In meinem kleinen Land
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Tage, Wochen, Monate verbrachte Jan Weiler damit, seine Heimat zu erkunden: Von Wyk auf Föhr, über Borgholzhausen, wo die Züge bremsen, indem sie einer Kuh gegen das pralle Euter fahren, bis nach Passau, der grössten Kleinstadt, reiste er in alle Ecken Deutschlands. Liebevoll und nachdenklich hat er seine Erlebnisse aufgeschrieben - und kommt zu dem Schluss: Unser kleines Land ist eine Reise wert!
In meinem kleinen Land von Jan Weiler
LESEPROBE
Neun Monate Deutschland
Willkommen zu diesem Buch. Ich darfSie gleich darauf aufmerksam machen, dass Sie sich keinen Reiseführer gekauft haben.Wenn dies Ihre Absicht war, findet die Produktenttäuschung wenigstens ganz amAnfang statt. Was Sie in Händen halten, ist ein Reisetagebuch. Und das istetwas ganz anderes. Es stehen keine Handreichungen für Ausflüge zu Sehenswürdigkeitendrin. Ebenso fehlen Listen mit günstigen Hotels, in denen man ein gutes Frühstückbekommt. Auch Reiserouten für Schnäppchenjäger sind nicht enthalten. Aber wassonst? Eindrücke, Geschichten, Gespräche über und in unserem erstaunlichenkleinen Land.
Ich habe es von September 2005 bisJuni 2006 während einer Lesereise kennengelernt unddarüber Buch geführt, indem ich jeden Tag notierte, was passiert war. DiesesPrinzip führt natürlich zu Ungerechtigkeiten, denn man kann fast keinem Ortgerecht werden, indem man dort nur einen Tag verbringt. Das Procedere wartäglich gleich: mit dem Zug anreisen, per Taxi oder zu Fuss ins Hotel. Dannspazieren gehen. Etwas essen. Menschen in Theatern, Buchhandlungen oderKulturzentren vorlesen. Schlafen. Frühstücken. Schreiben. Mit dem Zug wiederabreisen. Auf diese Weise bleibt einem Ort nur eine kurze Zeit, um sicheinzuprägen. Es entgeht dem Besucher natürlich so manches. Man übersieht dieSchönheit Dortmunds, und leider war ich nicht im Sommer in Speyer, sondern amkältesten Wintertag. Mein Urteil über Itzehoe fällt wahrscheinlich ungerechtaus, jenes über Dresden ist womöglich gemein. Manchmal bekommt man falscheEindrücke, sieht nicht richtig hin. Ich bitte dafür um Entschuldigung.Andererseits macht gerade das die Reise interessant. Was bleibt beim flüchtigenKennenlernen einer Stadt hängen? Wo sieht man hin,was will man wissen? Und kann man sich in eine Stadt verlieben? Aber ja! Ortesind wie Menschen. Sie haben Charakter, Charme, Ausstrahlung. Oder auch nicht.Sie sind hässlich oder zu klein. Sie sehen grau aus oder alt oder freundlich.Sie grüssen überschwänglich oder gar nicht. Sie wollen dich einladen oder verscheuchen.Davon - und von den Menschen in diesen Orten - handelt dieses Buch.
Komischerweise ist mir die Frage, woDeutschland am schönsten ist, in diesem Dreivierteljahr kaum gestellt worden.Aber oft bin ich gefragt worden, wo Deutschland denn am schlimmsten sei. Somerkwürdig gehen wir Deutsche mit unserem Land um. Eigentlich haben wir es garnicht verdient. Also: Am schlimmsten war es nirgends. Ausserdem setzt sich dieseBeurteilung immer aus mehreren Komponenten zusammen. Das schlimmste Hotelzimmersah ich in Hildesheim, aber da war die Lesung sehr schön. Die merkwürdigsteLesung fand im Kursaal in Wyk auf Föhr statt, aberdie Insel ist grossartig. Das beste Hotel hatte ich in Regensburg, die schönstenFrauen sah ich in Dresden. Die brutalsten Städte sind Pforzheim und Dortmund,die heimeligsten Bamberg und Lübeck. Das Publikum in Oldenburg ist so einmaliggutgelaunt wie sonst nur in Vellmar, das in Andernach klimpert bei Lesungengern mit Eiswürfeln, und in Harnburg hat man es schwer. Eckernförde glänzt tollin der Sonne, die Erlanger lachen gerne, in Passau gibt es Studenten und inJork Äpfel. In Bielefeld haben sie hinterm Bahnhof Junkies, und in Hagenfrittiert man die Hot Dogs. In Hannover war ich albern, in Braunschweigerkältet, in Erkrath verkatert und in Ennepetal gerührt. In Celle ging ich zumArzt, in Freiburg ins Krankenhaus und fast überall in Kirchen, weil es sieüberall gibt und man sie leicht findet. Die Kirchen sind im Norden heller alsim Süden. Dafür sind die Städte im Süden reicher als im Norden.
In Bremen gibt esWeltklasse-Currywurst, in Erfurt ein Oktoberfest, in Rottenburg einen Bischof,in Leipzig eine Messe, in Lübeck ein Marzipanmuseum und in Karlsruhe einen Zoo.Thüringen ist wunderschön, der Kraichgau herrlich,Brake klein, Duisburg staubig und Koblenz frostig.
Was ich auch gefragt wurde: Und? Wiesind sie so, die Deutschen? Komische Frage, denn sie wird ja immer vonLandsleuten gestellt. Die müssten ja selber wissen, wie sie sind. Trotzdembeantworte ich die Frage gerne, denn die Deutschen sind viel besser als ihrRuf. Sie sind freundlich. Höflich. Hilfsbereit. Sie haben Humor.
Ich bin nie wirklich schlechtbehandelt worden auf meiner Reise. Manchmal drücken sich die Leute einfachschlecht aus. Oder sie denken für einen Moment nicht nach. Oder sie haben denKopf voll mit anderen Dingen und können gerade nicht höflich sein. Das kanneinem überall passieren, nicht nur in Deutschland.
Einmal habe ich in einem IC eineFahrkarte für den Nahverkehr dabeigehabt. Der Schaffner hat keinen Zuschlag vonmir verlangt. Wissen Sie, wieso? Weil die Heizung im Zug nicht funktionierte.In Rostock haben sie extra für mich die Küche wieder aufgemacht, als ichspätabends zurück ins Hotel kam. Eine Taxifahrerin aus Ennepetal hat mich aneinem Schneesamstag, als überall das Licht ausging, durchs Chaos gefahren,obwohl plan sie woanders noch viel dringender gebraucht hätte.
Übrigens: Es gibt womöglich einedeutsche Mentalität, aber kaum eine regionale. Die Menschen lachen überall anden gleichen Stellen. Es gibt keine sturen Westfalen oder exaltiertenRheinländer oder schwierig zu erobernde Norddeutsche oder dankbare Thüringer. Alles Unsinn. Manchmal lachen die Zuschauer lauter, manchmalleiser, manchmal gibt es Szenenapplaus, manchmal nicht.
Könnten Sie einhundert deutscheStädte aus dem Kopf aufzählen? Ich hätte es nicht gekonnt. Dabei hat unserkleines Land sogar noch viel mehr. Ich habe jedenfalls einhundert gesehen, unddie allermeisten haben mir gefallen. Und noch viel mehr als die Städte habenmir die Menschen gefallen, also die Deutschen. Man traut es sich beinahe nichtzu formulieren, aber im Grossen und Ganzen haben wir es nicht schlechtgetroffen. Dass dieser Befund so schwerfällt, hat mitmeiner Generation zu tun. Wir sind kritisch aufgewachsen: konsumkritisch, religionskritisch,politkritisch, kulturkritisch. Unser Land zu mögen finden wir nationalistisch,unsere Sprache peinlich, den Deutschen an sich unerträglich, besonders imUrlaub. Das ist auch sehr ehrenwert, führt aber zu keiner sonderlich tiefen Identifikationmit unserem Land. Ging mir auch so. Aber es hat sich geändert.
Ob ich etwa nach dieser Reise durchmein Land so etwas wie ein Patriot bin? Nein. Aber mir gefällt es hier. Ich binganz und gar nicht stolz darauf, Deutscher zu sein, aber ich bin es gerne, weilmein Land friedlich ist und schön und weil ich die Deutschen mag, nachdem ichziemlich viele von ihnen getroffen habe.
Die meisten Texte in diesem Bucherschienen zunächst als Weblog im Online-Angebot derZEIT. Sie wurden anschliessend für dieses Buch umgeschrieben und gekürzt. VielSpass damit.
Jan Weiler, November 2006
© Rowohlt Verlag
- Autor: Jan Weiler
- 2016, 10. Aufl., 352 Seiten, 2 Schwarz-Weiss-Abbildungen, Masse: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Rowohlt TB.
- ISBN-10: 3499621991
- ISBN-13: 9783499621994
- Erscheinungsdatum: 01.12.2006
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