Kalter Abgrund
Roman. Dallingers zweiter Fall
Dallinger ist genervt. Seit Tagen schneit es, die Auftragslage sieht düster aus, und nachts plagen ihn Albträume. Dann meldet sich auch noch seine Exfreundin: Ina ist überraschend in der Stadt und will ihn sehen. Dringend. Doch bevor es zu...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Kalter Abgrund “
Dallinger ist genervt. Seit Tagen schneit es, die Auftragslage sieht düster aus, und nachts plagen ihn Albträume. Dann meldet sich auch noch seine Exfreundin: Ina ist überraschend in der Stadt und will ihn sehen. Dringend. Doch bevor es zu einem Treffen kommt, ist sie tot. Ein Abschiedsbrief legt nahe, dass sie die Trennung von Dallinger nicht verwunden hat. Für die Polizei ist der Fall klar. Nur Dallinger bezweifelt, dass es Selbstmord war. Er nimmt Ermittlungen auf - und entdeckt eine Seite an Ina, die ihm jahrelang verborgen geblieben war.
Klappentext zu „Kalter Abgrund “
Dallinger ist genervt. Seit Tagen schneit es, die Auftragslage sieht düster aus, und nachts plagen ihn Albträume. Dann meldet sich auch noch seine Exfreundin: Ina ist überraschend in der Stadt und will ihn sehen. Dringend. Doch bevor es zu einem Treffen kommt, ist sie tot. Ein Abschiedsbrief legt nahe, dass sie die Trennung von Dallinger nicht verwunden hat. Für die Polizei ist der Fall klar. Nur Dallinger bezweifelt, dass es Selbstmord war. Er nimmt Ermittlungen auf - und entdeckt eine Seite an Ina, die ihm jahrelang verborgen geblieben war.
Dallinger ist genervt. Seit Tagen schneit es, die Auftragslage sieht düster aus, und nachts plagen ihn Albträume. Dann meldet sich auch noch seine Exfreundin: Ina ist überraschend in der Stadt und will ihn sehen. Dringend. Doch bevor es zu einem Treffen kommt, ist sie tot. Ein Abschiedsbrief legt nahe, dass sie die Trennung von Dallinger nicht verwunden hat. Für die Polizei ist der Fall klar. Nur Dallinger bezweifelt, dass es Selbstmord war. Er nimmt Ermittlungen auf - und entdeckt eine Seite an Ina, die ihm jahrelang verborgen geblieben war.
Lese-Probe zu „Kalter Abgrund “
Kalter Abgrund - Dallingers zweiter Fall von Moritz Wulf Lange
Ein kalter Wind fegte die Chausseestraße entlang. Michael drängte sich an den Menschen vorbei, die gerade aus dem U-Bahnhof gekommen waren. Bei der neuen Postfiliale bog er in eine Seitenstraße ab. Hier war es ruhiger. Er verlangsamte seinen Schritt. Ina war zwar emotional, aber kämpferisch gewesen. Anpackend, wenn es Probleme gab. Michael ging am alten Postamt vorbei, grauer Stein, die Tür verbarrikadiert. Die Wege waren nicht gestreut, er musste aufpassen, wo er hintrat. Vor ein paar Jahren hatte er hier noch seine Pakete abgeholt. Wenn er denn mal eines gekriegt hatte. Jetzt musste er weiterlaufen. Warum hatte sie sich umgebracht? Sie hätte Probleme entweder angepackt oder akzeptiert. So wie ihre Fernbeziehung. Sie wollte in Stade bleiben, bei ihren Freunden, die er, abgesehen von Anette, nie kennen gelernt hatte. Auch nie hatte kennen lernen wollen während der immer zu kurzen Wochenenden. Und er konnte nicht aus Berlin weg, hier lebten seine Klienten. Noch mal von vorne anzufangen wäre sehr schwer geworden, und Ina verdiente nicht genug, um sie beide durchzufüttern. Sie hatten sich mit der Situation arrangiert und, als es nicht mehr ging, sich getrennt. Nicht ohne ein paar Tränen, gewiss, aber das durfte am Ende einer langjährigen Beziehung schon mal sein. Den großen Streit, weil er mit Anke ins Bett gegangen war, hatten sie da schon hinter sich gehabt.
... mehr
Warum also? Weil er sich nicht gemeldet hatte? Was hatte sie von ihm noch gewollt? Er dachte an ihre Mail. Da würde er wahrscheinlich die Antwort finden. Gleichzeitig fürchtete er sich davor. Zurück ins Büro? Unschlüssig drehte er sich um. Dort wollte er jetzt lieber nicht sein. Rechts von ihm Baustellen, links das Brachland neben den Resten des alten Nordbahnhofs. Der Wind war hier kälter als zwischen den Häusern. Er könnte auch zu Hause am Laptop nachsehen. Er ging weiter, über die Gartenstraße und die Bernauer entlang der ehemaligen Grenze. Zu seiner Rechten die letzten Stücke der Berliner Mauer: nur noch nackter Beton, und in den Löchern, die die Hämmer der Touristen geschlagen hatten, lag stellenweise der Baustahl frei. Bestimmte Erbschaften schlug man aus, und manche Altlasten wollte man lieber so tief wie möglich vergraben. Ein Durchbruch in der Mauer führte zum Friedhof. Auf Höhe der Ackerstraße war aus verrostetem Eisen, Aluminium und ein paar Mauersegmenten ein Mahnmal errichtet. Jemand hatte mit Edding einige Zeilen auf das Metall gekritzelt: Ein letzter Rest Berliner Mauer am Friedhof, Ecke Bernauer. Abgelegt zu den Toten von gestern, »Gedenkstätte«. Was heißt Erinnerung? An den Straßenecken kann man sie sehen kleine Zementstückchen, handlich im Geschenkformat, das Stück fünf Mark, sechs, wenn sie bunt sind.
Na ja. Sollte wohl Lyrik sein. Damit hatte er noch nie etwas anfangen können; sein erster und einziger Versuch in dieser Richtung, lange Jahre her, hatte ihm gereicht, den Namen der obskuren Lesung hatte er vergessen. Nur die Kneipe, die Marie 38, war schön gewesen, auch wenn die süße Barfrau einen anderen Namen gehabt hatte und achtunddreißig vielleicht das Alter ihrer Mutter gewesen war. Er bog in die Ackerstraße ein. Aber das mit der Erinnerung stimmte. Entlang des Bürgersteigs waren Autos in Reihe geparkt; hinter manchen Scheibenwischern steckten Flyer. Es sah aus, als würden ihn die Wagen aus einem Auge beobachten. Schließlich bog er ab in die Anklamer. In seiner Wohnung funktionierte die Heizung wieder. Er schaltete die Deckenlampe an und ging zum Laptop. Eine einzige neue Nachricht: die Mail von Ina. Er klickte auf Öffnen. Wenn man weiß, dass man in seinem Leben nicht mehr glücklich werden kann, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als dies Leben zu beenden. Und dafür habe ich mich entschieden. Es gibt vielleicht Leute, die hätten weitergemacht, hätten sich gedacht »das wird schon«, aber das wird es nicht. Ich kann ohne dich nicht leben und will es auch nicht. In den letzten Tagen hatte ich immer einen Ausweg vor Augen. Heute werde ich ihn benutzen. Leb wohl. Immer deine Ina Michael las die Mail noch mal. Dann prüfte er Datum und Uhrzeit. Gestern Nacht gesendet. Das also hatten die Polizisten gelesen.
Ina hatte sich wegen ihm umgebracht. So eine Scheiße. Sein nächster Gedanke kam für ihn selbst überraschend: Was sollte er bloß ihren Eltern sagen? Herr und Frau Detjen hatten ihre Beziehung zunächst mit einem gewissen Wohlwollen das Kind hatte einen Partner , mit fortschreitender Dauer der Fernbeziehung jedoch mit proportional steigendem Unbehagen was soll denn daraus werden? betrachtet. Er hatte immer versucht, ihr Misstrauen zu entkräften, schließlich waren sie nun mal Inas Eltern. Besonders gut verstanden hatte er sich mit ihnen nie. In ihren Augen war Privatdetektiv kein richtiger Beruf, und ein Paar musste zwar nicht verheiratet sein, sollte aber wenigstens zusammenleben. Der Tod ihrer Tochter würde für sie die Bestätigung all ihrer Vorbehalte sein, und wo sollten sie mit ihrer Trauer besser hin als zu dem Verursacher ihres Leids? Geistesabwesend streichelte er den Anrufbeantworter. Die rote Lampe signalisierte: eingeschaltet. Die Zugbrücke war oben. Michael las noch einmal die Mail. Er verstand sie nicht besser als vorher. Dann ging er in die Kochecke, drückte den angeketteten Stopfen in den Ausguss, presste schwungvoll die Spüliflasche und ließ heißes Wasser einlaufen. Jetzt bloß nicht zu viel grübeln. Mit bedächtigen Bewegungen legte er Stück für Stück das schmutzige Geschirr hinein. Teller, Besteck, Kaffeetasse. Der Schaum stand schon fast bis zur Kante des Spülbeckens, obwohl das Wasser erst ein paar Sekunden lief. Weniger Spüli wäre wohl besser gewesen. Er ließ das Weinglas mit dem angetrockneten roten Bodensatz in den Schaum gleiten; es schlug klirrend irgendwo an. Michael schob den Ärmel hoch und tauchte eine Hand in den Schaum. Seine Finger tasteten nach dem Glas und griffen in eine Scherbe.
»Au!« Er starrte missmutig auf die Schnitte in Zeige- und Mittelfinger und spülte sie unter kaltem Wasser ab. Der Schaum stieg höher. Mit der unverletzten Hand griff er nach der Kette und zog den Stopfen heraus. Den Abwasch würde er später erledigen. Michael setzte sich auf die Bettkante und starrte von dort nach draußen auf das gegenüberliegende Haus. Hinter der weißen Gardine eines Badezimmers bewegte sich ein Schatten. Er versuchte, sich in Gedanken zu der seltsamen Anfrage von der Frau aus Tegel zu flüchten. Stattdessen kam ihm nur tote Kegel in den Sinn. Kind und Kegel richtiges und uneheliches Kind. Ein heimliches Kind nebenher, dann stirbt es. Wieder dachte er an Ina. Es ist nicht meine Schuld, sagte er sich. Jeden Tag bringen sich Leute um. Es ist völlig normal, sich zu trennen. Wir waren nicht mal verheiratet. Eine Fernbeziehung, mein Gott. Es war doch alles längst vorbei. Drei Monate her. Ein Vierteljahr. Er ballte die Hände für einen kurzen Moment zu Fäusten. Wenn sie doch nur mit ihm geredet hätte. Wenn er sich gestern nur zwei Minuten Zeit genommen hätte ... Das Telefon klingelte. Michael schaltete hastig den Anrufbeantworter aus und ließ es klingeln. Das hätte er von Anfang an machen sollen. Er wollte jetzt mit niemandem reden. Auch keine Nachricht hören. Schon gar nicht jemanden zurückrufen müssen. Es klingelte lange. Michael beobachtete das Telefon. Sinnlos, natürlich, aber wenigstens tat er irgendwas. Schließlich war es still. Er zog den Stecker aus der Buchse und holte den Staubsauger. Gleichgültig schob er ihn durchs Zimmer. Der Sauger ließ einen schmalen Streifen hinter sich, geringfügig heller als der Rest des Teppichs. Er umkurvte die Füße des Betts und schob den Sauger darunter, bis er gegen etwas stieß. Michael hielt inne, dann schaltete er das Gerät aus und schob es zur Seite. Weitersaugen konnte er später immer noch. Er kniete sich auf den Teppich vor seinem Bett und holte nacheinander einen unförmigen Packbeutel mit seinem Schlafsack und einer Isomatte hervor, einen alten Geigenkasten ohne Geige (aber mit bröselndem Kolophonium, einem Metronom und seinen ersten Klassikkassetten darin), einen Karton mit seinem Plattenspieler und einen alten Koffer voller Noten. Schließlich fand er den Schuhkarton, den er vor ein paar Monaten in der hintersten Ecke verstaut hatte. Er schob die anderen Sachen wieder unter das Bett und setzte sich auf den Teppich. Obenauf im Karton lag ein kleiner hölzerner Rahmen, etwa so groß wie eine Zigarettenschachtel. Darin auf dunkelrotem Tonpapier kleine goldene Sterne und eine blonde Haarlocke. Eine Streichholzschachtel, mit Blumenpapier beklebt und darin ein Zettel: Du, Michael? Und auf der anderen Seite: Ich liebe Dich. Ein Umschlag mit Fotos: Ina auf dem Sofa, in einem Türrahmen, Ina am Strand, Ina in knapper Unterwäsche. Schade, dass sie nie die richtig sexy Sachen anziehen wollte. Ich zieh keine Fick-mich-Sachen an, hatte sie dazu gesagt. Ina, wie sie aus der Dusche kommt, ein Handtuch um sich geschlungen. Ein Stück Stoff von dem Top, das sie getragen hatte, als er sie zum ersten Mal besuchte. Sie hatte eine Gänsehaut gehabt, aber nicht wegen ihm, wie er schnell merkte, sondern weil es in ihrer Wohnung trotz Heizung für so ein Kleidungsstück mitten im Winter zu kalt war. Als das Top nach Jahren in Fetzen ging und Ina es wegwerfen wollte, hatte Michael ein postkartengroßes Stück Stoff herausgeschnitten und aufgehoben. Eine CD mit Musik. Die Zugfahrkarten aus ihrem ersten gemeinsamen Urlaub, in der Camargue bei den Flamingos, ein Foto von Aigues-Mortes, der steinernen Festung, die wie ein vergessener, unzerstörbarer Rest aus einer längst vergangenen Zeit mitten im Sumpfland aufragte. Eine Kette, die Ina ihm geschenkt und die er zu affig gefunden hatte, um sie zu tragen ihr erstes großes Missverständnis. Postkarten. Aus den ersten, noch getrennten und aus den späten, wieder getrennten Urlauben. Eine Karte von den Kanaren mit Partymotiven. Er hatte sie nie genau gefragt, wie der Urlaub dort gewesen war, aus dem Gefühl heraus, dass er es gar nicht so genau wissen wollte. Überbleibsel von wie viel Jahren? Er rechnete nicht nach und legte die Postkarten beiseite. Dann öffnete er ein paar der Briefe, die zuunterst lagen, und überflog wahllos die Blätter. Blaue Schrift, rote Schrift. Ein einfacher Umschlag, das Briefpapier am Rand mit Blumen bedruckt: Lieber Michael, Du fehlst mir sehr ... Umschlag und Papier einfach, aber zueinander passend: ... ein Jahr sind wir schon zusammen, es war bisher mein schönstes ... Ein schlichter weißer Umschlag, blickdicht gefüttert, darin drei eng beschriebene Seiten: ... wäre schön. Nur Fesseln kann ich mir nicht so gut vorstellen okay? Der nächste Brief auf kariertem Papier, verschlungene Kritzeleien am Rand: Wann sehen wir uns wieder? Eine Träne lief ihm die Wange hinab. Er ließ sich in Erinnerungen treiben. Ihre Beziehung hatte auch schöne Seiten gehabt. Ina war geradeheraus gewesen. Herzlich. Manchmal unerklärlich stur, wenn sie überzeugt war, Recht zu haben. Gut im Bett, das auch. Eine Frau für die Gegenwart.
Ein bisschen auch für die Zukunft. Und sie hatten beide immer gewusst, dass sie nicht alleine waren. Auch wenn der andere vierhundert Kilometer entfernt war. Er legte die Briefe wieder zurück in den Karton und schichtete langsam die anderen Gegenstände darüber. Die CD, den Rahmen mit ihrer Haarlocke, die Postkarte vom Strand ... Dieser Teil seines Lebens war nun unwiderruflich vorbei. Manchmal hatte er sich vorgestellt, Ina irgendwann mal wiederzutreffen, in Stade vielleicht, in einem Café, wie geht's dir, mir geht's gut ... ein kurzer Ausflug in gemeinsame Erinnerungen ... nicht wie mit Siri, die auch Jahre nach der Trennung für seinen Geschmack zu anhänglich war ... was machst du so, wo warst du im Urlaub; alles Fragen, die sich nun nie stellen würden. Erinnerungen, die sie nie mehr austauschen würden. Michael stutzte plötzlich. Erinnerungen. Da war ein flüchtiger Gedanke gewesen. Im Hinterkopf, als er die Postkarte vom Strand angeschaut hatte. Aber was? Er bekam es nicht zu fassen, wusste nur, dass es wichtig war. Er wühlte im Karton, bis er die Postkarte fand, nahm sie in die Hand, drehte und wendete sie. Wie war das gewesen? Nur langsam kam die Erinnerung zurück. Richtig, es war ihr erster getrennter Urlaub; sie hatte ausdrücklich nur in der Hochsaison fahren wollen, und da konnte er nicht. Sie hatten sich ziemlich gestritten, weil er einfach nicht einsah, weshalb sie auf die Hochsaison festgelegt war. Im Schichtdienst hätte sie schließlich nach Belieben ihren Urlaub legen können, dachte er damals. Aber sie hatte nicht nachgegeben. Ob aus Trotz oder weil es wirklich einen guten Grund gab, hatte irgendwann keine Rolle mehr gespielt. Schließlich war ihnen die Lust auf einen gemeinsamen Urlaub vergangen und er im Frühjahr allein in die Berge gefahren. Dort konnte man stundenlang auf verschlungenen Pfaden wandern und wusste nie, was hinter der nächsten Ecke auf einen wartete. Jeden Abend war er erschöpft, aber zufrieden ins Bett gefallen. Ina mochte keine Berge. Die schmalen Pfade, die sich zuweilen an steilen Felswänden entlangzogen, wären nichts für sie gewesen: Ihr wurde leicht schwindelig. Das war es jetzt hatte er den flüchtigen Gedanken von eben zu fassen gekriegt. Er legte sich auf den Rücken, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und betrachtete die Zimmerdecke. Die Lampe warf ihren eigenen Schatten. Der Gedanke, eben noch ungreifbar, trat klar hervor. Ina war nicht schwindelfrei. Alles, was hoch war, mochte sie nicht. Keine Berge. Keine Aussichtstürme. Sogar wenn sie nach Hamburg gefahren waren, hatten sie immer den Elbtunnel benutzt. Keine Brücken. Warum hätte sie ausgerechnet von einer Brücke springen sollen? Es konnte kein Selbstmord sein. Sie hatte sich nicht wegen ihm umgebracht. Was war wirklich geschehen? Ein Unfall? Hatte der anonyme Anrufer einen Unfall für einen Selbstmord gehalten? War also alles eine Verkettung unglücklicher Umstände? Oder war es ... Mord? Aber wie hätte das geschehen können? Sein Blick blieb an einem Riss im Putz hängen. Die Decke müsste mal wieder gestrichen werden. Er setzte sich auf. Ina war die Letzte, die er mit einem Verbrechen in Verbindung bringen würde. Ihr Leben war immer in geordneten Bahnen verlaufen, schon als er sie kennen gelernt hatte. Sie mochte ihre Arbeit als Krankenschwester. In ihrer Freizeit las sie gerne Bücher über alternative Heilmethoden. Sie hatte immer zufrieden mit ihrem Leben gewirkt. Nie hatte er den Eindruck gehabt, dass es irgendein Geheimnis gab. Was auch immer vorgefallen war, es musste folglich nach ihrer Trennung passiert sein. In den letzten drei Monaten. Er sah auf die Uhr. Fünf Uhr nachmittags. Vor Jahren hatte Ina ihm einmal die Nummer ihrer besten Freundin gegeben. Für alle Fälle. Er suchte, bis er sie in einem alten Notizbuch fand. Hoffentlich war sie noch gültig. Fahrig rieb er sich über das Gesicht. Er stöpselte das Telefon wieder in die Buchse und schaltete den Anrufbeantworter ein. Dann griff er zum Hörer.
© 2010 Berlin Verlag GmbH, Berlin
Na ja. Sollte wohl Lyrik sein. Damit hatte er noch nie etwas anfangen können; sein erster und einziger Versuch in dieser Richtung, lange Jahre her, hatte ihm gereicht, den Namen der obskuren Lesung hatte er vergessen. Nur die Kneipe, die Marie 38, war schön gewesen, auch wenn die süße Barfrau einen anderen Namen gehabt hatte und achtunddreißig vielleicht das Alter ihrer Mutter gewesen war. Er bog in die Ackerstraße ein. Aber das mit der Erinnerung stimmte. Entlang des Bürgersteigs waren Autos in Reihe geparkt; hinter manchen Scheibenwischern steckten Flyer. Es sah aus, als würden ihn die Wagen aus einem Auge beobachten. Schließlich bog er ab in die Anklamer. In seiner Wohnung funktionierte die Heizung wieder. Er schaltete die Deckenlampe an und ging zum Laptop. Eine einzige neue Nachricht: die Mail von Ina. Er klickte auf Öffnen. Wenn man weiß, dass man in seinem Leben nicht mehr glücklich werden kann, dann bleibt einem nichts anderes übrig, als dies Leben zu beenden. Und dafür habe ich mich entschieden. Es gibt vielleicht Leute, die hätten weitergemacht, hätten sich gedacht »das wird schon«, aber das wird es nicht. Ich kann ohne dich nicht leben und will es auch nicht. In den letzten Tagen hatte ich immer einen Ausweg vor Augen. Heute werde ich ihn benutzen. Leb wohl. Immer deine Ina Michael las die Mail noch mal. Dann prüfte er Datum und Uhrzeit. Gestern Nacht gesendet. Das also hatten die Polizisten gelesen.
Ina hatte sich wegen ihm umgebracht. So eine Scheiße. Sein nächster Gedanke kam für ihn selbst überraschend: Was sollte er bloß ihren Eltern sagen? Herr und Frau Detjen hatten ihre Beziehung zunächst mit einem gewissen Wohlwollen das Kind hatte einen Partner , mit fortschreitender Dauer der Fernbeziehung jedoch mit proportional steigendem Unbehagen was soll denn daraus werden? betrachtet. Er hatte immer versucht, ihr Misstrauen zu entkräften, schließlich waren sie nun mal Inas Eltern. Besonders gut verstanden hatte er sich mit ihnen nie. In ihren Augen war Privatdetektiv kein richtiger Beruf, und ein Paar musste zwar nicht verheiratet sein, sollte aber wenigstens zusammenleben. Der Tod ihrer Tochter würde für sie die Bestätigung all ihrer Vorbehalte sein, und wo sollten sie mit ihrer Trauer besser hin als zu dem Verursacher ihres Leids? Geistesabwesend streichelte er den Anrufbeantworter. Die rote Lampe signalisierte: eingeschaltet. Die Zugbrücke war oben. Michael las noch einmal die Mail. Er verstand sie nicht besser als vorher. Dann ging er in die Kochecke, drückte den angeketteten Stopfen in den Ausguss, presste schwungvoll die Spüliflasche und ließ heißes Wasser einlaufen. Jetzt bloß nicht zu viel grübeln. Mit bedächtigen Bewegungen legte er Stück für Stück das schmutzige Geschirr hinein. Teller, Besteck, Kaffeetasse. Der Schaum stand schon fast bis zur Kante des Spülbeckens, obwohl das Wasser erst ein paar Sekunden lief. Weniger Spüli wäre wohl besser gewesen. Er ließ das Weinglas mit dem angetrockneten roten Bodensatz in den Schaum gleiten; es schlug klirrend irgendwo an. Michael schob den Ärmel hoch und tauchte eine Hand in den Schaum. Seine Finger tasteten nach dem Glas und griffen in eine Scherbe.
»Au!« Er starrte missmutig auf die Schnitte in Zeige- und Mittelfinger und spülte sie unter kaltem Wasser ab. Der Schaum stieg höher. Mit der unverletzten Hand griff er nach der Kette und zog den Stopfen heraus. Den Abwasch würde er später erledigen. Michael setzte sich auf die Bettkante und starrte von dort nach draußen auf das gegenüberliegende Haus. Hinter der weißen Gardine eines Badezimmers bewegte sich ein Schatten. Er versuchte, sich in Gedanken zu der seltsamen Anfrage von der Frau aus Tegel zu flüchten. Stattdessen kam ihm nur tote Kegel in den Sinn. Kind und Kegel richtiges und uneheliches Kind. Ein heimliches Kind nebenher, dann stirbt es. Wieder dachte er an Ina. Es ist nicht meine Schuld, sagte er sich. Jeden Tag bringen sich Leute um. Es ist völlig normal, sich zu trennen. Wir waren nicht mal verheiratet. Eine Fernbeziehung, mein Gott. Es war doch alles längst vorbei. Drei Monate her. Ein Vierteljahr. Er ballte die Hände für einen kurzen Moment zu Fäusten. Wenn sie doch nur mit ihm geredet hätte. Wenn er sich gestern nur zwei Minuten Zeit genommen hätte ... Das Telefon klingelte. Michael schaltete hastig den Anrufbeantworter aus und ließ es klingeln. Das hätte er von Anfang an machen sollen. Er wollte jetzt mit niemandem reden. Auch keine Nachricht hören. Schon gar nicht jemanden zurückrufen müssen. Es klingelte lange. Michael beobachtete das Telefon. Sinnlos, natürlich, aber wenigstens tat er irgendwas. Schließlich war es still. Er zog den Stecker aus der Buchse und holte den Staubsauger. Gleichgültig schob er ihn durchs Zimmer. Der Sauger ließ einen schmalen Streifen hinter sich, geringfügig heller als der Rest des Teppichs. Er umkurvte die Füße des Betts und schob den Sauger darunter, bis er gegen etwas stieß. Michael hielt inne, dann schaltete er das Gerät aus und schob es zur Seite. Weitersaugen konnte er später immer noch. Er kniete sich auf den Teppich vor seinem Bett und holte nacheinander einen unförmigen Packbeutel mit seinem Schlafsack und einer Isomatte hervor, einen alten Geigenkasten ohne Geige (aber mit bröselndem Kolophonium, einem Metronom und seinen ersten Klassikkassetten darin), einen Karton mit seinem Plattenspieler und einen alten Koffer voller Noten. Schließlich fand er den Schuhkarton, den er vor ein paar Monaten in der hintersten Ecke verstaut hatte. Er schob die anderen Sachen wieder unter das Bett und setzte sich auf den Teppich. Obenauf im Karton lag ein kleiner hölzerner Rahmen, etwa so groß wie eine Zigarettenschachtel. Darin auf dunkelrotem Tonpapier kleine goldene Sterne und eine blonde Haarlocke. Eine Streichholzschachtel, mit Blumenpapier beklebt und darin ein Zettel: Du, Michael? Und auf der anderen Seite: Ich liebe Dich. Ein Umschlag mit Fotos: Ina auf dem Sofa, in einem Türrahmen, Ina am Strand, Ina in knapper Unterwäsche. Schade, dass sie nie die richtig sexy Sachen anziehen wollte. Ich zieh keine Fick-mich-Sachen an, hatte sie dazu gesagt. Ina, wie sie aus der Dusche kommt, ein Handtuch um sich geschlungen. Ein Stück Stoff von dem Top, das sie getragen hatte, als er sie zum ersten Mal besuchte. Sie hatte eine Gänsehaut gehabt, aber nicht wegen ihm, wie er schnell merkte, sondern weil es in ihrer Wohnung trotz Heizung für so ein Kleidungsstück mitten im Winter zu kalt war. Als das Top nach Jahren in Fetzen ging und Ina es wegwerfen wollte, hatte Michael ein postkartengroßes Stück Stoff herausgeschnitten und aufgehoben. Eine CD mit Musik. Die Zugfahrkarten aus ihrem ersten gemeinsamen Urlaub, in der Camargue bei den Flamingos, ein Foto von Aigues-Mortes, der steinernen Festung, die wie ein vergessener, unzerstörbarer Rest aus einer längst vergangenen Zeit mitten im Sumpfland aufragte. Eine Kette, die Ina ihm geschenkt und die er zu affig gefunden hatte, um sie zu tragen ihr erstes großes Missverständnis. Postkarten. Aus den ersten, noch getrennten und aus den späten, wieder getrennten Urlauben. Eine Karte von den Kanaren mit Partymotiven. Er hatte sie nie genau gefragt, wie der Urlaub dort gewesen war, aus dem Gefühl heraus, dass er es gar nicht so genau wissen wollte. Überbleibsel von wie viel Jahren? Er rechnete nicht nach und legte die Postkarten beiseite. Dann öffnete er ein paar der Briefe, die zuunterst lagen, und überflog wahllos die Blätter. Blaue Schrift, rote Schrift. Ein einfacher Umschlag, das Briefpapier am Rand mit Blumen bedruckt: Lieber Michael, Du fehlst mir sehr ... Umschlag und Papier einfach, aber zueinander passend: ... ein Jahr sind wir schon zusammen, es war bisher mein schönstes ... Ein schlichter weißer Umschlag, blickdicht gefüttert, darin drei eng beschriebene Seiten: ... wäre schön. Nur Fesseln kann ich mir nicht so gut vorstellen okay? Der nächste Brief auf kariertem Papier, verschlungene Kritzeleien am Rand: Wann sehen wir uns wieder? Eine Träne lief ihm die Wange hinab. Er ließ sich in Erinnerungen treiben. Ihre Beziehung hatte auch schöne Seiten gehabt. Ina war geradeheraus gewesen. Herzlich. Manchmal unerklärlich stur, wenn sie überzeugt war, Recht zu haben. Gut im Bett, das auch. Eine Frau für die Gegenwart.
Ein bisschen auch für die Zukunft. Und sie hatten beide immer gewusst, dass sie nicht alleine waren. Auch wenn der andere vierhundert Kilometer entfernt war. Er legte die Briefe wieder zurück in den Karton und schichtete langsam die anderen Gegenstände darüber. Die CD, den Rahmen mit ihrer Haarlocke, die Postkarte vom Strand ... Dieser Teil seines Lebens war nun unwiderruflich vorbei. Manchmal hatte er sich vorgestellt, Ina irgendwann mal wiederzutreffen, in Stade vielleicht, in einem Café, wie geht's dir, mir geht's gut ... ein kurzer Ausflug in gemeinsame Erinnerungen ... nicht wie mit Siri, die auch Jahre nach der Trennung für seinen Geschmack zu anhänglich war ... was machst du so, wo warst du im Urlaub; alles Fragen, die sich nun nie stellen würden. Erinnerungen, die sie nie mehr austauschen würden. Michael stutzte plötzlich. Erinnerungen. Da war ein flüchtiger Gedanke gewesen. Im Hinterkopf, als er die Postkarte vom Strand angeschaut hatte. Aber was? Er bekam es nicht zu fassen, wusste nur, dass es wichtig war. Er wühlte im Karton, bis er die Postkarte fand, nahm sie in die Hand, drehte und wendete sie. Wie war das gewesen? Nur langsam kam die Erinnerung zurück. Richtig, es war ihr erster getrennter Urlaub; sie hatte ausdrücklich nur in der Hochsaison fahren wollen, und da konnte er nicht. Sie hatten sich ziemlich gestritten, weil er einfach nicht einsah, weshalb sie auf die Hochsaison festgelegt war. Im Schichtdienst hätte sie schließlich nach Belieben ihren Urlaub legen können, dachte er damals. Aber sie hatte nicht nachgegeben. Ob aus Trotz oder weil es wirklich einen guten Grund gab, hatte irgendwann keine Rolle mehr gespielt. Schließlich war ihnen die Lust auf einen gemeinsamen Urlaub vergangen und er im Frühjahr allein in die Berge gefahren. Dort konnte man stundenlang auf verschlungenen Pfaden wandern und wusste nie, was hinter der nächsten Ecke auf einen wartete. Jeden Abend war er erschöpft, aber zufrieden ins Bett gefallen. Ina mochte keine Berge. Die schmalen Pfade, die sich zuweilen an steilen Felswänden entlangzogen, wären nichts für sie gewesen: Ihr wurde leicht schwindelig. Das war es jetzt hatte er den flüchtigen Gedanken von eben zu fassen gekriegt. Er legte sich auf den Rücken, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und betrachtete die Zimmerdecke. Die Lampe warf ihren eigenen Schatten. Der Gedanke, eben noch ungreifbar, trat klar hervor. Ina war nicht schwindelfrei. Alles, was hoch war, mochte sie nicht. Keine Berge. Keine Aussichtstürme. Sogar wenn sie nach Hamburg gefahren waren, hatten sie immer den Elbtunnel benutzt. Keine Brücken. Warum hätte sie ausgerechnet von einer Brücke springen sollen? Es konnte kein Selbstmord sein. Sie hatte sich nicht wegen ihm umgebracht. Was war wirklich geschehen? Ein Unfall? Hatte der anonyme Anrufer einen Unfall für einen Selbstmord gehalten? War also alles eine Verkettung unglücklicher Umstände? Oder war es ... Mord? Aber wie hätte das geschehen können? Sein Blick blieb an einem Riss im Putz hängen. Die Decke müsste mal wieder gestrichen werden. Er setzte sich auf. Ina war die Letzte, die er mit einem Verbrechen in Verbindung bringen würde. Ihr Leben war immer in geordneten Bahnen verlaufen, schon als er sie kennen gelernt hatte. Sie mochte ihre Arbeit als Krankenschwester. In ihrer Freizeit las sie gerne Bücher über alternative Heilmethoden. Sie hatte immer zufrieden mit ihrem Leben gewirkt. Nie hatte er den Eindruck gehabt, dass es irgendein Geheimnis gab. Was auch immer vorgefallen war, es musste folglich nach ihrer Trennung passiert sein. In den letzten drei Monaten. Er sah auf die Uhr. Fünf Uhr nachmittags. Vor Jahren hatte Ina ihm einmal die Nummer ihrer besten Freundin gegeben. Für alle Fälle. Er suchte, bis er sie in einem alten Notizbuch fand. Hoffentlich war sie noch gültig. Fahrig rieb er sich über das Gesicht. Er stöpselte das Telefon wieder in die Buchse und schaltete den Anrufbeantworter ein. Dann griff er zum Hörer.
© 2010 Berlin Verlag GmbH, Berlin
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Autoren-Porträt von Moritz W. Lange
Moritz Wulf Lange, 1971 in Hamburg geboren, schrieb u. a. sieben Hörspieldrehbücher zu den Wallander-Krimis von Henning Mankell. Seine Hörspielserie Edgar Allan Poe wurde 2006 für den Deutschen Hörbuch-Preis nominiert. Moritz Wulf Lange lebt in Berlin und bei Bremervörde.
Bibliographische Angaben
- Autor: Moritz W. Lange
- 2010, 288 Seiten, Masse: 12,3 x 20,4 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: BERLIN VERLAG
- ISBN-10: 3827008689
- ISBN-13: 9783827008688
Rezension zu „Kalter Abgrund “
"Alles, was das Krimiherz begehrt!"Emotion"Das Potenzial für eine erfolgreiche Serie ist vorhanden ... Man freut sichschon jetzt auf ein Wiedersehen mit Michael Dallinger."Krimi Couch
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