Im Koma
Roman
Du kannst ihn nicht sehen. Aber er ist da.
Casey Marshall wird Opfer eines schrecklichen Autounfalls. Als sie in der Klinik erwacht, kann sie nicht sehen, nicht sprechen, sich nicht bewegen. Und was sie hört, lässt ihr das...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Im Koma “
Du kannst ihn nicht sehen. Aber er ist da.
Casey Marshall wird Opfer eines schrecklichen Autounfalls. Als sie in der Klinik erwacht, kann sie nicht sehen, nicht sprechen, sich nicht bewegen. Und was sie hört, lässt ihr das Blut gefrieren: der "Unfall" war ein Mordanschlag - und der Täter ist ganz nah.
Klappentext zu „Im Koma “
Du kannst ihn nicht sehen. Du kannst ihn nur hören. Dein Mörder wartet auf dich ...Casey Marshall führt ein sorgloses Leben in Philadelphia, umgeben von der Liebe ihres Mannes Warren und erfüllt von ihrem Beruf. Bis zu jenem Tag, an dem ihre Welt zusammenbricht - und sie einem furchtbaren Autounfall zum Opfer fällt. Als Casey im Krankenhaus das Bewusstsein wiedererlangt, wird sie von Panik erfasst: Um sie herum herrscht Dunkelheit, sie kann sich nicht bewegen und nicht sprechen. Doch der wahre Alptraum steht ihr noch bevor, denn sie muss erkennen, dass ihr Unfall in Wirklichkeit ein heimtückischer Anschlag war. Und bald weiss sie - der Mörder ist in ihrer Nähe und wartet nur darauf, sein grausames Werk zu vollenden ...
Lese-Probe zu „Im Koma “
Im Koma von Joy Fielding... mehr
Weniger als eine Stunde bevor der Wagen sie mit einer Geschwindigkeit von achtzig Stundenkilometern erfasste, drei Meter durch die Luft wirbelte, ihr sämtliche Knochen brach und ihren Kopf auf dem Beton aufschlagen ließ, aß Casey Marshall noch mit ihren beiden besten Freundinnen im Southwark, einem beliebten Nobel-Restaurant in South Philadelphia, zu Mittag und ließ ihren Blick immer wieder aus dem eleganten, schmalen Speiseraum in den wunderschönen abgeschlossenen Innenhof schweifen. Sie fragte sich, wie lange das ungewöhnlich warme Märzwetter wohl noch andauern würde, ob ihr vor ihrem nächsten Termin noch Zeit zum Joggen bliebe und ob sie Janine gestehen sollte, was sie wirklich von ihrer neuen Frisur hielt. Sie hatte behauptet, sie gut zu finden, was gelogen war.
Bei dem Gedanken an die ersten warmen Frühlingstage musste Casey unwillkürlich lächeln, und ihr Blick glitt über den Strauß riesiger, rosafarben leuchtender Pfingstrosen auf dem Stillleben von Tony Scherman und wanderte von dort weiter zu dem prachtvollen Mahagonitresen im vorderen Teil des Restaurants.
"Du hasst sie, oder?", hörte sie Janine fragen.
"Die Pfingstrosen?", fragte Casey, obwohl sie bezweifelte, dass Janine das Gemälde je zur Kenntnis genommen hatte. Janine brüstete sich regelmäßig damit, ihre Umgebung gar nicht wahrzunehmen, was sie allerdings nicht davon abzuhalten schien, für ihre gemeinsamen Mittagessen immer nur die edelsten und teuersten Restaurants auszusuchen. "Ich finde sie fantastisch."
"Meine Frisur. Du findest sie schrecklich."
"Ich finde sie nicht schrecklich."
"Aber zu streng."
Casey blickte direkt in Janines beinahe stechende blaue Augen, die einen ganzen Tick dunkler waren als ihre eigenen. "Ein wenig, ja", räumte sie ein. Die harten Konturen des präzise geschnittenen Bobs erdrückten Janines langes, schmales Gesicht und betonten ihr ohnehin spitzes Kinn, vor allem in Kombination mit der pechschwarzen Tönung.
"Ich hatte die ewig gleiche Frisur einfach satt", erklärte Janine und sah ihre gemeinsame Freundin Gail Bestätigung heischend an.
Gail, die Casey gegenüber auf Janines Seite des Tisches saß, nickte gefällig. "Nun, ein bisschen Abwechslung kann bekanntlich nicht schaden", sagte sie fast zeitgleich mit Janine, sodass die Sätze sich überlappten wie in einem Kanon.
"Ich meine, wir sind schließlich nicht mehr auf der Uni", fuhr Janine fort. "Wir sind über dreißig. Man muss mit der Zeit gehen ..."
"Mit der Zeit gehen ist immer gut", kam das Echo von Gail.
"Es war einfach überfällig, diese Alice-im-Wunderland-Fri-sur abzulegen." Janines spitzer Blick blieb an Caseys schulterlangen, naturblonden Haaren hängen.
"Ich mochte deine Haare lang", wandte Casey ein.
"Ich auch", stimmte Gail zu und strich sich ein paar fransige braune Locken hinters Ohr. Gail hatte nie Probleme mit ihrer Frisur. Sie sah immer so aus, als hätte sie gerade in eine Steckdose gefasst. "Aber so mag ich es auch", fügte sie hinzu.
"Nun ja, irgendwann ist es soweit: Zeit für etwas Neues! Sagst du das nicht immer?" Die Frage war mit einem derart süßen Lächeln garniert, dass Casey nur mit Mühe entscheiden konnte, ob sie gekränkt sein sollte oder nicht. Klar war auf jeden Fall, dass sie nicht mehr über Frisuren redeten.
"Es ist vor allem Zeit für einen Kaffee", verkündete Gail und winkte dem Kellner.
Casey beschloss, Janines Anspielung zu überhören. Welchen Sinn hatte es, alte Wunden aufzureißen? Stattdessen hielt sie dem gut aussehenden, dunkelhaarigen Kellner ihre Porzellantasse hin und sah zu, wie die heiße, dunkelbraune Flüssigkeit aus der Tülle der silbernen Kaffeekanne plätscherte. Casey wusste, dass Janine es nie ganz verwunden hatte, dass sie ihre gemeinsam nach der Uni gegründete juristische Personalagentur verlassen hatte, um etwas ganz Eigenes auf die Beine zu stellen, noch dazu in der völlig fremden Branche der Innendekoration. Aber sie hatte sich eingeredet, dass Janine nach einem Jahr zumindest ihren Frieden damit geschlossen hatte. Kompliziert wurde die Angelegenheit durch die Tatsache, dass Caseys neue Firma von Beginn an floriert hatte, während Janines Unternehmen stagnierte, was jeden geärgert hätte. "Es ist wirklich erstaunlich, wie alles, was du anfasst, zu Gold wird", hatte Janine schon des Öfteren bemerkt, stets begleitet von jenem breiten Lächeln, das über den leicht giftigen Unterton hinwegtäuschte, der Casey nicht entging. Wahrscheinlich war es nur ihr eigenes schlechtes Gewissen, dachte sie jetzt, ohne recht zu wissen, wofür sie sich schuldig fühlen sollte.
Sie trank einen großen Schluck Kaffee und spürte, wie er in der Kehle brannte. Sie und Janine waren seit ihrem zweiten Studienjahr an der Brown University befreundet. Janine hatte gerade von Jura zu englischer Literatur gewechselt, Casey studierte Englisch und Psychologie. Trotz ihrer offensichtlich völlig gegensätzlichen Charaktere - Casey war eher zurückhaltend und nachgiebig, Janine reizbar und extrovertiert - hatten sie sich auf Anhieb verstanden. Vielleicht ein Fall von Gegensätzen, die sich anziehen. Jede meinte wohl, dass die andere etwas hatte, was ihr selbst fehlte. Casey hatte nie lange über die Frage gegrübelt, was sie zusammengebracht und warum ihre Freundschaft auch die zehn Jahre nach dem Examen überdauert hatte, obwohl in der Zeit ziemlich viel passiert war -darunter Caseys Ausstieg aus der gemeinsamen Firma und vor zwei Jahren ihre Hochzeit mit einem Mann, den Janine - garniert mit dem obligaten strahlenden Lächeln - als "natürlich verdammt perfekt" bezeichnet hatte.
Casey mochte Janine ganz einfach. Und genauso erging es ihr mit Gail, ihrer anderen besten Freundin, die in fast jeder Hinsicht viel unkomplizierter war. Casey kannte Gail seit der Grundschule, und obwohl das mehr als zwanzig Jahre zurücklag, war Gail im Grunde dasselbe arglose nette Mädchen geblieben, das sie immer gewesen war. Bei Gail wusste man immer, woran man war. Sie hatte mit ihren zweiunddreißig Jahren schon ziemlich viel durchgemacht, aber immer noch ein Kichern wie ein schüchterner Teenager. Manchmal kicherte sie sogar mitten im Satz, eine ebenso irritierende wie liebenswerte Marotte. Casey dachte immer, dass es die akustische Entsprechung der Geste war, mit der ein junger Hund sich auf den Rücken warf, um sich den Bauch kraulen zu lassen.
Im Gegensatz zu Janine gab es bei Gail kein Vortäuschen, keine Hintergedanken und auch keine besonders tiefschürfenden Einsichten. Meistens hörte sie sich erst einmal an, was die anderen zu sagen hatten, bevor sie sich zu irgendetwas äußerte. Janine grummelte manchmal über Gails Naivität und ihren »gnadenlosen Optimismus«, aber auch sie musste zugeben, dass Gail ein angenehmer Mensch war, mit dem man gerne zusammen war. Außerdem bewunderte Casey Gails Gabe, beide Parteien eines Streits anzuhören und jeder Seite das Gefühl zu vermitteln, auf ihrer Seite zu sein. Vermutlich war sie deshalb eine so gute Verkäuferin.
»Alles in Ordnung?«, fragte Casey, wandte sich wieder Janine zu und betete, als Antwort ein schlichtes Ja zu hören. »Alles bestens. Warum fragst du?«
»Ich weiß nicht. Du wirkst ein wenig ... ich weiß nicht.« »Tu nicht so. Du weißt doch immer alles besser.«
»Siehst du - genau das meine ich.«
»Was meinst du damit?«
»Was meinst du damit?«
»Hab ich irgendwas verpasst?«, fragte Gail und blickte aus
großen braunen Augen nervös von einer Frau zur anderen. »Bist du wütend auf mich?«, fragte Casey Janine direkt. »Warum sollte ich denn wütend auf dich sein?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und ich weiß wirklich nicht, was du meinst.« Janine berührte das goldene Medaillon an ihrem Hals und nestelte an dem steifen Kragen ihrer weißen Valentino-Bluse. Casey wusste, dass sie von Valentino war, weil sie sie vor Kurzem auf dem Titelblatt der Vogue gesehen hatte. Sie wusste auch, dass Janine es sich nicht leisten konnte, fast zweitausend Dollar für eine Bluse auszugeben, aber andererseits hatte ihre Freundin schon über ihre Verhältnisse gelebt, so lange Casey denken konnte. »Schöne Klamotten sind für mich wichtig«, hatte Janine erklärt, als Casey einmal Bedenken zu einer ihrer exorbitanteren Neuerwerbungen äußerte. Gefolgt von: »Ich bin vielleicht nicht mit einem Silberlöffel im Mund zur Welt gekommen, aber ich weiß, wie wichtig es ist, sich gut zu kleiden.«
»Okay«, sagte Casey jetzt, nahm den Silberlöffel neben ihrer Tasse und wendete ihn in der Hand, bevor sie ihn wieder weglegte. »Dann ist es ja gut.«
»Nun, ich bin vielleicht ein wenig verärgert«, räumte Janine mit einem Schütteln ihres neuen geometrischen Haarschnitts ein, sodass mehrere schwarze Strähnen einen Winkel ihres breiten Munds streiften, die sie ungeduldig zur Seite strich. »Nicht deinetwegen«, fügte sie hastig hinzu.
»Was ist denn das Problem?« Casey ließ die vergangenen sechzig Minuten wie im Schnelldurchlauf vor ihrem inneren Auge abspulen. Sie hatten ihre diversen Salate und jeweils ein Glas Wein genossen, ein wenig Klatsch und sämtliche Neuigkei ten ausgetauscht, die sich seit ihrem letzten Treffen vor zwei Wochen ereignet hatten. Alles schien bestens. Es sei denn, Janine haderte immer noch mit ihrer neuen Frisur ...
»Es ist nur dieser kleine Blödmann Richard Mooney - erinnerst du dich an ihn?«, fragte Janine Casey.
»Der Typ, den wir bei Haskins & Farber untergebracht haben?«
»Genau der. Die Knalltüte hat im unteren Drittel seines Examensjahrgangs abgeschlossen«, erklärte Janine Gail. »Hat ein Sozialverhalten wie eine Mülltonne. Kann ums Verrecken keinen Job finden. Niemand, aber auch niemand will ihn einstellen. Er kommt zu uns. Ich sage zu Casey, der Typ ist ein Loser, wir sollten ihn gar nicht erst annehmen, aber ihr tut er leid, und sie meint, wir sollten ihm eine Chance geben. Warum nicht? Zumal sie ohnehin vorhat, uns bald zu verlassen, wie sich herausstellt.«
»Moment mal«, rief Casey und hob protestierend die Hände.
Janine tat Caseys Einwand mit ihrem Megawattlächeln und einem Wink ihrer langen French-Manicure-Fingernägel ab.
»Ich wollte dich bloß ärgern. Außerdem haben wir ihn angenommen, und ein paar Monate später warst du weg. Oder stimmt das nicht?«
»Nun ja, schon, aber ...«
»Mehr sage ich ja gar nicht.«
Casey hatte Probleme zu verstehen, was genau ihre Freundin eigentlich meinte. Sie dachte, dass Janine eine großartige Anwältin geworden wäre, und fragte sich, warum sie überhaupt über Richard Mooney redeten.
»Also zurück zu Richard Mooney«, sagte Janine, als hätte Casey ihre Verwirrung laut geäußert. Sie wandte sich wieder an Gail. »Wir konnten tatsächlich etwas für den kleinen Blödmann tun. Wie sich herausstellte, hat einer der Partner bei Has kins eine Schwäche für Casey. Sie klimpert ein paarmal mehr als üblich mit den Wimpern, und er willigt ein, es mit Mooney zu versuchen.«
»Das war wohl kaum der Grund«, unterbrach Casey.
»Jedenfalls fängt Mooney bei Haskins an und kann sich dort kaum ein Jahr halten, ehe er wieder rausfliegt. In der Zwischenzeit hat Casey natürlich ihr neues Leben als Dekorateurin der Stars angefangen. Und wer bleibt zurück, um sich mit den Folgen herumzuschlagen?«
»Welche Folgen?«, fragte Gail.
»Welche Stars?«, fragte Casey.
»Nun, ich kann mir nicht vorstellen, dass Haskins & Farber besonders glücklich sind«, sagte Janine. »Die werden in absehbarer Zeit wohl nicht mehr an meine Tür klopfen. Aber ratet mal, wer heute Morgen als Erstes vor meiner Tür stand? Der kleine Blödmann persönlich! Er will einen neuen Job, behauptet, wir haben mit seiner Vermittlung an Haskins Mist gebaut, weil wir haben wissen müssen, dass die Kanzlei für ihn nicht die richtige sei, weshalb es nun auch an mir liege, ihm eine besser geeignete Position zu verschaffen. Als ich ihm vorschlug, sich an jemand anderen zu wenden, wurde er ziemlich pampig und verlangte, die Chefin zu sprechen. Ich nehme an, er meinte dich«, fuhr Janine mit einem Nicken in Caseys Richtung fort, wodurch eine dicke Strähne blauschwarzer Haare über ihr linkes Auge fiel. »Er hat einen ziemlichen Aufstand gemacht. Ich hätte beinahe den Sicherheitsdienst rufen müssen.«
»Das ist ja furchtbar«, sagte Gail.
»Das tut mir sehr leid«, entschuldigte Casey sich. Janine hatte recht - es war ihre Idee gewesen, Richard Mooney anzunehmen; und er hatte ihr leidgetan; und vielleicht hatte sie bei Sid Haskins auch ein paarmal mehr als üblich mit den Wimpern geklimpert. »Tut mir leid«, sagte sie noch einmal, obwohl sie wusste, dass es nicht der einzige Fall war, bei dem ein Anwalt, den sie einer Kanzlei empfohlen hatten, sich nicht bewährt hatte. Janine war selbst für mindestens zwei Paarungen verantwortlich, die sich als alles andere als ideal erwiesen hatten, obwohl dies wahrscheinlich nicht der geeignete Zeitpunkt war, das anzumerken.
»Ich weiß, dass es nicht deine Schuld ist«, gab Janine zu. »Ich weiß nicht, warum mir das Ganze so zugesetzt hat. Wahrscheinlich PMS.«
»Apropos ... nun ja, nicht direkt«, sagte Casey, hielt inne, uneins mit sich, ob sie weitersprechen sollte, und sprudelte dann doch weiter. »Warren und ich haben darüber gesprochen, ein Kind zu bekommen.«
»Das ist nicht dein Ernst«, sagte Janine, und ihr schmallippiger Mund rutschte gemeinsam mit ihrem spitzen Kinn Richtung Tischdecke.
»Ich kann nicht glauben, dass du bis nach dem Essen gewartet hast, um uns so wichtige Neuigkeiten zu erzählen«, sagte Gail und unterstrich ihren Satz mit einem kurzen Lachen.
»Nun, bis jetzt waren es nur Gedankenspiele.«
»Und jetzt nicht mehr?«, fragte Janine.
»Ende des Monats setze ich die Pille ab.«
»Das ist ja toll!«, flötete Gail.
»Und du bist sicher, dass es der richtige Zeitpunkt ist?«, fragte Janine. »Ich meine, so lange seid ihr doch noch gar nicht verheiratet, und du hast gerade eine neue Firma gegründet.«
»Die Firma läuft super, meine Ehe könnte nicht besser sein, und wie du eben festgestellt hast, sind wir nicht mehr auf der Uni. Ich werde dreiunddreißig. Wenn alles nach Plan läuft, kommt das Baby vielleicht sogar schon um meinen Geburtstag herum zur Welt.«
»Und wann wäre bei dir irgendwas je nicht nach Plan gelaufen?«, fragte Janine mit einem Lächeln.
»Schön für dich.« Gail tätschelte Caseys Hand. »Ich finde es großartig. Du wirst bestimmt eine tolle Mutter.«
»Glaubst du wirklich? Ich hatte ja nicht gerade ein tolles Vorbild.«
»Du hast deine Schwester praktisch alleine großgezogen«, bemerkte Gail.
»Ja, und schau dir an, was aus ihr geworden ist.« Casey blickte wieder zu dem Stillleben an der Wand und atmete tief ein, als wollte sie den Duft der rosafarben leuchtenden Pfingstrosen in sich aufnehmen.
»Wie geht es Drew überhaupt?«, fragte Janine, obwohl ihr
Ton erkennen ließ, dass sie die Antwort bereits kannte.
»Ich habe seit Wochen nichts von ihr gehört. Sie ruft nicht
an und reagiert auch nicht auf meine Nachrichten.« »Typisch.«
»Sie meldet sich bestimmt«, sagte Gail, diesmal ohne ein leises Lachen zur Untermalung.
Janine machte dem Kellner ein Zeichen, die Rechnung zu bringen, indem sie die Finger in der Luft schwenkte, als würde sie den Beleg schon unterschreiben. »Bist du ganz sicher, dass du diesen perfekten Körper aufgeben willst?«, fragte sie Casey, als der junge Mann die Rechnung brachte. »Du weißt ja, er wird nie mehr derselbe sein.«
»Das ist schon okay. Es ist Zeit ...«
»... für etwas Neues?«, frotzelte Janine.
»Deine Brüste werden größer werden«, sagte Gail.
»Das ist doch nett«, sagte Casey, während Janine den Betrag dividierte.
»Fünfzig für jede inklusive Trinkgeld«, verkündete sie kurz darauf. »Warum gebt ihr mir nicht das Geld, und ich lasse alles auf meine Kreditkarte setzen, damit es schneller geht?«
Casey wusste, dass Janines Vorschlag nichts mit der Beschleunigung des Verfahrens, dafür jedoch alles mit der steuerlichen Absetzbarkeit ihres Lunchs als Geschäftsessen zu tun hatte. »Und was machst du am Wochenende?«, fragte sie und gab Janine das abgezählte Geld.
»Ich habe ein Date mit dem Banker, mit dem ich letzte Woche schon mal weggegangen bin.« Janines blaue Augen sprühten keineswegs vor Begeisterung.
»Das ist doch nett«, sagte Gail. »Oder nicht?«
»Eigentlich nicht. Aber er hat Karten für Jersey Boys, und ihr wisst ja, wie schwer man an Tickets kommt, wie hätte ich da ablehnen können?«
»Oh, es wird dir gefallen«, sagte Casey. »Es ist fantastisch. Ich habe das Original vor ein paar Jahren am Broadway gesehen.«
»Selbstredend.« Janine lächelte und stand auf. »Und diese Woche wirst du mit deinem fabelhaften Ehemann fabelhafte Babys machen. Sorry«, fügte sie im selben Atemzug hinzu. »Ich bin echt fies. Das muss PMS sein.«
»Wohin gehst du jetzt?«, fragte Gail Casey, während sie auf ihre Mäntel warteten.
»Ich glaube, ich bleibe noch ein bisschen hier. Eigentlich wollte ich noch joggen, aber die Zeit bis zu meinem nächsten Termin reicht wohl nicht mehr.« Casey sah auf ihre Uhr, eine goldene Cartier, die ihr Mann ihr zu ihrem zweiten Hochzeitstag im vergangenen Monat geschenkt hatte.
»Spar deine Kräfte für heute Nacht«, riet Janine ihr leise und beugte sich herab, um Casey auf die Wange zu küssen. »Komm, Gail, ich setz dich noch bei deiner Arbeit ab.«
Casey sah ihren beiden Freundinnen nach, die Arm in Arm die South Street hinuntergingen, und fand, dass sie einen markanten Gegensatz bildeten: Janine, hoch aufgeschossen und gefasst, Gail kleiner und in alle Richtungen quellend; Janine ein teures Glas Champagner, Gail ein Krug frisch gezapftes Bier.
Und was wäre sie dann, fragte Casey sich. Vielleicht sollte sie einen angesagteren Haarschnitt probieren, obwohl lange blonde Haare eigentlich nie aus der Mode gekommen waren. Und sie passten gut zu ihrem ovalen Gesicht, ihrer hellen Haut und ihren feinen Zügen. »Versuch gar nicht erst, mir zu erzählen, dass du nicht Prom Queen beim Abschlussball deiner Highschool warst«, hatte Janine gleich bei ihrer ersten Begegnung gemeint. Casey hatte damals nur gelacht und geschwiegen. Sie war Prom Queen gewesen, außerdem Vorsitzende des Debattierclubs und Mannschaftsführerin des Schwimmteams und hatte überdies einen beinahe perfekten Notendurchschnitt, aber die Leute hatten sich schon immer mehr dafür interessiert, wie sie aussah und wie viel Geld sie besaß. »Irgendjemand hat mir gerade erzählt, dass dein Alter milliardenschwer ist«, hatte Janine bei einer anderen Gelegenheit bemerkt, und wieder war Casey stumm geblieben. Ja, es stimmte, dass ihre Familie beinahe obszön reich war. Es stimmte auch, dass ihr Vater ein berüchtigter Schürzenjäger war, ihre Mutter eine egozentrische Alkoholikerin und ihre jüngere Schwester ein Drogen konsumierendes Partygirl auf dem Weg zum echten Problemfall. Vier Jahre nach Caseys Examen waren ihre Eltern bei dem Absturz ihres Privatjets bei widrigem Wetter über der Chesapeake Bay ums Leben gekommen, womit ihre Schwester auch offiziell zum Problemfall wurde.
Diese Gedanken nahmen Casey auch noch wenig später in Beschlag, als sie die South Street hinunterging, Philadelphias Entsprechung von Greenwich Village. Es war ein kunterbuntes Gemisch aus beißenden Essensgerüchen, schäbigen Tätowierungsstudios, hippen Lederboutiquen und Avantgar de-Galerien. Wahrhaftig eine Welt für sich, dachte sie, als sie South Philly erreichte und auf das große Parkhaus an der Washington Avenue zuging. Das war das Problem, wenn man in der Gegend essen ging - es war beinahe unmöglich, einen Parkplatz zu finden, und sobald man die South Street hinter sich hatte, die die Grenze zwischen Center City und South Philadelphia bildete, war man mehr oder weniger in Rocky-Territorium.
Casey betrat das Parkhaus, nahm den Fahrstuhl in den vierten Stock und zog den Wagenschlüssel aus ihrer großen schwarzen Lederhandtasche, während sie auf ihr weißes Lexus-SportCoupé zuging, das am Ende des Parkdecks stand. In der Ferne hörte sie einen Motor aufheulen und blickte sich um, sah jedoch nichts. Bis auf die Reihen bunter Pkw war das Stockwerk völlig verlassen.
Sie hörte den Wagen erst, als er schon fast über ihr war. Sie hatte den rechten Arm ausgestreckt, den Daumen auf dem Knopf der Zentralverriegelung, als ein silberner Van um die Ecke schlingerte und auf sie zugeschossen kam. Sie hatte keine Zeit mehr, das Gesicht des Fahrers bewusst wahrzunehmen oder auch nur festzustellen, ob ein Mann oder eine Frau am Steuer saß. Sie hatte auch keine Zeit mehr auszuweichen. Wie aus dem Nichts wurde sie durch die Luft gewirbelt und schlug mit einem lauten Schlag auf dem Boden auf. Ihr Kopf knallte auf den harten Beton, und sie blieb am Boden liegen, ihr Körper ein schlaffes Häuflein gebrochener Knochen.
Der Van verschwand unverzüglich in den Straßen von South Philadelphia, und Casey Marshall versank im Nichts.
Übersetzung: Kristian Lutze
Copyright © der deutschsprachigen Originalausgabe 2009
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Weniger als eine Stunde bevor der Wagen sie mit einer Geschwindigkeit von achtzig Stundenkilometern erfasste, drei Meter durch die Luft wirbelte, ihr sämtliche Knochen brach und ihren Kopf auf dem Beton aufschlagen ließ, aß Casey Marshall noch mit ihren beiden besten Freundinnen im Southwark, einem beliebten Nobel-Restaurant in South Philadelphia, zu Mittag und ließ ihren Blick immer wieder aus dem eleganten, schmalen Speiseraum in den wunderschönen abgeschlossenen Innenhof schweifen. Sie fragte sich, wie lange das ungewöhnlich warme Märzwetter wohl noch andauern würde, ob ihr vor ihrem nächsten Termin noch Zeit zum Joggen bliebe und ob sie Janine gestehen sollte, was sie wirklich von ihrer neuen Frisur hielt. Sie hatte behauptet, sie gut zu finden, was gelogen war.
Bei dem Gedanken an die ersten warmen Frühlingstage musste Casey unwillkürlich lächeln, und ihr Blick glitt über den Strauß riesiger, rosafarben leuchtender Pfingstrosen auf dem Stillleben von Tony Scherman und wanderte von dort weiter zu dem prachtvollen Mahagonitresen im vorderen Teil des Restaurants.
"Du hasst sie, oder?", hörte sie Janine fragen.
"Die Pfingstrosen?", fragte Casey, obwohl sie bezweifelte, dass Janine das Gemälde je zur Kenntnis genommen hatte. Janine brüstete sich regelmäßig damit, ihre Umgebung gar nicht wahrzunehmen, was sie allerdings nicht davon abzuhalten schien, für ihre gemeinsamen Mittagessen immer nur die edelsten und teuersten Restaurants auszusuchen. "Ich finde sie fantastisch."
"Meine Frisur. Du findest sie schrecklich."
"Ich finde sie nicht schrecklich."
"Aber zu streng."
Casey blickte direkt in Janines beinahe stechende blaue Augen, die einen ganzen Tick dunkler waren als ihre eigenen. "Ein wenig, ja", räumte sie ein. Die harten Konturen des präzise geschnittenen Bobs erdrückten Janines langes, schmales Gesicht und betonten ihr ohnehin spitzes Kinn, vor allem in Kombination mit der pechschwarzen Tönung.
"Ich hatte die ewig gleiche Frisur einfach satt", erklärte Janine und sah ihre gemeinsame Freundin Gail Bestätigung heischend an.
Gail, die Casey gegenüber auf Janines Seite des Tisches saß, nickte gefällig. "Nun, ein bisschen Abwechslung kann bekanntlich nicht schaden", sagte sie fast zeitgleich mit Janine, sodass die Sätze sich überlappten wie in einem Kanon.
"Ich meine, wir sind schließlich nicht mehr auf der Uni", fuhr Janine fort. "Wir sind über dreißig. Man muss mit der Zeit gehen ..."
"Mit der Zeit gehen ist immer gut", kam das Echo von Gail.
"Es war einfach überfällig, diese Alice-im-Wunderland-Fri-sur abzulegen." Janines spitzer Blick blieb an Caseys schulterlangen, naturblonden Haaren hängen.
"Ich mochte deine Haare lang", wandte Casey ein.
"Ich auch", stimmte Gail zu und strich sich ein paar fransige braune Locken hinters Ohr. Gail hatte nie Probleme mit ihrer Frisur. Sie sah immer so aus, als hätte sie gerade in eine Steckdose gefasst. "Aber so mag ich es auch", fügte sie hinzu.
"Nun ja, irgendwann ist es soweit: Zeit für etwas Neues! Sagst du das nicht immer?" Die Frage war mit einem derart süßen Lächeln garniert, dass Casey nur mit Mühe entscheiden konnte, ob sie gekränkt sein sollte oder nicht. Klar war auf jeden Fall, dass sie nicht mehr über Frisuren redeten.
"Es ist vor allem Zeit für einen Kaffee", verkündete Gail und winkte dem Kellner.
Casey beschloss, Janines Anspielung zu überhören. Welchen Sinn hatte es, alte Wunden aufzureißen? Stattdessen hielt sie dem gut aussehenden, dunkelhaarigen Kellner ihre Porzellantasse hin und sah zu, wie die heiße, dunkelbraune Flüssigkeit aus der Tülle der silbernen Kaffeekanne plätscherte. Casey wusste, dass Janine es nie ganz verwunden hatte, dass sie ihre gemeinsam nach der Uni gegründete juristische Personalagentur verlassen hatte, um etwas ganz Eigenes auf die Beine zu stellen, noch dazu in der völlig fremden Branche der Innendekoration. Aber sie hatte sich eingeredet, dass Janine nach einem Jahr zumindest ihren Frieden damit geschlossen hatte. Kompliziert wurde die Angelegenheit durch die Tatsache, dass Caseys neue Firma von Beginn an floriert hatte, während Janines Unternehmen stagnierte, was jeden geärgert hätte. "Es ist wirklich erstaunlich, wie alles, was du anfasst, zu Gold wird", hatte Janine schon des Öfteren bemerkt, stets begleitet von jenem breiten Lächeln, das über den leicht giftigen Unterton hinwegtäuschte, der Casey nicht entging. Wahrscheinlich war es nur ihr eigenes schlechtes Gewissen, dachte sie jetzt, ohne recht zu wissen, wofür sie sich schuldig fühlen sollte.
Sie trank einen großen Schluck Kaffee und spürte, wie er in der Kehle brannte. Sie und Janine waren seit ihrem zweiten Studienjahr an der Brown University befreundet. Janine hatte gerade von Jura zu englischer Literatur gewechselt, Casey studierte Englisch und Psychologie. Trotz ihrer offensichtlich völlig gegensätzlichen Charaktere - Casey war eher zurückhaltend und nachgiebig, Janine reizbar und extrovertiert - hatten sie sich auf Anhieb verstanden. Vielleicht ein Fall von Gegensätzen, die sich anziehen. Jede meinte wohl, dass die andere etwas hatte, was ihr selbst fehlte. Casey hatte nie lange über die Frage gegrübelt, was sie zusammengebracht und warum ihre Freundschaft auch die zehn Jahre nach dem Examen überdauert hatte, obwohl in der Zeit ziemlich viel passiert war -darunter Caseys Ausstieg aus der gemeinsamen Firma und vor zwei Jahren ihre Hochzeit mit einem Mann, den Janine - garniert mit dem obligaten strahlenden Lächeln - als "natürlich verdammt perfekt" bezeichnet hatte.
Casey mochte Janine ganz einfach. Und genauso erging es ihr mit Gail, ihrer anderen besten Freundin, die in fast jeder Hinsicht viel unkomplizierter war. Casey kannte Gail seit der Grundschule, und obwohl das mehr als zwanzig Jahre zurücklag, war Gail im Grunde dasselbe arglose nette Mädchen geblieben, das sie immer gewesen war. Bei Gail wusste man immer, woran man war. Sie hatte mit ihren zweiunddreißig Jahren schon ziemlich viel durchgemacht, aber immer noch ein Kichern wie ein schüchterner Teenager. Manchmal kicherte sie sogar mitten im Satz, eine ebenso irritierende wie liebenswerte Marotte. Casey dachte immer, dass es die akustische Entsprechung der Geste war, mit der ein junger Hund sich auf den Rücken warf, um sich den Bauch kraulen zu lassen.
Im Gegensatz zu Janine gab es bei Gail kein Vortäuschen, keine Hintergedanken und auch keine besonders tiefschürfenden Einsichten. Meistens hörte sie sich erst einmal an, was die anderen zu sagen hatten, bevor sie sich zu irgendetwas äußerte. Janine grummelte manchmal über Gails Naivität und ihren »gnadenlosen Optimismus«, aber auch sie musste zugeben, dass Gail ein angenehmer Mensch war, mit dem man gerne zusammen war. Außerdem bewunderte Casey Gails Gabe, beide Parteien eines Streits anzuhören und jeder Seite das Gefühl zu vermitteln, auf ihrer Seite zu sein. Vermutlich war sie deshalb eine so gute Verkäuferin.
»Alles in Ordnung?«, fragte Casey, wandte sich wieder Janine zu und betete, als Antwort ein schlichtes Ja zu hören. »Alles bestens. Warum fragst du?«
»Ich weiß nicht. Du wirkst ein wenig ... ich weiß nicht.« »Tu nicht so. Du weißt doch immer alles besser.«
»Siehst du - genau das meine ich.«
»Was meinst du damit?«
»Was meinst du damit?«
»Hab ich irgendwas verpasst?«, fragte Gail und blickte aus
großen braunen Augen nervös von einer Frau zur anderen. »Bist du wütend auf mich?«, fragte Casey Janine direkt. »Warum sollte ich denn wütend auf dich sein?«
»Ich weiß es nicht.«
»Und ich weiß wirklich nicht, was du meinst.« Janine berührte das goldene Medaillon an ihrem Hals und nestelte an dem steifen Kragen ihrer weißen Valentino-Bluse. Casey wusste, dass sie von Valentino war, weil sie sie vor Kurzem auf dem Titelblatt der Vogue gesehen hatte. Sie wusste auch, dass Janine es sich nicht leisten konnte, fast zweitausend Dollar für eine Bluse auszugeben, aber andererseits hatte ihre Freundin schon über ihre Verhältnisse gelebt, so lange Casey denken konnte. »Schöne Klamotten sind für mich wichtig«, hatte Janine erklärt, als Casey einmal Bedenken zu einer ihrer exorbitanteren Neuerwerbungen äußerte. Gefolgt von: »Ich bin vielleicht nicht mit einem Silberlöffel im Mund zur Welt gekommen, aber ich weiß, wie wichtig es ist, sich gut zu kleiden.«
»Okay«, sagte Casey jetzt, nahm den Silberlöffel neben ihrer Tasse und wendete ihn in der Hand, bevor sie ihn wieder weglegte. »Dann ist es ja gut.«
»Nun, ich bin vielleicht ein wenig verärgert«, räumte Janine mit einem Schütteln ihres neuen geometrischen Haarschnitts ein, sodass mehrere schwarze Strähnen einen Winkel ihres breiten Munds streiften, die sie ungeduldig zur Seite strich. »Nicht deinetwegen«, fügte sie hastig hinzu.
»Was ist denn das Problem?« Casey ließ die vergangenen sechzig Minuten wie im Schnelldurchlauf vor ihrem inneren Auge abspulen. Sie hatten ihre diversen Salate und jeweils ein Glas Wein genossen, ein wenig Klatsch und sämtliche Neuigkei ten ausgetauscht, die sich seit ihrem letzten Treffen vor zwei Wochen ereignet hatten. Alles schien bestens. Es sei denn, Janine haderte immer noch mit ihrer neuen Frisur ...
»Es ist nur dieser kleine Blödmann Richard Mooney - erinnerst du dich an ihn?«, fragte Janine Casey.
»Der Typ, den wir bei Haskins & Farber untergebracht haben?«
»Genau der. Die Knalltüte hat im unteren Drittel seines Examensjahrgangs abgeschlossen«, erklärte Janine Gail. »Hat ein Sozialverhalten wie eine Mülltonne. Kann ums Verrecken keinen Job finden. Niemand, aber auch niemand will ihn einstellen. Er kommt zu uns. Ich sage zu Casey, der Typ ist ein Loser, wir sollten ihn gar nicht erst annehmen, aber ihr tut er leid, und sie meint, wir sollten ihm eine Chance geben. Warum nicht? Zumal sie ohnehin vorhat, uns bald zu verlassen, wie sich herausstellt.«
»Moment mal«, rief Casey und hob protestierend die Hände.
Janine tat Caseys Einwand mit ihrem Megawattlächeln und einem Wink ihrer langen French-Manicure-Fingernägel ab.
»Ich wollte dich bloß ärgern. Außerdem haben wir ihn angenommen, und ein paar Monate später warst du weg. Oder stimmt das nicht?«
»Nun ja, schon, aber ...«
»Mehr sage ich ja gar nicht.«
Casey hatte Probleme zu verstehen, was genau ihre Freundin eigentlich meinte. Sie dachte, dass Janine eine großartige Anwältin geworden wäre, und fragte sich, warum sie überhaupt über Richard Mooney redeten.
»Also zurück zu Richard Mooney«, sagte Janine, als hätte Casey ihre Verwirrung laut geäußert. Sie wandte sich wieder an Gail. »Wir konnten tatsächlich etwas für den kleinen Blödmann tun. Wie sich herausstellte, hat einer der Partner bei Has kins eine Schwäche für Casey. Sie klimpert ein paarmal mehr als üblich mit den Wimpern, und er willigt ein, es mit Mooney zu versuchen.«
»Das war wohl kaum der Grund«, unterbrach Casey.
»Jedenfalls fängt Mooney bei Haskins an und kann sich dort kaum ein Jahr halten, ehe er wieder rausfliegt. In der Zwischenzeit hat Casey natürlich ihr neues Leben als Dekorateurin der Stars angefangen. Und wer bleibt zurück, um sich mit den Folgen herumzuschlagen?«
»Welche Folgen?«, fragte Gail.
»Welche Stars?«, fragte Casey.
»Nun, ich kann mir nicht vorstellen, dass Haskins & Farber besonders glücklich sind«, sagte Janine. »Die werden in absehbarer Zeit wohl nicht mehr an meine Tür klopfen. Aber ratet mal, wer heute Morgen als Erstes vor meiner Tür stand? Der kleine Blödmann persönlich! Er will einen neuen Job, behauptet, wir haben mit seiner Vermittlung an Haskins Mist gebaut, weil wir haben wissen müssen, dass die Kanzlei für ihn nicht die richtige sei, weshalb es nun auch an mir liege, ihm eine besser geeignete Position zu verschaffen. Als ich ihm vorschlug, sich an jemand anderen zu wenden, wurde er ziemlich pampig und verlangte, die Chefin zu sprechen. Ich nehme an, er meinte dich«, fuhr Janine mit einem Nicken in Caseys Richtung fort, wodurch eine dicke Strähne blauschwarzer Haare über ihr linkes Auge fiel. »Er hat einen ziemlichen Aufstand gemacht. Ich hätte beinahe den Sicherheitsdienst rufen müssen.«
»Das ist ja furchtbar«, sagte Gail.
»Das tut mir sehr leid«, entschuldigte Casey sich. Janine hatte recht - es war ihre Idee gewesen, Richard Mooney anzunehmen; und er hatte ihr leidgetan; und vielleicht hatte sie bei Sid Haskins auch ein paarmal mehr als üblich mit den Wimpern geklimpert. »Tut mir leid«, sagte sie noch einmal, obwohl sie wusste, dass es nicht der einzige Fall war, bei dem ein Anwalt, den sie einer Kanzlei empfohlen hatten, sich nicht bewährt hatte. Janine war selbst für mindestens zwei Paarungen verantwortlich, die sich als alles andere als ideal erwiesen hatten, obwohl dies wahrscheinlich nicht der geeignete Zeitpunkt war, das anzumerken.
»Ich weiß, dass es nicht deine Schuld ist«, gab Janine zu. »Ich weiß nicht, warum mir das Ganze so zugesetzt hat. Wahrscheinlich PMS.«
»Apropos ... nun ja, nicht direkt«, sagte Casey, hielt inne, uneins mit sich, ob sie weitersprechen sollte, und sprudelte dann doch weiter. »Warren und ich haben darüber gesprochen, ein Kind zu bekommen.«
»Das ist nicht dein Ernst«, sagte Janine, und ihr schmallippiger Mund rutschte gemeinsam mit ihrem spitzen Kinn Richtung Tischdecke.
»Ich kann nicht glauben, dass du bis nach dem Essen gewartet hast, um uns so wichtige Neuigkeiten zu erzählen«, sagte Gail und unterstrich ihren Satz mit einem kurzen Lachen.
»Nun, bis jetzt waren es nur Gedankenspiele.«
»Und jetzt nicht mehr?«, fragte Janine.
»Ende des Monats setze ich die Pille ab.«
»Das ist ja toll!«, flötete Gail.
»Und du bist sicher, dass es der richtige Zeitpunkt ist?«, fragte Janine. »Ich meine, so lange seid ihr doch noch gar nicht verheiratet, und du hast gerade eine neue Firma gegründet.«
»Die Firma läuft super, meine Ehe könnte nicht besser sein, und wie du eben festgestellt hast, sind wir nicht mehr auf der Uni. Ich werde dreiunddreißig. Wenn alles nach Plan läuft, kommt das Baby vielleicht sogar schon um meinen Geburtstag herum zur Welt.«
»Und wann wäre bei dir irgendwas je nicht nach Plan gelaufen?«, fragte Janine mit einem Lächeln.
»Schön für dich.« Gail tätschelte Caseys Hand. »Ich finde es großartig. Du wirst bestimmt eine tolle Mutter.«
»Glaubst du wirklich? Ich hatte ja nicht gerade ein tolles Vorbild.«
»Du hast deine Schwester praktisch alleine großgezogen«, bemerkte Gail.
»Ja, und schau dir an, was aus ihr geworden ist.« Casey blickte wieder zu dem Stillleben an der Wand und atmete tief ein, als wollte sie den Duft der rosafarben leuchtenden Pfingstrosen in sich aufnehmen.
»Wie geht es Drew überhaupt?«, fragte Janine, obwohl ihr
Ton erkennen ließ, dass sie die Antwort bereits kannte.
»Ich habe seit Wochen nichts von ihr gehört. Sie ruft nicht
an und reagiert auch nicht auf meine Nachrichten.« »Typisch.«
»Sie meldet sich bestimmt«, sagte Gail, diesmal ohne ein leises Lachen zur Untermalung.
Janine machte dem Kellner ein Zeichen, die Rechnung zu bringen, indem sie die Finger in der Luft schwenkte, als würde sie den Beleg schon unterschreiben. »Bist du ganz sicher, dass du diesen perfekten Körper aufgeben willst?«, fragte sie Casey, als der junge Mann die Rechnung brachte. »Du weißt ja, er wird nie mehr derselbe sein.«
»Das ist schon okay. Es ist Zeit ...«
»... für etwas Neues?«, frotzelte Janine.
»Deine Brüste werden größer werden«, sagte Gail.
»Das ist doch nett«, sagte Casey, während Janine den Betrag dividierte.
»Fünfzig für jede inklusive Trinkgeld«, verkündete sie kurz darauf. »Warum gebt ihr mir nicht das Geld, und ich lasse alles auf meine Kreditkarte setzen, damit es schneller geht?«
Casey wusste, dass Janines Vorschlag nichts mit der Beschleunigung des Verfahrens, dafür jedoch alles mit der steuerlichen Absetzbarkeit ihres Lunchs als Geschäftsessen zu tun hatte. »Und was machst du am Wochenende?«, fragte sie und gab Janine das abgezählte Geld.
»Ich habe ein Date mit dem Banker, mit dem ich letzte Woche schon mal weggegangen bin.« Janines blaue Augen sprühten keineswegs vor Begeisterung.
»Das ist doch nett«, sagte Gail. »Oder nicht?«
»Eigentlich nicht. Aber er hat Karten für Jersey Boys, und ihr wisst ja, wie schwer man an Tickets kommt, wie hätte ich da ablehnen können?«
»Oh, es wird dir gefallen«, sagte Casey. »Es ist fantastisch. Ich habe das Original vor ein paar Jahren am Broadway gesehen.«
»Selbstredend.« Janine lächelte und stand auf. »Und diese Woche wirst du mit deinem fabelhaften Ehemann fabelhafte Babys machen. Sorry«, fügte sie im selben Atemzug hinzu. »Ich bin echt fies. Das muss PMS sein.«
»Wohin gehst du jetzt?«, fragte Gail Casey, während sie auf ihre Mäntel warteten.
»Ich glaube, ich bleibe noch ein bisschen hier. Eigentlich wollte ich noch joggen, aber die Zeit bis zu meinem nächsten Termin reicht wohl nicht mehr.« Casey sah auf ihre Uhr, eine goldene Cartier, die ihr Mann ihr zu ihrem zweiten Hochzeitstag im vergangenen Monat geschenkt hatte.
»Spar deine Kräfte für heute Nacht«, riet Janine ihr leise und beugte sich herab, um Casey auf die Wange zu küssen. »Komm, Gail, ich setz dich noch bei deiner Arbeit ab.«
Casey sah ihren beiden Freundinnen nach, die Arm in Arm die South Street hinuntergingen, und fand, dass sie einen markanten Gegensatz bildeten: Janine, hoch aufgeschossen und gefasst, Gail kleiner und in alle Richtungen quellend; Janine ein teures Glas Champagner, Gail ein Krug frisch gezapftes Bier.
Und was wäre sie dann, fragte Casey sich. Vielleicht sollte sie einen angesagteren Haarschnitt probieren, obwohl lange blonde Haare eigentlich nie aus der Mode gekommen waren. Und sie passten gut zu ihrem ovalen Gesicht, ihrer hellen Haut und ihren feinen Zügen. »Versuch gar nicht erst, mir zu erzählen, dass du nicht Prom Queen beim Abschlussball deiner Highschool warst«, hatte Janine gleich bei ihrer ersten Begegnung gemeint. Casey hatte damals nur gelacht und geschwiegen. Sie war Prom Queen gewesen, außerdem Vorsitzende des Debattierclubs und Mannschaftsführerin des Schwimmteams und hatte überdies einen beinahe perfekten Notendurchschnitt, aber die Leute hatten sich schon immer mehr dafür interessiert, wie sie aussah und wie viel Geld sie besaß. »Irgendjemand hat mir gerade erzählt, dass dein Alter milliardenschwer ist«, hatte Janine bei einer anderen Gelegenheit bemerkt, und wieder war Casey stumm geblieben. Ja, es stimmte, dass ihre Familie beinahe obszön reich war. Es stimmte auch, dass ihr Vater ein berüchtigter Schürzenjäger war, ihre Mutter eine egozentrische Alkoholikerin und ihre jüngere Schwester ein Drogen konsumierendes Partygirl auf dem Weg zum echten Problemfall. Vier Jahre nach Caseys Examen waren ihre Eltern bei dem Absturz ihres Privatjets bei widrigem Wetter über der Chesapeake Bay ums Leben gekommen, womit ihre Schwester auch offiziell zum Problemfall wurde.
Diese Gedanken nahmen Casey auch noch wenig später in Beschlag, als sie die South Street hinunterging, Philadelphias Entsprechung von Greenwich Village. Es war ein kunterbuntes Gemisch aus beißenden Essensgerüchen, schäbigen Tätowierungsstudios, hippen Lederboutiquen und Avantgar de-Galerien. Wahrhaftig eine Welt für sich, dachte sie, als sie South Philly erreichte und auf das große Parkhaus an der Washington Avenue zuging. Das war das Problem, wenn man in der Gegend essen ging - es war beinahe unmöglich, einen Parkplatz zu finden, und sobald man die South Street hinter sich hatte, die die Grenze zwischen Center City und South Philadelphia bildete, war man mehr oder weniger in Rocky-Territorium.
Casey betrat das Parkhaus, nahm den Fahrstuhl in den vierten Stock und zog den Wagenschlüssel aus ihrer großen schwarzen Lederhandtasche, während sie auf ihr weißes Lexus-SportCoupé zuging, das am Ende des Parkdecks stand. In der Ferne hörte sie einen Motor aufheulen und blickte sich um, sah jedoch nichts. Bis auf die Reihen bunter Pkw war das Stockwerk völlig verlassen.
Sie hörte den Wagen erst, als er schon fast über ihr war. Sie hatte den rechten Arm ausgestreckt, den Daumen auf dem Knopf der Zentralverriegelung, als ein silberner Van um die Ecke schlingerte und auf sie zugeschossen kam. Sie hatte keine Zeit mehr, das Gesicht des Fahrers bewusst wahrzunehmen oder auch nur festzustellen, ob ein Mann oder eine Frau am Steuer saß. Sie hatte auch keine Zeit mehr auszuweichen. Wie aus dem Nichts wurde sie durch die Luft gewirbelt und schlug mit einem lauten Schlag auf dem Boden auf. Ihr Kopf knallte auf den harten Beton, und sie blieb am Boden liegen, ihr Körper ein schlaffes Häuflein gebrochener Knochen.
Der Van verschwand unverzüglich in den Straßen von South Philadelphia, und Casey Marshall versank im Nichts.
Übersetzung: Kristian Lutze
Copyright © der deutschsprachigen Originalausgabe 2009
by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
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Autoren-Porträt von Joy Fielding
Joy Fielding gehört zu den grossen Spitzenautorinnen Amerikas. Seit ihrem Psychothriller »Lauf, Jane, lauf« waren alle ihre Bücher internationale Bestseller. Joy Fielding hat zwei Töchter und lebt mit ihrem Mann in Toronto, Kanada, und in Palm Beach, Florida.
Bibliographische Angaben
- Autor: Joy Fielding
- 2011, 415 Seiten, Masse: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Kristian Lutze
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442473497
- ISBN-13: 9783442473496
- Erscheinungsdatum: 09.02.2011
Rezension zu „Im Koma “
"Das Spiel mit den Urängsten ist ihr Element."
Pressezitat
"Das Spiel mit den Urängsten ist ihr Element." Spiegel Online
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