Kein Entkommen
Thriller. Deutsche Erstausgabe
David unternimmt mit der Familie einen Ausflug nach Five Mountains. Sohn Ethan soll dort seinen Spaß haben und auch Gattin Jan wird die Abwechslung gut tun. Doch es kommt anders: Jan ist plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Auf einem...
- Kreditkarte, Paypal, Rechnungskauf
- 30 Tage Widerrufsrecht
Produktdetails
Produktinformationen zu „Kein Entkommen “
David unternimmt mit der Familie einen Ausflug nach Five Mountains. Sohn Ethan soll dort seinen Spaß haben und auch Gattin Jan wird die Abwechslung gut tun. Doch es kommt anders: Jan ist plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Auf einem Überwachungsvideo ist sie gar nicht zu sehen. David gerät unter Mordverdacht.
Klappentext zu „Kein Entkommen “
Sonne, Softeis, Kinderlachen. So hatte sich David den heutigen Tag vorgestellt. Ein Ausflug nach Five Mountains würde Davids Sohn Ethan gefallen. Auch seine depressive Frau Jan würde auf andere Gedanken kommen. Als sie in der Menge verschwindet, wird David panisch. Will sie sich etwas antun? Später zeigen die Überwachungskameras ihn mit seinem Sohn an der Kasse - ohne Jan. Plötzlich steht David selbst im Zentrum der Ermittlungen: unter Mordverdacht ...Lese-Probe zu „Kein Entkommen “
Kein Entkommen von Linwood Barclay... mehr
Im Park wimmelte es von Menschen. Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Besuchern waren unterwegs. Eltern mit kleinen und größeren Kindern. Großeltern mit ihren Enkeln im Schlepptau oder umgekehrt.
»Ich glaube, da drüben ist der Eisstand«, sagte ich und schob den Buggy an. »Na, wie wär's mit ein oder zwei Kugeln?«
Ethan schwieg.
»He, was ist los? Sag bloß, du willst kein Eis?«
Als er immer noch keine Antwort gab, blieb ich stehen, um einen Blick auf ihn zu werfen. Seine Augen waren geschlossen.
Unser kleiner Mann war eingeschlafen.
»Ich fasse es nicht«, murmelte ich. Wir waren noch mit keinem einzigen Karussell gefahren, und er befand sich bereits im Reich der Träume.
»Alles okay?«
Ich wandte mich um. Jan war wieder da. Der Schweiß lief ihr von der Stirn. Über ihrer Schulter hing der Rucksack. »Er ist eingenickt«, sagte ich.
»Ist nicht wahr«, sagte sie.
»Wahrscheinlich ist er ohnmächtig geworden, als er das Ding da drüben gesehen hat.« Ich deutete auf die Achterbahn.
»Ich habe einen Stein im Schuh«, sagte Jan und navigierte den Buggy zu einer kleinen Betonmauer vor einer Wiese. Sie hockte sich darauf und zog den Buggy zu sich heran.
»Wollen wir uns ein Eis teilen?«, fragte sie. »Ich bin völlig ausgedörrt.«
Ich wusste, was sie dachte. Jetzt hatten wir die Gelegenheit, etwas exklusiv für uns zu genießen. Ethan würde noch jede Menge Junkfood bekommen, bevor der Tag zu Ende war, aber dieses Eis wäre nur für uns allein.
»Mit Schokoglasur?«, fragte ich.
»Überrasch mich«, sagte sie und hob den linken Fuß auf ihr rechtes Knie. »Brauchst du Geld?«
»Hab ich dabei«, sagte ich und klopfte mir auf die Gesäßtasche. Ich wandte mich ab und ging zum Eisstand, wo es dieses weiche weiße Zeug aus der Maschine gab. Ganz bestimmt nicht mein Lieblingseis - mir ist richtiges Eis lieber als dieses künstliche -, doch immerhin gelang es dem jungen Mädchen, das meine Bestellung entgegennahm, die Tüte perfekt zu drehen und sie anschließend auf meinen Wunsch mit Schokolade zu überziehen, die das Eis wie eine zweite Haut umschloss.
Ganz vorsichtig knabberte ich an der Schokolade, bereute es aber sofort. Ich hätte Jan den ersten Bissen überlassen sollen. Egal, ich würde es während der nächsten Tage wiedergutmachen, am Montag Blumen mit nach Hause bringen, einen Babysitter organisieren und sie während der Woche zum Essen ausführen. Was Jan gerade durchmachte - vielleicht war es meine Schuld. Ich war nicht aufmerksam genug gewesen. Hatte mich nicht genug angestrengt.
Ich wollte, dass Jan endlich wieder auf die Beine kam. Wir würden ihre Probleme überwinden und unsere Ehe gemeinsam wieder ins Gleis bringen.
Als ich mich umdrehte, sah ich Jan plötzlich auf mich zukommen. Obwohl sie nach wie vor ihre Sonnenbrille trug, sah ich, dass sie völlig aufgelöst war. Eine Träne lief ihr über die Wange, und das Entsetzen stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
Wo war der Buggy? Ich warf einen Blick zu der Stelle, wo sie eben noch gesessen hatte.
Sie lief auf mich zu und ergriff mich an den Armen.
»Ich habe nur eine Sekunde nicht hingesehen«, stieß sie hervor.
»Was?«
»Mein Schuh.« Ihre Stimme zitterte. »Ich ... ich wollte doch nur den Stein rausholen, und dann ... Als ich mich umgesehen habe, war Ethan plötzlich nicht mehr ...«
»Jan, was ist denn los?«
»Irgendjemand hat ihn mitgenommen«, erklärte sie mit brüchiger Stimme. »Als ich nach ihm gesehen habe, war er auf einmal ... «
Ich schob mich bereits an ihr vorbei und ging im Eiltempo zu der Stelle, wo ich sie und Ethan zuletzt gesehen hatte.
Der Buggy war verschwunden.
Ich stieg auf die kleine Mauer und ließ den Blick über die Leute schweifen.
Bloß eine Verwechslung, dachte ich. Nur keine Panik. Ethan ist jede Sekunde wieder da. Irgendeine Mutter hat aus Versehen den falschen Buggy mitgenommen.
»Ethan!«, rief ich. Menschen strömten an mir vorbei, ohne mir Beachtung zu schenken. »Ethan!«, rief ich abermals.
Jan sah zu mir auf. »Siehst du ihn irgendwo?«
»Wie ist das möglich?«, platzte ich heraus. »Wie konnte das passieren?«
»Habe ich doch gerade gesagt. Ich habe einen Moment nicht aufgepasst, und ... «
»Wie konntest du das tun? Wie konntest du ihn aus den Augen lassen?«
Jan öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Ich wollte ein weiteres Mal nachhaken, was in aller Welt passiert war, gelangte jedoch zu dem Schluss, dass ich nur unsere Zeit verschwendete.
In diesem Augenblick kam mir etwas ganz anderes in den Sinn - jene Schauermärchen, wie man sie immer wieder im Fernsehen sieht.
»Ich habe das vom Freund eines Freundes gehört«, fingen diese Berichte immer an. »Ein Ehepaar aus Promise Falls ist nach Florida in Urlaub geflogen. Und in einem der großen Vergnügungsparks in Orlando ist auf einmal ihr kleiner Sohn verschwunden - vielleicht war es auch ein kleines Mädchen, ich erinnere mich nicht genau. Die Entführer haben den Kleinen in den nächsten Waschraum mitgenommen, ihm die Haare geschnitten, etwas anderes angezogen und ihn anschließend aus dem Park geschmuggelt. Aber in den Medien ist nie darüber berichtet worden, weil die Betreiber des Parks um jeden Preis schlechte Publicity verhindern wollen.«
Unsinn. An solchen Ammenmärchen war nichts dran. Aber jetzt ...
»Geh zurück zum Eingang«, befahl ich Jan so ruhig wie möglich. »Falls tatsächlich jemand versucht, Ethan zu entführen, muss er da durch. Außerdem stehen dort garantiert Wachleute. Sag ihnen, was passiert ist.« Ich warf einen Blick auf das Eis in meiner Hand und warf es weg.
»Und was machst du?«, fragte sie.
»Ich gehe in diese Richtung«, sagte ich und deutete auf den Weg jenseits des Eisstands. Weiter hinten befanden sich Toiletten. Vielleicht hatte jemand unseren Sohn in einen der Waschräume verschleppt.
Jan lief los, warf einen Blick über die Schulter und bedeutete mir mit einer Geste, sie sofort auf dem Handy anzurufen, wenn ich etwas herausgefunden hatte. Ich nickte und lief in die entgegengesetzte Richtung.
Ich ließ den Blick über die Parkbesucher schweifen, während ich zur Herrentoilette rannte. Die Stimmen von Kindern und Erwachsenen hallten von den gefliesten Wänden wider, vermischten sich mit dem surrenden Gebläse eines Händetrockners. Ein Mann hielt einen etwa dreijährigen Jungen über eines der Pissoirs. Ein älterer Herr wusch sich die Hände an einem der Waschbecken. Ein Teenager hielt seine Hände in den warmen Luftstrahl des Trockners.
Ich stürmte an ihnen vorbei zu den Toiletten. Es waren sechs Kabinen, die bis auf die vierte allesamt offen standen. Ich klopfte an die Tür.
»Mal langsam!«, rief eine Männerstimme. »Ich brauche noch 'ne Minute!«
»Was treiben Sie da drin?«
»Was geht Sie das an?«
Ich spähte durch den Spalt zwischen Tür und Boden und erblickte einen beleibten Mann, der auf dem Klo saß. Allein, daran bestand nicht der geringste Zweifel.
»Verpiss dich!«, bellte der Mann.
Um ein Haar glitt ich auf den nassen Fliesen aus, als ich wieder nach draußen lief. Die gleißende Sonne blendete mich. Ein Gefühl der Mutlosigkeit erfasste mich beim Anblick all der Menschen, die an mir vorbeiströmten.
Ethan konnte überall sein.
Ich hatte keine Ahnung, in welcher Richtung ich suchen sollte, aber egal - alles war besser, als nichts zu tun. Ich lief zur nächstgelegenen Achterbahn, dem Humdinger, vor dem sich etwa hundert Leute für die nächste Fahrt angestellt hatten. Ich ließ den Blick über die Wartenden schweifen, hielt Ausschau nach unserem Buggy, nach Ethan.
Nichts. Weiter vorn befand sich Kidland Adventure, der Teil des Parks mit den Karussells für die kleinen Kinder. Aber die Vorstellung war völlig idiotisch - warum sollte jemand Ethan entführen, um anschließend mit ihm Karussell fahren zu gehen? Es sei denn, jemand hatte sich den Buggy geschnappt und war schnurstracks weitermarschiert, ohne einen Blick in den Kinderwagen zu werfen. Einmal, im Einkaufszentrum, war es mir beinahe selbst passiert. Diese dämlichen Buggys glichen einander wie ein Ei dem anderen.
Einige Meter vor mir erspähte ich eine pummelige Frau mit einem Buggy, der unserem zum Verwechseln ähnlich sah. Ich hetzte los, holte sie ein und warf einen Blick in den Kinderwagen.
Es war ein etwa dreijähriges Mädchen in einem rosaroten Kleid, deren Gesicht mit roten und grünen Punkten bemalt war.
»Haben Sie irgendwelche Probleme, Mister?«, fragte die Frau.
»Entschuldigung«, sagte ich und lief weiter, während ich unablässig Ausschau nach Ethan und unserem Buggy hielt.
Dann fiel mir der nächste ins Auge. Ein blauer Kinderwagen, in dessen Korb eine kleine Leinentasche lag.
Der Buggy stand herrenlos auf dem Weg. Ob sich ein Kind darin befand, konnte ich allerdings nicht erkennen.
Aus dem Augenwinkel registrierte ich einen bärtigen Mann, der es offenbar ziemlich eilig hatte.
Ohne ihn weiter zu beachten, lief ich auf den Buggy zu. Bitte, bitte, bitte ...
Ich erreichte den Buggy und warf einen Blick hinein.
Und da lag er in süßem Schlummer. Er war nicht einmal aufgewacht. Sein Kopf war leicht zur Seite geneigt, und seine Augen waren geschlossen.
»Ethan!«, stieß ich hervor, hob ihn aus dem Buggy und drückte ihn fest an mich. »Ethan! O mein Gott, Ethan!«
Ich hielt ihn ein Stück von mir und sah ihn an. Er zog die Stirn in Falten, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. »Alles okay«, sagte ich. »Alles okay, Ethan. Daddy ist ja bei dir.«
Im selben Moment ging mir auf, dass er keineswegs Angst hatte, schon gar nicht vor irgendwelchen Entführern. Er war schlecht gelaunt, weil ich ihn aus seinem Nickerchen geweckt hatte.
Was mich nicht davon abhielt, ihm wieder und wieder zu versichern, dass alles in Ordnung war. Ich drückte ihn fest an mich und streichelte seinen Kopf.
Als ich ihm wieder ins Gesicht sah, zitterte seine Unterlippe nicht mehr. Er deutete auf meinen Mundwinkel. »Hast du Schokolade gegessen?«
Im Park wimmelte es von Menschen. Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Besuchern waren unterwegs. Eltern mit kleinen und größeren Kindern. Großeltern mit ihren Enkeln im Schlepptau oder umgekehrt.
»Ich glaube, da drüben ist der Eisstand«, sagte ich und schob den Buggy an. »Na, wie wär's mit ein oder zwei Kugeln?«
Ethan schwieg.
»He, was ist los? Sag bloß, du willst kein Eis?«
Als er immer noch keine Antwort gab, blieb ich stehen, um einen Blick auf ihn zu werfen. Seine Augen waren geschlossen.
Unser kleiner Mann war eingeschlafen.
»Ich fasse es nicht«, murmelte ich. Wir waren noch mit keinem einzigen Karussell gefahren, und er befand sich bereits im Reich der Träume.
»Alles okay?«
Ich wandte mich um. Jan war wieder da. Der Schweiß lief ihr von der Stirn. Über ihrer Schulter hing der Rucksack. »Er ist eingenickt«, sagte ich.
»Ist nicht wahr«, sagte sie.
»Wahrscheinlich ist er ohnmächtig geworden, als er das Ding da drüben gesehen hat.« Ich deutete auf die Achterbahn.
»Ich habe einen Stein im Schuh«, sagte Jan und navigierte den Buggy zu einer kleinen Betonmauer vor einer Wiese. Sie hockte sich darauf und zog den Buggy zu sich heran.
»Wollen wir uns ein Eis teilen?«, fragte sie. »Ich bin völlig ausgedörrt.«
Ich wusste, was sie dachte. Jetzt hatten wir die Gelegenheit, etwas exklusiv für uns zu genießen. Ethan würde noch jede Menge Junkfood bekommen, bevor der Tag zu Ende war, aber dieses Eis wäre nur für uns allein.
»Mit Schokoglasur?«, fragte ich.
»Überrasch mich«, sagte sie und hob den linken Fuß auf ihr rechtes Knie. »Brauchst du Geld?«
»Hab ich dabei«, sagte ich und klopfte mir auf die Gesäßtasche. Ich wandte mich ab und ging zum Eisstand, wo es dieses weiche weiße Zeug aus der Maschine gab. Ganz bestimmt nicht mein Lieblingseis - mir ist richtiges Eis lieber als dieses künstliche -, doch immerhin gelang es dem jungen Mädchen, das meine Bestellung entgegennahm, die Tüte perfekt zu drehen und sie anschließend auf meinen Wunsch mit Schokolade zu überziehen, die das Eis wie eine zweite Haut umschloss.
Ganz vorsichtig knabberte ich an der Schokolade, bereute es aber sofort. Ich hätte Jan den ersten Bissen überlassen sollen. Egal, ich würde es während der nächsten Tage wiedergutmachen, am Montag Blumen mit nach Hause bringen, einen Babysitter organisieren und sie während der Woche zum Essen ausführen. Was Jan gerade durchmachte - vielleicht war es meine Schuld. Ich war nicht aufmerksam genug gewesen. Hatte mich nicht genug angestrengt.
Ich wollte, dass Jan endlich wieder auf die Beine kam. Wir würden ihre Probleme überwinden und unsere Ehe gemeinsam wieder ins Gleis bringen.
Als ich mich umdrehte, sah ich Jan plötzlich auf mich zukommen. Obwohl sie nach wie vor ihre Sonnenbrille trug, sah ich, dass sie völlig aufgelöst war. Eine Träne lief ihr über die Wange, und das Entsetzen stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
Wo war der Buggy? Ich warf einen Blick zu der Stelle, wo sie eben noch gesessen hatte.
Sie lief auf mich zu und ergriff mich an den Armen.
»Ich habe nur eine Sekunde nicht hingesehen«, stieß sie hervor.
»Was?«
»Mein Schuh.« Ihre Stimme zitterte. »Ich ... ich wollte doch nur den Stein rausholen, und dann ... Als ich mich umgesehen habe, war Ethan plötzlich nicht mehr ...«
»Jan, was ist denn los?«
»Irgendjemand hat ihn mitgenommen«, erklärte sie mit brüchiger Stimme. »Als ich nach ihm gesehen habe, war er auf einmal ... «
Ich schob mich bereits an ihr vorbei und ging im Eiltempo zu der Stelle, wo ich sie und Ethan zuletzt gesehen hatte.
Der Buggy war verschwunden.
Ich stieg auf die kleine Mauer und ließ den Blick über die Leute schweifen.
Bloß eine Verwechslung, dachte ich. Nur keine Panik. Ethan ist jede Sekunde wieder da. Irgendeine Mutter hat aus Versehen den falschen Buggy mitgenommen.
»Ethan!«, rief ich. Menschen strömten an mir vorbei, ohne mir Beachtung zu schenken. »Ethan!«, rief ich abermals.
Jan sah zu mir auf. »Siehst du ihn irgendwo?«
»Wie ist das möglich?«, platzte ich heraus. »Wie konnte das passieren?«
»Habe ich doch gerade gesagt. Ich habe einen Moment nicht aufgepasst, und ... «
»Wie konntest du das tun? Wie konntest du ihn aus den Augen lassen?«
Jan öffnete den Mund, brachte aber keinen Ton heraus. Ich wollte ein weiteres Mal nachhaken, was in aller Welt passiert war, gelangte jedoch zu dem Schluss, dass ich nur unsere Zeit verschwendete.
In diesem Augenblick kam mir etwas ganz anderes in den Sinn - jene Schauermärchen, wie man sie immer wieder im Fernsehen sieht.
»Ich habe das vom Freund eines Freundes gehört«, fingen diese Berichte immer an. »Ein Ehepaar aus Promise Falls ist nach Florida in Urlaub geflogen. Und in einem der großen Vergnügungsparks in Orlando ist auf einmal ihr kleiner Sohn verschwunden - vielleicht war es auch ein kleines Mädchen, ich erinnere mich nicht genau. Die Entführer haben den Kleinen in den nächsten Waschraum mitgenommen, ihm die Haare geschnitten, etwas anderes angezogen und ihn anschließend aus dem Park geschmuggelt. Aber in den Medien ist nie darüber berichtet worden, weil die Betreiber des Parks um jeden Preis schlechte Publicity verhindern wollen.«
Unsinn. An solchen Ammenmärchen war nichts dran. Aber jetzt ...
»Geh zurück zum Eingang«, befahl ich Jan so ruhig wie möglich. »Falls tatsächlich jemand versucht, Ethan zu entführen, muss er da durch. Außerdem stehen dort garantiert Wachleute. Sag ihnen, was passiert ist.« Ich warf einen Blick auf das Eis in meiner Hand und warf es weg.
»Und was machst du?«, fragte sie.
»Ich gehe in diese Richtung«, sagte ich und deutete auf den Weg jenseits des Eisstands. Weiter hinten befanden sich Toiletten. Vielleicht hatte jemand unseren Sohn in einen der Waschräume verschleppt.
Jan lief los, warf einen Blick über die Schulter und bedeutete mir mit einer Geste, sie sofort auf dem Handy anzurufen, wenn ich etwas herausgefunden hatte. Ich nickte und lief in die entgegengesetzte Richtung.
Ich ließ den Blick über die Parkbesucher schweifen, während ich zur Herrentoilette rannte. Die Stimmen von Kindern und Erwachsenen hallten von den gefliesten Wänden wider, vermischten sich mit dem surrenden Gebläse eines Händetrockners. Ein Mann hielt einen etwa dreijährigen Jungen über eines der Pissoirs. Ein älterer Herr wusch sich die Hände an einem der Waschbecken. Ein Teenager hielt seine Hände in den warmen Luftstrahl des Trockners.
Ich stürmte an ihnen vorbei zu den Toiletten. Es waren sechs Kabinen, die bis auf die vierte allesamt offen standen. Ich klopfte an die Tür.
»Mal langsam!«, rief eine Männerstimme. »Ich brauche noch 'ne Minute!«
»Was treiben Sie da drin?«
»Was geht Sie das an?«
Ich spähte durch den Spalt zwischen Tür und Boden und erblickte einen beleibten Mann, der auf dem Klo saß. Allein, daran bestand nicht der geringste Zweifel.
»Verpiss dich!«, bellte der Mann.
Um ein Haar glitt ich auf den nassen Fliesen aus, als ich wieder nach draußen lief. Die gleißende Sonne blendete mich. Ein Gefühl der Mutlosigkeit erfasste mich beim Anblick all der Menschen, die an mir vorbeiströmten.
Ethan konnte überall sein.
Ich hatte keine Ahnung, in welcher Richtung ich suchen sollte, aber egal - alles war besser, als nichts zu tun. Ich lief zur nächstgelegenen Achterbahn, dem Humdinger, vor dem sich etwa hundert Leute für die nächste Fahrt angestellt hatten. Ich ließ den Blick über die Wartenden schweifen, hielt Ausschau nach unserem Buggy, nach Ethan.
Nichts. Weiter vorn befand sich Kidland Adventure, der Teil des Parks mit den Karussells für die kleinen Kinder. Aber die Vorstellung war völlig idiotisch - warum sollte jemand Ethan entführen, um anschließend mit ihm Karussell fahren zu gehen? Es sei denn, jemand hatte sich den Buggy geschnappt und war schnurstracks weitermarschiert, ohne einen Blick in den Kinderwagen zu werfen. Einmal, im Einkaufszentrum, war es mir beinahe selbst passiert. Diese dämlichen Buggys glichen einander wie ein Ei dem anderen.
Einige Meter vor mir erspähte ich eine pummelige Frau mit einem Buggy, der unserem zum Verwechseln ähnlich sah. Ich hetzte los, holte sie ein und warf einen Blick in den Kinderwagen.
Es war ein etwa dreijähriges Mädchen in einem rosaroten Kleid, deren Gesicht mit roten und grünen Punkten bemalt war.
»Haben Sie irgendwelche Probleme, Mister?«, fragte die Frau.
»Entschuldigung«, sagte ich und lief weiter, während ich unablässig Ausschau nach Ethan und unserem Buggy hielt.
Dann fiel mir der nächste ins Auge. Ein blauer Kinderwagen, in dessen Korb eine kleine Leinentasche lag.
Der Buggy stand herrenlos auf dem Weg. Ob sich ein Kind darin befand, konnte ich allerdings nicht erkennen.
Aus dem Augenwinkel registrierte ich einen bärtigen Mann, der es offenbar ziemlich eilig hatte.
Ohne ihn weiter zu beachten, lief ich auf den Buggy zu. Bitte, bitte, bitte ...
Ich erreichte den Buggy und warf einen Blick hinein.
Und da lag er in süßem Schlummer. Er war nicht einmal aufgewacht. Sein Kopf war leicht zur Seite geneigt, und seine Augen waren geschlossen.
»Ethan!«, stieß ich hervor, hob ihn aus dem Buggy und drückte ihn fest an mich. »Ethan! O mein Gott, Ethan!«
Ich hielt ihn ein Stück von mir und sah ihn an. Er zog die Stirn in Falten, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. »Alles okay«, sagte ich. »Alles okay, Ethan. Daddy ist ja bei dir.«
Im selben Moment ging mir auf, dass er keineswegs Angst hatte, schon gar nicht vor irgendwelchen Entführern. Er war schlecht gelaunt, weil ich ihn aus seinem Nickerchen geweckt hatte.
Was mich nicht davon abhielt, ihm wieder und wieder zu versichern, dass alles in Ordnung war. Ich drückte ihn fest an mich und streichelte seinen Kopf.
Als ich ihm wieder ins Gesicht sah, zitterte seine Unterlippe nicht mehr. Er deutete auf meinen Mundwinkel. »Hast du Schokolade gegessen?«
... weniger
Autoren-Porträt von Linwood Barclay
Barclay, LinwoodLinwood Barclay stammt aus den USA, lebt aber seit seiner Kindheit in Kanada. Er arbeitete lange als Journalist und hatte eine beliebte Kolumne im Toronto Star. Seit dem Erscheinen seines ersten Thrillers Ohne ein Wort ist Barclay ein internationaler Bestsellerautor. Er hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit seiner Frau in der Nähe von Toronto.
Bibliographische Angaben
- Autor: Linwood Barclay
- 2011, 5. Aufl., 576 Seiten, Masse: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Pallandt, Nina
- Übersetzer: Nina Pallandt
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548283489
- ISBN-13: 9783548283487
- Erscheinungsdatum: 15.04.2011
Kommentare zu "Kein Entkommen"
0 Gebrauchte Artikel zu „Kein Entkommen“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4 von 5 Sternen
5 Sterne 7Schreiben Sie einen Kommentar zu "Kein Entkommen".
Kommentar verfassen