moos, so weich wie das Fell eines Fuchswelpen, fl atterte eine Taube wild in einem Käfi g aus haarfeinen Drähten. Flügel klatschten gegen das Gitter, winzige Krallen rutschten über die Stange und suchten Halt an
... mehr
den dünnen Drähten. Sie gebärdete sich nicht so wild, um die Freiheit zu erlangen – der Käfi g hatte keine Tür –, sondern aus Angst. Dies war die schlimmste Art von Angst, Angst ohne jede Hoffnung, die das Herz des Vogels rasen ließen, bis es seine Brust zu sprengen drohte. Schlanke Hände ergriffen die helle Taube, die nun zitternd am Boden des Käfi gs kauerte, und hielten den Vogel einer hellen Dame hin, die in dieser grünlich-grauen Kammer eigentümlich golden wirkte.
Als sie sprach, erhellte ihre Stimme die Kammer, so schön, dass sie einen zu Tränen rühren konnte. »Den Flügel«, sagte sie leise und hielt eine Kerze hoch. Sacht breiteten die schlanken Finger einen Flügel der Taube aus und hielten den reglosen Vogel der Dame hin. Die Kerze in ihrer Hand spiegelte die Farben der Sonne im Auge der Taube wider. Die Dame lächelte dünn und hielt die blasse Flamme unter den Flügel des Vogels.
Der Junge im Brunnenschacht erschauerte. Er biss sich auf die Lippen, presste die Stirn gegen die Arme und befahl sich, still zu sein. Der Schmerz zehrte und brannte sich in seine Brust und umklammerte sein Herz wie eine lodernde Faust. So plötzlich, wie er begonnen hatte, ließ der Schmerz nach, und der Junge schnappte lautlos nach Luft.
Die Dame in der grünen Kammer hob die Kerze neben ihr Gesicht und beleuchtete ihre eigene Schönheit; eine Schönheit, die beim Anblick eines perfekten Sommertages verächtlich spottete, dass man sie mit demselben Wort beschrieb. »Er wählt stets den steinigen Weg, nicht wahr?« Die Taube begann verzweifelt zu zappeln, als sie ihre Stimme hörte. Diesmal hielt die Dame die Kerze dichter heran, und die Flammen erfassten die Federn, die sich kräuselten und schwarz färbten wie Papier. Die Taube erstarrte, den Schnabel in stummer Qual aufgerissen, den leeren Blick an die Decke geheftet.
Im Brunnen schnappte der Junge erneut nach Luft, hörbar diesmal, und ermahnte sich, den Kopf über Wasser zu halten. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, und als er die Augen so fest zukniff, wie er nur konnte, hörte es vollends auf zu schlagen. Er fühlte sich seltsam hohl und glitt lautlos unter Wasser. Die Finger waren erschlafft, und die Nägel, die er in der Hand gehalten hatte, verschwanden langsam trudelnd in der Finsternis unter ihm.
Es riss ihm den Kopf zurück, als er mit unmenschlich starkem Griff im Nacken gepackt, hinausgezerrt und auf den nach Klee duftenden Boden geschleudert wurde. Wasser rann ihm aus dem Mund.
»Noch sollst du nicht sterben, alter Freund.« Der Jäger blickte auf ihn herab, weder zornig noch erfreut über seine Beute. Die Jagd war vorüber, und damit auch das Vergnügen. Die Hunde umkreisten den Körper im Klee. »Es gibt Arbeit für dich.«
Eins
Du fühlst dich gleich besser, wenn du dich erst übergeben hast«, sagte Mom hinterm Steuer. »Das ist doch immer so.«
Blinzelnd schreckte ich aus meiner Benommenheit und nahm meine Harfentasche aus dem Kofferraum unseres staubigen Kombis. Mir war schlecht. Und Moms Bemerkung war so ziemlich der einzige Grund, den ich brauchte, um lieber keine Karriere als Profi musikerin ins Auge zu fassen. »Hast du noch mehr aufmunternde Worte für mich, Mom?«
»Sei nicht so sarkastisch.« Mom hielt mir eine zu meiner Hose passende Strickjacke hin. »Nimm die. Damit siehst du professioneller aus.«
Ich hätte ablehnen können, aber es war weniger mühsam, die Jacke einfach zu nehmen. Wie Mom bereits angedeutet hatte: Je schneller ich in die Aula kam und mich übergab, desto leichter würde es werden. Und wenn ich diesen Tag erst hinter mir hatte, konnte ich in mein gewohntes Leben zurückkehren, bis sie das nächste Mal beschloss, mich aus meinem Käfig zu holen. Moms Angebot, mir mit der Harfe zu helfen, lehnte ich allerdings ab, obwohl viele andere Schüler mit elterlichem Gefolge zur Aula gingen. Ohne ein bekanntes Gesicht im Publikum war es einfacher, vollkommen bedeutungslos zu sein.
»Dann suchen wir jetzt einen Parkplatz und kommen nach. Ruf an, wenn du uns brauchst, ja?« Mom tätschelte ihre taubenblaue Handtasche, die zu ihrem tief ausgeschnittenen taubenblauen Top passte. »Delia müsste auch bald da sein.«
Der Gedanke an meine divenhafte Tante trieb mich noch ein Stück weiter dem Ende meiner Übelkeitsskala entgegen. Oh, Deirdre, hörte ich sie bereits im Geiste sagen, kann ich dir helfen, diese Tonleitern noch einmal durchzugehen? In den oberen Bereichen klingst du recht fl ach. Genau in diesem Moment würde ich mich über sie erbrechen … vielleicht war das gar keine schlechte Idee. Aber wie ich Delia kannte, würde sie mich vermutlich auch dabei noch verbessern. Deirdre, Liebes, du brauchst wirklich einen besseren Speibogen, wenn du jemals professionell reihern willst.
»Prima«, sagte ich. Meine Eltern winkten, worauf ich mich auf die Suche nach dem Wartebereich für die Wettbewerbsteilnehmer machte. Ich schirmte die Hand mit den Augen ab und ließ den Blick über die Betonfassade der Highschool wandern.
Im grellen frühnachmittäglichen Sonnenschein leuchtete ein riesiges Segeltuchbanner mit der Aufschrift Teilnehmer-Eingang. Ich hatte inbrünstig gehofft, dass ich die Schule erst im neuen Schuljahr wiedersehen würde, wenn ich in die elfte Klasse kam. Schon klar. Lebet wohl, holde Träume.
Mann, was für eine Bullenhitze. Mit zusammengekniffenen Augen schaute ich zur Sonne hoch, ehe mein Blick weiter zum Mond direkt neben der Sonne wanderte. Aus irgendeinem Grund löste dieser geisterhafte Mond am helllichten Tag ein seltsames Kribbeln in meiner Magengegend aus, eine andere Art von Nervosität. Am liebsten wäre ich stehen geblieben und hätte hinaufgestarrt, bis mir wieder einfi el, wieso er mich so verzauberte. Aber die Hitze war meinem nervösen Magen nicht zuträglich, also wandte ich mich von der bleichen Scheibe ab und zog meine Harfe zum Teilnehmer-Eingang. Als ich durch die schwere Doppeltür trat, fi el mir auf, dass mich das Bedürfnis, mich zu übergeben, erst überkommen hatte, als Mom davon anfing. Ich hatte mir nicht einmal Gedanken wegen des Wettbewerbs gemacht. Na gut, ich hatte auf der ganzen Fahrt garantiert meinen typisch glasigen Blick gehabt, der bedeutete, dass ich mich mit aller Macht darauf konzentrierte, mich nicht zu übergeben, aber nicht aus dem Grund, den meine Mutter vermutete. Ich war mit den Gedanken bei meinem Traum von letzter Nacht gewesen. Aber nachdem sie davon angefangen hatte und mir der Wettbewerb im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen stand, war die Welt wieder in Ordnung und mein Magen eine Katastrophe.
Eine Frau mit Doppelkinn und Klemmbrett erkundigte sich nach meinem Namen.
»Deirdre Monaghan.«
Sie sah mich mit zusammengekniffenen Augen an – aber vielleicht war das ihr ganz normaler Gesichtsausdruck. »Jemand hat vorhin nach Ihnen gefragt.«
Ich hoffte, dass sie James meinte, meinen besten (und einzigen) Freund. Ich war nicht daran interessiert, von irgendjemand anderem gefunden zu werden. Am liebsten hätte ich sie gefragt, wie derjenige ausgesehen hatte, fürchtete jedoch, endgültig die Kontrolle über meinen Würgereflex zu verlieren, wenn ich zu viel redete. Allein die räumliche Nähe zur Wettbewerbsbühne kam an der Gallenfront nicht sonderlich gut an.
»Eine große Blonde.«
Also nicht James. Delia aber ebenso wenig. Seltsam, aber im Moment nicht oberste Priorität. Die Frau kritzelte etwas neben meinen Namen. »Sie müssen sich Ihre Teilnahmeunterlagen abholen; dort drüben auf der anderen Seite.«
Ich hielt mir die Hand vor den Mund und fragte vorsichtig:
»Wo kann ich üben?«
»Wenn Sie sich die Unterlagen geholt haben, gehen Sie weiter den Flur entlang und durch die große Doppeltür auf der …«
Mir blieb nicht mehr viel Zeit. »Aha. Die Klassenzimmer da drüben?«
Sie ließ ihre Kinne erbeben. Ich wertete das als ja und schob mich an ihr vorbei. Es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, aber meine Nase fand sich sofort zurecht. Der vertraute Geruch meiner Highschool zerrte an meinen Nerven, obwohl weit und breit kein anderer Schüler zu sehen war. Meine Güte, war ich fertig. Meine Harfenhülle klingelte. Das Handy. Ich fischte es heraus und starrte es an. Ein vierblättriges Kleeblatt klebte auf der Rückseite, feucht und frisch. Keines von denen mit einem mickrigen vierten Blatt, dem man sofort ansieht, dass es nur eine Mutation eines dreiblättrigen Exemplars ist. Jedes der vier Blätter war perfekt geformt und ebenmäßig.
In diesem Moment registrierte ich, dass ja das Handy klingelte.
Ich warf einen Blick auf die Nummer, in der Hoffnung, dass es nicht meine Mutter sein möge, und klappte es auf. »Hi«, sagte ich knapp, zupfte das vierblättrige Kleeblatt von der Rückseite und steckte es in die Tasche. Konnte nicht schaden. »Oh«, sagte James mitfühlend, der meinen Tonfall sofort erkannt hatte. Obwohl seine Stimme am Telefon ein wenig dünn und knisternd klang, hatte sie die gewohnte beruhigende Wirkung. Die Galle in meiner Kehle sank ein Stück nach unten. »Ich hätte dich eher anrufen sollen, was? Du bist schon im Kotzilla-Stadium.«
»Ja.« Langsam ging ich auf die Doppeltür am Ende des Flurs zu. »Lenk mich ab, bitte.«
»Tja, ich bin spät dran«, sagte er fröhlich. »Also werde ich den Dudelsack wohl im Auto stimmen müssen und dann ohne Hemd und nur halb angezogen auf die Bühne gestürmt kommen. Ich habe angefangen, Gewichte zu stemmen. Vielleicht geben sie mir Extrapunkte für ein tolles Sixpack, falls meine musikalische Brillanz sie schon nicht vom Hocker reißt.«
»Wenn du es in deinen Rock schaffst, kriegst du von den Juroren wenigstens einen Braveheart-Bonus.«
»Spotte nicht über den Kilt, Weib. Und? Irgendwelche unterhaltsamen Träume letzte Nacht?«
»Äh …« James und ich waren zwar nur gute Freunde, trotzdem zögerte ich, ihm davon zu erzählen. Normalerweise waren meine höchst intensiven Träume ein steter Quell der Belustigung für uns. Vorletzte Nacht hatte ich geträumt, ich wäre beim Gespräch mit einer Studienberaterin von Harvard, die bis zum Hals in Käse steckte (Gouda, glaube ich). Die Stimmung des Traums von letzter Nacht hallte noch in mir nach und löste ein recht angenehmes Gefühl aus. »Ich habe nicht gut genug geschlafen, um zu träumen«, erklärte ich schließlich.
Oh. Der Mond. In diesem Augenblick fi el mir auf, dass ich in diesem Traum den Mond am Tageshimmel gesehen hatte – daher also dieses Déjà-vu-Gefühl. Wie enttäuschend, dass die Erklärung dafür so banal war.
»Tja, typisch für dich«, sagte James.
»Delia kommt auch«, erzählte ich.
»Dann steht heute wohl das schwesterliche Schlammcatchen an, ja?«
»Nein, eher die ›Mein Kind ist begabter als deins‹-Nummer. «
»Ätsch«, bemerkte James hilfreicherweise. »Oh, verflucht. Jetzt komme ich wirklich zu spät. Ich muss meinen Dudelsack ins Auto schaffen, aber wir sehen uns bald. Versuch, bis dahin nicht völlig abzudrehen.«
»Klar. Mach ich«, erwiderte ich. Ich legte auf und verstaute das Handy im Harfenkoffer. Hinter der Doppeltür war eine gedämpfte Kakophonie zu hören. Ich wartete in einer Schlange vor der Ausgabe der Teilnahmeunterlagen, wobei ich mein Instrument schrittweise mit mir zog. Endlich konnte ich den großen Umschlag entgegennehmen und wandte mich ab. In meiner Eile, wegzukommen, geriet meine Harfe gefährlich ins Schwanken und landete auf dem Schüler hinter mir, der unter dem schweren Gewicht taumelte.
»Puh. Du meine Güte.« Vorsichtig richtete er die Harfe wieder auf, als mir auffi el, dass ich ihn kannte: Es war Andrew von den Blechbläsern im Schulorchester. Trompete oder so. Jedenfalls etwas Lautes. Er grinste mich breit an – erst auf meine Brüste, dann ins Gesicht. »Immer schön vorsichtig sein, sonst haut dir hier noch etwas ab.«
»Klar.« Wenn er noch witziger wurde, würde ich ihn vollkotzen. Ich zog meine Harfe ein Stück von ihm weg. »Entschuldigung. «
»He, du kannst mich jederzeit gern mit deiner Harfe bewerfen. «
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, also gab ich nur ein »Hm« von mir. Sekunden später versank ich wieder in der Unsichtbarkeit, und Andrew wandte sich ab. Seltsam, dass es auch heute wie an jedem gewöhnlichen Highschool-Tag war.
Aber das stimmte nicht. Als ich vor der Doppeltür stand und dem Stimmengewirr und den Instrumentenklängen lauschte, konnte ich den Grund für unsere Anwesenheit nicht beiseiteschieben. Massen von Schülern spielten sich für ihren Auftritt warm und hofften, beim alljährlichen Eastern Virginia Arts Festival einen Preis zu gewinnen – ihre große Chance, die Vertreter der Colleges und Konservatorien zu beeindrucken, die heute im Publikum sitzen würden.
Wieder drehte es mir den Magen um, und diesmal wusste ich, dass es kein Zurück gab. Ich fl oh in die Mädchentoilette im Keller unter der Turnhalle, um mich in aller Ruhe übergeben zu können. Ich ließ die Harfe vor den Waschbecken stehen und schaffte es im letzten Moment, die Arme um die alte, gräulich gelbe Klobrille zu legen, die nach zu viel Putzmittel und zu vielen Schülern roch.
Wie ich das hasse! Mein Magen gurgelte noch heftiger. Das passierte jedes Mal, wenn ich vor Publikum spielte. Auch wenn ich wusste, wie idiotisch diese Angst vor Menschenansammlungen war, dass diese Kotzerei und die flatternden Nerven allein auf mein Konto gingen, konnte ich nicht dagegen ankämpfen.
James hatte die »Angst, sich der Lächerlichkeit preiszugeben« für mich nachgeschlagen (Katagelophobie), und eines Nachmittags hatten wir es sogar mit Hypnose versucht, einschließlich Selbstverwirklichungssprüchen und Entspannungsmusik. Es war nichts dabei herausgekommen, nur dass wir beide zu begeisterten Fans von New-Age-Musik geworden waren.
Ich war immer noch nicht fertig. Blöderweise fiel mir das Haar ständig ins Gesicht, weil die ungleichmäßigen Stufen vorn zu kurz waren, um sie mit in den Pferdeschwanz zu binden. Ich stellte mir vor, wie ich die Bühne mit Bröckchen im Pony betrat. Ich weine nur, wenn ich frustriert bin, und es fehlte nicht mehr viel.
In diesem Moment spürte ich, wie eine kühle Hand mir sanft das Haar aus dem Gesicht strich. Dabei hatte ich niemanden hereinkommen hören. Trotzdem war ich nicht überrascht – als hätte ich damit gerechnet, dass jemand mich hier finden würde. Ich wusste, ohne aufzublicken, dass das die Hand eines Jungen war, und ganz sicher nicht James’.
Ich wollte den Kopf abwenden, weil mir das Ganze peinlich war, doch der Besitzer der Hand sagte bestimmt: »Denk dir nichts dabei. Du bist fast fertig.«
So war es auch. Endlich würgte ich nichts mehr hervor, sondern fühlte mich nur noch zittrig und vollkommen leer. Und aus irgendeinem Grund wollte ich nicht im Erdboden versinken, weil ein Junge hinter mir stand. Ich drehte mich um und sah nach, wer Zeuge des wahrscheinlich unattraktivsten Ausrutschers geworden war, der einem Mädchen unterlaufen kann.
Falls es Andrew war, würde ich ihm eine knallen, weil er mich angefasst hatte.
Aber es war nicht Andrew. Es war Dillon.
Dillon.
Der Typ aus meinem Traum. Der gekommen war, um mich vor öffentlicher Demütigung zu bewahren und mich im Triumph zu stehenden Ovationen zu führen.
Mit einem entwaffnenden Lächeln reichte er mir eine Hand voll Papierhandtücher. »Hallo. Ich bin Luke Dillon.« Er hatte diese typisch weiche Stimme, die nach vollkommener Selbstbeherrschung klang, eine Stimme, von der man sich nicht vorstellen konnte, dass sie jemals laut wurde. Und die sogar in einem nach Kotze riechenden Mädchenklo unglaublich sexy war.
»Luke Dillon«, wiederholte ich und bemühte mich, ihn nicht anzustarren. Mit zitternden Fingern nahm ich die Papiertaschentücher und wischte mir übers Gesicht. In meinem Traum war er verschwommen gewesen, wie alle Traummenschen, aber er war es, eindeutig. Hager wie ein Wolf, mit hellblondem Haar und noch helleren Augen. Und er sah wahnsinnig gut aus. Dieses Detail schien der Traum unterschlagen zu haben. »Du bist im Mädchenklo.«
»Ich habe dich hier drin gehört.«
»Und du stehst so vor der Kabine, dass ich nicht rauskomme.
« Das Zittern in meiner Stimme war stärker, als mir lieb war. Luke trat beiseite, um mich rauszulassen, und drehte einen Wasserhahn auf, damit ich mir das Gesicht waschen konnte.
»Möchtest du dich setzen?«
»Nein – ja – vielleicht.«
Er holte einen Klappstuhl aus dem Wandschrank hinter den Kabinen und stellte ihn neben mich. »Du bist leichenblass. Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?«
Ich ließ mich auf den Klappstuhl sinken. »Wenn ich – äh – damit fertig bin, kippe ich manchmal um.« Ich lächelte schwach, und in meinen Ohren begann es zu dröhnen. »Einer meiner – hm – besonderen Reize.«
»Lass den Kopf zwischen den Knien hängen.« Luke kniete sich neben den Stuhl und blickte mir ins Gesicht. »Du hast echt schöne Augen, weißt du das eigentlich?«
Ich antwortete ihm nicht. Gleich würde ich vor einem Wildfremden ohnmächtig auf den Toilettenboden kippen. Luke schob die Hand an meinen Armen und Beinen vorbei und presste mir ein nasses Papierhandtuch auf die Stirn, worauf das Rauschen in meinen Ohren schlagartig aufhörte.
»Danke«, murmelte ich, ehe ich mich langsam aufrichtete.
Luke hockte immer noch vor mir. »Bist du krank?« Er schien sich nicht sonderlich darum zu sorgen, dass es etwas Ansteckendes sein könnte, aber ich schüttelte energisch den Kopf.
»Nur die Nerven. Vor Auftritten muss ich mich immer übergeben. Ich weiß, dass das albern ist – aber ich kann nichts dagegen tun. Wenigstens werde ich mich jetzt nicht auf der Bühne übergeben müssen. In Ohnmacht fallen könnte ich trotzdem noch.«
»Wie viktorianisch«, bemerkte Luke. »Aber war’s das jetzt erst mal mit der Ohnmacht? Willst du lieber hierbleiben, oder sollen wir rausgehen?«
Ich stand auf. Ich kippte nicht wieder um, also war es wohl besser. »Nein, es geht schon wieder. Ich – äh – ich muss mich jetzt unbedingt einspielen. Soweit ich weiß, bin ich in einer Dreiviertelstunde dran oder so. Keine Ahnung, wie viel Zeit ich hier verplempert habe.« Ich deutete auf die Toilettenkabine.
»Tja, dann sollten wir wohl gehen, damit du üben kannst. Sie werden dir schon sagen, wann du an der Reihe bist, außerdem ist es draußen ruhiger.«
Jeden anderen Jungen an dieser Schule hätte ich spätestens jetzt stehenlassen. Ich glaube, das war die längste Unterhaltung mit irgendjemandem außer James und meiner Familie in den letzten zwei Jahren – die Kotzerei nicht einmal als Teil des Gesprächs mitgezählt.
Luke schulterte meine Harfentasche. »Ich trage sie für dich, da du ja so viktorianisch-schwächlich bist. Könntest du das hier nehmen?« Er hielt mir ein wunderschön geschnitztes Holzkästchen hin, das sehr schwer für seine Größe war. Es gefi el mir – es versprach verborgene Geheimnisse.
»Was ist da drin?« Sobald die Worte über meine Lippen gekommen waren, fi el mir auf, dass es meine erste Frage an ihn war, seit er mir das Haar aus der Stirn gestrichen hatte. Ich war gar nicht auf die Idee gekommen, irgendetwas an ihm zu hinterfragen – als sei alles, was bisher geschehen war, selbstverständlich und völlig normal, Teil eines ungeschriebenen Drehbuchs, dem wir beide folgten.
»Eine Flöte.« Luke öffnete die Toilettentür und steuerte auf einen der Hinterausgänge zu.
»An welchem Wettbewerb nimmst du teil?«
»Oh, ich bin nicht wegen des Wettbewerbs hier.«
»Sondern?«
Luke warf mir über die Schulter hinweg ein gewinnendes Lächeln zu, das den Verdacht in mir weckte, dass er möglicherweise nicht allzu oft so lächelte. »Ich bin gekommen, um dich spielen zu hören.«
Das stimmte nicht, aber seine Antwort gefi el mir trotzdem. Er führte mich hinaus in die Sonne hinter der Schule und ging auf die Picknickbänke neben dem Fußballfeld zu. Der Name eines Schülers hallte aus dem Lautsprecher über das Gelände, und Luke warf mir einen Blick zu. »Siehst du? Du wirst schon merken, wann du reinmusst.«
Wir setzten uns, er auf den Picknicktisch und ich mit meiner Harfe auf die Bank. Im gleißenden Sonnenlicht wirkten seine Augen so hell wie Glas.
»Was wirst du für mich spielen?«
Mein Magen verkrampfte sich. Er würde mich für absolut erbärmlich halten, zu nervös, um auch nur vor ihm zu spielen. »Äh …«
Er wandte den Blick ab, öffnete das Kästchen und setzte sorgfältig eine Querfl öte zusammen. »Du willst mir also erzählen, dass du eine erstklassige Musikerin bist, deine Musik aber mit niemandem teilen willst?«
»So ausgedrückt, hört sich das ziemlich egoistisch an!«
Lukes Mund verzog sich auf einer Seite, als er die Flöte an die Lippen setzte. Er blies ein hauchiges A und justierte das Instrument. »Na ja, ich habe dir das Haar aus dem Gesicht gehalten. Habe ich dafür nicht ein Lied verdient? Konzentriere dich einfach auf die Musik. Tu so, als wäre ich gar nicht da.«
»Bist du aber.«
»Tu so, als wäre ich ein Picknicktisch.«
Ich betrachtete die muskulösen Arme unter den T-Shirt-Ärmeln. »Du bist definitiv kein Picknicktisch.« Dieser Typ war definitiv kein Picknicktisch.
Luke sah mich an. »Spiel.« Seine Stimme klang stählern, und ich senkte den Blick. Nicht, weil ich beleidigt war, sondern weil er recht hatte.
Ich wandte mich meiner Harfe zu – Hallo, alte Freundin – und kippte sie auf ihren fünfzehn Zentimeter hohen Füßen, um sie gegen meine Schulter zu lehnen. Ich probierte, ob die Saiten noch gut gestimmt waren, und dann begann ich zu spielen. Die Saiten fühlten sich herrlich und butterweich an – die Harfe liebte dieses warme, feuchte Wetter.
Ich sang. Meine Stimme klang erst schüchtern, dann kräftiger, als mir klar wurde, dass ich ihn beeindrucken wollte.
Übersetzung: Katharina Volk
Copyright © 2009 der deutschsprachigen Ausgabe bei PAN-Verlag.
Als sie sprach, erhellte ihre Stimme die Kammer, so schön, dass sie einen zu Tränen rühren konnte. »Den Flügel«, sagte sie leise und hielt eine Kerze hoch. Sacht breiteten die schlanken Finger einen Flügel der Taube aus und hielten den reglosen Vogel der Dame hin. Die Kerze in ihrer Hand spiegelte die Farben der Sonne im Auge der Taube wider. Die Dame lächelte dünn und hielt die blasse Flamme unter den Flügel des Vogels.
Der Junge im Brunnenschacht erschauerte. Er biss sich auf die Lippen, presste die Stirn gegen die Arme und befahl sich, still zu sein. Der Schmerz zehrte und brannte sich in seine Brust und umklammerte sein Herz wie eine lodernde Faust. So plötzlich, wie er begonnen hatte, ließ der Schmerz nach, und der Junge schnappte lautlos nach Luft.
Die Dame in der grünen Kammer hob die Kerze neben ihr Gesicht und beleuchtete ihre eigene Schönheit; eine Schönheit, die beim Anblick eines perfekten Sommertages verächtlich spottete, dass man sie mit demselben Wort beschrieb. »Er wählt stets den steinigen Weg, nicht wahr?« Die Taube begann verzweifelt zu zappeln, als sie ihre Stimme hörte. Diesmal hielt die Dame die Kerze dichter heran, und die Flammen erfassten die Federn, die sich kräuselten und schwarz färbten wie Papier. Die Taube erstarrte, den Schnabel in stummer Qual aufgerissen, den leeren Blick an die Decke geheftet.
Im Brunnen schnappte der Junge erneut nach Luft, hörbar diesmal, und ermahnte sich, den Kopf über Wasser zu halten. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, und als er die Augen so fest zukniff, wie er nur konnte, hörte es vollends auf zu schlagen. Er fühlte sich seltsam hohl und glitt lautlos unter Wasser. Die Finger waren erschlafft, und die Nägel, die er in der Hand gehalten hatte, verschwanden langsam trudelnd in der Finsternis unter ihm.
Es riss ihm den Kopf zurück, als er mit unmenschlich starkem Griff im Nacken gepackt, hinausgezerrt und auf den nach Klee duftenden Boden geschleudert wurde. Wasser rann ihm aus dem Mund.
»Noch sollst du nicht sterben, alter Freund.« Der Jäger blickte auf ihn herab, weder zornig noch erfreut über seine Beute. Die Jagd war vorüber, und damit auch das Vergnügen. Die Hunde umkreisten den Körper im Klee. »Es gibt Arbeit für dich.«
Eins
Du fühlst dich gleich besser, wenn du dich erst übergeben hast«, sagte Mom hinterm Steuer. »Das ist doch immer so.«
Blinzelnd schreckte ich aus meiner Benommenheit und nahm meine Harfentasche aus dem Kofferraum unseres staubigen Kombis. Mir war schlecht. Und Moms Bemerkung war so ziemlich der einzige Grund, den ich brauchte, um lieber keine Karriere als Profi musikerin ins Auge zu fassen. »Hast du noch mehr aufmunternde Worte für mich, Mom?«
»Sei nicht so sarkastisch.« Mom hielt mir eine zu meiner Hose passende Strickjacke hin. »Nimm die. Damit siehst du professioneller aus.«
Ich hätte ablehnen können, aber es war weniger mühsam, die Jacke einfach zu nehmen. Wie Mom bereits angedeutet hatte: Je schneller ich in die Aula kam und mich übergab, desto leichter würde es werden. Und wenn ich diesen Tag erst hinter mir hatte, konnte ich in mein gewohntes Leben zurückkehren, bis sie das nächste Mal beschloss, mich aus meinem Käfig zu holen. Moms Angebot, mir mit der Harfe zu helfen, lehnte ich allerdings ab, obwohl viele andere Schüler mit elterlichem Gefolge zur Aula gingen. Ohne ein bekanntes Gesicht im Publikum war es einfacher, vollkommen bedeutungslos zu sein.
»Dann suchen wir jetzt einen Parkplatz und kommen nach. Ruf an, wenn du uns brauchst, ja?« Mom tätschelte ihre taubenblaue Handtasche, die zu ihrem tief ausgeschnittenen taubenblauen Top passte. »Delia müsste auch bald da sein.«
Der Gedanke an meine divenhafte Tante trieb mich noch ein Stück weiter dem Ende meiner Übelkeitsskala entgegen. Oh, Deirdre, hörte ich sie bereits im Geiste sagen, kann ich dir helfen, diese Tonleitern noch einmal durchzugehen? In den oberen Bereichen klingst du recht fl ach. Genau in diesem Moment würde ich mich über sie erbrechen … vielleicht war das gar keine schlechte Idee. Aber wie ich Delia kannte, würde sie mich vermutlich auch dabei noch verbessern. Deirdre, Liebes, du brauchst wirklich einen besseren Speibogen, wenn du jemals professionell reihern willst.
»Prima«, sagte ich. Meine Eltern winkten, worauf ich mich auf die Suche nach dem Wartebereich für die Wettbewerbsteilnehmer machte. Ich schirmte die Hand mit den Augen ab und ließ den Blick über die Betonfassade der Highschool wandern.
Im grellen frühnachmittäglichen Sonnenschein leuchtete ein riesiges Segeltuchbanner mit der Aufschrift Teilnehmer-Eingang. Ich hatte inbrünstig gehofft, dass ich die Schule erst im neuen Schuljahr wiedersehen würde, wenn ich in die elfte Klasse kam. Schon klar. Lebet wohl, holde Träume.
Mann, was für eine Bullenhitze. Mit zusammengekniffenen Augen schaute ich zur Sonne hoch, ehe mein Blick weiter zum Mond direkt neben der Sonne wanderte. Aus irgendeinem Grund löste dieser geisterhafte Mond am helllichten Tag ein seltsames Kribbeln in meiner Magengegend aus, eine andere Art von Nervosität. Am liebsten wäre ich stehen geblieben und hätte hinaufgestarrt, bis mir wieder einfi el, wieso er mich so verzauberte. Aber die Hitze war meinem nervösen Magen nicht zuträglich, also wandte ich mich von der bleichen Scheibe ab und zog meine Harfe zum Teilnehmer-Eingang. Als ich durch die schwere Doppeltür trat, fi el mir auf, dass mich das Bedürfnis, mich zu übergeben, erst überkommen hatte, als Mom davon anfing. Ich hatte mir nicht einmal Gedanken wegen des Wettbewerbs gemacht. Na gut, ich hatte auf der ganzen Fahrt garantiert meinen typisch glasigen Blick gehabt, der bedeutete, dass ich mich mit aller Macht darauf konzentrierte, mich nicht zu übergeben, aber nicht aus dem Grund, den meine Mutter vermutete. Ich war mit den Gedanken bei meinem Traum von letzter Nacht gewesen. Aber nachdem sie davon angefangen hatte und mir der Wettbewerb im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen stand, war die Welt wieder in Ordnung und mein Magen eine Katastrophe.
Eine Frau mit Doppelkinn und Klemmbrett erkundigte sich nach meinem Namen.
»Deirdre Monaghan.«
Sie sah mich mit zusammengekniffenen Augen an – aber vielleicht war das ihr ganz normaler Gesichtsausdruck. »Jemand hat vorhin nach Ihnen gefragt.«
Ich hoffte, dass sie James meinte, meinen besten (und einzigen) Freund. Ich war nicht daran interessiert, von irgendjemand anderem gefunden zu werden. Am liebsten hätte ich sie gefragt, wie derjenige ausgesehen hatte, fürchtete jedoch, endgültig die Kontrolle über meinen Würgereflex zu verlieren, wenn ich zu viel redete. Allein die räumliche Nähe zur Wettbewerbsbühne kam an der Gallenfront nicht sonderlich gut an.
»Eine große Blonde.«
Also nicht James. Delia aber ebenso wenig. Seltsam, aber im Moment nicht oberste Priorität. Die Frau kritzelte etwas neben meinen Namen. »Sie müssen sich Ihre Teilnahmeunterlagen abholen; dort drüben auf der anderen Seite.«
Ich hielt mir die Hand vor den Mund und fragte vorsichtig:
»Wo kann ich üben?«
»Wenn Sie sich die Unterlagen geholt haben, gehen Sie weiter den Flur entlang und durch die große Doppeltür auf der …«
Mir blieb nicht mehr viel Zeit. »Aha. Die Klassenzimmer da drüben?«
Sie ließ ihre Kinne erbeben. Ich wertete das als ja und schob mich an ihr vorbei. Es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten, aber meine Nase fand sich sofort zurecht. Der vertraute Geruch meiner Highschool zerrte an meinen Nerven, obwohl weit und breit kein anderer Schüler zu sehen war. Meine Güte, war ich fertig. Meine Harfenhülle klingelte. Das Handy. Ich fischte es heraus und starrte es an. Ein vierblättriges Kleeblatt klebte auf der Rückseite, feucht und frisch. Keines von denen mit einem mickrigen vierten Blatt, dem man sofort ansieht, dass es nur eine Mutation eines dreiblättrigen Exemplars ist. Jedes der vier Blätter war perfekt geformt und ebenmäßig.
In diesem Moment registrierte ich, dass ja das Handy klingelte.
Ich warf einen Blick auf die Nummer, in der Hoffnung, dass es nicht meine Mutter sein möge, und klappte es auf. »Hi«, sagte ich knapp, zupfte das vierblättrige Kleeblatt von der Rückseite und steckte es in die Tasche. Konnte nicht schaden. »Oh«, sagte James mitfühlend, der meinen Tonfall sofort erkannt hatte. Obwohl seine Stimme am Telefon ein wenig dünn und knisternd klang, hatte sie die gewohnte beruhigende Wirkung. Die Galle in meiner Kehle sank ein Stück nach unten. »Ich hätte dich eher anrufen sollen, was? Du bist schon im Kotzilla-Stadium.«
»Ja.« Langsam ging ich auf die Doppeltür am Ende des Flurs zu. »Lenk mich ab, bitte.«
»Tja, ich bin spät dran«, sagte er fröhlich. »Also werde ich den Dudelsack wohl im Auto stimmen müssen und dann ohne Hemd und nur halb angezogen auf die Bühne gestürmt kommen. Ich habe angefangen, Gewichte zu stemmen. Vielleicht geben sie mir Extrapunkte für ein tolles Sixpack, falls meine musikalische Brillanz sie schon nicht vom Hocker reißt.«
»Wenn du es in deinen Rock schaffst, kriegst du von den Juroren wenigstens einen Braveheart-Bonus.«
»Spotte nicht über den Kilt, Weib. Und? Irgendwelche unterhaltsamen Träume letzte Nacht?«
»Äh …« James und ich waren zwar nur gute Freunde, trotzdem zögerte ich, ihm davon zu erzählen. Normalerweise waren meine höchst intensiven Träume ein steter Quell der Belustigung für uns. Vorletzte Nacht hatte ich geträumt, ich wäre beim Gespräch mit einer Studienberaterin von Harvard, die bis zum Hals in Käse steckte (Gouda, glaube ich). Die Stimmung des Traums von letzter Nacht hallte noch in mir nach und löste ein recht angenehmes Gefühl aus. »Ich habe nicht gut genug geschlafen, um zu träumen«, erklärte ich schließlich.
Oh. Der Mond. In diesem Augenblick fi el mir auf, dass ich in diesem Traum den Mond am Tageshimmel gesehen hatte – daher also dieses Déjà-vu-Gefühl. Wie enttäuschend, dass die Erklärung dafür so banal war.
»Tja, typisch für dich«, sagte James.
»Delia kommt auch«, erzählte ich.
»Dann steht heute wohl das schwesterliche Schlammcatchen an, ja?«
»Nein, eher die ›Mein Kind ist begabter als deins‹-Nummer. «
»Ätsch«, bemerkte James hilfreicherweise. »Oh, verflucht. Jetzt komme ich wirklich zu spät. Ich muss meinen Dudelsack ins Auto schaffen, aber wir sehen uns bald. Versuch, bis dahin nicht völlig abzudrehen.«
»Klar. Mach ich«, erwiderte ich. Ich legte auf und verstaute das Handy im Harfenkoffer. Hinter der Doppeltür war eine gedämpfte Kakophonie zu hören. Ich wartete in einer Schlange vor der Ausgabe der Teilnahmeunterlagen, wobei ich mein Instrument schrittweise mit mir zog. Endlich konnte ich den großen Umschlag entgegennehmen und wandte mich ab. In meiner Eile, wegzukommen, geriet meine Harfe gefährlich ins Schwanken und landete auf dem Schüler hinter mir, der unter dem schweren Gewicht taumelte.
»Puh. Du meine Güte.« Vorsichtig richtete er die Harfe wieder auf, als mir auffi el, dass ich ihn kannte: Es war Andrew von den Blechbläsern im Schulorchester. Trompete oder so. Jedenfalls etwas Lautes. Er grinste mich breit an – erst auf meine Brüste, dann ins Gesicht. »Immer schön vorsichtig sein, sonst haut dir hier noch etwas ab.«
»Klar.« Wenn er noch witziger wurde, würde ich ihn vollkotzen. Ich zog meine Harfe ein Stück von ihm weg. »Entschuldigung. «
»He, du kannst mich jederzeit gern mit deiner Harfe bewerfen. «
Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, also gab ich nur ein »Hm« von mir. Sekunden später versank ich wieder in der Unsichtbarkeit, und Andrew wandte sich ab. Seltsam, dass es auch heute wie an jedem gewöhnlichen Highschool-Tag war.
Aber das stimmte nicht. Als ich vor der Doppeltür stand und dem Stimmengewirr und den Instrumentenklängen lauschte, konnte ich den Grund für unsere Anwesenheit nicht beiseiteschieben. Massen von Schülern spielten sich für ihren Auftritt warm und hofften, beim alljährlichen Eastern Virginia Arts Festival einen Preis zu gewinnen – ihre große Chance, die Vertreter der Colleges und Konservatorien zu beeindrucken, die heute im Publikum sitzen würden.
Wieder drehte es mir den Magen um, und diesmal wusste ich, dass es kein Zurück gab. Ich fl oh in die Mädchentoilette im Keller unter der Turnhalle, um mich in aller Ruhe übergeben zu können. Ich ließ die Harfe vor den Waschbecken stehen und schaffte es im letzten Moment, die Arme um die alte, gräulich gelbe Klobrille zu legen, die nach zu viel Putzmittel und zu vielen Schülern roch.
Wie ich das hasse! Mein Magen gurgelte noch heftiger. Das passierte jedes Mal, wenn ich vor Publikum spielte. Auch wenn ich wusste, wie idiotisch diese Angst vor Menschenansammlungen war, dass diese Kotzerei und die flatternden Nerven allein auf mein Konto gingen, konnte ich nicht dagegen ankämpfen.
James hatte die »Angst, sich der Lächerlichkeit preiszugeben« für mich nachgeschlagen (Katagelophobie), und eines Nachmittags hatten wir es sogar mit Hypnose versucht, einschließlich Selbstverwirklichungssprüchen und Entspannungsmusik. Es war nichts dabei herausgekommen, nur dass wir beide zu begeisterten Fans von New-Age-Musik geworden waren.
Ich war immer noch nicht fertig. Blöderweise fiel mir das Haar ständig ins Gesicht, weil die ungleichmäßigen Stufen vorn zu kurz waren, um sie mit in den Pferdeschwanz zu binden. Ich stellte mir vor, wie ich die Bühne mit Bröckchen im Pony betrat. Ich weine nur, wenn ich frustriert bin, und es fehlte nicht mehr viel.
In diesem Moment spürte ich, wie eine kühle Hand mir sanft das Haar aus dem Gesicht strich. Dabei hatte ich niemanden hereinkommen hören. Trotzdem war ich nicht überrascht – als hätte ich damit gerechnet, dass jemand mich hier finden würde. Ich wusste, ohne aufzublicken, dass das die Hand eines Jungen war, und ganz sicher nicht James’.
Ich wollte den Kopf abwenden, weil mir das Ganze peinlich war, doch der Besitzer der Hand sagte bestimmt: »Denk dir nichts dabei. Du bist fast fertig.«
So war es auch. Endlich würgte ich nichts mehr hervor, sondern fühlte mich nur noch zittrig und vollkommen leer. Und aus irgendeinem Grund wollte ich nicht im Erdboden versinken, weil ein Junge hinter mir stand. Ich drehte mich um und sah nach, wer Zeuge des wahrscheinlich unattraktivsten Ausrutschers geworden war, der einem Mädchen unterlaufen kann.
Falls es Andrew war, würde ich ihm eine knallen, weil er mich angefasst hatte.
Aber es war nicht Andrew. Es war Dillon.
Dillon.
Der Typ aus meinem Traum. Der gekommen war, um mich vor öffentlicher Demütigung zu bewahren und mich im Triumph zu stehenden Ovationen zu führen.
Mit einem entwaffnenden Lächeln reichte er mir eine Hand voll Papierhandtücher. »Hallo. Ich bin Luke Dillon.« Er hatte diese typisch weiche Stimme, die nach vollkommener Selbstbeherrschung klang, eine Stimme, von der man sich nicht vorstellen konnte, dass sie jemals laut wurde. Und die sogar in einem nach Kotze riechenden Mädchenklo unglaublich sexy war.
»Luke Dillon«, wiederholte ich und bemühte mich, ihn nicht anzustarren. Mit zitternden Fingern nahm ich die Papiertaschentücher und wischte mir übers Gesicht. In meinem Traum war er verschwommen gewesen, wie alle Traummenschen, aber er war es, eindeutig. Hager wie ein Wolf, mit hellblondem Haar und noch helleren Augen. Und er sah wahnsinnig gut aus. Dieses Detail schien der Traum unterschlagen zu haben. »Du bist im Mädchenklo.«
»Ich habe dich hier drin gehört.«
»Und du stehst so vor der Kabine, dass ich nicht rauskomme.
« Das Zittern in meiner Stimme war stärker, als mir lieb war. Luke trat beiseite, um mich rauszulassen, und drehte einen Wasserhahn auf, damit ich mir das Gesicht waschen konnte.
»Möchtest du dich setzen?«
»Nein – ja – vielleicht.«
Er holte einen Klappstuhl aus dem Wandschrank hinter den Kabinen und stellte ihn neben mich. »Du bist leichenblass. Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?«
Ich ließ mich auf den Klappstuhl sinken. »Wenn ich – äh – damit fertig bin, kippe ich manchmal um.« Ich lächelte schwach, und in meinen Ohren begann es zu dröhnen. »Einer meiner – hm – besonderen Reize.«
»Lass den Kopf zwischen den Knien hängen.« Luke kniete sich neben den Stuhl und blickte mir ins Gesicht. »Du hast echt schöne Augen, weißt du das eigentlich?«
Ich antwortete ihm nicht. Gleich würde ich vor einem Wildfremden ohnmächtig auf den Toilettenboden kippen. Luke schob die Hand an meinen Armen und Beinen vorbei und presste mir ein nasses Papierhandtuch auf die Stirn, worauf das Rauschen in meinen Ohren schlagartig aufhörte.
»Danke«, murmelte ich, ehe ich mich langsam aufrichtete.
Luke hockte immer noch vor mir. »Bist du krank?« Er schien sich nicht sonderlich darum zu sorgen, dass es etwas Ansteckendes sein könnte, aber ich schüttelte energisch den Kopf.
»Nur die Nerven. Vor Auftritten muss ich mich immer übergeben. Ich weiß, dass das albern ist – aber ich kann nichts dagegen tun. Wenigstens werde ich mich jetzt nicht auf der Bühne übergeben müssen. In Ohnmacht fallen könnte ich trotzdem noch.«
»Wie viktorianisch«, bemerkte Luke. »Aber war’s das jetzt erst mal mit der Ohnmacht? Willst du lieber hierbleiben, oder sollen wir rausgehen?«
Ich stand auf. Ich kippte nicht wieder um, also war es wohl besser. »Nein, es geht schon wieder. Ich – äh – ich muss mich jetzt unbedingt einspielen. Soweit ich weiß, bin ich in einer Dreiviertelstunde dran oder so. Keine Ahnung, wie viel Zeit ich hier verplempert habe.« Ich deutete auf die Toilettenkabine.
»Tja, dann sollten wir wohl gehen, damit du üben kannst. Sie werden dir schon sagen, wann du an der Reihe bist, außerdem ist es draußen ruhiger.«
Jeden anderen Jungen an dieser Schule hätte ich spätestens jetzt stehenlassen. Ich glaube, das war die längste Unterhaltung mit irgendjemandem außer James und meiner Familie in den letzten zwei Jahren – die Kotzerei nicht einmal als Teil des Gesprächs mitgezählt.
Luke schulterte meine Harfentasche. »Ich trage sie für dich, da du ja so viktorianisch-schwächlich bist. Könntest du das hier nehmen?« Er hielt mir ein wunderschön geschnitztes Holzkästchen hin, das sehr schwer für seine Größe war. Es gefi el mir – es versprach verborgene Geheimnisse.
»Was ist da drin?« Sobald die Worte über meine Lippen gekommen waren, fi el mir auf, dass es meine erste Frage an ihn war, seit er mir das Haar aus der Stirn gestrichen hatte. Ich war gar nicht auf die Idee gekommen, irgendetwas an ihm zu hinterfragen – als sei alles, was bisher geschehen war, selbstverständlich und völlig normal, Teil eines ungeschriebenen Drehbuchs, dem wir beide folgten.
»Eine Flöte.« Luke öffnete die Toilettentür und steuerte auf einen der Hinterausgänge zu.
»An welchem Wettbewerb nimmst du teil?«
»Oh, ich bin nicht wegen des Wettbewerbs hier.«
»Sondern?«
Luke warf mir über die Schulter hinweg ein gewinnendes Lächeln zu, das den Verdacht in mir weckte, dass er möglicherweise nicht allzu oft so lächelte. »Ich bin gekommen, um dich spielen zu hören.«
Das stimmte nicht, aber seine Antwort gefi el mir trotzdem. Er führte mich hinaus in die Sonne hinter der Schule und ging auf die Picknickbänke neben dem Fußballfeld zu. Der Name eines Schülers hallte aus dem Lautsprecher über das Gelände, und Luke warf mir einen Blick zu. »Siehst du? Du wirst schon merken, wann du reinmusst.«
Wir setzten uns, er auf den Picknicktisch und ich mit meiner Harfe auf die Bank. Im gleißenden Sonnenlicht wirkten seine Augen so hell wie Glas.
»Was wirst du für mich spielen?«
Mein Magen verkrampfte sich. Er würde mich für absolut erbärmlich halten, zu nervös, um auch nur vor ihm zu spielen. »Äh …«
Er wandte den Blick ab, öffnete das Kästchen und setzte sorgfältig eine Querfl öte zusammen. »Du willst mir also erzählen, dass du eine erstklassige Musikerin bist, deine Musik aber mit niemandem teilen willst?«
»So ausgedrückt, hört sich das ziemlich egoistisch an!«
Lukes Mund verzog sich auf einer Seite, als er die Flöte an die Lippen setzte. Er blies ein hauchiges A und justierte das Instrument. »Na ja, ich habe dir das Haar aus dem Gesicht gehalten. Habe ich dafür nicht ein Lied verdient? Konzentriere dich einfach auf die Musik. Tu so, als wäre ich gar nicht da.«
»Bist du aber.«
»Tu so, als wäre ich ein Picknicktisch.«
Ich betrachtete die muskulösen Arme unter den T-Shirt-Ärmeln. »Du bist definitiv kein Picknicktisch.« Dieser Typ war definitiv kein Picknicktisch.
Luke sah mich an. »Spiel.« Seine Stimme klang stählern, und ich senkte den Blick. Nicht, weil ich beleidigt war, sondern weil er recht hatte.
Ich wandte mich meiner Harfe zu – Hallo, alte Freundin – und kippte sie auf ihren fünfzehn Zentimeter hohen Füßen, um sie gegen meine Schulter zu lehnen. Ich probierte, ob die Saiten noch gut gestimmt waren, und dann begann ich zu spielen. Die Saiten fühlten sich herrlich und butterweich an – die Harfe liebte dieses warme, feuchte Wetter.
Ich sang. Meine Stimme klang erst schüchtern, dann kräftiger, als mir klar wurde, dass ich ihn beeindrucken wollte.
Übersetzung: Katharina Volk
Copyright © 2009 der deutschsprachigen Ausgabe bei PAN-Verlag.
... weniger
Autoren-Porträt von Maggie Stiefvater
Maggie Stiefvater, geb. im November 1981 in Virginia, verlebte eine nach eigenen Worten sehr chaotische aber sehr kreative und musisch geprägte Kindheit und Jugend. Nach dem College versuchte sie u.a. als Kellnerin, Zeichenlehrerin beruflich Fuss zu fassen. Doch sehr bald schon meldeten sich ihre kreativen Talente und verlangten, ausgelebt zu werden zunächst als Musikerin und Songwriterin, dann zunehmend als bildende Künstlerin. Für ihre künstlerischen Arbeiten wurde sie inzwischen mit einigen wichtigen Preisen ausgezeichnet. Seit 2007 hat sich Stiefvater aufs Schreiben konzentriert und zählt inzwischen zu den erfolgreichsten Autorinnen der Romantasy.
Bibliographische Angaben
- Autor: Maggie Stiefvater
- 2009, 348 Seiten, Masse: 15 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Volk, Katharina
- Übersetzer: Katharina Volk
- Verlag: PAN-Verlag
- ISBN-10: 3426283107
- ISBN-13: 9783426283103
Kommentare zu "Lamento"
0 Gebrauchte Artikel zu „Lamento“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4.5 von 5 Sternen
5 Sterne 4Schreiben Sie einen Kommentar zu "Lamento".
Kommentar verfassen