Kontrolliert ausser Kontrolle
Das Tagebuch einer Magersüchtigen
Mit 16 Jahren erkrankt Hanna-Charlotte Blumroth vom Lehn an Magersucht. Ihre Gedanken kreisen fortan nur noch darum, wie sie Essen vermeiden und ihre Gewichtsabnahme beschleunigen kann. Sie zieht sich immer mehr in sich zurück und ihre Familie und...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Kontrolliert ausser Kontrolle “
Mit 16 Jahren erkrankt Hanna-Charlotte Blumroth vom Lehn an Magersucht. Ihre Gedanken kreisen fortan nur noch darum, wie sie Essen vermeiden und ihre Gewichtsabnahme beschleunigen kann. Sie zieht sich immer mehr in sich zurück und ihre Familie und Freunde reagieren hilflos und voller Sorge auf Hannas körperliche und seelische Veränderungen. Als ihr Untergewicht lebensbedrohlich wird, wird sie von ihrer Mutter in eine Klinik gebracht - der erste von vier stati- onären Aufenthalten und der Beginn eines langen Leidensweges.
Die Tagebuchaufzeichnungen von Hanna-Charlotte Blumroth vom Lehn sind die schmerzhafte Auseinandersetzung mit ihrer Krankheit und ihr Versuch, sie zu verstehen. In ihnen zeigen sich immer wieder die zwei Seiten ihrer Persönlichkeit, die kranke Seite, die sie zum zerstörerischen Hungern antreibt, und die gesunde Seite, die immer wieder an ihren Lebenswillen appelliert.
Die Tagebuchaufzeichnungen von Hanna-Charlotte Blumroth vom Lehn sind die schmerzhafte Auseinandersetzung mit ihrer Krankheit und ihr Versuch, sie zu verstehen. In ihnen zeigen sich immer wieder die zwei Seiten ihrer Persönlichkeit, die kranke Seite, die sie zum zerstörerischen Hungern antreibt, und die gesunde Seite, die immer wieder an ihren Lebenswillen appelliert.
Mit 16 Jahren erkrankt Hanna-Charlotte Blumroth vom Lehn an Magersucht. Ihre Gedanken kreisen fortan nur noch darum, wie sie Essen vermeiden und ihre Gewichtsabnahme beschleuni- gen kann. Sie zieht sich immer mehr in sich zurück und ihre Familie und Freunde reagieren hilf- los und voller Sorge auf Hannas körperliche und seelische Veränderungen. Als ihr Untergewicht lebensbedrohlich wird, wird sie von ihrer Mutter in eine Klinik gebracht - der erste von vier stati- onären Aufenthalten und der Beginn eines langen Leidensweges.
Die Tagebuchaufzeichnungen von Hanna-Charlotte Blumroth vom Lehn sind die schmerzha?e Auseinandersetzung mit ihrer Krankheit und ihr Versuch, sie zu verstehen. In ihnen zeigen sich immer wieder die zwei Seiten ihrer Persönlichkeit, die kranke Seite, die sie zum zerstörerischen Hungern antreibt, und die gesunde Seite, die immer wieder an ihren Lebenswillen appelliert.
Die Tagebuchaufzeichnungen von Hanna-Charlotte Blumroth vom Lehn sind die schmerzha?e Auseinandersetzung mit ihrer Krankheit und ihr Versuch, sie zu verstehen. In ihnen zeigen sich immer wieder die zwei Seiten ihrer Persönlichkeit, die kranke Seite, die sie zum zerstörerischen Hungern antreibt, und die gesunde Seite, die immer wieder an ihren Lebenswillen appelliert.
Lese-Probe zu „Kontrolliert ausser Kontrolle “
Kontrolliert Ausser Kontrolle - Das Tagebuch einer Magersüchtigen von Hanna-Charlotte Blumroth vom Lehn Du weißt, dass es so ist
Du lebst in einem Körper mit zwei Seelen,
Eigentlich wünschst du dir, eine würde fehlen
Da gibt's die eine, die ist gut
Durch sie schöpfst du immer wieder Mut
Da gibt's die andere, die ist schlecht
Und du weißt eigentlich, nur die gute hat recht
Doch ist das so?
Wenn du es weißt, wieso ist sie trotzdem da?
Einfach so? Weil es eben so war?
Schalte sie doch ab, ist doch kein Problem,
Du weißt, es würde dir dann viel besser gehn
Doch ist das so?
Du weißt auch, dass sie dich einzigartig macht
Und mit jedem Gramm ein Feuer in dir entfacht
Doch ist das so?
Du weißt, durch dieses Feuer wird dir warm,
Doch du weißt auch, was dieses Feuer mit dir macht:
Dein Herz wird dadurch arm.
... mehr
Heute.
VORWORT
Heute sitze ich hier und kann es kaum glauben. Vor mir liegen die über 300 Seiten meines Buches und ich weiß einfach nicht, was ich denken soll. Ich habe lange überlegt, ob ich meine tiefsten Gedanken wirklich öffentlich machen soll. Einerseits versuche ich, stolz auf mich zu sein, was immer noch sehr schwierig ist, anderseits habe ich eine Heidenangst, dass es Konsequenzen für mich haben wird, dass ich mit diesem Buch mein Innerstes preisgebe. Werde ich denn einen Freund finden, wenn er meine Vorgeschichte kennt? Werde ich vielleicht benachteiligt bei Bewerbungen? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass dieses Buch mir geholfen hat und es auch anderen helfen wird. Ich denke, es ist die richtige Entscheidung. Durch das Schreiben konnte ich über meine Kranheit reflektieren. Erst gab es nur Tagebucheinträge, ganz für mich allein, doch irgendwann bemerkte ich, dass ich kein Buch kenne, in dem Magersuchtsgedanken so klar geschildert werden. Das Erstaunliche bei Magersucht ist ja, dass sich die Gedanken, der Magersüchtigen so unglaublich ähneln. Ich möchte zum einen den Betroffenen zeigen, dass sie nicht allein sind mit ihren Gedanken und zum anderen versuchen, deren Angehörigen und Freunden die Magersucht etwas näherzubringen. Es ist einfach so, dass Menschen, die nicht magersüchtig sind, meist nicht verstehen können, dass man nicht nur Angst hat, zu essen und zuzunehmen, sondern dass schnell immer mehr Ängste dazukommen und man irgendwann gar kein normales Leben mehr führen kann.
Aus diesem Grund finde ich, dass Betroffene, Angehörige, aber auch Leute, die noch nie etwas mit diesem Thema zu tun hatten, dieses Buch lesen sollten. Es ist nichts erfunden, übertrieben oder untertrieben. Alles ist vollkommen authentisch. Und wenn ich zurückblicke, war der Schreibprozess wie eine Selbsttherapie für mich. Kaum ein Therapeut konnte mir die Krankheit so nahebringen wie meine eigenen Gedanken. Vieles wurde mir erst bewusst, nachdem ich es niedergeschrieben hatte. Und ich empfehle allen, die mit dieser Krankheit zu tun haben, sich ihre Gedanken aufzuschreiben. Es hilft!
Trotz meiner Klinikaufenthalte und des langen Weges, den ich schon gegangen bin, bin ich oftmals immer noch hin- und hergerissen zwischen meinem Wunsch, dünn zu sein, und dem Wunsch, gesund zu sein. Ich muss einfach lernen, mit meinem Körper klarzukommen. Aber das ist sehr schwer. Manchmal glaube ich, ich werde nie zufrieden sein mit meinem Körper - egal, wie viel ich wiege.
Zurzeit treffe ich viele Freunde und Bekannte wieder, die mich lange nicht gesehen haben und sehen, dass ich zugenommen habe. Ständig klingt in meinen Ohren: »Hanna, du siehst ja so gut aus. Schön, dass es dir besser geht.«
Es ist schwer, das auszuhalten. Ich habe mich daran gewöhnt, zu hören, dass ich schlecht aussehe, und es ist nicht einfach zu erklären, dass es einem nicht sofort blendend geht, nur weil man mehr wiegt und gut erholt aussieht. Das ist ja das Schwierige an der Krankheit. Es auszuhalten. Ich bin noch lange nicht gesund und mein Essverhalten hat sich in den letzten Jahren auch nicht wirklich geändert, aber ich habe die Hoffnung, dass es nach und nach besser wird. Dass ich ein geregeltes Leben führen und irgendwann wieder normal essen kann.
Ich möchte, dass die Betroffenen wissen, dass sie es ohne Hilfe nicht schaffen können. Es mag sein, dass es Mädchen und Jungs gibt, die es allein geschafft haben, aber ich würde behaupten, dass deren Zahl sehr gering ist. Je dünner man ist, desto tiefer steckt man drin und desto dringender braucht man Hilfe. Welche Hilfe das sein soll, muss man selber ausprobieren. Die Familie kann dabei zwar unterstützend sein, aber sie kann das Kind oder den Jugendlichen nicht gesund machen. Egal, ob meine Mutter und meine Oma mich angefleht oder ob sie mir gedroht haben - je mehr sie mich unter Druck gesetzt haben, desto weniger hab ich gegessen.
Fakt ist: Man muss es selber wollen. Wenn man nicht selber dahintersteht, kann man es nicht schaffen und dann kann einem auch niemand anders helfen. Wenn man starkes Untergewicht hat, braucht man auf jeden Fall professionelle Hilfe, aber auch ein Klinikaufenthalt wird wenig bringen, wenn man dort nicht lernt, seinen Körper zu akzeptieren. Es wird nichts bringen, solange man nicht selber gesund sein will. Ich kann das so genau sagen, weil ich viermal in der Klinik war und viermal nicht dorthin wollte.
Ob ich es jetzt will? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich mich nach einem normalen Leben sehne, dass es sich lohnt, zu kämpfen und nie aufzugeben. Man liebt sich nicht mehr, nur weil man dünn ist. Man muss lernen, sich zu akzeptieren und mit sich zufrieden zu sein. Aber ich glaube, das ist ein langer Lernprozess und nicht nur für mich, sondern für die meisten Menschen sehr schwer.
München und Hamm,
im Herbst 2012
Eure Hanna-Charlotte
1. Kapitel
Die Kontrolle schleicht sich heran
Ostern bis August 2008
Boah, das war zu viel! Konntest du dich wieder nicht beherrschen? « - »Du hast nicht zu viel gegessen, du hattest doch den ganzen Tag über kaum etwas, dann ist es doch klar, dass der Hunger umso größer ist.« - »Hunger hin oder her. Eine Portion hätte vollkommen gereicht und selbst die war zu groß. Auch wenn die Hälfte nur aus Salat bestand.« Darf ich vorstellen? Meine zwei Stimmen im Kopf, die mich nicht in Ruhe lassen. Sie versuchen, mir Ratschläge zu geben, wie ich mich zu fühlen habe nach dem Essen. Es ist Ostern 2008 und gerade haben wir das Osteressen meiner Oma hinter uns. Ich bin pappsatt. Satt und zufrieden? Keinesfalls! Ich fühle mich zwiespältig, denke viel über das gerade Gegessene nach und entscheide mich, der ersten Stimme in meinem Kopf recht zu geben! Es war zu viel! So wird das nichts mit der gesunden Ernährung.
»Mama, Oma, darf ich aufstehen?«
»Ja klar, Schatz, räume nur deinen Teller bitte weg.«
Ich räume meinen Teller weg und überlege. Was jetzt? Wohin? Ich muss irgendwohin, wo ich ungestört bin und ein Waschbecken oder eine Toilette ist. Das Erdgeschoss ist zu nah zu den anderen. Ich renne die weiße Treppe meiner Oma hoch, doch auch hier bin ich nicht ungestört genug, weil meine Geschwister direkt nebenan vor dem Fernseher sitzen. Da fällt mir die Mansarde ein. Ich renne die nächste Treppe hoch, direkt zum Waschbecken, lehne mich darüber und stecke mir den Finger in den Hals, bis ich würgen muss. Immer und immer wieder. Die vielen Versuche kommen mir vor wie Stunden, meine Augen fangen an zu tränen, ich fange an zu zittern. Es dauert einige Zeit, bis ich brechen kann, doch es kommt viel zu wenig. Jetzt muss ich dranbleiben, egal wie ekelig ich mich fühle, egal wie sehr mir das Würgen wehtut.
Irgendwann kommt nichts mehr hoch. Wahrscheinlich waren es nur fünf bis zehn Minuten, doch es kam mir eher vor wie fünf bis zehn Stunden. Ich spüle das Waschbecken aus, wasche meine Hände, mein Gesicht. Mein Gesicht! Ich sehe im wahrsten Sinne des Wortes »zum Kotzen« aus. Meine Augen sind aufgequollen und tränen. Mein Mund ist rot und entzündet vom Aufreißen, den Händen und der Magensäure.
Soll ich mich jetzt gut oder schlecht fühlen? Zumindest bin ich erleichtert, dass es vorbei ist. Jetzt muss ich mich nur erst mal wieder ansehnlich machen und mich von den anderen fernhalten, damit keiner was bemerkt. Warum ich das mache? Nun ja, ich möchte mich gesund ernähren und auf meine Figur achten. Ich fühle mich undiszipliniert und habe deswegen jetzt auch wieder mit Leichtathletik angefangen, zwei- bis dreimal die Woche. Hinzu kommt dann noch das Tanzen donnerstags.
So wie heute geht es eigentlich die nächsten Monate weiter. Ich ernähre mich gesund, lasse »Sünden« weg und mache ganz viel Sport. Doch manchmal hab ich so großen Hunger, dass ich meiner Meinung nach zu viel gegessen habe, wenn ich satt bin, und übergebe mich deswegen. Außer dem Übergeben ab und zu macht mir das Ganze ziemlich Spaß. Ich fühle mich gesund und fit, auch wenn ich mich manchmal sehr quälen muss, zum Sport zu gehen. Wo sich dann auch gleich wieder meine zwei Begleiterinnen melden.
»Hanna, geh nicht zum Training, es ist so schönes Wetter. Leg dich in die Sonne, du hast doch eh keine Lust.«
»Doch, Hanna, du hast Lust. Stell dir vor, was dir das bringt: Du fühlst dich doch immer so gut nach dem Sport und außerdem kannst du dann einigermaßen beruhigt zu Abend essen.«
Okay! Ich sollte wirklich zum Training gehen. Allein dafür, dass ich schon wieder überlege, könnte ich mir in den Hintern beißen. Da leuchtet auf einmal eine Nachricht von meiner Freundin auf meinem Handy auf: »Hey! Kommst du auch gleich mit zum See, ein bisschen sonnen und so? Die anderen kommen auch alle!«
Na toll! Jetzt treffen sich alle und ich kann nicht mitkommen, nur wegen des scheiß Trainings. Aber ich muss dahin, ich zieh das jetzt durch, also schreibe ich zurück: »Hey! Nein, tut mir leid, aber habe jetzt gleich Training, vielleicht beim nächsten Mal!«
Wann das alles anfing? Ich weiß es nicht ganz genau. Als die ganze Familie und der neue Freund meiner Mutter im Jahr 2007/2008 im Skiurlaub waren, ging es mir, soweit ich weiß, ganz gut. Gerade hatte ich mich einigermaßen vom Tod meines über alles geliebten Opas, der an einem Gehirntumor gestorben war, erholt. Er war wie ein Vater für mich.
Ob ich damals schon ein Problem mit mir oder meiner Figur hatte, weiß ich nicht. Kurze Zeit nach diesem Urlaub entschieden der neue Freund meiner Mutter und sie, sich zu trennen. Es tat mir unglaublich leid für meine Mutter, da sie ihn, glaube ich, sehr mochte, wobei ich nicht sagen kann, ob sie ihn zu diesem Zeitpunkt schon richtig liebte. Für mich persönlich war es nicht so schlimm. Ich fand ihn zwar nett, mehr aber auch ehrlich gesagt nicht, also störte es mich nicht sonderlich. Ich würde sagen, dass es mir auch in diesem Zeitraum noch gut ging. Allerdings war seit einiger Zeit mein leiblicher Vater Thema in der Familie.
Damals, vor 18 Jahren, war meine Mutter mit ihm verheiratet und bekam mit ihm meinen Bruder und mich. Doch nach einiger Zeit stellte sie fest, dass er sie nur noch belog. Er war kaum zu Hause und von seinem Studium längst exmatrikuliert. Es stellte sich heraus, dass er Alkoholiker war. Sie fasste sich ein Herz und zog mit meinem Bruder und mir von München nach Hamm zu ihren Eltern.
Als ich zwei Jahre alt war, heiratete sie ein zweites Mal, einen Mann, der meinen Bruder und mich adoptierte. Meine Mutter war zehn Jahre mit ihrem zweiten Mann verheiratet und bekam noch zwei weitere Kinder. Meine Geschwister Maria und Robert. Das Bedürfnis, meinen leiblichen Vater kennenzulernen, hatte ich nie. Eher war ich sauer auf ihn, weil ich fand, dass es eigentlich seine Aufgabe war, den Kontakt zu seinen Kindern zu suchen. Ich sah immer den zweiten Mann meiner Mutter, meinen Adoptivvater, als meinen richtigen Vater an. Doch als meine anderen Geschwister auf die Welt kamen, wurde das Verhältnis kritischer.
Wenn Streit herrschte, waren die Großen schuld, sodass unter den Geschwistern ein Konkurrenzgerangel entstand. Doch auch die Ehe zwischen meinen Eltern lief nicht gut. Für meine Mutter war klar, dass an erster Stelle immer die Kinder stehen und dann der Ehemann kommt. Das konnte mein Vater oft nicht nachvollziehen, sodass in der Familie ein ständiger Kampf herrschte. Wenn wir uns mal wieder stritten, hatte es zur Folge, dass meine Mutter sich auf unsere Seite schlug und uns verteidigte. Es herrschte nur noch Streit. Man könnte es sogar als Teufelskreis beschreiben. Mein Vater stritt mit uns, meine Mutter verteidigte uns, dann stritten die beiden, dann verteidigten wir Kinder unsere Mutter und so ging es immer weiter. Das Widersprüchliche war, dass ich zwar tierisch sauer auf ihn war, er mir aber immer leidtat und ich ein schlechtes Gewissen hatte. Nach wochenlangem Schweigen zwischen Mama und Papa trennten sie sich und meine Mutter zog mit uns in eine Wohnung. Anschließend lebten wir mit unserer Mutter alleine und waren jedes zweite Wochenende bei meinem Vater. Anfänglich zog ich das noch durch, doch dann besuchte ich ihn immer weniger, da ich meine Mutter zu sehr vermisste.
Als mein Bruder dann 18 wurde, sprach meine Mutter ihn noch einmal auf seinen leiblichen Vater Sven an, denn nun hatte er sowieso den Wunsch, ihn kennenzulernen. Auch ich wurde gefragt, doch ich war immer noch der Überzeugung, dass die Kontaktaufnahme Aufgabe von ihm sei. Zuerst wurde Kontakt zu Svens Mutter, also unserer leiblichen Oma, aufgenommen und ein erstes Treffen vereinbart. Als dann immer mehr versucht wurde, ein Treffen zu organisieren, hatte auch ich Interesse, den anderen Teil meiner Familie kennenzulernen. Es war sehr seltsam, plötzlich vor Menschen zu stehen, von denen man eigentlich nichts weiß, und somit lernte ich meine Oma, meine Tante, drei Cousins und eine Cousine kennen.
Mein Vater war bei diesen Treffen nicht mit dabei. Ihm ging es zu dieser Zeit gesundheitlich schon sehr schlecht und er verschob die Treffen immer wieder, weil er sich nach Aussage meiner Oma sehr schämte. Er hatte sich für das Treffen mit meinem Bruder und mir extra einen neuen Anzug gekauft und dann sollte es endlich so weit sein. Am Ostersamstag sollten wir ihn das erste Mal zu Gesicht bekommen. Max und ich wussten allerdings auch, dass man die Zeichen des Alkohols und seiner schlechten Gesundheit sehen würde. Am Karfreitag, einen Tag vorher, klopfte es an meiner Zimmertür und Max kam herein. Ich bemerkte sofort an seinem Gesicht, dass irgendetwas nicht stimmte. Nicht weil er weinte oder traurig aussah. Nein. Eigentlich sah er aus wie immer und trotzdem sah er anders aus.
»Ich muss dir was sagen. Oma Ursel hat eben angerufen ... Sven ist gestorben. An Organversagen.«
In diesem Moment wusste ich überhaupt nicht, wie ich reagieren sollte. Während Max das zu mir sagte, lächelte er zwar, doch ich wusste ganz genau, dass er eigentlich nicht lächeln wollte, also antwortete ich nur: »Oh, ähm ja. Okay. Danke fürs Sagen.«
Als er wieder hinausging, saß ich, glaube ich, zehn Minuten einfach nur da und guckte geradeaus. Ich wusste überhaupt nicht, was ich denken, geschweige denn tun sollte. Sollte ich weinen? Ich wusste ja nicht mal, ob ich traurig war. Sollte ich es einfach so hinnehmen? Schließlich kannte ich ihn gar nicht. Doch gerade, dass ich ihn nicht kannte, war so schwierig, denn langsam wurde mir klar, dass ich ihn auch niemals kennenlernen würde. Nach weiteren Minuten wusste ich dann, dass ich entweder traurig, enttäuscht oder wütend war, denn ich fing an zu weinen. Wenn mich jetzt jemand gefragt hätte, warum ich weinte, ich hätte die Frage nicht beantworten können. Ich weinte um jemanden, der wie ein geschlossenes Buch war. Ein Buch, das ich nie wieder öffnen konnte.
Trotzdem würde ich dieses Weinen nicht als Trauer beschreiben, da ich selbst nicht wusste warum, um wen, oder um was. Meiner Mutter musste ich nichts erklären. Ich glaube, sie wusste ganz genau, was ich dachte. Wenn ich von dem Tod meines Vaters erzähle, habe ich immer das Gefühl, ich müsse mich erklären. Erklären, warum ich betroffen bin, weil ich es mir selber nicht erklären kann. Außerdem habe ich das Gefühl, in ganz vielen Augen zu lesen: »Du kanntest ihn doch gar nicht.« Doch auch das war nur ein Gefühl.
Besonders in Erinnerung geblieben sind mir aus dieser Zeit die Zwischenfälle mit dem Übergeben nach dem Essen. Einen Tag nach dem Tod fand das beschriebene Osteressen bei meiner Oma Gerda statt. So geht es die nächsten Monate weiter. Eigentlich geht es mir gut und auch der Tod von Sven ist in den Hintergrund getreten. Ich fühle mich diszipliniert und fit, auch wenn ich mich manchmal mit unglaublichem Appetit herumquälen muss, was sich stark an meiner Laune bemerkbar macht und sich auf meine eigentliche Freundlichkeit auswirkt.
Auch meine Freundinnen und mein Freund werden stutzig.
»Sehen wir uns denn mal diese Woche irgendwann?«, fragt mich mein Freund.
»Also Montag, Mittwoch und Freitag bin ich beim Training«, erwidere ich.
»Ja, und ich habe Dienstag und Donnerstag Training und am Sonntag habe ich ein Fußballspiel, willst du dann vielleicht am Samstag zu mir kommen?«
Früher wollte ich meinen Freund am besten jeden Tag sehen. Am besten jedes Wochenende bei ihm verbringen. Am besten immer zusammen feiern gehen und zusammen die Feier verlassen. In dieser Hinsicht war meine Vorstellung von einer Beziehung sehr an den vielen Liebesbüchern und Liebesfilmen orientiert, die ich gelesen und gesehen hatte.
Aber jetzt hat sich der Spieß umgedreht. Jetzt gehe ich lieber zum Sport. Er merkt meine Veränderung und versucht, noch irgendetwas geradezubiegen. Er bemüht sich um mich, lädt mich zu sich ein. Doch ich denke nur noch daran, wie unerträglich ich meinen Körper finde.
© SCHWARZKOPF & SCHWARZKOPF (Verlag)
Heute.
VORWORT
Heute sitze ich hier und kann es kaum glauben. Vor mir liegen die über 300 Seiten meines Buches und ich weiß einfach nicht, was ich denken soll. Ich habe lange überlegt, ob ich meine tiefsten Gedanken wirklich öffentlich machen soll. Einerseits versuche ich, stolz auf mich zu sein, was immer noch sehr schwierig ist, anderseits habe ich eine Heidenangst, dass es Konsequenzen für mich haben wird, dass ich mit diesem Buch mein Innerstes preisgebe. Werde ich denn einen Freund finden, wenn er meine Vorgeschichte kennt? Werde ich vielleicht benachteiligt bei Bewerbungen? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass dieses Buch mir geholfen hat und es auch anderen helfen wird. Ich denke, es ist die richtige Entscheidung. Durch das Schreiben konnte ich über meine Kranheit reflektieren. Erst gab es nur Tagebucheinträge, ganz für mich allein, doch irgendwann bemerkte ich, dass ich kein Buch kenne, in dem Magersuchtsgedanken so klar geschildert werden. Das Erstaunliche bei Magersucht ist ja, dass sich die Gedanken, der Magersüchtigen so unglaublich ähneln. Ich möchte zum einen den Betroffenen zeigen, dass sie nicht allein sind mit ihren Gedanken und zum anderen versuchen, deren Angehörigen und Freunden die Magersucht etwas näherzubringen. Es ist einfach so, dass Menschen, die nicht magersüchtig sind, meist nicht verstehen können, dass man nicht nur Angst hat, zu essen und zuzunehmen, sondern dass schnell immer mehr Ängste dazukommen und man irgendwann gar kein normales Leben mehr führen kann.
Aus diesem Grund finde ich, dass Betroffene, Angehörige, aber auch Leute, die noch nie etwas mit diesem Thema zu tun hatten, dieses Buch lesen sollten. Es ist nichts erfunden, übertrieben oder untertrieben. Alles ist vollkommen authentisch. Und wenn ich zurückblicke, war der Schreibprozess wie eine Selbsttherapie für mich. Kaum ein Therapeut konnte mir die Krankheit so nahebringen wie meine eigenen Gedanken. Vieles wurde mir erst bewusst, nachdem ich es niedergeschrieben hatte. Und ich empfehle allen, die mit dieser Krankheit zu tun haben, sich ihre Gedanken aufzuschreiben. Es hilft!
Trotz meiner Klinikaufenthalte und des langen Weges, den ich schon gegangen bin, bin ich oftmals immer noch hin- und hergerissen zwischen meinem Wunsch, dünn zu sein, und dem Wunsch, gesund zu sein. Ich muss einfach lernen, mit meinem Körper klarzukommen. Aber das ist sehr schwer. Manchmal glaube ich, ich werde nie zufrieden sein mit meinem Körper - egal, wie viel ich wiege.
Zurzeit treffe ich viele Freunde und Bekannte wieder, die mich lange nicht gesehen haben und sehen, dass ich zugenommen habe. Ständig klingt in meinen Ohren: »Hanna, du siehst ja so gut aus. Schön, dass es dir besser geht.«
Es ist schwer, das auszuhalten. Ich habe mich daran gewöhnt, zu hören, dass ich schlecht aussehe, und es ist nicht einfach zu erklären, dass es einem nicht sofort blendend geht, nur weil man mehr wiegt und gut erholt aussieht. Das ist ja das Schwierige an der Krankheit. Es auszuhalten. Ich bin noch lange nicht gesund und mein Essverhalten hat sich in den letzten Jahren auch nicht wirklich geändert, aber ich habe die Hoffnung, dass es nach und nach besser wird. Dass ich ein geregeltes Leben führen und irgendwann wieder normal essen kann.
Ich möchte, dass die Betroffenen wissen, dass sie es ohne Hilfe nicht schaffen können. Es mag sein, dass es Mädchen und Jungs gibt, die es allein geschafft haben, aber ich würde behaupten, dass deren Zahl sehr gering ist. Je dünner man ist, desto tiefer steckt man drin und desto dringender braucht man Hilfe. Welche Hilfe das sein soll, muss man selber ausprobieren. Die Familie kann dabei zwar unterstützend sein, aber sie kann das Kind oder den Jugendlichen nicht gesund machen. Egal, ob meine Mutter und meine Oma mich angefleht oder ob sie mir gedroht haben - je mehr sie mich unter Druck gesetzt haben, desto weniger hab ich gegessen.
Fakt ist: Man muss es selber wollen. Wenn man nicht selber dahintersteht, kann man es nicht schaffen und dann kann einem auch niemand anders helfen. Wenn man starkes Untergewicht hat, braucht man auf jeden Fall professionelle Hilfe, aber auch ein Klinikaufenthalt wird wenig bringen, wenn man dort nicht lernt, seinen Körper zu akzeptieren. Es wird nichts bringen, solange man nicht selber gesund sein will. Ich kann das so genau sagen, weil ich viermal in der Klinik war und viermal nicht dorthin wollte.
Ob ich es jetzt will? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass ich mich nach einem normalen Leben sehne, dass es sich lohnt, zu kämpfen und nie aufzugeben. Man liebt sich nicht mehr, nur weil man dünn ist. Man muss lernen, sich zu akzeptieren und mit sich zufrieden zu sein. Aber ich glaube, das ist ein langer Lernprozess und nicht nur für mich, sondern für die meisten Menschen sehr schwer.
München und Hamm,
im Herbst 2012
Eure Hanna-Charlotte
1. Kapitel
Die Kontrolle schleicht sich heran
Ostern bis August 2008
Boah, das war zu viel! Konntest du dich wieder nicht beherrschen? « - »Du hast nicht zu viel gegessen, du hattest doch den ganzen Tag über kaum etwas, dann ist es doch klar, dass der Hunger umso größer ist.« - »Hunger hin oder her. Eine Portion hätte vollkommen gereicht und selbst die war zu groß. Auch wenn die Hälfte nur aus Salat bestand.« Darf ich vorstellen? Meine zwei Stimmen im Kopf, die mich nicht in Ruhe lassen. Sie versuchen, mir Ratschläge zu geben, wie ich mich zu fühlen habe nach dem Essen. Es ist Ostern 2008 und gerade haben wir das Osteressen meiner Oma hinter uns. Ich bin pappsatt. Satt und zufrieden? Keinesfalls! Ich fühle mich zwiespältig, denke viel über das gerade Gegessene nach und entscheide mich, der ersten Stimme in meinem Kopf recht zu geben! Es war zu viel! So wird das nichts mit der gesunden Ernährung.
»Mama, Oma, darf ich aufstehen?«
»Ja klar, Schatz, räume nur deinen Teller bitte weg.«
Ich räume meinen Teller weg und überlege. Was jetzt? Wohin? Ich muss irgendwohin, wo ich ungestört bin und ein Waschbecken oder eine Toilette ist. Das Erdgeschoss ist zu nah zu den anderen. Ich renne die weiße Treppe meiner Oma hoch, doch auch hier bin ich nicht ungestört genug, weil meine Geschwister direkt nebenan vor dem Fernseher sitzen. Da fällt mir die Mansarde ein. Ich renne die nächste Treppe hoch, direkt zum Waschbecken, lehne mich darüber und stecke mir den Finger in den Hals, bis ich würgen muss. Immer und immer wieder. Die vielen Versuche kommen mir vor wie Stunden, meine Augen fangen an zu tränen, ich fange an zu zittern. Es dauert einige Zeit, bis ich brechen kann, doch es kommt viel zu wenig. Jetzt muss ich dranbleiben, egal wie ekelig ich mich fühle, egal wie sehr mir das Würgen wehtut.
Irgendwann kommt nichts mehr hoch. Wahrscheinlich waren es nur fünf bis zehn Minuten, doch es kam mir eher vor wie fünf bis zehn Stunden. Ich spüle das Waschbecken aus, wasche meine Hände, mein Gesicht. Mein Gesicht! Ich sehe im wahrsten Sinne des Wortes »zum Kotzen« aus. Meine Augen sind aufgequollen und tränen. Mein Mund ist rot und entzündet vom Aufreißen, den Händen und der Magensäure.
Soll ich mich jetzt gut oder schlecht fühlen? Zumindest bin ich erleichtert, dass es vorbei ist. Jetzt muss ich mich nur erst mal wieder ansehnlich machen und mich von den anderen fernhalten, damit keiner was bemerkt. Warum ich das mache? Nun ja, ich möchte mich gesund ernähren und auf meine Figur achten. Ich fühle mich undiszipliniert und habe deswegen jetzt auch wieder mit Leichtathletik angefangen, zwei- bis dreimal die Woche. Hinzu kommt dann noch das Tanzen donnerstags.
So wie heute geht es eigentlich die nächsten Monate weiter. Ich ernähre mich gesund, lasse »Sünden« weg und mache ganz viel Sport. Doch manchmal hab ich so großen Hunger, dass ich meiner Meinung nach zu viel gegessen habe, wenn ich satt bin, und übergebe mich deswegen. Außer dem Übergeben ab und zu macht mir das Ganze ziemlich Spaß. Ich fühle mich gesund und fit, auch wenn ich mich manchmal sehr quälen muss, zum Sport zu gehen. Wo sich dann auch gleich wieder meine zwei Begleiterinnen melden.
»Hanna, geh nicht zum Training, es ist so schönes Wetter. Leg dich in die Sonne, du hast doch eh keine Lust.«
»Doch, Hanna, du hast Lust. Stell dir vor, was dir das bringt: Du fühlst dich doch immer so gut nach dem Sport und außerdem kannst du dann einigermaßen beruhigt zu Abend essen.«
Okay! Ich sollte wirklich zum Training gehen. Allein dafür, dass ich schon wieder überlege, könnte ich mir in den Hintern beißen. Da leuchtet auf einmal eine Nachricht von meiner Freundin auf meinem Handy auf: »Hey! Kommst du auch gleich mit zum See, ein bisschen sonnen und so? Die anderen kommen auch alle!«
Na toll! Jetzt treffen sich alle und ich kann nicht mitkommen, nur wegen des scheiß Trainings. Aber ich muss dahin, ich zieh das jetzt durch, also schreibe ich zurück: »Hey! Nein, tut mir leid, aber habe jetzt gleich Training, vielleicht beim nächsten Mal!«
Wann das alles anfing? Ich weiß es nicht ganz genau. Als die ganze Familie und der neue Freund meiner Mutter im Jahr 2007/2008 im Skiurlaub waren, ging es mir, soweit ich weiß, ganz gut. Gerade hatte ich mich einigermaßen vom Tod meines über alles geliebten Opas, der an einem Gehirntumor gestorben war, erholt. Er war wie ein Vater für mich.
Ob ich damals schon ein Problem mit mir oder meiner Figur hatte, weiß ich nicht. Kurze Zeit nach diesem Urlaub entschieden der neue Freund meiner Mutter und sie, sich zu trennen. Es tat mir unglaublich leid für meine Mutter, da sie ihn, glaube ich, sehr mochte, wobei ich nicht sagen kann, ob sie ihn zu diesem Zeitpunkt schon richtig liebte. Für mich persönlich war es nicht so schlimm. Ich fand ihn zwar nett, mehr aber auch ehrlich gesagt nicht, also störte es mich nicht sonderlich. Ich würde sagen, dass es mir auch in diesem Zeitraum noch gut ging. Allerdings war seit einiger Zeit mein leiblicher Vater Thema in der Familie.
Damals, vor 18 Jahren, war meine Mutter mit ihm verheiratet und bekam mit ihm meinen Bruder und mich. Doch nach einiger Zeit stellte sie fest, dass er sie nur noch belog. Er war kaum zu Hause und von seinem Studium längst exmatrikuliert. Es stellte sich heraus, dass er Alkoholiker war. Sie fasste sich ein Herz und zog mit meinem Bruder und mir von München nach Hamm zu ihren Eltern.
Als ich zwei Jahre alt war, heiratete sie ein zweites Mal, einen Mann, der meinen Bruder und mich adoptierte. Meine Mutter war zehn Jahre mit ihrem zweiten Mann verheiratet und bekam noch zwei weitere Kinder. Meine Geschwister Maria und Robert. Das Bedürfnis, meinen leiblichen Vater kennenzulernen, hatte ich nie. Eher war ich sauer auf ihn, weil ich fand, dass es eigentlich seine Aufgabe war, den Kontakt zu seinen Kindern zu suchen. Ich sah immer den zweiten Mann meiner Mutter, meinen Adoptivvater, als meinen richtigen Vater an. Doch als meine anderen Geschwister auf die Welt kamen, wurde das Verhältnis kritischer.
Wenn Streit herrschte, waren die Großen schuld, sodass unter den Geschwistern ein Konkurrenzgerangel entstand. Doch auch die Ehe zwischen meinen Eltern lief nicht gut. Für meine Mutter war klar, dass an erster Stelle immer die Kinder stehen und dann der Ehemann kommt. Das konnte mein Vater oft nicht nachvollziehen, sodass in der Familie ein ständiger Kampf herrschte. Wenn wir uns mal wieder stritten, hatte es zur Folge, dass meine Mutter sich auf unsere Seite schlug und uns verteidigte. Es herrschte nur noch Streit. Man könnte es sogar als Teufelskreis beschreiben. Mein Vater stritt mit uns, meine Mutter verteidigte uns, dann stritten die beiden, dann verteidigten wir Kinder unsere Mutter und so ging es immer weiter. Das Widersprüchliche war, dass ich zwar tierisch sauer auf ihn war, er mir aber immer leidtat und ich ein schlechtes Gewissen hatte. Nach wochenlangem Schweigen zwischen Mama und Papa trennten sie sich und meine Mutter zog mit uns in eine Wohnung. Anschließend lebten wir mit unserer Mutter alleine und waren jedes zweite Wochenende bei meinem Vater. Anfänglich zog ich das noch durch, doch dann besuchte ich ihn immer weniger, da ich meine Mutter zu sehr vermisste.
Als mein Bruder dann 18 wurde, sprach meine Mutter ihn noch einmal auf seinen leiblichen Vater Sven an, denn nun hatte er sowieso den Wunsch, ihn kennenzulernen. Auch ich wurde gefragt, doch ich war immer noch der Überzeugung, dass die Kontaktaufnahme Aufgabe von ihm sei. Zuerst wurde Kontakt zu Svens Mutter, also unserer leiblichen Oma, aufgenommen und ein erstes Treffen vereinbart. Als dann immer mehr versucht wurde, ein Treffen zu organisieren, hatte auch ich Interesse, den anderen Teil meiner Familie kennenzulernen. Es war sehr seltsam, plötzlich vor Menschen zu stehen, von denen man eigentlich nichts weiß, und somit lernte ich meine Oma, meine Tante, drei Cousins und eine Cousine kennen.
Mein Vater war bei diesen Treffen nicht mit dabei. Ihm ging es zu dieser Zeit gesundheitlich schon sehr schlecht und er verschob die Treffen immer wieder, weil er sich nach Aussage meiner Oma sehr schämte. Er hatte sich für das Treffen mit meinem Bruder und mir extra einen neuen Anzug gekauft und dann sollte es endlich so weit sein. Am Ostersamstag sollten wir ihn das erste Mal zu Gesicht bekommen. Max und ich wussten allerdings auch, dass man die Zeichen des Alkohols und seiner schlechten Gesundheit sehen würde. Am Karfreitag, einen Tag vorher, klopfte es an meiner Zimmertür und Max kam herein. Ich bemerkte sofort an seinem Gesicht, dass irgendetwas nicht stimmte. Nicht weil er weinte oder traurig aussah. Nein. Eigentlich sah er aus wie immer und trotzdem sah er anders aus.
»Ich muss dir was sagen. Oma Ursel hat eben angerufen ... Sven ist gestorben. An Organversagen.«
In diesem Moment wusste ich überhaupt nicht, wie ich reagieren sollte. Während Max das zu mir sagte, lächelte er zwar, doch ich wusste ganz genau, dass er eigentlich nicht lächeln wollte, also antwortete ich nur: »Oh, ähm ja. Okay. Danke fürs Sagen.«
Als er wieder hinausging, saß ich, glaube ich, zehn Minuten einfach nur da und guckte geradeaus. Ich wusste überhaupt nicht, was ich denken, geschweige denn tun sollte. Sollte ich weinen? Ich wusste ja nicht mal, ob ich traurig war. Sollte ich es einfach so hinnehmen? Schließlich kannte ich ihn gar nicht. Doch gerade, dass ich ihn nicht kannte, war so schwierig, denn langsam wurde mir klar, dass ich ihn auch niemals kennenlernen würde. Nach weiteren Minuten wusste ich dann, dass ich entweder traurig, enttäuscht oder wütend war, denn ich fing an zu weinen. Wenn mich jetzt jemand gefragt hätte, warum ich weinte, ich hätte die Frage nicht beantworten können. Ich weinte um jemanden, der wie ein geschlossenes Buch war. Ein Buch, das ich nie wieder öffnen konnte.
Trotzdem würde ich dieses Weinen nicht als Trauer beschreiben, da ich selbst nicht wusste warum, um wen, oder um was. Meiner Mutter musste ich nichts erklären. Ich glaube, sie wusste ganz genau, was ich dachte. Wenn ich von dem Tod meines Vaters erzähle, habe ich immer das Gefühl, ich müsse mich erklären. Erklären, warum ich betroffen bin, weil ich es mir selber nicht erklären kann. Außerdem habe ich das Gefühl, in ganz vielen Augen zu lesen: »Du kanntest ihn doch gar nicht.« Doch auch das war nur ein Gefühl.
Besonders in Erinnerung geblieben sind mir aus dieser Zeit die Zwischenfälle mit dem Übergeben nach dem Essen. Einen Tag nach dem Tod fand das beschriebene Osteressen bei meiner Oma Gerda statt. So geht es die nächsten Monate weiter. Eigentlich geht es mir gut und auch der Tod von Sven ist in den Hintergrund getreten. Ich fühle mich diszipliniert und fit, auch wenn ich mich manchmal mit unglaublichem Appetit herumquälen muss, was sich stark an meiner Laune bemerkbar macht und sich auf meine eigentliche Freundlichkeit auswirkt.
Auch meine Freundinnen und mein Freund werden stutzig.
»Sehen wir uns denn mal diese Woche irgendwann?«, fragt mich mein Freund.
»Also Montag, Mittwoch und Freitag bin ich beim Training«, erwidere ich.
»Ja, und ich habe Dienstag und Donnerstag Training und am Sonntag habe ich ein Fußballspiel, willst du dann vielleicht am Samstag zu mir kommen?«
Früher wollte ich meinen Freund am besten jeden Tag sehen. Am besten jedes Wochenende bei ihm verbringen. Am besten immer zusammen feiern gehen und zusammen die Feier verlassen. In dieser Hinsicht war meine Vorstellung von einer Beziehung sehr an den vielen Liebesbüchern und Liebesfilmen orientiert, die ich gelesen und gesehen hatte.
Aber jetzt hat sich der Spieß umgedreht. Jetzt gehe ich lieber zum Sport. Er merkt meine Veränderung und versucht, noch irgendetwas geradezubiegen. Er bemüht sich um mich, lädt mich zu sich ein. Doch ich denke nur noch daran, wie unerträglich ich meinen Körper finde.
© SCHWARZKOPF & SCHWARZKOPF (Verlag)
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Autoren-Porträt von Hanna-Charlotte Blumroth vom Lehn
Hanna-Charlotte Blumroth vom Lehn wurde 1991 in München geboren. Nach Beginn ihrer Ma- gersucht im Jahre 2008 hielt sie sich bis 2011 aufgrund ihrer Essstörung vier Mal in einer Klinik auf und machte zwischen diesen Aufenthalten ihr Abitur.2011 drehte stern TV zwei Beiträge über sie und ihre Krankheit, auf die sie grosse Zuschauerreso- nanz erhielt. Gerade hat Hanna-Charlotte Blumroth vom Lehn ihr Studium der Erziehungswis- senscha_en in Bielefeld begonnen. Kontrolliert ausser Kontrolle ist ihr erstes Buch und aus Tage- buchaufzeichnungen entstanden.
Bibliographische Angaben
- Autor: Hanna-Charlotte Blumroth vom Lehn
- 2012, 352 Seiten, Masse: 12,5 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Schwarzkopf & Schwarzkopf
- ISBN-10: 3862651991
- ISBN-13: 9783862651993
- Erscheinungsdatum: 30.10.2012
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